In diesem Kapitel soll das Phänomen der Anwendung von FeM bei Menschen mit Demenz in professionellen Sorgebeziehungen abgebildet werden. Dabei bedarf es zunächst einer terminologischen Einordnung und Reflexion des Gegenstandes (Abschn. 2.1), die zudem Klarheit darüber schafft, welche Handlungen konkret gemeint sind, wenn in dieser Arbeit die Rede von FeM ist. Mit der Art und Weise, wie FeM als spezielle Form von Gewalt Anwendung finden, befasst sich der darauffolgende Abschnitt (Abschn. 2.2). Sodann wird auf die verschiedenen Erscheinungsformen von FeM eingegangen (Abschn. 2.3), um in einem weiteren Schritt die empirischen Daten zur Prävalenz von FeM abzubilden. Dabei erfolgt dies aufgrund der Sachlage getrennt nach mechanischen Formen von FeM (Abschn. 2.4) und pharmakologischen Interventionen, mit denen eine Ruhigstellung der Betroffenen einhergehen kann (Abschn. 2.5). Mit den rechtlichen Rahmenbedingungen (Abschn. 2.6) sollen ausgewählte verfassungs-, zivil- und strafrechtliche Aspekte der Thematik skizziert werden, um aufzuzeigen, in welchem juristischen Rahmen sich Einschränkungen in die Fortbewegungsfreiheit in Deutschland wesentlich ereignen. Dabei wird bereits die besondere Relevanz verschiedener Begründungsansätze für die Anwendung von FeM bei Menschen mit Demenz anklingen, welchen der darauffolgende Abschnitt (Abschn. 2.7) gewidmet ist. Solche Begründungen sind jedoch, wie sich zeigen wird, auch stets von verschiedenen tieferliegenden Einflussfaktoren geprägt (Abschn. 2.8). Nach der Darstellung derselben erfolgt sodann eine kritische Analyse der möglichen Folgen von FeM (Abschn. 2.9). Das Kapitel 2 schließen eine Übersicht über verschiedene Interventionen zur Vermeidung von FeM (Abschn. 2.10) sowie ein Zwischenfazit (Abschn. 2.11) ab.

2.1 Terminologische Einordnung und Reflexion

Wenn wir über Zeit sprechen, wissen wir, was das ist; wir wissen es auch, wenn ein anderer darüber zu uns spricht. Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es; wenn ich es jemandem auf seine Frage hin erklären will, weiß ich es nicht.Footnote 1

Was Augustinus von Hippo in seinem berühmten Diktum für die Zeit formuliert, kann in gewisser Weise ebenfalls im Kontext der Anwendung von FeM in professionellen Sorgebeziehungen ausgesagt werden: Zwar kann davon ausgegangen werden, dass alle Akteure im Pflege- und Gesundheitswesen, die alltäglich mit FeM konfrontiert sind oder diese sogar selbst anwenden, eine Vorstellung davon haben, was FeM sind; befragte man sich selbst oder andere Personen jedoch nach einer konkreten Definition solcher Maßnahmen, so fiele diese wohl schwerer als erwartet. Es kann davon ausgegangen werden, dass man zunächst einzelne Arten von FeM benennen und etwa auf Bettgitter oder Fixiergurte verweisen würde, jedoch bewegte man sich hier zunächst auf der Ebene der Erscheinungsformen. Viel tiefergehender jedoch stellt sich die Frage nach dem, was FeM im Kern ausmacht, d. h. die Frage nach deren Wesen. Es ergeht einem dabei etwa wie den Gesprächspartnern des Sokrates im Dialog Laches, die auf die Frage nach dem Wesen der Tapferkeit nur mit Beispielen tapferer Handlungen antworten können, ohne ihr damit im Wesentlichen näher zu kommen.Footnote 2

Auch in der nationalen und internationalen fachwissenschaftlichen Literatur der letzten Jahrzehnte zeichnet sich – wie der nachfolgende exemplarische Überblick illustriert – eine große Bandbreite an Definitionen und Definitionsversuchen von FeM ab, die durch sprachliche Aspekte, Unterschiede in der Versorgungspraxis und nicht zuletzt durch die verschiedenen Rechtskulturen an Komplexität nicht verliert. Es sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass eine rechtlich-terminologische Einordnung von FeM an späterer Stelle erfolgt (siehe Abschn. 2.6).

