In diesem Kapitel sollen übergeordnete Grundlagen analysiert und diskutiert werden, die die Voraussetzungen einer ethisch sowie fachlich fundierten Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz bilden. Dabei bildet die Anerkennung der Personalität von Menschen mit Demenz (Abschn. 3.1) den Ausgangspunkt jeder abgeleiteten ethischen Forderung. Die Anerkennung der Personalität sollte dabei jedoch stets von einer Anerkennung der Vulnerabilität des Menschen mit Demenz begleitet sein, die sich bei genauerem Hinsehen als Versichtbarung der prinzipiellen Vulnerabilität aller Menschen erweist (Absch. 3.2). Auch wenn diesen Grundlagen zunächst eine gewisse Abstraktheit zu eignen scheint, wird es im Verlauf des Kapitels 3 stets auch darum gehen, die gewonnenen Erkenntnisse auf die Problematik von FeM anzuwenden, um deren unmittelbare Relevanz für die vorliegende Thematik aufzuzeigen. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Konzeption der Leiblichkeit zu, da diese jeweils hilft, die konkrete phänomenale Erfahrbarkeit von Personalität und Vulnerabilität aufzuweisen. Auch soll am Ende dieser beiden Abschnitte jeweils die Frage thematisiert werden, wie sich die ethischen Implikationen des Personalitäts- bzw. des Vulnerabilitätskonzeptes mithilfe pflegetheoretischer Ansätze in die pflegerische Praxis übersetzen lassen. Das Kapitel 3 schließt mit einem Zwischenfazit (Abschn. 3.3).

3.1 Anerkennung der Personalität von Menschen mit Demenz

Den ethischen Kern, von dem her pflegerisches Handeln in professionellen Sorgebeziehungen zu bestimmen ist, bildet der pflegebedürftige Mensch, mit dem der Sorgende in Beziehung tritt. Von daher liegt es auf der Hand, dass neben bzw. vor allen strukturellen, institutionellen und sonstigen Bedingungen, die in der bisherigen Analyse der Anwendung von FeM diskutiert wurden, die fundamentale ethische Frage zu stellen ist, ob und wie der pflegebedürftige Mensch mit Demenz selbst von dem Pflegenden in seiner Personalität wahrgenommen und anerkannt wird. Dabei werden vor allem bei der Demenzerkrankung, die den Menschen in seiner psychophysischen Verfasstheit betrifft, auch gesellschaftliche und individuelle Altersbilder berührt, die von direkter ethischer Relevanz sind, weil sie den pflegerischen Umgang mit den betroffenen Menschen (und über diesen Umgang vermittelt auch deren Erlebens- und Verhaltensspielräume) bewusst oder unbewusst beeinflussen bzw. mitbestimmen.Footnote 1 Dabei werden unter Altersbildern

auf Alter, Altern und ältere Menschen bezogene Meinungen und Überzeugungen [verstanden], die kontextspezifisch, in Abhängigkeit von Person- und Umweltmerkmalen, aktualisiert werden und spezifische Deutungen, Wertungen, Emotionen und Verhaltenstendenzen nahelegen können.Footnote 2

In diesen Altersbildern schwingen entsprechende Fragen und Vorannahmen über den Menschen (wie auch über dessen vermeintlich krankheitsbedingte Veränderungen und deren Gestaltbarkeit, Reversibilität und Progredienz) mit: Wie weit reichen die Verluste, die mit einer solchen Erkrankung einhergehen und im weiteren Verlauf zu erwarten sind? Sind Menschen mit Demenz in demselben Sinne Menschen wie dies Menschen ohne kognitive Beeinträchtigungen sind? Büßen sie durch ihre kognitive Beeinträchtigung auch das Personsein und damit verbundene ethische Ansprüche ein? Der Ethik als Reflexion auf grundlegende Werte des MenschseinsFootnote 3 muss es darum gehen, solche Annahmen und Erwartungen offenzulegen, zu reflektieren und ggf. zu korrigieren. In seiner Stellungnahme Demenz und Selbstbestimmung aus dem Jahr 2012 hält der Deutsche Ethikrat entsprechend fest:

Die Auseinandersetzung mit Demenz stellt die Frage nach unserem Menschenbild. Wird der Mensch mit seiner geistigen Leistung gleichgesetzt, muss Demenz als Zerstörung des Menschen erscheinen. Wird der Mensch aber nicht nur als denkendes, sondern auch als empfindendes, emotionales und soziales Wesen verstanden, kann sich der Blick leichter auf die jeweils noch vorhandenen Ressourcen richten.Footnote 4

In einer ähnlichen Weise betont Schmitt die Aufgabe einer Reflexion von Altersbildern und weist zudem darauf hin, dass diese auch stets mit einer ethischen Reflexion von Vorannahmen über die menschliche Personalität verbunden sein sollten:

Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses von Altersbildern stellt sich nicht nur die Frage, über welche Altersbilder Menschen verfügen, sondern vor allem auch die Frage nach deren Salienz, der kognitiven Verfügbarkeit oder Zugänglichkeit von spezifischen Altersbildern im jeweiligen Kontext […]. Für den Umgang mit der Vulnerabilität […] des Alters bedeutet dies etwa, zum einen zu fragen, inwieweit das Vorliegen von psychischen oder kognitiven Einschränkungen auf der Grundlage bestimmter Altersbilder konstruiert oder akzentuiert wird, zum anderen aber auch die Frage zu stellen, inwieweit mit der Aktualisierung bestimmter Altersbilder gleichzeitig subintentional spezifische Konzepte von Personalität oder Menschenwürde salient werden und die betroffenen Menschen in ihren Möglichkeiten der Verwirklichung von Selbstverantwortung, Mitverantwortung und Teilhabe zum Teil auch dauerhaft beeinträchtigen.Footnote 5

Ergebnis einer solche Reflexion sollte es letztlich sein, neben reduktionistischen Altersbildern auch die ihnen zugrundeliegenden reduktionistischen Menschenbilder zu hinterfragen.Footnote 6

Besonders für die Thematik von FeM, für die die zentrale Bedeutung der Einstellung Pflegender zur Verwendung von Zwangsmaßnahmen bereits aufgezeigt werden konnte (siehe Abschn. 2.8.2), gilt, dass die noch tieferliegende ethische Einstellung zu Menschen mit Demenz eine besondere Tragweite haben dürfte. Deutlich wird, dass „[n]icht allein die Zahl, sondern auch die Haltung der professionellen Akteure […] den Umgang mit pflegebedürftigen […] Menschen und damit auch Entscheidungen über die Anwendung von Zwangsmaßnahmen [bestimmt]“Footnote 7 und, „dass niederschwellige Formen von Zwang oft die direkte Folge von einseitig defizitorientierten Vorstellungen von Alter und Behinderung und unreflektierten persönlichen Wertpräferenzen seitens der Pflegekräfte sind“Footnote 8. Im Umkehrschluss ergibt sich daraus die Forderung, dass professionell Sorgende nicht nur ihre Grundeinstellung, sondern auch mögliche Vorurteile sowie einseitige, primär an Defiziten orientierte Vorstellungen von alten und demenzkranken Menschen kritisch hinterfragen. Dazu gehört auch eine Bereitschaft, sich je neu auf die Verschiedenartigkeit und Individualität von Personen und ihren jeweiligen Alterns- und Krankheitsprozessen einzulassen.Footnote 9 Insofern gehen die Aspekte der „Werteorientierung“ und „Individuumsorientierung“, die Riedel erläutert,Footnote 10 ineinander auf.

Um nachfolgend ethische Grundlagen für eine solche Werte- und Individuumsorientierung zu entwickeln, soll zunächst die Frage der Personalität von Menschen mit Demenz beantwortet werden, die bereits in den oben genannten defizitorientierten Perspektiven sowie in der theoretischen Rahmung der Arbeit (siehe Abschn. 1.2) anklang. Dabei wird in einem ersten Schritt zu zeigen sein, dass Menschen mit Demenz auch nach einem rationalistisch geprägten Personbegriff nichts an Personalität einbüßen können (Abschn. 3.1.1). Sodann ist in einem zweiten Schritt eine Kritik bzw. Ergänzung von einseitigen, maßgeblich auf der Kognition basierenden Personkonzepten vorzunehmen. Auf Grundlage des Konzepts der Leiblichkeit, die physische und psychische Aspekte des Menschseins umgreift, soll hier der Versuch unternommen werden, die leibliche Kontinuität der Person mit Demenz zu begründen (Abschn. 3.1.2). Schließlich soll auf den bereits angesprochenen Ansatz person-zentrierter Pflege eingegangen werden, um die Frage in den Blick zu nehmen, welche Implikationen die normativen Ansprüche, die sich aus der Personalität des Menschen mit Demenz ergeben, für die Pflegepraxis um die Anwendung von FeM haben (Abschn. 3.1.3).

3.1.1 Die Personalität von Menschen mit Demenz

„Alle Pflichten gegen Personen lassen sich zurückführen auf die Pflicht, Personen als Personen wahrzunehmen.“Footnote 11 So eindeutig dieser Grundsatz zunächst erscheint, so verschieden sind die Positionen jedoch schon bezüglich der Frage, ob und nach welchen Kriterien Personen als Personen zu erkennen und in der Konsequenz anzuerkennen sind. Galten Menschsein und Personsein lange Zeit als selbstverständlich austauschbare, d. h. letztlich deckungsgleiche Begriffe, sodass jedem Menschen qua Mensch Personalität zugeschrieben wurde,Footnote 12 so wird diese Position zunehmend in Frage gestellt. Besonders in vulnerablen Phasen am Lebensanfang und Lebensende, in denen viele Fähigkeiten und Fertigkeiten von Personen noch nicht oder nicht mehr vorhanden zu sein scheinen, wird wiederholt diskutiert, ob Personalität ein gewinn- und somit auch verlierbarer Status ist, der nicht allen Menschen gleichermaßen zukommt. In dem Maße, in dem Personalität dabei an die Fähigkeit zu rationalem Denken geknüpft wird, scheint auch und besonders bei Menschen mit Demenz die Möglichkeit im Raum zu stehen, dass sie aufgrund ihrer kognitiven Beeinträchtigungen an Personalität verlieren:

Demenzielle Erkrankungen wirken in besonderer Weise beunruhigend und bedrohlich, weil sie in Frage stellen, was wir als Grundlage unseres Selbstseins ansehen: unsere kognitiven Fähigkeiten. Für die westlichen Kulturen ist Personalität entscheidend gebunden an die Intaktheit dieser Funktionen, an Überlegung, Intelligenz, Rationalität und Gedächtnis. Damit werden demenzielle Erkrankungen zur Bedrohung der Person in ihrem Kern, ja sie scheinen […] eine geradezu dehumanisierende Wirkung zu haben.Footnote 13

Da mit dem Personstatus wiederum klassische ethische Schutzansprüche verbunden sind, die unter dem Begriff der Würde zusammengefasst werden, bleibt eine solche reduktionistische Sicht auf Menschen mit Demenz nicht ohne Folgen: So droht nicht nur die Gefahr, dass „Menschen mit einer weit fortgeschrittenen Demenz das Humane abgesprochen wird“Footnote 14, sondern auch, dass auf diesem Fundament „grundlegende Zweifel in Bezug auf die Menschenwürde vorgebracht werden“Footnote 15, was sich wiederum in ökonomisierenden Kalkülen und Nutzen-Abwägungen niederschlagen kann, ob der betroffene Mensch etwa von einer qualitativ hochwertigen pflegerischen Versorgung überhaupt noch profitiere.Footnote 16 Für den Fall der Anwendung von FeM bei Menschen mit Demenz hätte eine solche Perspektive weitreichende Folgen, da solche Maßnahmen wesentlich leichter zu rechtfertigen wären, wenn sie Menschen beträfen, die keine Personalität und somit keinen Würdeschutz aufwiesen.

Dabei soll nicht behauptet werden, dass Pflegende und andere beteiligte Akteure in jedem Fall eine solche Position vertreten, geschweige denn, dass sie dies explizit und bewusst tun. Doch ist mit dem bereits genannten israelischen Philosophen Margalit (siehe Abschn. 2.9) darauf hinzuweisen, dass sich eine Demütigung und Diskriminierung von Menschen, die darin besteht, ihnen das Humane abzusprechen, nicht in dieser Ausdrücklichkeit manifestieren muss. Sie kann vielmehr in Rahmenannahmen implizit sein, die den Gegenüber als „Mensch[en] zweiter Klasse“Footnote 17 sehen.Footnote 18 Dass eine implizite Herabsetzung von Menschen mit Demenz erfolgt, ist oftmals bereits am alltäglichen Sprachgebrauch zu erkennen, wenn betroffene Menschen z. B. auf „Demenz-Fälle“, „Demente“ oder „Alzheimer-Opfer“ reduziert oder bspw. statt als Individuen als Teil einer bedrohlich anrollenden „Demenz-Welle“ bezeichnet werden.Footnote 19

Ein Blick in den stetig wachsenden philosophisch-ethischen Diskurs um das Konzept der Person(alität) genügt jedoch, um zu erkennen, dass die Annahme, Menschen mit Demenz komme nur in bedingtem Maße bzw. gar keine Personalität zu, längst nicht mehr nur eine implizite Annahme hinter demütigendem Verhalten oder diskriminierender Sprache ist. Vielmehr findet sie in manchen Vertretern des Präferenzutilitarismus angesehene und tatsächlich einflussreiche Befürworter. Folgte man diesen Positionen, die eine klare Trennung von Menschsein und Personsein vornehmen und als Konsequenz ihrer Persondefinition viele Menschen vom letzteren ausschließen, so wären auch Menschen mit einer weit fortgeschrittenen Demenz keine Personen mehr und verfügten damit auch nicht über den entsprechenden ethischen Schutzanspruch.Footnote 20

Das Ziel dieses Abschnitts besteht dabei nicht darin, eine umfassende Analyse und tiefgreifende Dekonstruktion verschiedener Spielarten präferenzutilitaristischer Positionen und damit zusammenhängender Argumentationsgänge zu leisten. Dementsprechend erfolgt an dieser Stelle keine vertiefte Diskussion der vielbesprochenen Implikationen präferenzutilitaristischer Argumente für bio-, medizin- und tierethische Fragestellungen. Nachfolgend sollen hingegen zwei Argumente gegen das reduktionistische Personkonzept des Präferenzutilitarismus skizziert werden, anhand derer spezifisch für Menschen mit Demenz aufgezeigt werden kann, dass diesen völlig uneingeschränkt der Status von Personen zukommt. Nach einer kurzen Darstellung der zu kritisierenden Position, soll in einem ersten Argument gezeigt werden, dass Menschen mit Demenz auch im Rahmen eines vornehmlich auf Rationalität abzielenden Personbegriffs in vollem Sinn als Vernunftwesen und somit Personen zu erkennen sind. Im darauffolgenden zweiten Argument wird ein alternativer Weg beschritten, der im Wesentlichen darin besteht, dualistische Reduktionismen, die den Menschen auf Kognition reduzieren, mithilfe eines umfassenderen Personbegriffs zurückzuweisen, der die Leiblichkeit des Menschen in das Zentrum rückt.

Ausgangspunkt des Präferenzutilitarismus, wie er u. a. von Singer geprägt wurde, ist das Prinzip der gleichen Interessenabwägung, das alle moralischen Sollensansprüche von dem Vorhandensein von Präferenzen bzw. Interessen bei den Betroffenen ableitet: „Das Prinzip der gleichen Interessenabwägung verbietet es, unsere Bereitschaft, die Interessen anderer Personen abzuwägen, von ihren Fähigkeiten oder anderen Merkmalen abhängig zu machen, außer dem einen: eben dass sie Interessen haben.“Footnote 21 Dass hauptsächlich diese Fähigkeit zur bewussten Formulierung von Interessen moralisch ausschlaggebend ist, bedeutet dabei in der Konsequenz, dass andere Merkmale, wie etwa die Gattungszugehörigkeit des Betroffenen, ethisch nicht ins Gewicht fallen: Ob es sich um ein Tier oder einen Menschen handelt, ist zunächst nicht ausschlaggebend und jede Bevorzugung von Menschen qua Mensch liefe nach Singers Ansicht auf einen sog. „Speziesismus“ hinaus, d. h. – in (freilich sehr fragwürdiger) Anlehnung an den Rassismus – einer ungerechten Herabsetzung anderer aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, in diesem Fall der biologischen Gattung.Footnote 22 Eine Konsequenz dieser Festlegung Singers ist, dass es dementsprechend keinen Grund mehr gibt, in moralischer Hinsicht streng zwischen Menschen und Tieren zu scheiden, vielmehr verläuft die Demarkationslinie nun zwischen solchen Wesen, die Interessen und Präferenzen haben und solchen, die dies noch nicht oder (vermeintlich) nicht mehr tun. Um dieser Trennung terminologisch Ausdruck zu verleihen und sie mit zusätzlichen ethischen Kriterien zu ergänzen, optiert Singer für eine Trennung der Begriffe „Mensch“ und „Person“, wobei er aus der langen Tradition philosophischer Personbegriffe lediglich denjenigen John Lockes hinzuzieht, der ein besonderes Augenmerk auf das Selbstbewusstsein legt:

Für die erste, biologische Bedeutung werde ich den schwerfälligen, aber präzisen Begriff „Mitglied der Spezies Homo sapiens“ verwenden, für die zweite Bedeutung den Begriff „Person“. […] John Locke definiert eine Person als „ein denkendes intelligentes Wesen, das Vernunft und Reflexion besitzt und sich als sich selbst denken kann, als dasselbe denkende Etwas in verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten“. […] Auf jeden Fall schlage ich vor, „Person“ in der Bedeutung eines rationalen und selbstbewussten Wesens zu gebrauchen, um jene Elemente der landläufigen Bedeutung von „menschliches Wesen“ zu erfassen, die von „Mitglied der Spezies Homo sapiens“ nicht abgedeckt werden.Footnote 23

Diese Weichenstellungen Singers sind in zweierlei Hinsicht mit weitreichenden ethischen Konsequenzen verbunden: Zunächst einmal führt die Trennung von Mensch- und Personsein dazu, dass auch nichtmenschliche Personen möglich sind, die aufgrund ihrer kognitiven Fähigkeit zu rationalem Denken, Reflexion und Selbstbewusstsein den Status und somit Schutzanspruch von Personen aufweisen. Somit kann es auch hochentwickelte Tiere geben, denen der Personstatus zukommt. Während dies an sich unproblematisch ist und lediglich mit einer Ausweitung des personalen Schutzanspruches etwa auf Primaten oder andere Tiere verbunden wäre, geht Singer zweitens davon aus, dass es nun auch Menschen geben kann, die noch nicht oder nicht mehr Personen sind. Für un- und neugeborene Menschen oder Menschen mit schweren körperlichen und geistigen Behinderungen bedeutet dies, dass es nach Singer möglich ist, dass sie nie den Status einer Person erreichen, wenn sie entwicklungsbedingt nicht zu dem Bewusstsein ihrer selbst kommen. Ebenso können kognitive Einbußen durch Unfälle oder Erkrankungen dazu führen, dass Menschen den Status von Personen wieder verlieren.

Mit der empirischen Nachweisbarkeit des reflexiven Bewusstseins steht und fällt für Singer die Personalität und entsprechend „[darf] die Zuerkennung des Personstatus allein dann erfolgen […], wenn ein bestimmtes Lebewesen über die genannten Eigenschaften aktuell verfügt und sich ihrer reflexiv bewusst ist“Footnote 24. Moralische Schutzansprüche – allen voran das Tötungsverbot – sind somit ebenfalls an das Vorhandensein dieser Eigenschaften geknüpft. Tatsächlich gibt es nach Singer kein generelles Tötungsverbot für Menschen; die Tötung verbietet sich vielmehr zunächst nur bei Personen, weil diese über die entsprechenden schützenswerten Eigenschaften und Präferenzen verfügen:

Gibt es etwas an dem Leben eines rationalen und selbstbewussten Wesens – im Unterschied zu einem bloß empfindungsfähigen Wesen –, das es sehr viel schwerwiegender macht, das Leben des ersteren als das des letzteren zu nehmen? Um diese Frage zu bejahen, kann man folgendermaßen argumentieren: Ein selbstbewusstes Wesen ist sich seiner selbst als einer distinkten Entität bewusst, mit einer Vergangenheit und Zukunft. […] Ein Wesen, das in dieser Weise seiner selbst bewusst ist, ist fähig, Wünsche hinsichtlich seiner eigenen Zukunft zu haben. […] Nimmt man einem dieser Menschen ohne seine Zustimmung das Leben, so durchkreuzt man damit seine Wünsche für die Zukunft.Footnote 25

Eine solche Argumentation, die das Tötungsverbot mit der empirisch nachweisbaren Fähigkeit der Betroffenen begründet, sich ihrer Identität als Person über Vergangenheit und Zukunft hinweg reflexiv zu versichern und entsprechend präferenzutilitaristisch relevante Zukunftsinteressen zu haben, kann für einige Menschen nicht geführt werden. Auch wenn etwa Menschen mit Demenz eindeutig Wünsche und Interessen haben und sich argumentieren ließe, dass diese unter Umständen lediglich schwerer zu ergründen sind, so kann eine weit fortgeschrittene Demenzerkrankung das Bewusstsein der eigenen personalen Identität in Vergangenheit und Zukunft tatsächlich beeinträchtigen. In den Kapiteln seines Hauptwerkes Praktische Ethik, die der Sterbehilfe-Thematik gewidmet sind, geht Singer zwar von besonderen Extremfällen wie dem von Menschen im Koma aus, jedoch ist deutlich, dass neben komatösen Menschen auch Menschen mit einer weit fortgeschrittenen Demenzerkrankung nach seiner Ansicht keinen Personstatus aufweisen. Dementsprechend entfällt hier auch ein grundsätzliches Tötungsverbot. Eine Tötung dieser Menschen, die ihren Personstatus verloren haben, ließe sich Singer zufolge nur dann als moralisch verboten ansehen, wenn sich etwa zeigen ließe, dass ihre Tötung mit negativen Angstgefühlen für andere Personen verbunden wäre.Footnote 26

Es liegt nahe, dass die Anwendung von FeM bei Menschen mit weit fortgeschrittenen Demenzerkrankungen einer solchen Position zufolge problemlos ethisch zu rechtfertigen wäre. Zwar ist unwahrscheinlich, dass die Sichtweise Singers in dieser drastischen Form und in diesem Ausmaß im Pflege- und Gesundheitswesen (weit) verbreitet ist, jedoch kommen in beiläufigen Aussagen wie „Er bekommt das doch gar nicht mehr mit“ und „Er vegetiert nur noch dahin“ ähnliche Wertvorstellungen zum Ausdruck – wenn auch nur implizit. An obiger Stelle konnte bereits aufgezeigt werden, dass noch vor jeder Sturzgefahr oder anderen konkreten patienten- oder behandlungsorientierten Gründen für FeM das bloße Vorliegen einer Demenzerkrankung oftmals ein Faktor ist, der die Anwendung von FeM settingübergreifend begünstigt. Es ist also anzunehmen, dass – wie mit Fuchs und Kruse aufgezeigt – mit der Diagnose Demenz bereits handlungsleitende Vorannahmen verbunden sein können, die neben pflegefachlichen Kriterien auch auf ihre ethischen Grundlagen zu befragen sind. Der Ethik ist es dabei nicht um eine Verurteilung von solchen Standpunkten etwa in Form von ad hominem-Argumenten zu tun; vielmehr gilt es, auf solche Positionen sachbezogen und argumentativ zu antworten.

Ein erstes, wesentliches Problem der Argumentation Singers, die als mentalistische Reduktion der Personalität auf aktual vollzogene mentale AkteFootnote 27 bezeichnet werden kann, liegt darin, dass der Aspekt des Könnens bzw. der nicht-aktualisierten Potenziale des Menschen unterbeleuchtet bleibt. Tatsächlich bleibt damit „ein entscheidendes Merkmal des Lebendigen unberücksichtigt: Dass es sich […] aus einer ihm innewohnenden Dynamik entwickelt und damit immer auch Möglichkeiten zu etwas enthält, was es aktuell noch nicht ist“Footnote 28. Diese Dynamik von Potenzialen gilt es näher zu betrachten, da sie entscheidend ist, um zu verstehen, ob Menschen auch dann Personen sind, wenn sie ihre Potenziale noch nicht oder nicht mehr aktualisieren können. Dazu kann die Unterscheidung von prinzipiellen und aktualen Fähigkeiten hilfreich sein, die sich etwa an folgendem Beispiel illustrieren lässt: Befindet sich ein Violinist in einem Raum, in dem sich keine Geige befindet, so kann er in prinzipieller Hinsicht Geige spielen, in aktualer jedoch nicht. Er ist, in anderen Worten, an der Aktualisierung seiner prinzipiellen Fähigkeit des Geigenspielens gehindert. Auf vergleichbare Weise ist der Mensch als Sprachwesen prinzipiell im Stande, zu sprechen, kann aber aufgrund einer körperlichen oder geistigen Behinderung oder einer kognitiven Beeinträchtigung daran gehindert werden, diese prinzipielle Fähigkeit zu aktualisieren, d. h. in eine aktuale Fähigkeit (z. B. Deutschsprechen) und dann – bei Ausübung derselben – in den Akt (z. B. einen deutschsprachigen Satz formulieren) zu überführen. Nun ist damit selbstverständlich noch nichts über die Relevanz prinzipieller Fähigkeiten gesagt. Mit Singer könnte man weiterhin dafür optieren, nur aktuale Fähigkeiten hätten eine Relevanz für den Personstatus, und die Position vertreten: Violinist ist jemand, dem aktual die Mittel zu Verfügung stehen, Geige zu spielen. Noch zugespitzter könnte man sogar nur die eigentliche Ausübung der Fähigkeit für relevant erklären und postulieren: Violinist ist jemand, der aktuell Geige spielt. Dass die prinzipielle Fähigkeit jedoch durchaus entscheidender ist als in diesen Positionen angenommen, lässt sich aufzeigen, wenn man in den Blick nimmt, wie die eine Fähigkeit die andere bedingt: Wäre ein Mensch im Stande, aktual die Sprache Deutsch zu erlernen und in der Konsequenz durch Deutschsprechen diese Fähigkeit umzusetzen, wenn ihm nicht bereits prinzipiell die Sprachfähigkeit innewohnte?

Bezogen auf die oben genannten Kriterien muss also die Frage gestellt werden, ob ein Mensch im Stande wäre, aktual komplexe kognitive Akte zu vollziehen, wenn er nicht bereits prinzipiell Vernunftwesen wäre – und somit bereits Person. Personalität ist somit nicht das Ergebnis von aktualen kognitiven Fähigkeiten und Akten, sondern deren Bedingung. In diesem Sinne spricht Spaemann davon, dass „der Begriff der Potentialität überhaupt nur unter der Voraussetzung von Personalität entstehen kann. Personen sind die transzendentale Bedingung von Möglichkeiten“Footnote 29 und Schockenhoff formuliert gegen Singer: „Der Versuch, das Personsein aus aktuellen Eigenschaften und Fähigkeiten abzuleiten, scheitert daran, dass Eigenschaften und Fähigkeiten nicht eine neue Seinsweise begründen, sondern ihrerseits eine solche voraussetzen.“Footnote 30

Die Seinsweise, die als Bedingung der Möglichkeit jeder aktualen Fähigkeit zu rationalem Denken zugrunde liegt, ist somit das Personsein des Vernunftwesens Mensch. Wenn dieses des Weiteren nicht mit aktualen Fähigkeiten und Vollzügen zusammenfällt, ist zu fragen, „ab wann“ bzw. „bis wann“ es bei dem Menschen vorliegt. Tatsächlich zeigt Spaemann auf, dass die einzige sinnvolle Antwort auf diese Frage darin liegt, dass das Personsein des Menschen mit seiner Existenz beginnt und somit mit seinem Menschsein in eins fällt:

Es kann und darf nur ein einziges Kriterium für Personalität geben: die biologische Zugehörigkeit zum Menschengeschlecht. Darum können auch Anfang und Ende der Existenz der Person nicht getrennt werden vom Anfang und Ende des menschlichen Lebens. Wenn „jemand“ existiert, dann hat er existiert, seit es diesen individuellen menschlichen Organismus gab, und er wird existieren, solange dieser Organismus lebendig ist. Das Sein der Person ist das Leben eines Menschen.Footnote 31

Vor diesem Hintergrund wird nun deutlich, dass Personsein nicht sozusagen ein Produkt der Entwicklung eines lebendigen Organismus ist, sondern es vielmehr die Person selbst ist, die als Organismus lebt und sich entwickelt. Mit Blick auf die prinzipiellen und aktualen Fähigkeiten der Person kann also formuliert werden:

Es gibt keine potentiellen Personen. Personen besitzen Fähigkeiten, Potenzen. Personen können sich entwickeln. Aber es kann sich nicht etwas zur Person entwickeln. Aus etwas wird nicht jemand. Wenn Personalität ein Zustand wäre, könnte sie allmählich entstehen. Wenn aber Person jemand ist, der sich in Zuständen befindet, dann geht sie diesen Zuständen immer schon voraus. […] Sie beginnt nicht später als der Mensch zu existieren und hört nicht früher auf. […] Personalität ist nicht das Ergebnis einer Entwicklung, sondern immer schon die charakteristische Struktur einer Entwicklung.Footnote 32

Auf Menschen mit Demenz übertragen bedeutet dies, dass die Demenzerkrankung nicht eine Entwicklung ist, bei der der Mensch seine Personalität einbüßt, sondern vielmehr eine Entwicklung, in der die Person zunehmend gehindert wird, ihre prinzipiellen Fähigkeiten zu aktualisieren. Dass die Aktualisierung dieser prinzipiellen Fähigkeiten durch die kognitiven Beeinträchtigungen, die mit der Demenzerkrankung einhergehen, erschwert oder gar verunmöglicht wird, bedeutet nicht, dass sie deswegen nicht vorhanden wären. Nicht zuletzt die hochindividuellen Krankheitsverläufe verschiedener Demenzerkrankungen, die zum Teil Phasen erstaunlicher kognitiver Luzidität kennen, bezeugen diesen Umstand:

Zum einen beobachten wir immer wieder aufs Neue, dass demenzkranke Menschen auch in späten Krankheitsphasen, selbst noch unmittelbar vor ihrem Tod sehr kurze Phasen deutlich erhöhter Luzidität zeigen können, also einer inneren Klarheit und Aufmerksamkeit, die vor dem Hintergrund der von Verlusten und Auffälligkeiten bestimmten psychischen Situation besonders auffällig und eindrücklich sind. Gerade solche luziden Intervalle regen zum Nachdenken darüber an, ob wir nicht grundsätzlich von einem deutlich umfassenderen Geist-Begriff ausgehen müssen, der […] das gesamte Wesen eines Individuums umfasst und sich quasi um den gesamten Bios des Individuums legt. Dies nun würde heißen, dass man sich nicht allein auf kognitive Leistungen im engeren Sinne beschränkte, wenn man von Geist spricht, sondern vielmehr die verschiedenartigen Ausdrucksformen des Wesens eines Menschen zu erfassen und verstehen versuchte.Footnote 33

Ginge man einzig von dem Vorhandensein der aktualen Fähigkeit aus, so wären solche luziden Phasen kaum erklärlich. Ausgehend von einem Singerschen Standpunkt kann nicht begreiflich gemacht werden, wie eine verlorengegangene und somit nicht mehr vorhandene Fähigkeit sich phasenweise wieder zu aktualisieren vermag. Im Hinblick auf Personalität würde die paradoxe Schlussfolgerung lauten, dass der betroffene Mensch hier changierend von einem Moment auf den anderen seinen Personstatus an- und ablege. Demgegenüber ist festzuhalten, dass die Aktualisierung dieser oder jener kognitiver Fähigkeiten überhaupt nur dann möglich ist, wenn diese ununterbrochen prinzipiell vorhanden sind. Somit ist auch der Wechsel in luzide oder wenige luzide Phasen in der Demenzerkrankung kein Gewinn oder Verlust des Personstatus, sondern eine mehr oder weniger deutliche Versichtbarung der dem demenzkranken Menschen prinzipiell zueigenen Personalität. Menschen mit Demenz sind demnach im vollen Sinn Personen mit allen dazugehörigen ethischen Schutzansprüchen. Es kommt insofern nicht darauf an, ob der betroffene Mensch mit Demenz seine prinzipiellen Fähigkeiten aktualisiert und sein Personsein sozusagen ‚unter Beweis stellt‘, sondern vielmehr darauf, ob die ihn umgebenden Menschen ihn als Person anerkennen und wahrnehmen (und auf welche Weise sie dies tun).

Damit ist bereits eine ethische Grundlage professioneller Sorge um Menschen mit Demenz identifiziert, insofern diese stets von dem Fundament einer solchen Anerkennung und Wahrnehmung der Person auszugehen hat. Wichtig ist es dabei, auch vor dem Hintergrund der vorangegangenen Diskussion, noch einmal zu betonen, dass es sich bei dieser Anerkennung nicht um eine willkürliche Setzung und ein extrinsisches Verleihen von Personalität handelt, sondern vielmehr um eine angemessene Antwort auf die intrinsisch vorhandene und an keinerlei aktuale Fähigkeit oder Eigenschaft gebundene Personalität des Gegenübers mit Demenz.Footnote 34 Ähnlich verhält es sich mit der Forderung einer Wahrnehmung der Personalität von Menschen mit Demenz, insofern der Terminus „wahrnehmen“ verdeutlicht, dass die Personalität hier nicht als Nicht-Vorhandene zugesprochen, sondern als Vorhandene erkannt wird. Zugleich ist der doppelte Wortsinn des Wahrnehmens im Deutschen geeignet, auszudrücken, „dass wir die Interessen eines Menschen wahrnehmen, wenn wir sie uns zu eigen machen […]. Nur in diesem Sinn werden Personen ‚wahrgenommen‘. Alles Sollen gründet in solcher Wahrnehmung.“Footnote 35 Dabei kann diesen zwei Bedeutungen des Wahrnehmens, die Spaemann unterscheidet, an dieser Stelle noch eine dritte hinzugefügt werden, die die sinnliche Wahrnehmung adressiert: Die Personalität von Menschen mit Demenz wahrzunehmen, bedeutet nicht zuletzt, sie als durch dessen Leiblichkeit vermittelte zu erkennen.

3.1.2 Personalität und Leiblichkeit von Menschen mit Demenz

„Den Anderen als Person erkennen, heißt, seinen Körper als beseelten Leib wahrzunehmen.“Footnote 36 Bewegte sich die bisherige Argumentation weitgehend im abstrakten Bereich des rationalen Denkens, so kann eine Reflexion auf die Leiblichkeit des Menschen helfen, aufzuzeigen, inwiefern die menschliche Personalität kein Abstraktum bleibt, sondern sich leiblich manifestiert und in der zwischenmenschlichen Beziehung phänomenal erfahrbar wird. In einem ähnlichen Schritt wird es auch jeweils bei der Thematik der Vulnerabilität (siehe Abschn. 3.2.3) und der Freiheit (siehe Abschn. 4.2.3) darum gehen, ihre leibliche Konkretion im Menschen (mit Demenz) zu analysieren. Tatsächlich lässt sich angestoßen von einem geistes- und kulturwissenschaftlichen Paradigmenwechsel, der u. a. als „body turn“Footnote 37, „corporeal turn“Footnote 38 oder „embodied turn“Footnote 39 bezeichnet wurde, in den Blick nehmen, wie der Mensch (mit Demenz) leiblich konstituiert ist und welche ethischen Implikationen dies zur Folge hat.Footnote 40

Zunächst bedarf es hierzu einer terminologischen Klärung: Anders als der Begriff „Körper“, der auf den lateinischen Begriff corpus zurückgeht und zunächst lediglich ein dreidimensionales Objekt bezeichnet, steht „Leib“ (vom mhd. lîp = Leben) für das Lebendige und Gelebte, mithin den belebten bzw. beseelten Körper: Im Falle des Menschen bezeichnet der Körper demnach den objektiven, physikalisch-biologischen Organismus des Menschen, während der Leib das (inter)subjektive Medium benennt, durch das der Mensch in der Welt anwesend ist, diese durch Erfahrung und Wahrnehmung erschließt und sich zu ihr verhält.Footnote 41 Im Englischen, das zunächst nur übergeordnet „body“ kennt und das lateinische corpus lediglich im Sinne des leblosen Leichnams („corpse“) beibehielt, kann man diese Unterscheidung bspw. mit Coors als „lived body“ (Leib) und „human corpus“ (Körper) ausdrücken.Footnote 42 Zu seinem Leib hat der Mensch entsprechend ein grundsätzlich anderes Verhältnis als zu anderen ihn umgebenden Körpern, man findet ihn in Husserls Worten „als den einzigen, der nicht bloßer Körper ist, sondern eben Leib, […] das einzige, in dem ich unmittelbar ‚schalte und walte‘, und insonderheit walte in jedem seiner ‚Organe‘“Footnote 43. Zu seinem Körper kann man sich darüber hinaus mit einer gewissen inneren Distanz verhalten, während eine solche Distanz im Selbstverhältnis zum Leib nicht gegeben ist – ein Unterschied, den Plessner in dem bekannten Diktum ausdrückt, der Mensch habe seinen Körper und sei sein Leib.Footnote 44

Historisch gesprochen handelt es sich bei dieser vertieften Konzeption der Leiblichkeit, wie sie besonders im 20. Jahrhundert die Phänomenologie und die Philosophische Anthropologie erarbeiteten, auch und vor allem um eine Antwort auf die durch die naturwissenschaftliche Verobjektivierung des Menschen in der Neuzeit angestoßene und von Descartes erstmals in aller Deutlichkeit philosophisch vollzogene Trennung von Geist und Körper, die gemeinhin als cartesianischer Dualismus bezeichnet wird.Footnote 45 Gegenüber einer dualistischen Trennung von einem mechanistisch aufgefassten materiellen Körper als Gliedermaschine und einer als eigentlichem Sitz der Personalität verstandenen rein geistigen Rationalität, betont die Konzeption der Leiblichkeit die psychophysische Einheit des Menschen, der sich weder auf seine körperliche, noch auf seine geistige ‚Seite‘ reduzieren lässt; mit Fuchs ist hier von einer „leibfundierte[n] Konzeption verkörperter PersonalitätFootnote 46 zu sprechen.