Eine häufig zitierte pflegefachliche Definition, die durch Evans et al. bzw. das Joanna Briggs Institute (Adelaide, Australien) konsentiertFootnote 3 wurde, fokussiert zunächst unter Ausklammerung z. B. medikamentöser Maßnahmen körpernahe Formen der Bewegungseinschränkung. Demnach werden „physical restraints“ definiert als:

…any device, material or equipment attached to or near a person’s body and which cannot be controlled or easily removed by the person and which deliberately prevents or is deliberately intended to prevent a person’s free body movement to a position of choice and/or a person’s normal access to their body.Footnote 4

Prominent fand diese Definition z. B. durch das von dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie die Robert Bosch Stiftung geförderte Modellvorhaben ReduFix (Reduktion von körpernaher Fixierung bei demenzerkrankten Heimbewohnern) Eingang in die deutsche Forschung.Footnote 5 Dieses wurde erstmals 2004 an Altenpflegeeinrichtungen in Baden-Württemberg, Bayern und Sachsen durchgeführt und hatte zum Ziel, „durch gezielte Interventionen eine Reduzierung der körpernahen Fixierung zu erreichen, ohne dass sich daraus negative Konsequenzen für die Bewohnerinnen und Bewohner ergeben“Footnote 6. ReduFix verwendet für diese Maßnahmen den Terminus „bewegungseinschränkende Maßnahmen“ (BEM). Dabei fasst dieser

Oberbegriff […] in einer nichtjuristischen Weise alle medizinischen, pflegerischen und sonstigen sich aus der Betreuung und Alltagsgestaltung ergebenden Einschränkungen der Bewegungsfreiheit zusammen, ohne sie rechtlich zu bewerten.Footnote 7

Genauer werden BEM von der Projektgruppe ReduFix angelehnt an die oben zitierte Definition des Joanna Briggs Institutes wie folgt bestimmt:

Vorrichtungen, Materialien oder Gegenstände, an oder in der Nähe des Körpers einer Person angebracht, die sich nicht leicht entfernen oder von der Person kontrollieren lassen. Sie schränken Körperbewegungen ein und werden mit der Absicht angebracht oder verwendet, willkürliche Positionswechsel und/oder den Zugriff auf den eigenen Körper zu verhindern.Footnote 8

Es handelt sich bei dieser Definition nun nicht um eine allgemeine Bestimmung von allen möglichen Formen, durch die Menschen in ihrer Freiheit eingeschränkt werden können, sondern um eine solche, die lediglich körpernahe Formen (wie z. B. Fixiergurte, Stecktische, Schutzdecken) und körperferne Formen (wie z. B. Bettgitter, verschlossene Türen, bauliche Gestaltung) der Bewegungseinschränkung betrifft und andere Formen, wie z. B. pharmakologische, nicht abdeckt.Footnote 9 Auch vonseiten des Joanna Briggs Institutes war darauf hingewiesen worden, dass mit dem engeren Begriff „physical restraint“ pharmakologische Interventionen nicht eingeschlossen sind.Footnote 10

Im Jahr 2016 veröffentlichten Bleijlevens et al. die Ergebnisse einer großangelegten modifizierten Delphi-Studie, die das Ziel verfolgte, eine international akzeptierte bzw. konsentierte Definition von „physical restraint“ zu gewinnen.Footnote 11 Wie die Autoren mit Recht hervorheben,Footnote 12 ist eine solche nicht zuletzt deswegen von besonderer Relevanz, weil sie in der – wie sich zeigen wird – disparaten internationalen Forschungslage etwa zur Prävalenz solcher Maßnahmen (siehe Abschn. 2.4) eine bessere Vergleichbarkeit zu gewährleisten vermag. Darüber hinaus verspricht eine solche Definition, den Weg hin zu einer evidenzbasierten Praxis zu ebnen.Footnote 13 Zur Definition und Operationalisierung des Phänomens wurde eine Literatursichtung vorgenommen, bei der insgesamt 34 verschiedene Definitionen ausfindig gemacht werden konnten, die den Ausgangspunkt für das Delphi-Verfahren bildeten. Im Anschluss folgten drei Runden, in denen eine Gruppe von 48 internationalen Experten aus 14 Ländern eine Konsensdefinition von „physical restraint“ erarbeiteten.Footnote 14 Basierend auf drei Hauptcharakteristika, die in Runde 1 aus der Literatur extrahiert wurden und deutliche Parallelen zur Definition des Joanna Briggs Institute aufweisen – „1) device, material, or equipment attached or adjacent to a person’s body, 2) cannot be easily removed, 3) prevents or restricts free body movement“Footnote 15 – wurde in Runde 2 folgende Definition von „physical restraint“ zur Diskussion gestellt:

Actions or procedures that prevent a person’s free body movement to a position of choice and/or normal access to his/her body by any manual method, physical or mechanical device, material, or equipment attached or adjacent to a person’s body that a person cannot control or remove easily.Footnote 16