Doch wie kann eine solche Herangehensweise helfen, die Frage der Personalität von Menschen mit Demenz und – in der Konsequenz – die Frage der Anwendung von FeM bei dieser Personengruppe ethisch zu beurteilen? Um dies zu beantworten, gilt es, sich die Konsequenzen dualistischer Auffassungen vor Augen zu führen. Zieht man eine scharfe Trennlinie zwischen Körper und Geist und reduziert den Menschen in einem zweiten Schritt auf letzteren, so muss umgekehrt jede Beeinträchtigung der kognitiven Fähigkeiten des Menschen – besonders eine Demenzerkrankung – geradezu dehumanisierend wirken. Fuchs hat diese Sicht präzise als „Zerebrozentrismus“ beschrieben und als neue Spielart eines cartesianischen Dualismus zurückgewiesen:

Der Verlust der Rationalität und der autobiographischen Kohärenz scheint in den fortgeschrittenen Stadien der Krankheit [Demenz] nur einen fassadenartigen Körper zurückzulassen, dessen Äußerungen allenfalls noch Fragmente der früheren Person zu erkennen geben. Diese Identifizierung von Selbstsein mit Kognition und Gedächtnis beruht allerdings auf einem dualistischen Konzept der Person, in dem der Körper nur als der passive Trägerapparat für den Geist bzw. für das Gehirn als das Organ dieses Geistes gilt. Der Neokortex wird damit zum alleinigen Sitz der menschlichen Personalität, während der Rest des Körpers ohne die kognitiven Erkenntnis- und Steuerungsleistungen nur noch ein Schattendasein führen kann. Nach dieser ‚zerebrozentrischen‘ Auffassung muss die Demenz als ein allmähliches Erlöschen der Person erscheinen.Footnote 47

Wiederum ist festzuhalten, dass sich die Anwendung von FeM ausgehend von einem solchen Reduktionismus mit Leichtigkeit ethisch rechtfertigen ließe, denn nach einer solchen Sicht „beträfen [solche Zwangsmaßnahmen] schließlich statt eines leiblichen Würdesubjektes nur einen dysfunktionalen Organismus“Footnote 48. Auch aufgrund der weitrechenden ethischen Konsequenzen einer solchen Sicht ist es notwendig, hirn- oder kognitionszentrierten Personkonzepten mithilfe der Konzeption der Leiblichkeit einen Begriff der verkörperten bzw. verleiblichten Person entgegenzustellen.Footnote 49

Bei genauerem Hinsehen zeigt sich nun, dass sich eine solche kognitivistisch-reduktionistische Sicht im Kern mit derjenigen Singers trifft: In Singers definitorischer Trennung von „Person“ und „Mensch“, bei der „Person“ das Mentale erfasst und „Mensch“ nur als Bezeichnung des biologischen Organismus der Spezies homo sapiens sapiens dient, klaffen gleichsam Geist und Körper auseinander.Footnote 50 Kather konstatiert, dass Singer somit letztlich „dem Schema des cartesischen Dualismus treu[bleibt], der das sich selbst denkende Ich und die unbelebte Materie, zu der auch der eigene Körper gehört, vermittlungslos voneinander getrennt hat“Footnote 51. Demgegenüber ist vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der Phänomenologie sowie der Philosophischen Anthropologie zu betonen, dass eine solche Konzeption von Personalität, die die psychophysische Einheit des Leibes ausblendet, abstrakt bleibt und die unhintergehbaren konstitutiven Bedingungen der menschlichen Existenz verkennt.Footnote 52 Es sei noch einmal an Spaemanns Erkenntnis erinnert, dass „[d]as Sein der Person […] das Leben eines Menschen [ist]“Footnote 53. Leben wiederum ist notwendigerweise ein leiblicher Vollzug, weswegen Personalität nicht als Abstraktum zu denken ist, sondern als menschlicher Lebensprozess, in dem sich die menschliche Psyche im Leib manifestiert und „verkörpert“.Footnote 54

Dass sich dies auf diese Weise verhält, erweist sich besonders in der zwischenmenschlichen Begegnung, insofern man hier nicht einem bloßen Körper, aber umgekehrt auch nicht einem unverkörperten Geist begegnet, sondern dem stets leibhaftigen Menschen als Einheit von Geist und Körper, der nur durch seinen Leib vermittelt erscheint.Footnote 55 Dieser Leib wiederum ist des Weiteren auf seine Weise konkreter und einzigartiger Ausdruck einer einzigartigen Person, deren Biografie ihm sozusagen eingeschrieben ist. Ethisch ergibt sich daraus die Erkenntnis, dass sich das Wahrnehmen und Anerkennen einer Person als Person notwendig durch eine Anerkennung von deren Leib vollzieht:

Wir achten einen anderen Menschen nur dann, wenn wir ihn in der konkreten Gestalt anerkennen, in der er uns begegnet, sei dies als gesunder Mensch auf der Höhe seiner persönlichen Attraktivität und beruflichen Leistungsfähigkeit, sei es als kranker, behinderter, sterbender oder noch ungeborener Mensch in der äußersten Verletzlichkeit seines leiblichen Daseins.Footnote 56

Für Menschen mit Demenz ergibt sich daraus der Anspruch einer Anerkennung nicht nur ihrer spezifischen, leiblich manifesten Vulnerabilität (siehe Abschn. 3.2.3), sondern auch ihrer leiblich manifesten personalen Identität. Dass die Identität der Person nicht allein an die kognitive Fähigkeit zur Erinnerung oder zur eigenen Verortung im Fluss der Zeit geknüpft ist, sondern auch in den leiblichen Vollzügen des Menschen deutlich wird, gewinnt dabei bei Menschen mit Demenz eine besondere Bedeutung. So legt Kruse dar:

Das allgemeine Verständnis von Person, das die Vernunftbegabung als zentrales Merkmal der Person erachtet, erweist sich bei der Betrachtung und Begleitung eines demenzkranken Menschen als viel zu eng und auch der Vielschichtigkeit der Ausdrucksformen von Personalität als unangemessen. […] Und es darf nicht übersehen werden, dass alle Erscheinungs- und Ausdrucksformen biografische Vorläufer haben, das heißt in ihrer spezifischen Konturierung durch biografische Erlebnisse und Erfahrungen mitbestimmt sind.Footnote 57

Mit Blick auf die leiblich manifeste Biografie von Menschen mit Demenz hebt auch Fuchs die Bedeutung von den im Laufe des Lebensweges gesammelten Erfahrungen hervor:

In unserem Habitus, in unserem Sein kommen wir als Personen mehr zur Erscheinung als in unseren kognitiven und reflektierenden Fähigkeiten. Wenn wir Selbstsein in dieser Weise als primär-leibliches verstehen, dann werden wir auch zu einer anderen Wahrnehmung des Demenzkranken gelangen: nicht als eines Menschen, der seine Souveränität, Rationalität und damit Personalität eingebüßt hat, sondern als eines Menschen, der sein Personsein gerade als leiblich-zwischenleibliches zu realisieren vermag, solange er in der zu ihm passenden räumlichen, atmosphärischen und sozialen Umgebung leben kann. […] Die Kohärenz des Selbstseins ist dann nicht mehr vermittelt durch explizite autobiographische Erinnerungen, sondern durch die präreflexive Vertrautheit des Leibes mit der Welt. Die grundlegende Kontinuität der Person ergibt sich nicht aus dem Bestand deklarativen Wissens über die eigene Person und ihre Biographie, den sich das Subjekt selbst zuschreibt, sondern auch einer im Leibgedächtnis sedimentierten und als solcher implizit immer gegenwärtigen Geschichte.Footnote 58

Mit dem Leibgedächtnis ist ein zentrales Phänomen benannt, das einer genaueren Klärung bedarf, da es verdeutlicht, wie sich – um die obige Formulierung aufzugreifen – die individuelle Biografie einer Person in deren Leib einschreibt: Mit dem Leibgedächtnis wird die Art und Weise bezeichnet, wie sich die Erinnerungen eines Menschen leiblich manifestieren – sei es in routinierten Bewegungsabläufen, im Zurechtfinden in vertrauten Umgebungen, in Gestik und Mimik oder in der Reaktion auf altvertraute Sinneswahrnehmungen.Footnote 59 Während in einer Demenzerkrankung das bewusste autobiografische Gedächtnis starke Einbußen erleiden kann, gilt für das Leibgedächtnis als ein „sprachlose[s], aber treue[s] Gedächtnis“Footnote 60, dass dieses noch bis in späte Stadien der Demenzerkrankung erhalten bleiben kann. So können Menschen mit Demenz aufgrund ihres erhaltenen Leibgedächtnisses in vielen Fällen etwa den Umgang mit Gegenständen wie einem Fahrrad oder einem Musikinstrument noch beherrschen bzw. sich sogar Fähigkeiten wie das Walzertanzen neu aneignen und durch das Leibgedächtnis merken.Footnote 61

Mit Kruse, der ebenfalls das Leibgedächtnis von Menschen mit Demenz betont, lässt sich in diesem Kontext von „Inseln des Selbst“ sprechen – eine Metapher dafür, dass sich zentrale DaseinsthemenFootnote 62 des Menschen auf diese Weise erhalten und manifestieren können:

[A]uch bei einer deutlich verringerten Kohärenz des Selbst [sind] noch in späten Phasen immer Inseln des Selbst erkennbar […]; das heißt: Aspekte der Personalität, die in früheren Lebensaltern zentral für das Individuum waren, Daseinsthemen, die dessen Erleben früher bestimmt haben, sind in einzelnen Situationen immer wieder erkennbar. […] Und auch mit Blick auf das Leibgedächtnis lässt sich konstatieren, dass dieses bei demenzkranken Menschen noch in späten Stadien der Erkrankung eine bemerkenswerte Ausprägung aufweist: […].Footnote 63

Dass sich im Leibgedächtnis noch entscheidende Momente der personalen Identität abzeichnen, nötigt zu einer Reflexion dessen, was sowohl philosophisch als auch psychologisch als das Selbst verstanden wird: Es handelt sich dabei, wie Kruse darlegt, um ein kohärentes Gebilde, insofern im Selbst zahlreiche verschiedene Aspekte – multiple Selbste – miteinander verbunden sind, sowie um ein dynamisches Gebilde, insofern diese Selbste sich durch neue Eindrücke und Erfahrungen kontinuierlich verändern. Eine Demenzerkrankung kann dazu führen, dass diese Selbste zunehmend an Kohärenz und Dynamik einbüßen. Mit der Metapher der Inseln des Selbst gesprochen bildet sich also sozusagen ein Archipel heraus. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Selbst des Menschen mit Demenz durch diese Entwicklung aufhörte, zu existieren. So lassen sich für die Betroffenen auch bei weit fortgeschrittener Demenz konkrete vertraute Situationen identifizieren, die bei ihnen recht konstant positive Emotionen hervorrufen und somit einen Hinweis auf die erhaltenen Inseln des Selbst geben. Diese positiven Reaktionen sind dabei – ebenso wie andere Manifestationen des Leibgedächtnisses wie z. B. vertraute Bewegungsabläufe o. ä. – keine bloß automatisch und unbewusst verlaufenden Prozesse, sondern bezeugen, wie Tewes herausstellt, das Selbst des Menschen mit Demenz:

Such examples clearly demonstrate that the manifestation of embodied memory skills and habits in dementia are by no means stereotyped, preprogramed action schemas. […] [T]hese are situation-specific embedded action patterns that depend on attention to and implicit understanding or know-how of the respective social context. One can therefore conclude that neither the second nature of these patients nor their selfhood has been destroyed; rather these persist in ways that still allow and sustain expressive and sense-making interactions.Footnote 64

Doch nicht nur Inseln des Selbst sind somit erkennbar erhalten, es lässt sich in dem leiblich vermittelten Verhalten von Menschen mit Demenz auch beobachten, dass dessen Selbst weiterhin zur Selbstaktualisierung tendiert, d. h. dazu, sich selbst auszudrücken und mitzuteilen – und dies über diverse „psychische Qualitäten, die in kognitive, emotionale, empfindungsbezogene, sozialkommunikative, alltagspraktische und körperliche Qualitäten differenziert werden können“Footnote 65. Diese Selbstaktualisierungstendenz ist auch in späten Stadien von Demenzerkrankungen vorhanden.Footnote 66 Den Menschen mit Demenz in seiner leiblichen Gestalt als Person anzuerkennen und wahrzunehmen, bedeutet demnach auch und besonders, in dessen Verhaltensweisen den – wenn auch fragmentierten – Ausdruck seines Selbst zu finden und zu erkennen:

Diese Inseln des Selbst verweisen ausdrücklich auf die Person, sie geben Zeugnis von dieser. Wenn hier von Inseln des Selbst gesprochen wird, so ist damit nicht gemeint, dass „ein Teil“ der Person verloren gegangen wäre: Personalität ist diesem Verständnis zufolge nicht an bestimmte Fähigkeiten gebunden. Vielmehr vertreten wir die Auffassung, dass sich die Personalität des Menschen nun in einer anderen Weise ausdrückt.Footnote 67

Es wurde nun deutlich, dass Menschen mit Demenz sowohl innerhalb der Paradigmen eines primär auf Rationalität ausgerichteten Personbegriffs als auch im Rahmen eines umfassenderen Personbegriffs, der den Menschen mithilfe der Konzeption der Leiblichkeit als psychophysische Einheit begreift, als Personen im vollen Sinne des Wortes zu gelten haben. Die damit verbundene Forderung der Anerkennung der Personalität von Menschen mit Demenz ist somit begründet, auch wenn ihre konkreten Implikationen für die Pflegepraxis um die Anwendung von FeM bei Menschen mit Demenz noch einer Analyse bedürfen. Eine erste Antwort kann an dieser Stelle das Konzept der person-zentrierten Pflege bieten.

3.1.3 Person-zentrierte Pflege

Ausgehend von dem Anspruch der unabdingbaren Anerkennung der Personalität von Menschen mit Demenz sind zunächst zwei wesentliche Momente einer ethisch wie fachlich fundierten professionellen Sorge um dieselben zu unterscheiden – das „Präsentisch-Werden der individuellen Vergangenheit“ und die „Erfahrung der Bezogenheit“. Dabei sind diese beiden Momente nicht voneinander zu trennen, sondern in wechselseitiger Ergänzung zueinander zu verstehen: Mit dem Präsentisch-Werden der individuellen Vergangenheit des betroffenen Menschen mit Demenz ist angesprochen, dass die Pflege sich darauf ausrichten sollte, die Person mit ihrer je eigenen Biografie in das Zentrum zu rücken und durch Schaffung von Situationen, die Daseinsthemen, Vorlieben und Interessen der Person vergegenwärtigen, die Selbstaktualisierung des Menschen zu fördern. Zugleich sind mit dem Moment der Erfahrung der Bezogenheit die den Menschen mit Demenz begleitenden Akteure adressiert, sich dem Menschen offen, vertraut und wahrhaftig zuzuwenden.Footnote 68 Das Wahrhaftige dieser Beziehung impliziert dabei, dass man den pflegebedürftigen Gegenüber nicht auf dessen Demenzerkrankung reduziert, sondern – wie Kruse in Anlehnung an Kitwood formuliert – „in allen Phasen der Kommunikation, auch unter den verschiedensten Ausdrucksformen, nach dessen ‚eigentlichem Wesen‘, nach dessen Personalität sucht“Footnote 69. Eine auf diese Weise ausgerichtete Pflege und Betreuung, die das Personsein des Menschen in das Zentrum allen pflegerischen Handelns rückt, kann als Grundprinzip guter Pflege verstanden werden.Footnote 70

Tatsächlich ist mit dem Namen Kitwood der hauptsächliche Begründer des sog. person-zentrierten Pflegeansatzes genannt, dessen Kerngedanken nachfolgend skizziert seien, um einen Rahmen abzustecken, in dem die bisherigen ethischen Überlegungen zur Personalität von Menschen mit Demenz praktische Umsetzung erfahren können. Der person-zentrierte Ansatz Kitwoods, der seit den 1990er Jahren zunehmend international wie national verbreitet istFootnote 71 – jüngst fanden seine Überlegungen etwa Eingang in den Expertenstandard Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit DemenzFootnote 72 geht zunächst von den persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen des britischen Theologen und Sozialpsychologen aus: Kitwood konstatierte, dass sich in der Begleitung besonders von Menschen mit Demenz eine gesellschaftliche Tendenz herausgebildet hatte, „Menschen mit schwerer körperlicher oder seelischer Behinderung zu depersonalisieren. Es wird ein Konsens geschaffen […] und in soziale Praktiken eingebettet, demzufolge die Betroffenen keine echten Personen sind.“Footnote 73 Ganz im Sinne der oben entwickelten Gedankengänge äußerte auch Kitwood die Vermutung, dass eine solche Tendenz auf bewusste und unbewusste Haltungen der Sorgenden zurückzuführen sein könnte. Für diesen Aspekt wählte Kitwood den Terminus der „bösartigen“ bzw. „malignen Sozialpsychologie“ (malignant social psychology), wobei er betonte, dass der maligne Charakter derselben in ihrer Wirkung liegt und durchaus nicht intendiert sein muss:Footnote 74

Es scheint etwas Spezielles um die zur Demenz führenden Bedingungen zu sein, fast so, als zögen sie eine besondere Art der Unmenschlichkeit, eine in ihren Auswirkungen maligne, bösartige Sozialpsychologie auf sich, und zwar auch dann, wenn diese von freundlichen und wohlmeinenden Menschen ausgeht. Dies könnte als Abwehrreaktion, als eine Reaktion auf Ängste gesehen werden, die teilweise auf unbewußter Ebene bestehen.Footnote 75

Besonders interessant ist dabei die Hypothese, dass es sich bei depersonalisierenden Haltungen um eine Abwehrreaktion vonseiten Sorgender handeln könnte: Im Kontext der Vulnerabilität wird noch darauf zurückzukommen sein, dass die Verletzlichkeit von Menschen mit Demenz auf eine bestimmte Weise auch mit der eigenen Verletzlich- und Endlichkeit konfrontiert (siehe Abschn. 2.2.1). Insofern könnte eine Herangehensweise, der eigenen Betroffenheit auszuweichen, darin bestehen, Menschen mit Demenz bewusst oder unbewusst „zu einer anderen Spezies zu machen, die keine Personen in der vollen Bedeutung des Wortes sind“Footnote 76. Im Laufe seiner empirischen Forschung trug Kitwood weiterhin zehn Arten von Handlungen der malignen Sozialpsychologie zusammen – die dabei bspw. von Infantilisieren (infantilization), über Stigmatisieren (stigmatization), Etikettieren (labelling) und Entwerten (invalidation) bis hin zu Verobjektivierung (objectification) reichten – und ergänzte diese wiederum zu einem späteren Zeitpunkt um sieben weitere, unter denen neben dem Ignorieren (ignoring) und dem Herabwürdigen (disparagement) nun auch explizit die Anwendung von Zwang (imposition) aufgeführt wurde.Footnote 77

An dieser Stelle kann es lohnend sein, die Frage zu stellen, ob auch die Anwendung von FeM unter Umständen eine Manifestation einer solchen malignen Sozialpsychologie darstellen kann. Zunächst einmal sind sie problemlos unter die Kategorie des Zwangs zu rechnen, insofern die Definition Kitwoods „jemanden zu einer Handlung zwingen […] bzw. ihr Wahlmöglichkeiten verweigern“Footnote 78 deutliche Überschneidungen mit der Definition des Deutschen Ethikrats aufweist, die Zwang – und somit auch FeM – übergeordnet als „die Überwindung des Willens der adressierten Person“Footnote 79 bestimmt. Es wäre jedoch auch auf einer Meta-Ebene zu erwägen, ob ungerechtfertigten FeM in einem gewissen Sinne eine Handlungslogik zugrunde liegt, die den betroffenen Menschen zu einem Objekt erklärt oder – um nochmals ausdrücklich zu betonen, dass dies in den allermeisten Fällen nicht von den Sorgenden intendiert wird – von dem betroffenen Menschen so erfahren wird, dass er wie ein Objekt behandelt wird. Hier ließe sich wieder Margalit hinzuziehen, der in seiner Analyse der Demütigung ebenso wie Kitwood betont, dass die analysierten Handlungen von den Akteuren oftmals gar nicht auf diese Weise intendiert sind: Als eine Form von Demütigung führt Margalit unter der Überschrift „Menschen unmenschlich behandeln“Footnote 80 ebenfalls solche verobjektivierenden Handlungen an, unterscheidet hier jedoch terminologisch zwischen dem Behandeln von Menschen als Objekte im strengen Sinn und dem Behandeln von Menschen, als ob sie Objekte wären, in einem weiteren Sinn. Margalit ist dabei der Meinung, in den meisten Fällen von Demütigung liege nicht ein buchstäbliches Behandeln oder Wahrnehmen des Menschen als Objekt vor, sondern eher ein als ob, bei dem der „‚Verdinglicher‘ nicht wirklich [glaubt], daß die betreffenden Menschen Dinge sind, sondern […] sie nur so [behandelt]“Footnote 81. Er nutzt diese Überlegung jedoch, um zu zeigen, „was es heißt, für die menschliche Seite einer Person blind zu sein.“Footnote 82

Mit Blick auf FeM ist zu erwägen, ob etwa eine pauschale Ruhigstellung ‚verhaltensauffällig‘ gewordener Menschen mit Demenz durch nicht-indizierte Psychopharmaka nicht eine solche Art von Reduktion darstellt, insofern diese hier weniger als Personen und eher als Störfaktoren für einen geregelten Ablauf behandelt werden. So zeigt etwa Newerla für das akutstationäre Setting mit kritischem Blick auf,

dass die Organisation Akutkrankenhaus […] das Demenz-Phänomen […] notwendigerweise als Problem bzw. Störung wahrnehmen muss. In einem Setting, in dem taylorisierte, routinierte und formal-geplante Arbeitsabläufe […] den Organisationsalltag bestimmen, erschweren die andersartigen Handlungsabfolgen von Menschen mit Demenz die Umsetzung dieser Planungen. […] Hinzu kommt, dass der eigentliche Auftrag des Akutkrankenhauses […] dadurch gefährdet wird, dass einige verwirrte PatientInnen nicht wollen, was für sie im Rahmen einer medizinischen Versorgung vorgesehen ist. Schnell erscheinen sie dann als ›Störenfriede‹, die unter Kontrolle gebracht werden müssen. Die Organisation und ihre Mitglieder suchen nach Möglichkeiten, diese PatientInnen (wieder) fügsam zu machen, sie in den organisationalen Ablauf zu (re-)integrieren. […] Misslingen kommunikative Methoden, PatientInnen zu überreden, […] wird auf andere Mittel zurückgegriffen, diese gefügig zu machen. Die hohe Zahl an fixierten und/oder sedierten PatientInnen mit Demenz im Akutkrankenhaus deutet auf eine weite Verbreitung dieser Praxis hin.Footnote 83

Besonders für das Akutkrankenhaus liegt also aufgrund der strukturellen Merkmale der Institution nahe, dass die Gefahr droht, Menschen mit Demenz zumindest primär als ‚Krankheitsfälle‘ oder gar als ‚(Zimmer-)Nummern‘ zu behandeln. Damit ist nicht gesagt, dass FeM per se und in jedem Fall demütigend sind, jedoch ist die Möglichkeit aufgezeigt, dass sie Teil von Strukturen sein können, die als institutionelle Demütigung zu bezeichnen wären. Dabei bezieht sich Margalit, der das Behandeln von Menschen, als ob sie Nummern wären, ebenfalls als ein Beispiel anführt,Footnote 84 ausdrücklich nicht nur auf institutionelle Demütigung in ihren Extremformen wie bspw. in Gefängnissen, sondern verdeutlicht, dass sie sich in vermeintlich alltäglichen Situationen und Settings ereignen kann, ohne als solche unmittelbar intendiert zu sein oder erkannt zu werden.Footnote 85

Doch wie kann einer malignen Sozialpsychologie, wie sie Kitwood beschreibt, begegnet werden? Im Wesentlichen ist dies die Zielsetzung des person-zentrierten Ansatzes, den Kitwood auf die programmatische Formel brachte: „Unser Bezugsrahmen sollte nicht länger die Person-mit-DEMENZ, sondern die PERSON-mit-Demenz sein.“Footnote 86 Personen werden dabei nicht als beziehungslose Subjekte gedacht, sondern angelehnt an die Dialogphilosophie Martin Bubers als wesentlich intersubjektiv auf einander bezogen verstanden:Footnote 87

Wenn wir Demenz verstehen wollen, ist es meiner Ansicht nach entscheidend, Personsein im Sinne von Beziehung zu sehen. Selbst bei sehr schwerer kognitiver Beeinträchtigung ist oft eine Ich-Du-Form der Begegnung und des In-Beziehung-Tretens möglich.Footnote 88

Anhand dieses dialogischen Personbegriffs zielt die person-zentrierte Pflegekonzeption darauf ab, eine Grundlage zu schaffen, auf der Pflegende Menschen mit Demenz auf Augenhöhe begegnen und in ihrer Personalität und Individualität anerkennen. Gleichzeitig sind mit der dialogischen Perspektive auch soziale Dynamiken und Wirkungszusammenhänge in den Blick genommen, die die soziale Einbettung von Pflegebeziehungen zu reflektieren helfen.Footnote 89

Zusammenfassend ist der person-zentrierte Ansatz Kitwoods von der Überzeugung getragen, dass Menschen mit Demenz uneingeschränkt als Personen anzuerkennen sind und dass dabei ihr „Personsein […] kontinuierlich gestärkt werden [muss]“Footnote 90. Auch und besonders für die ethische und pflegefachliche Bewertung der Anwendung von FeM bei Menschen mit Demenz hat sich gezeigt, dass hierin eine Grundlage besteht, nach der sich dieselbe normativ auszurichten hat. Dass dabei die Anerkennung bzw. Wahrnehmung von Personalität nicht von der leiblich vermittelten Beziehung zwischen Sorgenden und Sorgeempfängern loszulösen ist, sondern sich gerade in dieser Beziehung ereignet bzw. verwirklicht, verweist bereits auf die Überlegungen des nachfolgenden Abschnitts.

3.2 Anerkennung der Vulnerabilität von Menschen mit Demenz

Einen Menschen konkret als Person anerkennen bedeutet, wie die vorangegangene Analyse ergeben hat, ihn auch und besonders in den fundamentalen Ich-Du-Beziehungen wahrzunehmen, in die er als Mensch immer schon eingebettet ist. Eine solche dialogische Perspektive zeigt auf, dass die Person kein monolithisch isoliertes Subjekt ist, sondern immer schon in Abhängigkeitsverhältnissen zu anderen Personen steht.Footnote 91 Diese Erkenntnis hat weitreichende Konsequenzen, denn die Angewiesenheit auf Unterstützung – etwa in Form der Pflegebedürftigkeit eines Menschen mit Demenz – stellt somit keinen Verlust von Menschlichkeit dar, sondern ist vielmehr Ausdruck einer grundsätzlichen Vulnerabilität des Menschen. Die Anerkennung der Personalität des Menschen mit Demenz geht folglich mit einer Anerkennung von dessen Vulnerabilität einher und – wie Gräb-Schmidt es formuliert – „Verletzlichkeit ist konsequenterweise nicht nur als defizitärer Zustand zu verstehen, den es zu überwinden gilt, sondern sie ist in ihren Chancen und Grenzen in das Selbstverständnis von Personalität einzubinden.“Footnote 92 Mit Maio kann daher der ethische Anspruch formuliert werden:

Dem hilfsbedürftigen Menschen gerecht zu werden kann […] nur heißen, ihn in seinem spezifischen Sein wahrzunehmen und ihn dafür wertzuschätzen, wertschätzen nicht für das, was er kann, sondern für das, was er ist: nämlich ein Mensch in einem Verhältnis des Angewiesenseins auf die Unterstützung anderer.Footnote 93

Nachfolgend soll in diesem Sinne entwickelt werden, inwiefern die Anerkennung der Vulnerabilität eine weitere ethische Grundlage für einen reflektierten Umgang mit FeM bei Menschen mit Demenz bilden kann. Dabei ist zunächst von der grundsätzlichen Erkenntnis auszugehen, dass Vulnerabilität kein Spezifikum bestimmter Personengruppen ist, sondern als zentraler Aspekt der conditio humana das Menschsein selbst prägt (Abschn. 3.2.1). Vor diesem Hintergrund kann auch die Vulnerabilität von Menschen mit Demenz neu in den Blick genommen werden, da sich diese nun als Versichtbarung der grundsätzlichen Verletzlichkeit menschlichen Lebens darstellt. Zugleich sollen dabei verschiedene Dimensionen der Vulnerabilität von Menschen mit Demenz aufgezeigt und auf die Thematik der Anwendung von FeM in professionellen Sorgebeziehungen angewandt werden (Abschn. 3.2.2). Wie bereits im Falle der Personalität soll sodann die Frage gestellt werden, inwiefern sich die Vulnerabilität des Menschen mit Demenz in dessen Leiblichkeit manifestiert: In diesem Kontext soll mit Rekurs auf Lévinas’ phänomenologische Analyse des Antlitzes des Anderen aufgezeigt werden, wie sich der ethische Anspruch von Menschen mit Demenz leiblich ausdrückt (Abschn. 3.2.3). Zuletzt erfolgt eine Darlegung des in dieser Thematik stets mitschwingenden Beziehungsaspektes: In diesem Kontext soll das beziehungszentrierte Pflegeverständnis Nolans et al. analysiert werden, um zu ermitteln, welche Implikationen die normativen Ansprüche, die sich aus der Vulnerabilität des Menschen mit Demenz ergeben, für die Pflegepraxis um die Anwendung von FeM haben (Abschn. 3.2.4).

3.2.1 Vulnerabilität als zentraler Aspekt der conditio humana

Ein Schlüsselereignis in der Buddha-karita, einer der ältesten Lebensbeschreibungen des Siddharta Gautama, stellen dessen Ausfahrten dar, in denen der behütete Königssohn das erste Mal das Leben außerhalb des Palastes sehen sollte: Trotz aller Bemühungen des Königs sowie des Hofstaats, die Existenz von Alter, Krankheit, Leid und Tod vor dem jungen Mann zu verheimlichen und alle gebrechlichen Menschen von dessen Reiseroute zu entfernen,Footnote 94 erscheint ihm in einer plötzlichen Wende seines Lebens ein alter, gebrechlicher Mann, der sich auf einen Gehstock stützt: Der Prinz, der noch nie die Zeichen des Alterns gesehen hatte, ist zutiefst getroffen und schockiert. Betroffen von dem Antlitz des alten Mannes, den er „with his gaze intently fixed on him“Footnote 95 betrachtet, fragt der junge Siddharta seinen Wagenlenker, was den alten Mann befallen habe und ob dies ihm selbst widerfahren würde. Der Wagenlenker erklärt, es sei „old age by which he is broken down, – the ravisher of beauty, the ruin of vigour, the cause of sorrow, the destruction of delights, the bane of memories, the enemy of the senses“Footnote 96 und konfrontiert den Prinzen sodann mit der Realität, dass „[i]t will come without doubt by the force of time through multitude of years even to my long-lived lord“Footnote 97. Bestürzt entschließt sich Siddharta zur Umkehr: „Since such is our condition, O charioteer, turn back the horses, – go quickly home; how can I rejoice in the pleasure-garden, when the thoughts arising from old age overpower me?“Footnote 98 Diese Erfahrung Siddhartas, die bei weiteren Ausfahrten noch durch den Anblick eines kranken und schließlich eines verstorbenen Menschen intensiviert wird, stellt den eigentlichen Wendepunkt seines Lebens dar, insofern er durch diese Erfahrungen das erste Mal mit der Vulnerabilität des Menschen konfrontiert ist.

Für die nachfolgende Analyse erscheinen dabei drei Momente dieser Erzählung zentral: Erstens ist es die leiblich vermittelte Begegnung mit ‚dem Anderen’ in dessen jeweiliger Grenzsituation (Alter, Krankheit, Sterben), die den Reflexionsprozess Siddhartas auslöst. Zweitens konfrontiert die Begegnung mit dem alten Menschen – wie durch die Frage des Prinzen, ob er selbst einmal davon betroffen sein könnte, deutlich wird – mit der eigenen Endlichkeit und Verletzlichkeit. Nicht zuletzt geht damit drittens eine Erkenntnis der Endlichkeit und Verletzlichkeit jedes menschlichen Lebens einher, wie Siddhartas Worte „such is our condition“ verdeutlichen. Jaspers’ Konzept der Grenzsituation scheint dabei besonders geeignet, diese Erfahrung zum Ausdruck zu bringen:

[E]s gibt Situationen, die in ihrem Wesen bleiben, auch wenn ihre augenblickliche Erscheinung anders wird und ihre überwältigende Macht sich in Schleier hüllt: ich muß sterben, ich muß leiden, ich muß kämpfen, ich bin dem Zufall unterworfen, ich verstricke mich unausweichlich in Schuld. Diese Grundsituationen unseres Daseins nennen wir Grenzsituationen. […] [E]s sind Situationen, über die wir nicht hinauskönnen, die wir nicht ändern können. Das Bewusstwerden dieser Grenzsituationen ist nach dem Staunen und dem Zweifel der tiefere Ursprung der Philosophie. Im bloßen Dasein weichen wir oft vor ihnen aus, indem wir die Augen schließen und leben, als ob sie nicht wären. Wir vergessen, daß wir sterben müssen, vergessen unser Schuldigsein und unser Preisgegebensein an den Zufall.Footnote 99

Was für die Begegnung mit dem alten Menschen allgemein gilt, spitzt sich nun in besonderer Weise in der Begegnung mit Menschen mit Demenz im Rahmen professioneller Sorgebeziehungen zu: Die Demenz konfrontiert die beteiligten Akteure letztlich mit der Vulnerabilität als zentralem Aspekt der conditio humana. In diesem Sinne geht Kruse davon aus,

dass sich in der Demenz eine immer häufiger auftretende Verletzlichkeit widerspiegelt, dass sich die Demenz, dass sich der demenzkranke Mensch immer mehr zu einer modernen Form des memento mori entwickelt. In dem demenzkranken Menschen zeigt sich uns dann nicht nur ein von einer bestimmten Krankheit betroffener, anderer Mensch, sondern in diesem begegnen wir immer mehr uns selbst in unserer eigenen Verletzlichkeit, Vergänglichkeit, Endlichkeit.Footnote 100

Damit ist nicht gesagt, dass das Alter oder eine Demenzerkrankung das einzige Phänomen ist, durch das man sich der eigenen Vulnerabilität bzw. der grundsätzlichen Vulnerabilität des Menschen bewusst wird, jedoch tritt diese in einer solchen Lebensphase sozusagen deutlicher in Erscheinung: „Die Verletzlichkeit ist Teil der Conditio humana. […] Dabei beschränkt sich das Faktum der Verletzlichkeit keinesfalls auf das hohe Alter, aber es tritt […] deutlicher hervor“Footnote 101. Dieser Sachverhalt wird in der Unterscheidung deutlich, die zwischen Vulnerabilität als anthropologischer Grundkonstante, die wesentlich zum Sein des Menschen gehört („ontological vulnerability“), und konkreter, situativer Vulnerabilität, die den jeweiligen Betroffenen aufgrund ihrer spezifischen Verfasstheit zukommt („situated vulnerability“), getroffen werden kann.Footnote 102 Diese Perspektive kann insofern geeignet sein, als dass sie hilft, die situative Vulnerabilität eines Menschen mit Demenz, die in dessen Beeinträchtigung durch die Demenzerkrankung besteht, als Ausdruck einer prinzipiellen ‚ontologischen‘ bzw. anthropologischen Vulnerabilität zu erkennen, die allen Menschen durch ihr Menschsein gemein ist. Es ist ein entscheidender Unterschied, ob eine Demenzerkrankung als dem Menschsein abträglich oder gar dehumanisierend wahrgenommen wird (siehe Abschn. 3.1.1) – oder doch vielmehr als situative Manifestation der grundsätzlichen conditio humana.

Im Verlauf der nachfolgenden Argumentation darf des Weiteren nicht vergessen werden, dass Vulnerabilität nur einen Aspekt des alternden Menschen erfasst, der der perspektivischen Ergänzung bedarf: Kruse weist ausdrücklich darauf hin, dass sich in einer ganzheitlichen Betrachtungsweise die „Verletzlichkeitsperspektive“ und die „Potenzialperspektive“ ergänzen müssen, um nicht nur Schwächen, sondern auch Potenziale, die das Altern mit sich bringt, anzuerkennen.Footnote 103 Besonders das Konzept der Resilienz kann dabei helfen, diesen Perspektivenwechsel vorzunehmen: Während die Vulnerabilität solche Aspekte bestimmt, die die Person in einer bestimmten (Pflege-)Situation schwächen, steht umgekehrt die Resilienz für solche Faktoren, die die Person in der entsprechenden (Pflege-)Situation zu stärken vermögen, sodass sie diese Einbußen (in Teilen oder vollständig) bewältigen bzw. kompensieren kann.Footnote 104

Eine ähnliche Sicht auf die trotz der Verletzlichkeit erhaltenen Potenziale lässt sich nach Springhart über eine Unterscheidung der Vulnerabilität von der Fragilität gewinnen: Während Fragilität als Konzept von einer grundsätzlichen Gefahr für den Menschen ausgeht, durch Verletzung ‚gebrochen‘ oder ‚zerbrochen‘ zu werden,Footnote 105 betont die von dem Gedanken der Verwundung ausgehende Konzeption der Vulnerabilität, „dass selbst bei der konkreten Realisierung von Vulnerabilität als Verletzung noch offen ist, ob die Wunden zum Abbruch führen, ob sie heilen oder Narben bleiben“Footnote 106. Ebenso wenig ist die Vulnerabilität des Menschen mit einer reinen Passivität gleichzusetzen, da vulnerable Menschen nicht einfach nur erleiden, was ihnen widerfährt, sondern sich dazu auch stets verhalten können.Footnote 107 Wenn im Nachfolgenden also ein Schwerpunkt auf der Vulnerabilität des Menschen mit Demenz liegt, so stets in dem Bewusstsein seiner Potenziale.

3.2.2 Die Vulnerabilität von Menschen mit Demenz

Vor dem Hintergrund dieser Vorbemerkungen ist nun die spezifische Vulnerabilität von Menschen mit Demenz in den Blick zu nehmen, wobei der Vulnerabilitätsbegriff zunächst noch einer weiteren Klärung bedarf. Ganz grundsätzlich bezeichnet Vulnerabilität nicht etwa konkrete Krankheiten, Einbußen und Beeinträchtigungen eines Menschen, sondern vielmehr die erhöhte Empfänglichkeit des Menschen bzw. vulnerabler Personengruppen für bestimmte Krankheiten, Einbußen und Beeinträchtigungen.Footnote 108 Weiterhin ist der Begriff über das Vulnerabilitätskonstrukt der Medizin, das eine körperliche Disposition bzw. Anfälligkeit adressiert, hinaus zu weiten, um zusätzlich die psychischen, kognitiven und sozialen Aspekte der Verletzlichkeit einzuschließen. Diese können einander auch wechselseitig bedingen bzw. beeinflussen, sodass bspw. durch eine Demenzerkrankung nicht nur die psychische Vulnerabilität der Person zunimmt, sondern – dadurch, dass eigene Einbußen nun erschwert verarbeitet und bewältigt werden können – auch die kognitive und körperliche Verletzlichkeit.Footnote 109 Springhart unterscheidet in dieser Hinsicht drei Dimensionen, wobei sie von der somatischen, der psychischen sowie der systemischen Vulnerabilität spricht.Footnote 110 Nachfolgend seien diese dargestellt und auf die Problematik um die Anwendung von FeM bei Menschen mit Demenz übertragen.

Unmittelbar greif- und erfahrbar wird Vulnerabilität in der somatischen Dimension, in der sie sich als Risiko des Menschen darstellt, durch äußerliche Einwirkung verletzt oder verwundet zu werden oder durch innere akute oder chronische Erkrankungen Schäden zu erleiden.Footnote 111 Im Falle von Menschen mit Demenz ist bereits deutlich geworden, dass ihre Demenzerkrankung auch eine Verletzlichkeit in diesem grundsätzlichen Sinn bedeutet, da sie mit einer eingeschränkten Motorik und Mobilität einhergehen kann und vor diesem Hintergrund häufig u. a. das Frailty-Syndrom zur Folge hat. Auch FeM sind stets vor dem Hintergrund dieser Vulnerabilität zu betrachten: Besteht aufgrund der kognitiven Einschränkungen eine Gefahr, dass sich Menschen mit Demenz etwa im intensivmedizinischen Setting durch Entfernung von Sonden und venösen Zugängen selbst verletzen, so erhöht sich ihre somatische Vulnerabilität noch zusätzlich. In solchen Fällen kann es daher sein, dass FeM als ultima ratio in Frage kommen können, um dieser zusätzlichen, aus der Pflegesituation entstehenden, Vulnerabilität zu begegnen.

Jedoch ist mit Blick auf die körperlichen Folgen von FeM ebenfalls hervorzuheben, dass solche auch umgekehrt eine zusätzliche Verletzlichkeit für Menschen mit Demenz zur Folge haben können. Dieses Phänomen wird als sekundäre Vulnerabilität beschrieben. So erläutert etwa Lob-Hüdepohl: „Maßnahmen, die eine primäre Verletzlichkeit von Menschen […] verhindern (wollen), bergen unweigerlich auf einer anderen Ebene schwere Risiken, ebenfalls für Leib und Leben.“Footnote 112 So formuliert auch der Deutsche Ethikrat: „Damit ergibt sich im Kontext der Sorgehandlungen wohltätigen Zwangs das Problem, dass Maßnahmen zur Vermeidung der primären Vulnerabilität das Risiko von Verletzungen in sekundärer Hinsicht beträchtlich erhöhen können.“Footnote 113 Auch im Sinne psychischer Folgen von FeM kann von einer sekundären Vulnerabilität gesprochen werden, insofern sich FeM ebenfalls stark auf die kognitiven, motivationalen und volitiven Ressourcen der Betroffenen auswirken.Footnote 114 In einer bemerkenswerten Dialektik gehen FeM als zunächst meist fürsorglich intendierte Pflegehandlungen von der Vulnerabilität der Betroffenen aus, die sie zu kompensieren beabsichtigen, resultieren jedoch im nächsten Schritt durch den Zwangsaspekt der Handlung potenziell in einer erneuten und gesteigerten Verletzlichkeit und Autonomiebeeinträchtigung.Footnote 115 Körperliche und psychische Vulnerabilität sind dabei – nicht zuletzt aufgrund der psychophysischen Einheit des Leibes (siehe Abschn. 3.1.2 sowie 3.2.3) – kaum zu trennen.