Während 72 % der Experten bereits dieser Definition zustimmten, wurde vor allem die Formulierung „any manual method, physical or mechanical device, material, or equipment“ in Teilen kritisiert, da diese zu eng gefasst sei. Auch wurde diskutiert, ob die Intention der Handelnden insofern in die Definition mitaufgenommen werden sollte, dass eine Absicht zur Freiheitseinschränkung konstitutiv für die Maßnahme wäre. Die Expertengruppe einigte sich schließlich darauf, auf eine solche Spezifizierung zu verzichten, da es sich unabhängig von der eigentlichen Intention um „restraint“ handle.Footnote 17 Dieser Feststellung ist an sich zuzustimmen, jedoch wird im Kontext der pharmakologischen FeM noch darauf einzugehen sein, inwiefern die zugrundeliegende Intention rechtlich durchaus entscheidend für die Kategorisierung einer Maßnahme als FeM sein kann (siehe Abschn. 2.6). Konsens konnte schließlich in der dritten Runde mit einer Zustimmung von 95,7 % für die folgende Definition erreicht werden (mit hervorgehobenen Unterschieden zur vorhergehenden):

Any action or procedure that prevents a person’s free body movement to a position of choice and/or normal access to his/her body by the use of any method, attached or adjacent to a person’s body that he/she cannot control or remove easily.Footnote 18

Abgesehen von grammatikalischen Details wurde nun vor allem das spezifische „any manual method, physical or mechanical device, material, or equipment“ durch das deutlich allgemeiner gefasste „any method“ ersetzt. Auch wenn hier noch „physical restraints“ adressiert werden, ist durch den ausdrücklichen Verzicht auf Begriffe, die sich vornehmlich auf mechanische Mittel zur Freiheitsentziehung beziehen, schon eine begrüßenswerte Weitung des Verständnisses angedeutet, die sich in der Rezeption z. B. durch den Deutschen Ethikrat noch fortsetzte. In seiner Stellungnahme Hilfe durch Zwang? von 2018 hat der Deutsche Ethikrat das Phänomen des wohltätigen Zwangs in professionellen Sorgebeziehungen umfassend reflektiert. Als eine Form des wohltätigen Zwangs wurde dabei die Anwendung von FeM bei pflegebedürftigen alten Menschen ausdrücklich mitberücksichtigt. In Anlehnung an Bleijlevens et al. positioniert sich der Ethikrat wie folgt:

Anhand mehrerer empirischer Datenerhebungen ist zumindest für die stationäre Altenpflege einschlägig dokumentiert, dass freiheitsbeschränkende mechanische Maßnahmen regelmäßig und die Gabe von Medikamenten mit ruhigstellender Wirkung häufig angewendet werden. Jedwede Maßnahmen (auch mechanische), die eine Person von der freien Körperbewegung abhalten und/ oder vom normalen Zugang zu ihrem Körper durch die Anwendung irgendeiner Maßnahme, die am Körper oder in der Nähe des Körpers angebracht ist und von ihr nicht kontrolliert oder mühelos entfernt werden kann, sind freiheitsbeschränkend.Footnote 19

Während der letztere Teil des Zitats eine Übersetzung der Definition Bleijlevens’ et al. darstellt, deutet bereits der hinführende erste Teil eine Weiterentwicklung und Modifizierung derselben an: Mit der Feststellung, dass pharmakologische Formen der Freiheitsbeschränkung „häufig“ und mechanische Formen „regelmäßig“ zur Anwendung kommen, wird der terminologische Skopus geweitet bzw. verschoben, sodass ruhigstellende Medikamente nun ganz bewusst miteingeschlossen sind. Dies findet insofern Eingang in die Definition des Ethikrates, als dass die Anmerkung „auch mechanische“ in Klammern suggeriert, dass sogar primär nicht-mechanische, d. h. auch und besonders pharmakologische Interventionen, adressiert sind. Ganz in diesem Sinne werden unmittelbar im weiteren Verlauf der Stellungnahme körpernahe, körperferne und medikamentöse Formen von FeM erläutert.Footnote 20 In zweierlei Hinsicht hat sich die Semantik gegenüber dem englischen Ausgangspunkt verändert: Folgt man diesem weiteren Verständnis, so ist bei „physical restraint“ erstens das „physical“ durch die Einbeziehung weiterer Formen der Freiheitseinschränkung geweitet worden. Zweitens ist durch den Begriff der Maßnahme das Verständnis von „restraint“ von einem engen Fokus auf das Mittel der Freiheitseinschränkung zu einem weiten verschoben: Durch die Doppelaspektvität des Begriffs „Maßnahme“ in der deutschen Sprache, der zugleich das Mittel einer Handlung (z. B. die Maßnahme „Fixiergurt“) sowie die Handlung selbst (z. B. das Anlegen des Fixiergurtes) bezeichnen kann, sind zugleich „restraints“ als Mittel und die von Bleijlevens et al. betonten Dimensionen „action“ und „procedure“ im Sinne pflegerischen Handelns zum Ausdruck gebracht. Dies ist besonders deswegen begrüßenswert, weil somit aus pflegefachlicher und ethischer Perspektive die Ausübung des wohltätigen Zwanges durch die Akteure in den Blick genommen wird (ohne dass dabei die Mittel gänzlich ausgeblendet würden). Die Definition des Deutschen Ethikrates ist somit in besonderer Weise geeignet, das Phänomen FeM in seiner pflegefachlichen sowie ethischen Komplexität zu erfassen.