Mit der psychischen Dimension von Vulnerabilität ist angesprochen, dass sich auch von Seiten der subjektiven Reaktion und des Bewusstseins eine eigene Verletzlichkeit ergeben kann. Wie im Falle somatischer Verletzlichkeit ist wiederum eine Innen- und eine Außenperspektive zu unterscheiden, insofern etwa psychischer Missbrauch von außen eine solche Vulnerabilität begünstigen kann und umgekehrt auch innere Faktoren wie derjenige einer psychischen Erkrankung in diesen Bereich zu zählen sind.Footnote 116 Es liegt auf der Hand, dass mit einer Demenzerkrankung also in erster Linie eine innere psychische Vulnerabilität verbunden ist, die darin begründet liegt, dass Menschen mit Demenz aufgrund ihrer kognitiven Einbußen in ihrem Selbst- und Weltverhältnis beeinträchtigt sind. An dieser Stelle sollten FeM – wie alle pflegerischen MaßnahmenFootnote 117 – darauf ausgerichtet sein, im Sinne einer restitutio ad integritatem (siehe Abschn. 1.2) diese Beeinträchtigung soweit wie möglich auszugleichen. Zugleich besteht auch hier die Gefahr, dass FeM von außen die psychische Vulnerabilität einer Person erhöhen, wenn sie etwa ein Gefühl des Kontrollverlusts auslösen oder verstärken bzw. einen solchen auch direkt hervorrufen. In extremen Fällen etwa körpernaher Fixierungen kann dies – wie der Deutsche Ethikrat festhält – gar mit einer Traumatisierung der Betroffenen einhergehen, durch die diese in ihrer Würde verletzt werden.Footnote 118

Auch ist es der Reflexion wert, ob pharmakologische FeM hier eine besonders schwerwiegende Auswirkung auf die psychische Verfasstheit der Betroffenen ausüben können, wenn sie nicht indiziert sind: Während mechanische FeM den Menschen von außen an der Ausübung des autonomen Willens zur Bewegung hindern, beeinträchtigen bzw. verunmöglichen ruhigstellende Psychopharmaka bereits den inneren Prozess der Willensbildung. Auch über Fälle mit einer derartigen Eingriffstiefe hinaus kann bezüglich niedrigschwelligerer Formen von FeM darauf hingewiesen werden, dass auch hier die psychische Vulnerabilität von Menschen mit Demenz nicht zu unterschätzen ist. So erreichen subtilere Formen wie etwa Täuschungen, falsche Behauptungen oder die Wegnahme von Bekleidung und Seh- oder Gehhilfen, die im Einzelfall auch den Charakter einer FeM aufweisen können (siehe Abschn. 2.3), nur dadurch ihre Wirkung, dass sie sich die psychische Vulnerabilität von Menschen mit Demenz gezielt zunutze machen.

Die systemische Dimension von Vulnerabilität bezeichnet drittens solche Formen von Verletzlichkeit, die aus der sozialen Interdependenz von Menschen untereinander entstehen können, „die sich sowohl als Angewiesensein als auch als Gefährdung zeigt. Zunächst also ist die systemische Dimension im Sinne sozialer Verwobenheit zu verstehen“Footnote 119. Besonders deutlich wird diese Angewiesenheit in Sorgebeziehungen, die sich nach Remmers aus der prinzipiellen Vulnerabilität und Interdependenz von Menschen begründen lassen:

Care is a type of human activity founded on the human condition. This includes the anthropological truths of mutual dependency and human need for cooperation. Without a strong social network, including stabilizing and promoting functions, basic human needs such as the need for self-determination, self-organization, and communicative interaction with others cannot be fulfilled. Therefore, care is a basic requirement of human self-development.Footnote 120

Es gilt, sich vor Augen zu führen, dass der Mensch vom Beginn seiner Existenz an ein Wesen ist, das sich nur in Abhängigkeit von sorgenden Mitmenschen entwickelt und verwirklicht. Menschsein vollzieht sich – so ist vor dem Hintergrund dieser anthropologischen Einsicht festzuhalten – als ein inter esse in wechselseitigen Beziehungen der Sorge.Footnote 121 Sorgebeziehungen im Allgemeinen sowie pflegerische Sorge im Besonderen hat ihren Ursprung also in der Bezogenheit des Menschen auf den Anderen.Footnote 122 Gleichwohl ist mit dieser Angewiesenheit stets eine hohe Vulnerabilität verbunden.

Wenn schon allgemein gilt, dass sich eine besondere systemisch-soziale Verletzlichkeit aus Beziehungen ergibt, die von einem asymmetrischen Machtgefälle geprägt sind,Footnote 123 so dürfte auch dies besonders für pflegerische Sorgebeziehungen gelten, für die die Asymmetrie – wie bereits dargelegt (siehe Abschn. 1.2) – ein konstitutives Element ist. Sehr deutlich wird diese Asymmetrie bei Maßnahmen des wohltätigen Zwangs:

Gerade bei Sorgehandlungen des wohltätigen Zwangs ist die Vulnerabilität in der Regel außergewöhnlich hoch; viele Sorgeempfänger […] sind bereits in ihrer gewöhnlichen Lebensführung erheblich eingeschränkt und in dieser Weise weniger als andere in der Lage, für ihre Interessen zu sorgen.Footnote 124

Für die Thematik von FeM kann festgehalten werden, dass diese nicht nur notwendigerweise ursächlich auf das Machtgefälle zwischen Sorgenden und Sorgeempfängern zurückzuführen sind – sowohl in gerechtfertigten Fällen als auch in ungerechtfertigten –, sondern auch eine Art darstellen können, dieses Machtgefälle symbolisch zum Ausdruck zu bringen: In der Analyse Margalits konnte bereits aufgezeigt werden, dass FeM in diesem Sinne auch als eine zusätzliche Verdeutlichung von Machtlosigkeit fungieren können, die demütigend erfahren werden kann (siehe Abschn. 2.9).

Besonders die systemische Dimension der Vulnerabilität sollte gezeigt haben, dass sich die Verletzlichkeit einer Person nicht auf ihre unmittelbaren körperlichen oder psychischen Eigenschaften beschränkt, sondern auch wesentlich von dem sozialen Gefüge abhängt, in dem sich diese befindet. Diese Erkenntnis kann helfen, einen veränderten Blick auf Vulnerabilität zu gewinnen, die diese auch als gestalt- und beeinflussbare Größe begreift. In diesem Sinne kann man der Ansicht, Verletzlichkeit sei eine Schwäche der Person per se, ein Verständnis entgegensetzen, demzufolge Vulnerabilität im eigentlichen Sinne in einem nicht erfüllten ethischen Anspruch der Person besteht: „Vulnerability is […] not a sign of a person’s weakness. It is a sign of a gap between their morally protected interests and the situation they find themselves in.“Footnote 125 Ethisch verbindet sich mit der Forderung der Anerkennung der prinzipiellen Vulnerabilität des Menschen im Allgemeinen und der situativen Vulnerabilität von Menschen mit Demenz im Besonderen die konkrete Frage, wie der Mensch in seiner Verletzlichkeit konkret zu schützen ist:

Besonderes Gewicht besitzt […] die Anerkennung der Verletzlichkeit als Komponente der Conditio humana in der Sorge für kranke, hilfebedürftige oder pflegebedürftige Menschen: Die Zuwendung zum kranken Menschen bedeutet auch, ihn in seiner Verletzlichkeit wahrzunehmen und ihm durch das eigene Handeln zu verstehen zu geben, dass alle medizinischen und pflegerischen Schritte nicht nur fachlich, sondern auch ethisch fundiert sind – nämlich durch die Haltung des Mitgefühls und der Solidarität wie auch durch das Ziel, den Patienten in der Situation ausgeprägter Verletzlichkeit zu schützen.Footnote 126

Im Kontext professioneller Sorge nimmt diese Aufgabe eine besondere Form an, da sich Pflegenden ein besonderer „advokatorische[r] Auftrag“Footnote 127 stellt, die Autonomie von vulnerablen Pflegeempfängern gerade in ihrer Vulnerabilität zu bewahren.Footnote 128 Die Metapher des advocatus ist dabei insofern passend gewählt, als dass sich dieser ethische Auftrag bzw. Imperativ dabei nicht etwa aus abstrakten Regeln herleitet, sondern aus der Vulnerabilität des Menschen selbst hervorgeht. Diese Vulnerabilität bleibt dabei wiederum kein Abstraktum, sondern offenbart sich stets in leiblicher Vermittlung.

3.2.3 Die leiblich vermittelte Vulnerabilität von Menschen mit Demenz

Schon die Etymologie des Begriffs der Vulnerabilität, der von dem lateinischen vulnus für „Wunde“ abgeleitet ist, verweist auf eine eigentümliche Verbindung der menschlichen Verletzlichkeit mit der menschlichen Leiblichkeit: Seinem Wortsinn nach bedeutet Vulnerabilität unmittelbar leibliche Verletzbarkeit.Footnote 129 Vulnerabilität und Leiblichkeit scheinen einander gar zu implizieren – in den Worten Springharts:

Denying vulnerability means denying the bodily dimensions of life. But it is also the vulnerable body that reminds us that we are always more than our bodies. The tension between having a body and being a body, which has been developed by Helmuth Plessner, can be referred back to the tension of ontological and situated aspects of vulnerability. The idea of being a body addresses the fact that being human means being a body, we may add: being human means constitutively being a vulnerable body. The idea of having a body addresses the fact that human beings are able and responsible for dealing with their body in the sense that they can make it an object distinguished from themselves.Footnote 130

Diese Plessnersche Unterscheidung zwischen Leib und Körper bzw. zwischen den damit zusammenhängenden Arten des Selbstverhältnisses „Leib-Sein“ und „Körper-Haben“ kann dazu dienen, das Phänomen der leiblich vermittelten Vulnerabilität von Menschen mit Demenz hier genauer auszudifferenzieren: Während der Begriff des Körpers vornehmlich den objektiven, dreidimensionalen, biologischen Organismus des Menschen bezeichnet, steht der Leib, wie bereits dargelegt, für die subjektiv erfahrene psychophysische Einheit (siehe Abschn. 3.1.2). In alltäglichen Lebensvollzügen ist der Leib dem Menschen meist kaum bewusst: Als Medium der Beziehung zu der wahrgenommenen und erlebten Welt sowie der Beziehung zu anderen Personen bleibt der Leib selbst sozusagen unsichtbar:Footnote 131 „Als die Welt sehender oder berührender ist so mein Leib niemals imstande, selber gesehen oder berührt zu werden.“Footnote 132 Erst in unerwarteten Störungen dieser leiblich vermittelten Präsenz ändert sich dies, denn der „Körper erscheint immer da, wo diese Austauschprozesse gehemmt oder gestört werden und sich die Aufmerksamkeit auf den Leib selbst zurückwendet. Mein Körper, das ist mein Leib als widerständiger“Footnote 133. In Situationen der Hemmung bzw. Störung, zu denen allen voran Verletzungen, Krankheiten und in letzter Konsequenz das Sterben zählen, wird der Mensch sich der eigenen existenziellen Gebundenheit an den Körper bewusst, sodass man hier von einer „Erfahrung des Zurückgeworfenseins auf die Körperlichkeit“Footnote 134 sprechen kann, die den Menschen mit seiner Endlichkeit und Vulnerabilität konfrontiert.Footnote 135 Ein Beispiel für eine solchermaßen intensivierte Erfahrung der eigenen Körperlichkeit ist – wie Bozzaro aufzeigt – das akute Schmerzempfinden, auf das im weiteren Verlauf nochmals zurückzukommen sein wird:

Normalerweise ist man dank seines Leibes auf die Welt bezogen und durch ihn in der Welt tätig. Man erfährt den eigenen Leib als ein durchlässiges Medium, das in den Hintergrund der eigenen Wahrnehmung tritt. Im Schmerz wird dieses Leiberleben plötzlich und gewaltsam durchbrochen, der Leib tritt aus dieser selbstverständlichen Verborgenheit heraus und drängt sich im Erleben des Leidenden auf. Dieser spürt seine schmerzende Körperpartie, ja seine ganze Aufmerksamkeit ist gezwungenermaßen auf diese gerichtet, so dass ihm ein Aufgehen in der Welt versagt bleibt. Der Leidende erfährt im Schmerz die Materialität und das körperhafte Substrat seiner Leiblichkeit.Footnote 136

Während sich die auf diese Weise erfahrene Vulnerabilität im Falle einer akuten Erkrankung oder Verletzung noch auf einen Teil des Körpers oder auf eine gewisse Zeitspanne beschränken lässt, so können vor allem chronische Erkrankungen zu einer langfristigen Veränderung des eigenen Selbstverhältnisses zum Körper führen, an den man sich nun zunehmend gebunden fühlt.Footnote 137 In diesem Sinne kann auch eine Demenzerkrankung durch die oftmals mit ihr einhergehenden körperlichen Funktionsbeeinträchtigungen als eine zunehmende Bindung an den eigenen Körper erfahren werden.

Umgekehrt ist mit diesem veränderten Bewusstsein von dem eigenen Körper auch die Möglichkeit einer gefühlten Entfremdung vom Körper verbunden – eine Erfahrung, die Springhart wie folgt umschreibt: „Der Körper als der unmittelbar vulnerable Teil des Menschen steht dem Ich gegenüber, das gerade in der Erfahrung der konkretisierten Vulnerabilität als Krankheit realisiert, dass es mehr als der Körper ist.“Footnote 138 Illustrativ ist hier etwa das Beispiel des französischen Philosophen Jean-Luc Nancy, der bei seiner Herztransplantation die Erfahrung machte, dass mit der Diagnose, sein Herz würde zu schlagen aufhören, ihm nicht etwa das neue, sondern vielmehr das alte, eigene Herz plötzlich fremd erschien:

Wenn mich mein eigenes Herz im Stich ließ – wie sehr und wie weit war es dann „mein“ Herz, „mein eigenes“ Organ? […] Es wurde mir fremd, gerade durch sein Ausbleiben, sein Abfallen, man könnte fast sagen: durch seine Abwehr oder seine Abfuhr drang es ein, wurde es zum Eindringling. […] Mein Herz wurde nun zu meinem Fremden. Fremd wurde es gerade deshalb, weil es sich innen befand. Von außen konnte der Fremde nur in dem Maße kommen, in dem er zunächst innen aufgetaucht war.Footnote 139

Eine ähnliche Erfahrung der Entfremdung könnten Menschen vor allem in den frühen Stadien einer Demenzerkrankung erleben, zumal das Gehirn neben dem Herz zu denjenigen Organen zählt, die subjektiv geradezu als Zentrum oder „Sitz“ der Person erfahren werden. Auch und besonders im Selbstverhältnis kann eine Demenzerkrankung mit der eigenen Vulnerabilität konfrontieren und eigene Vorannahmen bezüglich des Menschseins wie etwa ein zerebrozentrisches Menschen- bzw. Selbstverständnis (siehe Abschn. 3.1.2) in Frage stellen.

Nicht nur für das Selbstverhältnis ist die in der Leiblichkeit präsente Vulnerabilität des Menschen von zentraler Bedeutung: Insofern „Personen […] ein Gesicht [haben], durch das sie sich einander als Personen zeigen“Footnote 140 und dieses leiblich konstituiert ist, gilt es besonders, die intersubjektive Dimension von Leiblichkeit und Vulnerabilität in den Blick zu nehmen. Diese bildet geradezu den Mittelpunkt der Philosophie des französisch-litauischen Phänomenologen Emmanuel Lévinas. Dies beginnt bereits mit der Bestimmung der Philosophie als solcher, insofern Lévinas gegenüber Konzeptionen, die in theoretischen Disziplinen (besonders der Metaphysik) die erste Philosophie erkennen, betont: „[M]an muss verstehen, dass die Moral nicht eine zweite Schicht oberhalb einer abstrakten Reflexion […] ist; die Moral hat eine unabhängige und vorrangige Tragweite. Die Erste Philosophie ist eine Ethik.“Footnote 141 Moral bzw. Ethik wird dabei jedoch nicht als abstrakte Ableitung verschiedener Handlungsgrundsätze aus Prinzipien der Vernunft verstanden, sondern als eine prinzipielle Erfahrung eines „Von-Angesicht-zu-Angesicht“Footnote 142 mit dem vulnerablen anderen Menschen, kurzum dem schlechthin Anderen. Die Urerfahrung der Alterität, d. h. der Andersheit, ist demnach diejenige, einem anderen Menschen zu begegnen und darin zu erfahren, dass sich dieser aufgrund seiner Einzigartigkeit der endgültigen Erkenn- und somit Verfügbarkeit immer schon entzieht:

Das absolut Andere ist der Andere. Er bildet keine Mehrzahl mit mir. Die Gemeinsamkeit, in der ich „Du“ oder „Wir“ sage, ist nicht ein Plural von „Ich“. Ich, Du sind nicht Individuen eines gemeinsamen Begriffs. An den Anderen bindet mich weder der Besitz noch die Einheit der Zahl noch auch die Einheit des Begriffs. Es ist das Fehlen eines gemeinsamen Vaterlandes, das aus dem Anderen den Fremden macht, den Fremden, der das Bei-mir-zu-Hause stört. Aber Fremder, das bedeutet auch der Freie. Über ihn vermag mein Vermögen nichts. Eine wesentliche Seite an ihm entkommt meinem Zugriff, selbst wenn ich über ihn verfüge.Footnote 143

Was hier in grammatikalischen Metaphern – ein Wir bildet sich aus Ich und Du und nicht aus dem Plural von Ich (ein solcher wäre Iche) – sowie Metaphern des Wohnens und der Fremdheit ausgedrückt wird, lässt sich wie folgt interpretieren: Der Andere ist trotz oder gerade wegen seiner Vulnerabilität nie völlig einholbar und ersetzbar. Er ist in dieser Hinsicht geradezu unaussprechlich, denn der „Andere als reiner Gesprächspartner ist kein Inhalt, den man kennt, einschätzt, aufgrund einer übergeordneten Idee begreift und der sich dieser Idee unterordnet. Er bietet die Stirn.“Footnote 144 Dass es sich so verhält, beweist bereits der alltägliche sprachliche Umgang der Menschen miteinander: So fragt man etwa mit der Frage Wer? nicht nach einem allgemeinen substanziellen Was?, sondern nach dem Aspekt einer Person, der letztlich unaussprechlich bleibt und an den man sich nur annähern kann, indem man der Person einen Eigennamen gibt, der somit Ausdruck von dessen Einzigartigkeit ist.Footnote 145 Der Andere entzieht sich also bereits sprachlich, aber ebenso ethisch jeder Verfügbarkeit.

Gleichzeitig nimmt der Andere bzw. das Du gerade durch diese Beziehung zum Ich dasselbe in die Pflicht, für den Gegenüber Verantwortung zu übernehmen und ihn zu schützen.Footnote 146 Das Spannungsfeld zwischen der absoluten Unverfügbarkeit des Anderen und der gleichzeitigen Inpflichtnahme durch ihn kann geradezu als die Haupterrungenschaft der Ethik Lévinas’ gelten.Footnote 147 Die Verpflichtung durch den Anderen ist dabei in dessen leiblich vermittelter Vulnerabilität begründet, für die Lévinas den Begriff des Antlitzes prägt:

Jemand, der sich durch seine Nacktheit – das Antlitz – ausdrückt, ist jemand, der dadurch an mich appelliert, jemand, der sich in meine Verantwortung begibt: Von nun an bin ich für ihn verantwortlich. All die Gesten des Anderen waren an mich gerichtete Zeichen. Um die oben genannte Abstufung wieder aufzunehmen: sich zeigen, sich ausdrücken, sich verbinden, mir anvertraut sein. Der Andere, der sich ausdrückt, ist mir anvertraut […].Footnote 148

Das Antlitz umgreift zunächst als Oberbegriff allgemein alle Aspekte, durch die einem der andere Mensch leiblich begegnet sowie die „Weise des Anderen, sich darzustellen, indem er die Idee des Anderen in mir überschreitet“Footnote 149 und ist somit nicht auf das physische GesichtFootnote 150 des Menschen als solches beschränkt. Gleichwohl erhält das Antlitz im mimischen Ausdruck des Menschen eine besondere Zuspitzung: Dies gilt besonders für den Blick des Anderen, in dem sich dieser in all seiner Verletzlichkeit offenbart und dabei zugleich jeder Verdinglichung Widerstand leistet:Footnote 151 „Das Antlitz exponiert, bedroht, als würde es uns zu einem Akt der Gewalt einladen. Zugleich ist das Antlitz das, was uns verbietet, zu töten.“Footnote 152 Mit Referenz auf den alttestamentarischen Dekalog verdichtet Lévinas diesen in der Vulnerabilität des Anderen begründeten ethischen Anspruch – auch vor dem Hintergrund der Schoah, die er selbst überlebte – auf das Tötungsverbot:

Das „Du sollst nicht töten“ ist das erste Wort des Antlitzes. Das aber ist ein Gebot. In der Erscheinung des Antlitzes liegt ein Befehl, als würde ein Herr mit mir sprechen. Dennoch ist das Antlitz des Anderen zur gleichen Zeit entblößt; hier ist der Elende, für den ich alles tun kann und dem ich alles verdanke. Und ich, wer immer ich auch bin, aber ich als jemand „in der ersten Person“, ich bin derjenige, der über die Mittel verfügt, um auf diesen Ruf zu antworten.Footnote 153

Es ist wichtig, die pointierte Formulierung, mit der Lévinas den Anspruch im Antlitz des Anderen beschreibt, nicht misszuverstehen, als bezöge er sich nur auf Extremfälle der Negierung des Anderen etwa durch Tötung. Vielmehr stellt das Tötungsverbot den grundlegendsten moralischen Imperativ dar, von dem sich alle weiteren konkreten Ansprüche des Menschen ableiten. Während das Antlitz im Tötungsverbot negativ formuliert ist, lässt es sich umgekehrt auch positiv formulieren; so antwortete Lévinas in Ethik und Unendliches auf die Frage, wie man die eigene Verpflichtung dem Anderen gegenüber erkennt, wie folgt:

Indem man das Antlitz positiv beschreibt und nicht nur negativ […]: Der Zugang zum Antlitz liegt nicht in der Art reiner und einfacher Wahrnehmung, […] die in die Richtung der Gleichsetzung geht. Positiv können wir sagen, dass von dem Moment an, in dem der Andere mich anblickt, ich für ihn verantwortlich bin, ohne dass ich diese Verantwortung für ihn überhaupt übernehmen müsste; seine Verantwortung obliegt mir. Es ist eine Verantwortlichkeit, die über das hinausgeht, was ich tue.Footnote 154

Es geht Lévinas also um eine grundsätzliche moralische Verpflichtung durch das Antlitz des Anderen. Vor diesem Hintergrund ist es daher auch angemessen, die Frage zu stellen, welche Implikationen die Ethik Lévinas’ für die Bewertung weniger einschneidender Handlungen als der Tötung haben könnte – etwa für die Frage der Anwendung von FeM bei Menschen mit Demenz.

Ein erster Hinweis auf die Relevanz eines solchen Ansatzes sei mit Verweis auf empirische Ergebnisse einer bereits zitierten qualitativen Studie zur Entscheidungsfindung von Pflegekräften bezüglich der Anwendung von FeM gegeben: Hier konnte etwa ermittelt werden, dass „[v]erbal signals as well as non-verbal signals, like a glance and a patient’s facial expression, could cause nurses to be indecisive about whether to use restraints“Footnote 155. Hier scheint der ethische Imperativ unmittelbar erfahren worden zu sein, den Lévinas mit dem Anspruch des Antlitzes formuliert hat. Ausgehend von diesem Imperativ betont Kruse, dass die Begegnung mit dem Antlitz des Menschen mit Demenz nicht gemieden, sondern dankbar angenommen werden sollte: Nicht nur, aber besonders in Sorgebeziehungen kann dem Menschen mit Demenz durch einen wahrhaftigen, empathischen, ruhigen und konzentrierten Kommunikationsstil vermittelt werden, „dass wir uns von seinem Antlitz berühren lassen, seinen ‚Appell‘ an uns verstehen: Dieser findet in uns seinen ResonanzbodenFootnote 156. Dies kann etwa konkret anhand eines Einfühlens und Einlesens in das mimische Skript des Menschen mit Demenz erreicht werden, durch das dessen Emotionen in der jeweiligen Situation nachvollzogen werden können.Footnote 157 Mit dem Nachlassen kognitiver Fähigkeiten kommt dabei dem Nonverbalen eine entscheidende Rolle zu, denn „[d]ie leibliche Resonanz vermittelt die emotionale Wahrnehmung des anderen. Andere emotional zu verstehen heißt primär mit ihnen in non-verbaler, zwischenleiblicher Kommunikation zu stehenFootnote 158. Mit Hülsken-Giesler ist dies letztlich auf die Grundstruktur pflegerischer Beziehungen zurückzuführen, insofern dem „Leib als ‚Proprium der Pflege‘ eine grundlegende Stellung im intersubjektiven Verhältnis von Pflegenden und zu Pflegenden“Footnote 159 zukommt. Gelingt es Sorgenden, sich zwischenleiblich auf den Menschen mit Demenz in seiner individuellen Situation einzustimmen und in der situativen Vulnerabilität des Gegenübers eine Manifestation auch der eigenen prinzipiellen Vulnerabilität zu erkennen, so ist eine Grundlage für eine erhaltende und schützende Sorgebeziehung geschaffen.Footnote 160 Eine solche impliziert nach Bär auch, eine Aufmerksamkeit für den Sinn leiblicher Ausdrücke zu gewinnen:

Wenn eine Haltung des Respekts vor dem individuellen Sinn von Menschen mit Demenz vorhanden ist, gibt es vielfältige Möglichkeiten, Hinweise auf mögliche Spielräume zum Sinn auch dann noch wahrzunehmen, wenn man die Betroffenen nicht mehr danach fragen kann: Wenn sich mir jemand zuwendet oder sich von mir abwendet, wahrgenommene Anzeichen von Entspannung oder vermehrter Anspannung, Zeichen der Aufmerksamkeit oder des Desinteresses und der häufig lang erhaltene nonverbale Emotionsausdruck.Footnote 161

Eine besondere Relevanz gewinnt die Einstimmung auf den Menschen mit Demenz dabei im Falle von ‚auffälligen‘ Verhaltensweisen, denen häufig mit FeM begegnet wird: Wie bereits dargelegt (siehe Abschn. 2.7.1), ist schon der terminologische Vorschlag, hier bewusst nicht von herausforderndem Verhalten, sondern eher von bindungssuchendem bzw. aufforderndem Verhalten zu sprechen, von der Erkenntnis geleitet, dass sich in diesen Verhaltensweisen eine Intention oder ein Bedürfnis kundtut, dem es adäquat zu begegnen gilt. Damit verbunden ist die Einsicht, dass sich in auffordernden Verhaltensweisen von Menschen mit Demenz nicht etwa die Demenz ausdrückt – wie die missverständliche Rede von verhaltensbezogenen und psychischen Symptomen der Demenz suggeriert –, sondern der Mensch selbst.Footnote 162 Die Bedeutung von gestischen und mimischen Ausdrucksweisen sowie auffordernden Verhaltensweisen zu erkennen, bedeutet, um es mit Margalit auszudrücken, den Menschen mit Demenz tatsächlich als Menschen anzuerkennen: „Wir sehen Menschen als Menschen, wenn wir ihre Mimik und Gestik menschlich interpretieren. […] Einen Menschen als Menschen zu betrachten setzt voraus, daß wir das, was wir in seinem Körper sehen, auch in seiner psychischen Bedeutung […] sehen.“Footnote 163 Doch wie kann dies in Pflegesituationen, in denen Menschen mit Demenz auffordernde Verhaltensweisen zeigen, konkret umgesetzt werden? Stellt die Anwendung von FeM hier eine adäquate Reaktion dar?

Um diese Fragen zu beantworten gilt es zunächst, die Ursachen auffordernder Verhaltensweisen zu reflektieren. James und Jackman fassen in dieser Hinsicht die wichtigsten drei Erklärungsmodelle (die einander durchaus ergänzen können) zusammen: Das Modell der niedrigeren Stress-Schwelle („progressively lowered stress threshold“Footnote 164) geht davon aus, dass herausfordernd wahrgenommenes Verhalten darauf zurückzuführen ist, dass sich Menschen mit Demenz aufgrund ihrer kognitiven Beeinträchtigungen schlechter vor bspw. umgebungsabhängigen Stresssituationen schützen können und in Folge mit entsprechenden Verhaltensweisen reagieren. Das Adaptation-Coping-Modell („adaptation-coping model“Footnote 165) wiederum deutet herausfordernd wahrgenommene Verhaltensweisen als Coping- bzw. Anpassungsversuche von Menschen mit Demenz an – auf ihre kognitiven Einschränkungen oder restriktive pflegerische Interventionen zurückgehende – Situationen, die sie nicht (mehr) anders zu bewältigen wissen. Drittens erkennt das Modell der unbefriedigten Bedürfnisse („unmet needs theoretical model“Footnote 166) in aufforderndem Verhalten einen Versuch, unbefriedigte physische, psychische oder soziale Bedürfnisse wie z. B. Hunger, Langeweile, Einsamkeit oder Schmerzen zum Ausdruck zu bringen bzw. zu befriedigen.Footnote 167 Cohen-Mansfield drückt dies wie folgt aus:

The unmet needs theoretical model explains the behavioral disorders as responses to unmet needs. Given that the dementia involves a decreased ability to meet one’s needs because of communication difficulties and decreased ability to provide for oneself and that the person’s environment often fails to detect or address the needs, persons with dementia often experience pain/health/physical discomfort, mental discomfort (evident in affective states, eg,: depression, anxiety, frustration), loneliness, and boredom. The above theoretical models are not mutually exclusive and may pertain to different behaviors and different persons. Yet, my research and others’ observations provide more support to the unmet needs model, as detailed elsewhere.Footnote 168

Es liegt nahe, dass die Anwendung von FeM als Reaktion auf herausfordernd wahrgenommenes Verhalten bspw. in Form der körpernahen Fixierung psychomotorisch unruhiger Menschen mit Demenz oftmals zugrundeliegende Bedürfnisse der Betroffenen nicht im Blick hat und ihnen dadurch letztlich nicht gerecht wird. Drücken sich in dieser Unruhe Schmerz- oder Angstzustände aus, so bleiben diese durch die FeM völlig unberücksichtigt bzw. verstärken sich gar, sodass sich erneut eine Art Teufelskreis nachzeichnen lässt (siehe Abschn. 2.9). FeM stellen in den seltensten Fällen eine adäquate Reaktion auf auffordernde Verhaltensweisen von Menschen mit Demenz dar.

Ein grundlegender pflegerischer Ansatz, die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz zu ermitteln und ihnen in Folge zu begegnen, besteht vielmehr in einer Verstehenden Diagnostik, die sich besonders in der langzeitstationären Pflege von Menschen mit Demenz als notwendig und angemessen erwiesen hat,Footnote 169 jedoch auch in anderen Settings, wie z. B. der akutstationären Versorgung, anwendbar ist.Footnote 170 Unter diesen Begriff wird schon dem Wortsinn nachFootnote 171 ein Zugang zu pflegerischen Situationen gefasst, bei dem jeweils zu lösende Probleme nicht nur aus der Sicht der professionell Sorgenden, sondern auch aus der Perspektive der Betroffenen betrachtet werden, um das auffordernde Verhalten von Menschen mit Demenz aus der Sicht derselben zu verstehen:Footnote 172

Wenn […] ernsthaft versucht wird, diese Perspektive einzunehmen und die Reaktionen in ihrer subjektiven Bedeutung zu ergründen, erweist sich ein Verhalten, das in der ersten Reaktion als „störend“ empfunden wurde, dann oft als unverstandenes Verhalten. Sein Sinn kann sich als Reaktion auf die gegenwärtige Interaktion und Umgebung und im Kontext biografisch verankerter Sinnbezüge von Lebensentwürfen, bedeutsamen und kritischen Lebensereignissen in vielen Fällen erschließen. Durch ein „Verstehen“ des Verhaltens wird es möglich, bedürfnisgerechte Prioritäten zu setzen und angemessene Maßnahmen zu ergreifen.Footnote 173

Kurzum: In dieser auf Verständnis ausgerichteten Haltung gilt es, die Aufforderung bzw. Botschaft, die einer auffordernden Verhaltensweise zugrunde liegt, zu erkennen und ihr angemessen zu antworten.Footnote 174 Riedel und Linde heben unter Rekurs auf Remmers hervor, dass eine solche verstehende Diagnostik ein leibliches (Er-)Spüren impliziert.Footnote 175 Hier ist noch einmal an Lévinas anzuschließen, da dessen Konzeption des Antlitzes erkennen lässt, dass in den leiblichen Verhaltensweisen des Anderen, besonders in dessen nonverbalen Ausdrucksformen, ein sozusagen stummer Imperativ zum Ausdruck kommt. Im Falle auffordernder Verhaltensweisen ist davon auszugehen, dass diese letztlich einen solchen Imperativ darstellen, besonders, wenn sie im Zusammenhang mit Schmerzen auftreten.

Tatsächlich sind „[u]nerkannte Schmerzen […] häufig Ursachen für herausforderndes Verhalten bei Menschen mit Demenz“Footnote 176. Auch empirische Forschungsergebnisse sprechen für einen solchen Zusammenhang: In ihrer Übersichtsarbeit über die pflegerische Versorgung von Menschen mit Demenz in Akutkrankenhäusern referierten Dewing und Dijk Studienergebnisse, denen zufolge „people with dementia may be at risk for undetected or un(der)treated pain“Footnote 177 sowie Berichte, dass „agitation was regarded as a ‘disruptive’ behaviour although people were actually attempting to communicate some form of distress, most notably pain and thirst“Footnote 178. Es ist in aller Deutlichkeit zu betonen, dass Menschen mit Demenz uneingeschränkt schmerzsensibel sind, d. h. Schmerzen in aller Intensität erleben und wahrnehmen. Lediglich in der Fähigkeit, dieselben eindeutig zu lokalisieren, zu deuten oder verbal zu kommunizieren sind die betroffenen Personen je nach Krankheitsverlauf mehr oder weniger beeinträchtigt. Ein Zusammenhang zwischen Schmerzempfindungen und agitiertem Verhalten konnte dabei ebenso nachgewiesen werden wie der bemerkenswerte Umstand, dass schon eine mittlere physische Aktivität helfen kann, die Agitation von Menschen mit Demenz erkennbar zu verringern.Footnote 179 Auch eine systematische Schmerztherapie kann nachweislich zu einer signifikanten Abnahme der Agitation führen, „was die Bedeutung der Agitation als Ausdruck von Schmerzen noch einmal unterstreicht“Footnote 180.

Von dem Prinzip, auffordernden Verhaltensweisen mithilfe eines umfassenden Assessments von Schmerzen und unbefriedigten Bedürfnissen zu begegnen, geht bspw. die sog. Serial-Trial-Intervention (STI) aus.Footnote 181 Es handelt sich bei dieser Intervention um ein fünfschrittiges „assessmentgestütztes Entscheidungsmodell“Footnote 182, das auf diese Weise auch darauf abzielt, (unnötige) Psychopharmakaverordnungen (siehe Abschn. 2.10.1) weitgehend zu vermeiden.Footnote 183 Ein wichtiges Instrument der verstehenden Diagnostik stellt des Weiteren das Mittel der Fallbesprechungen dar.Footnote 184 Dass Fallbesprechungen auch und besonders im Kontext des Für und Wider um FeM in professionellen Sorgebeziehungen von Bedeutung sind, wurde bereits mit Schritt 3 des multidisziplinären Entscheidungsprozesses bezüglich FeM angesprochen (siehe Abschn. 2.10). In jedem Fall ist die Multidisziplinarität der Fallbesprechung als entscheidendes Merkmal hervorzuheben, da sie die Kooperation unter den beteiligten Akteuren stärkt:

Fallbesprechungen sind optimalerweise multidisziplinär besetzt, damit ein möglichst breites Repertoire an Erfahrungs- und Handlungswissen zur Verfügung steht. An- und Zugehörige von Menschen mit Demenz sind ebenfalls miteinzubeziehen, denn sie können wichtige Informationen über die betroffene Person liefern. Andererseits kann damit auch ihnen im Umgang mit dem Menschen mit Demenz geholfen werden. […] Damit eine Fallbesprechung gelingen kann, sind alle teilnehmenden Personen ungeachtet ihrer Funktion und Qualifikation als gleichwertige Kommunikationspartner zu behandeln und erhalten ausreichend Raum, um ihre jeweiligen Sichtweisen zu schildern.Footnote 185

Eindeutig verweist dieser Lösungsansatz mit seiner Betonung der multiperspektivischen Dimension auf die Beziehungskomponente, die allen pflegerischen Sorgebeziehungen zu eigen ist: Zentral ist in diesem Sinne, dass alle beteiligten Akteure, d. h. auch die jeweils betroffene Person mit Demenz, in einem wahrhaftigen „interpersonale[n] Beziehungs- und Problemlösungsprozess“Footnote 186 miteinander in Beziehung treten. Mit der Betonung dieser Beziehung schließt sich zugleich der Kreis zu den vorangegangenen Erwägungen zu der leiblich vermittelten Personalität und Vulnerabilität des Menschen, „[d]enn die Verwirklichung der Menschenwürde bedeutet gerade in Phasen hoher Verletzlichkeit ein Leben in BeziehungenFootnote 187.

3.2.4 Beziehungszentrierte Pflege

Wurde nun die grundsätzliche Vulnerabilität des Menschen sowie die situative Vulnerabilität von Menschen mit Demenz in ihrer leiblichen Versichtbarung analysiert, so ist schließlich die Frage zu stellen, wie diese Erkenntnisse aus einer pflegefachlichen Perspektive anzuwenden sind. Dabei ist deutlich geworden, dass die Vulnerabilität des Anderen besonders auf die Beziehungsdimension des Menschseins verweist. Da wiederum festgehalten werden kann, dass „[b]uilding relationships belongs to the basic characteristics of care“Footnote 188, führt dies zu der Überlegung, wie sich diese Beziehungsdimension in professionellen Sorgebeziehungen widerspiegelt. Mit Lehmeyer und Riedel kann die Grundstruktur von Pflege dabei wie folgt zusammengefasst werden:

Kennzeichnend für das professionell-pflegerische Handeln, für die pflegerische Sorge, ist die professionelle intersubjektive Beziehungsgestaltung mit vulnerablen Personengruppen in vielfach reziproken, existenziellen und leiblich geprägten Situationen […].Footnote 189

In diesem Abschnitt soll der Versuch unternommen werden, vor dem Hintergrund dieser Überlegungen das Konzept der beziehungszentrierten Pflege von Mike Nolan und seinem Arbeitskreis an der Universität Sheffield in seinen Grundzügen vorzustellen und auf die Thematik der Anwendung von FeM bei Menschen mit Demenz anzuwenden. Wie sich zuvor die ethischen Reflexionen über die Personalität des Menschen mit Demenz in der Darlegung des person-zentrierten Ansatzes Kitwoods niederschlugen, so soll die Analyse der Vulnerabilität des Menschen mit Demenz hier im beziehungszentrierten Ansatz aufgegriffen werden.

Tatsächlich baut auch der beziehungszentrierte Ansatz explizit auf dem person-zentrierten Pflegeverständnis Kitwoods auf und kann als Weiterentwicklung desselben verstanden werden.Footnote 190 In beiden Fällen ist der Ausgangspunkt des Pflegeansatzes jeweils der pflegebedürftige Mensch als Person, weswegen Nolan et al. ausdrücklich die „Pionierarbeit“ Kitwoods hervorheben.Footnote 191 Der Anlass der Theoriebildung war ebenfalls ein vergleichbarer, insofern Nolan von der Wahrnehmung ausging, dass die pflegerischen Standards sowie die therapeutische Zielsetzung in der stationären Langzeitpflege einer Verbesserung bedürften: Während in akutstationären Settings der Fokus auf „cure“ und Rehabilitation lag, wurde die langzeitstationäre Pflege als „aimless residual care“ oder bestenfalls als „good geriatric care“ angesehen, ohne dass der Komplexität und dem anspruchsvollen Wesen pflegerischen Handelns in der Langzeitpflege alter Menschen Rechnung getragen wurde.Footnote 192 Um der gerontologischen Pflege in deren Anspruch gerecht zu werden und dabei besonders die Beziehungskomponente der Pflege abzubilden, entwickelten Nolan et al. ausgehend von dem Kerngedanken der beziehungszentrierten PflegeFootnote 193 das sogenannte Senses Framework:

The ‘Senses Framework’ is intended to capture the subjective and perceptual dimensions of caring relationships and reflects both the interpersonal processes involved and the intra-personal experiences of care.Footnote 194

Hatte schon Kitwood die Beziehungsdimension von Personalität erkannt, so verstärken Nolan et al. diesen Schwerpunkt nun getragen von der Erkenntnis, dass „personhood is best understood in the context of relationships“Footnote 195, um die Implikationen des person-zentrierten Ansatzes im beziehungszentrierten Ansatz explizit zu machen und weiter auszuarbeiten.Footnote 196 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass dazu eine Ausweitung des Fokus vorgenommen wird, bei der zusätzlich zu den spezifischen Bedürfnissen der pflegebedürftigen Person die Haltung der beteiligten Akteure, die Beziehungsgestaltung, strukturelle und organisationale Aspekte der Pflegeeinrichtung sowie übergeordnete kulturelle Rahmenbedingungen in den Blick genommen werden:Footnote 197 Mit Rekurs auf vorangegangene Forschung halten Nolan et al. fest, dass „good care is best understood in terms of the inter-relationships between those giving and receiving care“Footnote 198. Aus diesem Blickwinkel können Interdependenzen und Abhängigkeitsverhältnisse thematisiert werden, die zu einer Verbesserung der pflegerischen Gesamtsituation beitragen können. Um den beziehungszentrierten Ansatz noch genauer zu konkretisieren, entwickelten Nolan et al. in Folge das sog. Senses Framework:

For us, […] the Senses Framework captures the important dimensions of interdependent relationships necessary to create and sustain an enriched environment of care in which the needs of all participants are acknowledged and addressed. This lies at the heart of our vision of relationship-centred care and illustrates the delicate interactions necessary to achieve truely collaborative care.Footnote 199

Ausgangspunkt des Senses Framework ist zunächst der Sinnbegriff, den die Autoren verwenden „to reflect the subjective and perceptual nature of important determinants of care for both older people and staff“Footnote 200. Der Fokus auf dem Sinn erlaubt dabei, sowohl Sorgeadressaten als auch Sorgende auf die je eigenen Sinnerfahrungen und das Sinnerleben zu befragen und dieses in Folge zu befördern:

Das innovative und stimulierende Moment dieses Ansatzes ist vor allem darin zu sehen, dass diese Sinnquellen nicht allein aus der Sicht der pflegebedürftigen Person untersucht werden, sondern auch aus der Sicht der pflegenden Person.Footnote 201

Zwar stand zunächst das langzeitstationäre Setting im Mittelpunkt, jedoch haben die Sinne dem Anspruch nach eine „widespread relevance and application for older people across settings and for both family and formal carers“Footnote 202. So konnten empirische Studien unterdessen die Anwendbarkeit des Senses Framework im Rahmen anderer pflegerischer Settings nachweisen.Footnote 203

Bevor die sechs Sinne, die im Einzelnen von Nolan et al. unterschieden werden, genauer betrachtet und mit der Anwendung von FeM in Verbindung gebracht werden sollen, lohnt es sich, den Sinnbegriff noch anhand der phänomenologisch-existenziellen Analyse Bärs zu vertiefen. Sinn ist nach Bär wesentlich auf die Beziehung des Menschen zur Welt und zu anderen zurückführbar:

Sinn ist ein Konzept, dessen Kern die Stimmigkeit der Beziehung zwischen Mensch und Welt bildet. Voraussetzung ist die Annahme einer Grundverfasstheit der menschlichen Existenz, die in einem perspektivischen Verhältnis zur Welt steht und gleichzeitig – im Sinne der Selbsttranszendenz – immer wieder aufs Neue bestrebt ist, das gegenständliche Verhältnis zur Welt zu überwinden und in eine unmittelbare Beziehung mit der Welt zu treten. Durch die Hingabe an persönlich bedeutsame Erfüllungsgestalten […] verwirklicht sich Sinn und wird erlebbar als unmittelbares Jetzt sich ereignender Beziehung, oder als ein Grundgefühl der Stimmigkeit des eigenen gegenwärtigen Lebens.Footnote 204

Es gehört zur conditio humana, dass sich Sinnerleben stets im Verhältnis zur Mitwelt ereignet, die zugleich Ort, aber auch Grenze der Verwirklichung von Sinn sein kann. Besonders deutlich ist der Aspekt der Grenze im Falle von einer Demenzerkrankung erkennbar, insofern Sinnerfüllung hier wesentlich an die Unterstützung durch Mitmenschen geknüpft ist. Dies heißt jedoch nicht, dass Sinnerfahrungen durch eine Demenzerkrankung verunmöglicht würden; vielmehr kann die Haltung der Bezugspersonen von Menschen mit Demenz erheblich dazu beitragen, Sinnerleben – wenn auch nicht immer nachvollziehbares – zu ermöglichen. Dazu bedarf es einer wahrhaft anerkennenden Haltung der Bezugspersonen, in der die Möglichkeit zugelassen wird, dass Handlungen einen inneren Sinn aufweisen, auch wenn man diese von außen kaum zu erschließen vermag.Footnote 205 Dieser Gedanke erscheint besonders im Zusammenhang mit aufforderndem Verhalten anwendbar (siehe Abschn. 3.2.3). Nicht zuletzt ist eine solche Haltung auch das Resultat einer „Loslösung von einem auf Rationalität konzentrierten Menschenbild“Footnote 206 (siehe Abschn. 3.1.2).

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen können auch die sechs Sinne des Senses Framework von Nolan et al. als Sinnerfahrungen bzw. -bedürfnisse des Menschen – sei es des Pflegeempfängers, sei es des Pflegenden –Footnote 207 verstanden werden, die wesentlich auf die Umwelt und die Mitmenschen gerichtet sind. Mit den nachfolgenden sechs Sinnen sind dabei stets sowohl die subjektive Wahrnehmung als auch die subjektive Deutung von Sinn(erfahrungen) angesprochen:Footnote 208 Sicherheit (security), Kontinuität (continuity), Zugehörigkeit (belonging), Ziel (purpose), Erfüllung (achievement/fulfillment) und Bedeutung (significance). Nachfolgend seien die sechs Sinne skizziert und jeweils mittels exemplarischer (und gewiss nicht erschöpfender) Erwägungen vor dem Hintergrund des bisher zur Problematik von FeM in professionellen Sorgebeziehungen Erarbeiteten diskutiert.

A Sense of Security

For older people: Attention to essential physiological and psychological needs, to feel safe and free from threat, harm, pain and discomfort.

For staff: To feel free from physical threat, rebuke or censure. To have secure conditions of employment. To have the emotional demand of work recognised and to work within a supportive culture.Footnote 209

Sicherheit, auf die Formel gebracht „to feel safe“Footnote 210, ist von unmittelbarer Relevanz für die Frage, ob FeM in einer spezifischen Situation ethisch sowie pflegefachlich angemessen, geboten oder verboten sein können: Mit dem Sicherheitsbegriff geht in diesem Kontext eine bemerkenswerte Doppelaspektivität einher, denn einerseits stellt der Schutz der körperlichen Integrität des Menschen (mit Demenz) eine der Hauptbegründungen für die Anwendung von FeM dar (siehe Abschn. 2.7), andererseits kann sich die Anwendung von FeM gerade aufgrund der assoziierten negativen Folgen für die psychophysische Verfasstheit der Person (siehe Abschn. 2.9) verbieten. Im Verlauf der Arbeit wurde ebenfalls deutlich, dass Pflegekräfte FeM unter Umständen auch zum Eigenschutz etwa vor körperlich aggressivem Verhalten anwenden, womit unmittelbar die Sicherheit der Pflegenden angesprochen ist. Vor dem Hintergrund des Umstands, dass es sich bei FeM um Gewalthandlungen handelt, ist an dieser Stelle jedoch in Frage zu stellen, ob es eine adäquate Lösung darstellt, hier sozusagen Gewalt mit Gewalt zu begegnen – oder, ob es in solchen Situationen nicht vielmehr einer Pflegekultur bedarf, die auffordernden Verhaltensweisen durch angemessene Interventionen zu begegnen bzw. vorzubeugen weiß. Mit der Sicherheit der Pflegenden ist über den körperlichen Aspekt hinaus auch ein Schutz vor strukturell-institutionellem Druck angesprochen: Hier ist anzumerken, dass auch und vor allem der Leitungsebene eine besondere Verantwortung zukommt, sicherzustellen, dass vonseiten der Pflegenden Verwirklichungsmöglichkeiten geschaffen und wahrgenommen werden können – etwa wenn es um alternative Handlungskonzepte zur Vermeidung von Maßnahmen des wohltätigen Zwangs geht. Sicherheit kann des Weiteren auch mit dem Umstand assoziiert werden, dass Pflegekräfte aus Haftungsangst der Ansicht sein können, FeM anwenden zu müssen, um befürchtete rechtliche Folgen zu vermeiden. Es bedarf hier einer offenen und unterstützenden Leitungskultur, die solchen häufig unbegründeten Ängsten (siehe Abschn. 2.10) angemessen begegnet, um ein Gefühl der Sicherheit zu schaffen.

A Sense of Continuity

For older people: Recognition and value of personal biography. Skilful use of knowledge of the past to help contextualise present and future.

For staff: Positive experience of work with older people from an early stage of career, exposure to positive role models and good environments of care.Footnote 211

Kontinuität, auf die Formel gebracht „to experience links and connection“Footnote 212, ist – wie aus der einschlägigen Forschung zur Biografiearbeit im fachlichen Diskurs allgemein bekannt ist – von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Pflege von Menschen mit Demenz, deren Selbst aufgrund der erlittenen kognitiven Einbußen potenziell an Kohärenz und Dynamik einbüßt: Die Konzeptionen der „Inseln des Selbst“ sowie des Leibgedächtnisses machen dabei deutlich, dass sich bei allen Diskontinuitäten frühere biografische Daseinsthemen auch bei zunehmendem Verlust des Sprachverstehens sowie der verbalen Kommunikationsfähigkeit mindestens rudimentär und phasenweise im aktuellen Erleben und Verhalten widerspiegelt (siehe Abschn. 3.1.2). Für die Pflege ergibt sich aus dieser Erkenntnis der Imperativ, die Selbstaktualisierung des Betroffenen möglichst weitgehend zu unterstützen. Vor diesem Hintergrund sei auch noch einmal auf die Bedeutsamkeit von Fallbesprechungen hingewiesen. Das Ziel einer solchen Fallbesprechung besteht u. a. auch darin, zusammen mit dem Betroffenen und den beteiligten Akteuren in Erfahrung zu bringen, ob sich für die aktuelle Pflegesituation, die eine FeM zu erfordern scheint, begründete Rückschlüsse aus der Biografie ziehen lassen, wie die Person zu einer solchen Maßnahme steht bzw. stünde. Dies kann eine wichtige Information für den weiteren Verlauf des Entscheidungsprozesses darstellen. Darüber hinaus kann eine Kenntnis bzw. ein bewusstes Anknüpfen an die Biografie des betroffenen Menschen im Falle auffordernder Verhaltensweisen ein geeigneter Weg sein, die ihnen zugrundeliegende Aufforderung bzw. das sich durch diese ausdrückende Bedürfnis wahrzunehmen – durchaus im Spaemannschen Doppelsinn des Begriffs „Wahrnehmen“. Wiederum sei hier auf die Aufgabe der verstehenden Deutung nonverbaler Signale hingewiesen: Wird der Sinn auffordernder Verhaltensweisen vor dem Hintergrund der Biografie der betroffenen Person verstanden, so kann dies im Idealfall einen Beitrag dazu leisten, die Anwendung von FeM zu umgehen. Auch für Pflegende ist das Sinnerleben von Kontinuität entscheidend, da es hier darauf abzuzielen gilt, dass sich ein fachlich und ethisch fundierter Habitus etabliert, der den professionell Pflegenden in seinem beruflichen Selbstverständnis bestärkt und es ermöglicht, dass dieser souverän an (hoch)komplexe Pflegesituationen herantritt. Als inneres Äquivalent dieses Habitus ist eine Haltung auszubilden, die in Ergänzung zu der Verletzlichkeitsperspektive auf den pflegebedürftigen Menschen auch und besonders die Potenzialperspektive miteinbezieht (siehe Abschn. 3.2.1).

A Sense of Belonging

For older people: Opportunities to form meaningful relationships, to feel part of a community or group as desired.

For staff: To feel part of a team with a recognised contribution, to belong to a peer group, a community of gerontological practitioners.Footnote 213

Zugehörigkeit, auf die Formel gebracht „to feel part of things“Footnote 214, hebt besonders die soziale Dimension von pflegerischen Beziehungen hervor. Wie gezeigt werden konnte, betreffen FeM den jeweiligen Menschen nicht nur in körperlicher und psychischer Hinsicht, sondern wirken sich ebenfalls sozial aus, indem sie unmittelbar die Beziehung zwischen dem Pflegeempfänger und dem Pflegenden sowie generell die Beziehung zu seiner Mitwelt und seinen Mitmenschen betreffen (siehe Abschn. 2.9). In der ohnehin bereits asymmetrischen Sorgebeziehung zwischen dem Menschen mit Demenz und den Pflegenden kann sich eine (wohltätige) Zwangsmaßnahme geradezu erschütternd auf das Vertrauensverhältnis auswirken: FeM können – besonders, wenn sie regelmäßig oder langfristig erfolgen – als demütigend empfunden werden und Gefühle der Angst und der Machtlosigkeit gegenüber Pflegenden auslösen oder verstärken. Auch kann etwa durch eine medikamentöse Ruhigstellung, die zunächst milder als mechanische Formen der Freiheitseinschränkung erscheinen mag, letztlich jede Form der Teilhabe, Mitwirkung und Mitverantwortung im sozialen Leben der Pflegeeinrichtung verunmöglicht werden. Das Ideal des Sinnerlebens von Zugehörigkeit ist darüber hinaus auch bedeutsam für die Pflegenden selbst: Dies beginnt bereits mit dem Erleben von Gemeinschaft, wenn Pflegende sich mit den anvertrauten Menschen verbunden fühlen, die sie unter Umständen tagtäglich begleiten. Das pflegerische Selbstverständnis bildet sich gewissermaßen stets in einem gewissen In-Bezug-Sein zu dem Pflegenden heraus. Des Weiteren ereignet sich professionelle Sorge niemals losgelöst von einem Team professionell Sorgender. Eine konstruktive und offene Teamkultur ist dabei auch von Bedeutung für die Frage der Anwendung von FeM: In dem Maße, in dem pflegerische und gerontologische Fachexpertise vonseiten der Institution ernst- und wahrgenommen wird und kreative sowie ggf. untypische Problemlösungsvorschläge erprobt werden, kann die Teamkultur mit dazu beitragen, nicht nur das Zugehörigkeitsgefühl vonseiten der Pflegenden, sondern auch einen reflektierten Umgang mit FeM zu fördern. Auf übergeordneter, institutioneller Ebene gilt es entsprechend, Rahmenbedingungen für eine solche Teamkultur zu schaffen und erforderliche Ressourcen bereitzustellen.

A Sense of Purpose

For older people: Opportunities to engage in purposeful activity, the constructive passage of time, to be able to pursue goals and challenging pursuits.

For staff: To have a sense of therapeutic direction, a clear set of goals to aspire to.Footnote 215

Ein Sinn von Ziel(gerichtetheit), auf die Formel gebracht „to have a goal(s) to aspire to“Footnote 216, ist gerade dann von besonderer Bedeutung, wenn die eigenen Ziele aufgrund der kognitiven Einbußen, die durch eine Demenzerkrankung hervorgerufen werden, nicht mehr eindeutig kommuniziert werden können. Wiederholt ist darauf hingewiesen worden, dass Verhaltensweisen, deren Sinn sich von außen nicht auf den ersten Blick erschließen lässt, eine eigene Handlungslogik und Zielgerichtetheit eignen kann, die es von pflegerischer Seite möglichst zu eruieren gilt (siehe Abschn. 3.2.3). Erneut kommt der leiblichen Dimension hier eine zentrale Bedeutung zu, da sich die Zielgerichtetheit von Handlungen unmittelbar leiblich manifestiert – z. B. durch die Ab- oder Zuwendung des Blickes in pflegerischen Alltagssituationen, das (repetitive) Aufstehen von einem Stuhl oder das Umhergehen in den Gängen. Oft kann bspw. die Frage, welches Ziel mit einer Handlung verfolgt wird, dabei helfen, die Ursache einer auffordernden Verhaltensweise – etwa Schmerzempfinden oder unbefriedigte Bedürfnisse – zu ermitteln. Pflegerisches Handeln sollte in diesen Fällen darauf gerichtet sein, das Erreichen dieses Ziels unterstützend zu ermöglichen. Umgekehrt können FeM nicht nur die Zielverfolgung und Zielerreichung, sondern bereits das Bilden von eigenen Handlungszielen verhindern, man denke an pharmakologische Interventionen, die darauf abzielen, den Menschen möglicherweise aufgrund gewisser Verhaltensweisen ruhigzustellen. Für Pflegende ist das Bewusstsein der Zielsetzung ihres eigenen Handelns nicht minder bedeutsam. Dies beginnt bereits damit, sich die Optionen, Alternativen und Ziele des eigenen pflegerischen Handelns bewusst zu machen und diese auch dahingehend zu reflektieren, ob es etwa untereinander konfligierende Zielsetzungen gibt – wie etwa zwischen dem eigenen Anspruch einer guten Pflege und der möglicherweise ökonomisch beeinflussten Zielsetzung der Pflegeeinrichtung. Mit Blick auf FeM impliziert der Fokus auf Zielsetzungen des Weiteren auch, die professionelle Sorgebeziehung auf Grundlage von fachlich wie ethisch fundierten Standards und Leitlinien zu gestalten, sodass die moralische Integrität der Pflegenden gewahrt bleibt.

A Sense of Fulfilment

For older people: Opportunities to meet meaningful and valued goals, to feel satisfied with one’s efforts.

For staff: To be able to provide good care, to feel satisfied with one’s efforts.Footnote 217

Erfüllung, auf die Formel gebracht „to make progress towards these goals“Footnote 218, ist eng mit dem vorangegangenen Sinnerleben verknüpft und betont dabei die Umsetzbarkeit bzw. Erreichbarkeit der je eigenen Ziele. Der Respekt vor den – wenn auch nicht immer unmittelbar erkennbaren – Anliegen und Bedürfnissen von Menschen mit Demenz impliziert, dass diesen auch die Umsetzung ermöglicht wird. Das Sinnerleben von Erfüllung kann also dann erreicht werden, wenn Menschen mit Demenz der Raum gegeben wird, ihre Potenziale zu verwirklichen und ihren Bedürfnissen Gehör zu verschaffen. Die Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit einer in Betracht gezogenen FeM hat sich ebenfalls danach zu entscheiden, ob sie diesen Raum lässt oder nicht. Mit Blick auf die Pflegenden sind hier erneut die institutionellen Rahmenbedingungen zu erwähnen, da diese wesentlich dazu beitragen, ob das Konstrukt einer guten Pflege geleistet werden kann und ob Pflegende entsprechende Erfolge erfahren können. Nicht zufällig ist im Zusammenhang mit FeM darauf hingewiesen worden, dass Pflegende immer wieder berichten, diese Zwangsmaßnahmen zwar verhindern zu wollen, jedoch nicht erfolgreich umgehen zu können (siehe Abschn. 2.7).

A Sense of Significance

For older people: To feel recognised and valued as a person of worth, that one’s actions and existence is of importance, that you ‘matter’.

For staff: To feel that gerontological practice is valued and important, that your work and efforts ‘matter’.Footnote 219

Ein Sinn von Bedeutung, auf die Formel gebracht „to feel that you matter as a person“Footnote 220, stellt unweigerlich ein Grundbedürfnis des Menschen dar, das sein Selbst- und Weltverhältnis wesentlich bestimmt. Mit diesem sechsten Sinn ist in Bezug auf die Thematik dieser Arbeit angesprochen, dass die im Kontext der Personalität von Menschen mit Demenz entwickelten Gedankengänge (siehe Abschn. 3.1) nicht in der Theorie verbleiben, sondern unmittelbar für Menschen mit Demenz erfahrbar werden sollten: Das Gefühl von Menschen mit Demenz, als Person anerkannt und wertgeschätzt zu werden, resultiert direkt aus einem Pflegehandeln, das sich die Anerkennung der Personalität des Pflegeempfängers zum Prinzip gemacht hat. Konkret schließt die Bedeutung der Person ein, dass auch einzelne Handlungen in ihren individuellen Bedeutungen wahrgenommen und zugelassen werden bzw. dass Unterstützung bei dem Erreichen kleinerer Ziele gewährleistet ist. Mit Blick auf FeM hat dieser Fokus auf die je eigene Bedeutung der Person und ihrer Handlungen die Folge, dass sich jede etwa ökonomisch motivierte oder strukturell bedingte pauschalisierende Herangehensweise bspw. in Form der undifferenzierten medikamentösen Ruhigstellung ‚auffälliger‘ Pflegeempfänger verbietet. Neben Pflegeempfängern ist selbstverständlich auch Pflegenden zuzugestehen, dass sie das berechtigte Anliegen stellen, dass ihr eigenes professionelles Pflegehandeln soziale Anerkennung und Wertschätzung erfährt und in dessen Bedeutung erkannt wird. Dies beginnt bereits auf intrainstitutioneller Ebene, impliziert zugleich jedoch auch Fragen der gesellschaftlichen Wahrnehmung des Pflegeberufs. Im Falle von FeM ist mit dem Sinnerleben von Bedeutung u. a. verbunden, dass Bemühungen von Pflegekräften, etwa durch Hinzuziehen mechanischer Hilfsmittel individuelle Lösungsansätze zu finden, anerkannt werden, auch wenn mit der Bereitstellung solcher Hilfsmittel unter Umständen ein erhöhter finanzieller Aufwand für die Pflegeeinrichtung verbunden ist.

Es lohnt sich, die verschiedenen Implikationen auf der institutionellen Ebene, die durch das Senses Framework in den Fokus gerückt wurden, noch einmal zusammenfassend zu reflektieren. Es wurde deutlich, dass die Rahmenbedingungen, innerhalb derer professionelle Sorge geleistet wird, maßgeblich dazu beitragen, ob Pflegeempfänger und Pflegende die oben genannten Sinnerfahrungen erleben bzw. verwirklichen können oder nicht. Die erforderlichen Rahmenbedingungen lassen sich dabei in dem Ideal einer „guten Institution“ zusammenfassen, wobei sich diese zunächst unmittelbar danach bemisst, ob eine ethisch-fachlich fundierte Betreuung und Versorgung des pflegebedürftigen Menschen im Mittelpunkt des Sorgehandelns steht.Footnote 221 Von einer solchen Zentralstellung kann u. a. dann ausgegangen werden, wenn sowohl aus der Perspektive der Pflegeempfänger als auch aus derjenigen der Pflegenden Strukturen etabliert sind, die Pflege als Beziehungsgestaltungsprozess ermöglichen:Footnote 222 „Gerontologische Pflege wird dann als lebendig empfunden, wenn zu den [zu] betreuenden alten Menschen eine Pflegebeziehung aufgebaut werden kann.“Footnote 223 Dabei ist die Beziehungsdimension nicht nur auf das Verhältnis zwischen professionell Pflegenden und zu pflegenden Menschen beschränkt, sondern umfasst auch das In-Beziehung-Treten von Pflegenden untereinander sowie in Bezug auf die Leitungsebene. Vonseiten der Leitung ist Sinnerleben, wie etwa Nolan et al. es verstehen, dann möglich, wenn in der Einrichtung ein wertschätzender Führungsstil gepflegt wird.Footnote 224 Dazu gehört auch und besonders die Anerkennung der Fach- sowie der Handlungskompetenz der Pflegefachpersonen sowie die Ermöglichung eines Pflegehandelns, das die moralische Integrität Pflegender nicht kompromittiert.Footnote 225 Nicht nur, aber besonders im Falle von FeM schließt die Erhaltung moralischer Integrität durch eine förderliche Organisationskultur ein, auch Hilfsmittel bereitzustellen, sodass eine nicht erforderliche FeM umgangen werden kann.Footnote 226

Insgesamt zeigt sich, dass die Bedeutung institutioneller Rahmenbedingungen zur Verwirklichung einer sinnstiftenden, d. h. guten Pflege nicht zu unterschätzen ist. Ein erschöpfender Überblick über die zahlreichen Aspekte, die eine gute Institution in diesem Sinne auszeichnen, ist an dieser Stelle nicht möglich.Footnote 227 Jedoch kann als Ergebnis der vorangegangenen Analyse festgehalten werden, dass insgesamt eine Orientierung an der Personalität und Vulnerabilität des Menschen (mit Demenz) leitend sein sollte:

Eine pflegefreundliche Kultur lässt sich zunächst von dem Grundsatz leiten, dass Menschen auch in ihrer größten Verletzlichkeit von ihrer Freiheit und ihrer Würde her verstanden und in dieser angesprochen werden müssen. […] Damit dieser Grundsatz mit Leben erfüllt wird, müssen die infrastrukturellen Rahmenbedingungen für eine gute Pflege geschaffen werden […]. Bei der Schaffung anspruchsvoller Rahmenbedingungen […] ist immer auch von einer Anthropologie auszugehen, die die Verletzlichkeit des Menschen wie auch dessen Entwicklungspotenziale selbst in Phasen hoher und höchster Verletzlichkeit erkennt und anerkennt.Footnote 228

3.3 Zwischenfazit

Die vorangegangene Analyse der Grundlagen einer ethisch-fachlich fundierten Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz hat erwiesen, dass die Thematik der Anwendung von FeM in professionellen Sorgebeziehungen eine nicht zu unterschätzende Bandbreite von prinzipiellen ethischen und pflegefachlichen Fragen berührt, die es zu reflektieren gilt, bevor eine nähere Bewertung von FeM möglich sein kann. Den Ausgangspunkt dieser Reflexion bildet der pflegebedürftige Mensch selbst, von dem her jede pflegerische Beziehung zu denken und zu begründen ist: In der Personalität dieses Menschen sind im Kern bereits alle ethischen Ansprüche enthalten, die nachfolgend daraus zu entfalten und abzuleiten sind. Tatsächlich scheint bei Menschen mit Demenz dieser entscheidende Aspekt der Personalität jedoch zunehmend in Frage gestellt zu werden: Wo etwa in der Gesellschaft defizitorientierte Altersbilder, die im Alternsprozess primär einen stetigen Verlust an Fähigkeiten und Fertigkeiten sehen, gepaart mit einseitigen Menschenbildern auftreten, die den Personstatus primär an die Kognition des Menschen binden, könnte eine Demenzerkrankung geradezu dehumanisierend bzw. depersonalisierend gewertet werden. Häufig lässt sich in bestimmten Sprach- und Verhaltensweisen ein impliziter Zerebrozentrismus identifizieren, d. h. ein reduktionistisches Menschenbild, das Personalität primär an die kognitiven Fähigkeiten bzw. letztlich an die Funktionalität des Gehirns knüpft. Zusätzlich erschwert wird die Anerkennung der Personalität von Menschen mit Demenz dadurch, dass solche Reduktionismen längst nicht mehr nur in Form unbewusster oder unausgesprochener Vorurteile bestehen, sondern auch vereinzelt – etwa bei Vertretern des Präferenzutilitarismus – prominente Fürsprecher im wissenschaftlichen Diskurs finden. Aus diesem Grund ist der zunächst vielleicht unmittelbar einleuchtende Grundsatz, dass Menschen mit Demenz im selben Sinne Personalität zukommt wie Menschen ohne vergleichbare kognitive Einbußen, begründungsbedürftig geworden.

Die Begründung der Personalität von Menschen mit Demenz wurde im Rahmen dieser Arbeit in zwei unterschiedlichen Argumentationsgängen unternommen, die einander nicht ausschließen, jedoch jeweils eigene Akzente setzen. In einer ersten Argumentation konnte dabei aufgewiesen werden, dass auch ein Personbegriff, demzufolge Personalität wesentlich an die Rationalität des Menschen gebunden ist, uneingeschränkt auf Menschen mit Demenz anzuwenden ist. Um dies zu erkennen, bedarf es einer genaueren Klärung der Art und Weise, wie bzw. auf der Grundlage welcher prinzipiellen Potenziale sich Rationalität konkret manifestiert. Tatsächlich begehen präferenzutilitaristische Positionen, die Rationalität und somit den Personstatus eines Menschen an die aktuale Fähigkeit zu rationalen Akten knüpfen, einen folgenreichen Fehler: Durch diesen exklusiven Fokus auf aktuale Fähigkeiten, der die ihnen zugrundeliegende prinzipielle Fähigkeit außer Acht lässt, die unmittelbar von Anfang bis Ende der menschlichen Existenz gegeben ist, wird Personalität auf einen beinahe willkürlich gewinn- und verlierbaren Zustand reduziert. Damit wird zugleich verkannt, dass jeder aktualen Fähigkeit zu rationalen Akten die prinzipielle Rationalität bereits als Bedingung der Möglichkeit vorauszugehen hat. Personalität ist – auf diese Weise verstanden – nicht das Produkt einer Entwicklung, das ebenso auch wieder durch kognitive Einbußen o. ä. eingebüßt werden kann, sondern geradezu die Voraussetzung jeder Entwicklung und Ausbildung von Potenzialen. Auf Menschen mit Demenz übertragen bedeutet dies, dass die Demenzerkrankung nicht eine Entwicklung ist, bei der der Mensch seine Personalität einbüßt, sondern vielmehr eine Entwicklung, in der die Person zunehmend gehindert wird, ihre prinzipiellen Potenziale zu aktualisieren. Dass diese trotzdem durchweg vorhanden sind, beweisen nicht zuletzt Phasen erhöhter kognitiver Luzidität, die sich auch bei weit fortgeschrittenen Demenzerkrankungen manifestieren. Menschen mit Demenz, so sei noch einmal die Konklusion betont, sind und bleiben trotz kognitiver Einbußen im vollen Sinne Personen mit dem vollen damit verbundenen Würdeanspruch.

Eine zweite Argumentation zur Begründung des Personstatus von Menschen mit Demenz bestand im Wesentlichen darin, mithilfe des Konzepts der Leiblichkeit den latenten Dualismus kognitivistischer bzw. mentalistischer Positionen offenzulegen: Durch ihre Überbetonung des rationalen Denkens bleiben dieselben überwiegend einer dualistischen Trennung von Körper und Geist verhaftet, bei der das menschliche Personsein wesentlich im Geist besteht, während der Körper zum bloßen „Trägerapparat“ für den Geist reduziert wird. Diesem letztlich cartesianischen Dualismus ist mit Rekurs auf die Tradition der Phänomenologie sowie der Philosophischen Anthropologie und in Anlehnung an einen umfassenden „body turn“ in den Wissenschaften das Konzept des Leibes entgegenzuhalten, der eine psychophysische Einheit von Körper und Geist bezeichnet. Es konnte gezeigt werden, dass sich Personalität – ebenso wie jedes Verhältnis der Person zu anderen Menschen oder zur Welt – nicht losgelöst von der Vermittlung des Leibes denken lässt. Ein im Kontext der Anwendung von FeM bei Menschen mit Demenz besonders illustratives Beispiel für diesen Zusammenhang stellt das Phänomen des Leibgedächtnisses dar: In routinierten Bewegungsabläufen, im Zurechtfinden in vertrauten Umgebungen, in Gestik und Mimik oder in der Reaktion auf altvertraute Sinneswahrnehmungen manifestiert sich die individuelle Biografie eines Menschen unmittelbar leiblich – und dies oftmals bis in späte Stadien einer Demenzerkrankung hinein, in denen die Gedächtnisleistung starke Einbußen erfährt. Kontinuitäten und Daseinsthemen des Menschen mit Demenz – kurzum: Inseln seines Selbst – drücken sich also auch dann noch leiblich aus, wenn die verbale Kommunikationsfähigkeit nicht mehr erhalten ist. Damit ist die Personalität des Menschen mit Demenz selbst als verleiblichte erkannt.

Ist mit diesen Argumentationsgängen die Personalität von Menschen mit Demenz erwiesen, so lässt sich nachfolgend fragen, wie die daraus resultierenden ethischen Ansprüche konkret pflegerisch umgesetzt werden können und welche Implikationen sich aus ihnen für die Anwendung von FeM ergeben. An dieser Stelle wurde der person-zentrierte Pflegeansatz Kitwoods angeführt, der seinen Ausgang von der Wahrnehmung und Anerkennung der Person mit Demenz nimmt. Geleitet war Kitwoods programmatische Hervorhebung der Personalität dabei von der Beobachtung einer malignen Sozialpsychologie, die den Pflegealltag zu begleiten schien: In oftmals unbeabsichtigten Handlungen z. B. der Infantilisierung, Stigmatisierung, Verobjektivierung und des Zwangs erkannte Kitwood Formen der Herabsetzung von Menschen mit Demenz, die letztlich auch eine Abwehrreaktion Pflegender darstellen könnten, um sich nicht mit der eigenen Endlichkeit und Vulnerabilität auseinandersetzen zu müssen. Vor diesem Hintergrund können auch FeM unter Umständen als eine Manifestation von maligner Sozialpsychologie gedeutet werden, da ihnen neben dem offensichtlichen Zwangscharakter auch eine Art verobjektivierende Tendenz innewohnt: Die pauschale pharmakologische Ruhigstellung ‚auffälliger‘ Menschen mit Demenz kann bspw. Ausdruck einer Haltung sein, derzufolge Menschen mit Demenz primär als ‚Krankheitsfälle‘ angesehen werden. Mit Kitwood ist solchen Tendenzen dezidiert ein person-zentrierter Ansatz entgegenzusetzen, der Pflegende Menschen mit Demenz auf Augenhöhe begegnet und in ihrer Personalität und Individualität achtet und bestärkt. Kitwood betont dabei nicht zuletzt die Beziehungsdimension, insofern er seinen Personbegriff angelehnt an Bubers Philosophie der Ich-Du-Beziehung dialogisch auffasst. Um sich dieser Dimension weiter anzunähern wurde der Analyse der Personalität eine Analyse der menschlichen Vulnerabilität angeschlossen.

Die Anerkennung der Vulnerabilität des Menschen mit Demenz stellt eine zweite Grundlage für eine ethisch-fachlich fundierte professionelle Sorgebeziehung dar. Dabei beginnt diese Anerkennung mit der Erkenntnis, dass Verletzlichkeit und Angewiesenheit auf andere Menschen kein der Humanität abträgliches Spezifikum einzelner Personengruppen darstellt, sondern als zentraler Aspekt der conditio humana das Menschsein selbst prägt. Die Unterscheidung von der prinzipiellen ontologischen Vulnerabilität des Menschen qua Mensch sowie der situativen Vulnerabilität von Menschen in bestimmten Lebenslagen, kann helfen, hier eine Fokusverschiebung anzustoßen: So kann die situative Vulnerabilität eines Menschen mit Demenz, die in dessen Beeinträchtigung durch kognitive Einbußen besteht, als Ausdruck einer grundsätzlichen Vulnerabilität erkannt werden, die allen Menschen bereits durch ihr Menschsein gemein ist. Es ist ein entscheidender Unterschied, ob eine Demenzerkrankung als dehumanisierend wahrgenommen wird oder vielmehr als eine Manifestation der grundsätzlichen menschlichen Verfasstheit. Weiterhin ist ein Fokus auf der Verletzlichkeit von Menschen mit Demenz stets um die Potenzialperspektive zu ergänzen, die u. a. mithilfe des Konzepts der Resilienz betont, welche Ressourcen einem Menschen zu Verfügung stehen, um widrige Umstände zu bewältigen. Eine ähnliche Sicht kann durch die Unterscheidung der Vulnerabilität von der Fragilität zum Ausdruck gebracht werden: Während die letztere ausschließlich die Zerbrechlichkeit menschlichen Lebens in den Blick nimmt, betont erstere mithilfe der Metapher der Wunde, dass auch ein Heilungs- bzw. Vernarbungsprozess möglich ist und mit der Feststellung der Verletzlichkeit daher noch nicht vorweggenommen ist, wie sich der Mensch jeweils zu dieser verhält.

Eine solche Perspektive kann auch und besonders in der Pflege von Menschen mit Demenz bedeutend sein, deren situative Vulnerabilität sich noch genauer ausdifferenzieren und auf die Thematik dieser Arbeit übertragen lässt: Zunächst ist hier die somatische Vulnerabilität anzuführen, durch die Menschen mit Demenz besonders anfällig für körperliche Negativfolgen sind, die durch eine FeM verhindert, aber paradoxerweise ebenfalls ausgelöst werden können. FeM können, wie der Begriff der sekundären Vulnerabilität ausdrückt, auch zu einer neuen Anfälligkeit für körperliche oder psychische Verletzungen führen, wenn sie als Maßnahme gegen eine primäre Vulnerabilität, bspw. ein Sturzrisiko, Anwendung finden. Mit der psychischen Dimension der Vulnerabilität ist weiterhin angesprochen, dass Menschen mit Demenz aufgrund ihrer kognitiven Einbußen in ihrem Selbst- und Weltverhältnis beeinträchtigt sind. Hier ist ebenfalls unmittelbar erkennbar, dass FeM auch die psychische Vulnerabilität einer Person erhöhen können, wenn sie etwa ein Gefühl des Kontrollverlusts auslösen oder verstärken bzw. einen solchen auch direkt hervorrufen. Darüber hinaus können FeM auch in einer Art ‚Nutzbarmachung‘ der psychischen Verletzlichkeit demenzkranker Menschen bestehen, wenn die Freiheitseinschränkung etwa durch Täuschung oder Falschaussagen erwirkt wird. Mit der systemischen Dimension der Vulnerabilität ist angesprochen, dass Menschen mit Demenz besonders durch ihre Angewiesenheit auf Unterstützung sozial vulnerabel sind: Besonders in asymmetrischen Beziehungen wie der der professionellen Sorgebeziehungen, geht diese Vulnerabilität mit einer besonderen Pflicht für die Sorgenden einher, den Menschen mit Demenz vor Demütigung oder Ausschluss aus der Gemeinschaft zu schützen.

Wie bereits im Falle der Personalität so konnte auch bezüglich der Vulnerabilität weiterhin gezeigt werden, dass diese auf eine spezifische Weise in der Leiblichkeit des Menschen phänomenal erfahrbar wird. Vulnerabilität ist auch und vor allem ein leibliches Phänomen, dass sowohl im Selbstverhältnis des Menschen als auch in seiner Beziehung zu anderen durch das Medium des Leibes vermittelt wird. Zunächst bedeutet dies etwa im Selbstverhältnis, dass Menschen mit Demenz durch ihre Erkrankung sowie die damit einhergehenden Beeinträchtigungen ein neues Verhältnis zu ihrer eigenen Leiblichkeit entwickeln können: Ist der Leib als Medium des Welterlebens und -erfahrens dem Menschen die meiste Zeit über nicht bewusst, so kann eine bspw. chronische Erkrankung ihn in seiner Körperlichkeit, Materialität und Vergänglichkeit plötzlich erfahrbar machen. Der Leib wird somit zum Körper als Objekt des Bewusstseins, woraus sich wiederum die Möglichkeit ergibt, entweder ein Zurückgeworfen- und Gebundensein an den eigenen Körper in dessen Verletzlichkeit zu erfahren, oder umgekehrt gar eine Selbstentfremdung, bei der der eigene Körper aufgrund seiner Funktionseinbußen als fremd empfunden wird.

In der intersubjektiven Begegnung kommt dem Leib als Vermittlungsinstanz ebenfalls eine zentrale Bedeutung zu. Folgt man der phänomenologisch fundierten Ethik Lévinas’ so lässt sich festhalten, dass sich die Vulnerabilität des Anderen vor allem leiblich manifestiert. Aus dieser leiblich manifesten Vulnerabilität, die Lévinas mit dem Begriff des Antlitzes benennt, leitet sich nun ein direkter ethischer Anspruch ab, den Anderen zu achten und zu schützen und sich dabei stets seiner letztendlichen Unverfügbarkeit und Einzigartigkeit bewusst zu bleiben. Im Kontext der vorliegenden Arbeit lässt sich daraus die ethische Forderung ableiten, das Antlitz des Menschen mit Demenz nicht zu meiden, sondern sich in zwischenleiblicher Einstimmung auf diesen hin zu öffnen. Konkret bedeutet dies etwa im Falle auffordernden Verhaltens im Sinne einer Verstehenden Diagnostik, dass eine gesteigerte Aufmerksamkeit für nonverbale Signale ausgebildet wird, um das individuelle Bedürfnis bzw. die ethische Aufforderung zu erkennen, die solchen Verhaltensweisen oftmals zugrunde liegt. Während FeM häufig die Ausübung solchen Verhaltens verhindern, ohne dessen Ursachen zu begegnen, birgt eine solche Herangehensweise die Chance, dass unerkannten Schmerzen oder unbefriedigten Bedürfnissen des Menschen mit Demenz adäquat begegnet werden kann.

Dass eine auf diese Weise konzeptualisierte Anerkennung der Vulnerabilität von Menschen mit Demenz wiederum weitreichende Implikationen für die Pflegepraxis haben kann, wurde abschließend mit einer Analyse des beziehungszentrierten Pflegeansatzes von Nolan et al. aufgezeigt. Hatte schon Kitwood die Beziehungsdimension von Pflege betont, so haben Nolan et al. diese in das Zentrum ihres Pflegeansatzes sowie des Senses Framework gerückt. Der Fokus auf dem Sinn erlaubt dabei, auf die je eigenen Sinnerfahrungen sowohl von Sorgeadressaten als auch von Sorgenden in ihrem jeweiligen Selbst- und Weltverhältnis einzugehen und dieses in Folge zu befördern. Die sechs konkreten Sinne, die das Senses Framework hierzu unterscheidet – Sicherheit, Kontinuität, Zugehörigkeit, Ziel, Erfüllung und Bedeutung – konnten in der Anwendung auf die Problematik von FeM dabei schon einige anknüpfbare Punkte aufzeigen. Zugleich kann allgemein festgehalten werden, dass durch den geweiteten Blick des beziehungszentrierten Ansatzes, der auch Pflegende sowie institutionelle, gesellschaftliche und kulturelle Rahmenbedingungen miteinbezieht, wichtige Akzente gesetzt werden konnten, die die empirischen Erkenntnisse der vorangegangenen Analysen zu Einflussfaktoren von FeM auf einer Metaebene widerspiegelten. Sind somit wichtige Grundlagen für eine ethisch sowie fachlich fundierte Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz gewonnen, so soll im nachfolgenden Kapitel noch eine genauere Analyse der ethischen Struktur von FeM im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Paternalismus erfolgen.