Wie sich in der terminologischen Reflexion zeigte, ist die Antwort auf die vermeintlich einfache Frage nach dem Wesen von FeM im augustinischen Sinne schwerer als erwartet, auch wenn zugleich ein allgemeines Verständnis von solchen Maßnahmen angenommen werden kann. Mit den verschiedenen in diesem Abschnitt diskutierten Definitionen ist über einzelne Erscheinungsformen bis zum Wesen der gleichsam sokratische Dialog nachgezeichnet, in dem eine vertiefte Antwort auf diese Frage formuliert wurde. Im Sinne des Deutschen Ethikrates sei unter FeM in dieser Arbeit

[j]edwede Maßnahmen (auch mechanische), die eine Person von der freien Körperbewegung abhalten und/ oder vom normalen Zugang zu ihrem Körper durch die Anwendung irgendeiner Maßnahme, die am Körper oder in der Nähe des Körpers angebracht ist und von ihr nicht kontrolliert oder mühelos entfernt werden kannFootnote 21

verstanden. Ist damit eine Definition davon gewonnen, worin FeM wesentlich bestehen, so kann nun genauer danach gefragt werden, auf welche Weise FeM eine Person von der Körperbewegung bzw. vom normalen Zugang zu ihrem Körper abhalten können. Die Antwort auf diese Frage liegt in dem Charakter von FeM als spezieller Form von Gewalt.

2.2 FeM als spezielle Form von Gewalt

Die Art und Weise, wie FeM konkret die Freiheit der betroffenen Person einschränken, besteht – so kann angelehnt an den Deutschen Ethikrat gesagt werden – im Kern in der zwanghaften Anwendung von Gewalt.Footnote 22 Dabei dürfte jedoch den wenigsten beteiligten Akteuren in professionellen Sorgebeziehungen der Gewaltcharakter von FeM unmittelbar bewusst sein:

Von den Gewaltausübenden, den Betroffenen und dem sozialen Umfeld wird dieses [gewalttätige] Verhalten häufig nicht als solches wahrgenommen oder offenkundig gemacht. Gewalt gegen demenzkranke Menschen in der Pflege umfasst alle Handlungen bzw. Unterlassungen, die gravierende Auswirkungen auf ihr Wohlbefinden und ihre Lebenssituation haben. […] Neben dem Zufügen von körperlichen Verletzungen und Schmerzen zählen dazu auch Taten, die emotionales Leid und/oder psychischen Schaden bei den zur Pflege anvertrauten Menschen hervorrufen, deren Rechte einschränken oder die Persönlichkeit und Würde verletzen.Footnote 23

An dieser Schilderung wird bereits deutlich, wie vielschichtig das Phänomen der Gewalt sich in pflegerischen Sorgebeziehungen darstellt. Um zu begreifen, inwiefern FeM demselben zuzuordnen sind, gilt es zunächst, den Begriff der Gewalt im Allgemeinen zu erfassen. Angesichts der vielen divergierenden Definitionsversuche dessen, was man unter Gewalt verstehen kann,Footnote 24 sei an dieser Stelle auf zwei im Kontext der Thematik dieser Arbeit etablierte Definitionen eingegangen. Die lange Zeit gängige Gewaltdefinition Galtungs fokussiert die menschliche Selbstbestimmung bzw. -verwirklichung und deckt einen weiten Gegenstandsbereich ab: Gewalt liegt dementsprechend dann vor, „wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung“Footnote 25. Ausgehend von diesem Verständnis umfasst Gewalt sämtliche Handlungen oder Faktoren, die Menschen daran hindern, ihren grundsätzlich realisierbaren Bedürfnissen z. B. nach körperlicher Unversehrtheit oder Freiheit nachzukommen. Dabei kann sich dies auf drei verschiedenen Ebenen ereignen, die Galtung als die „Super-Typen“ direkte, strukturelle und kulturelle Gewalt bezeichnet.Footnote 26 Diese Definition erhellt, inwiefern FeM als Gewalthandlungen (mindestens auf direkter sowie struktureller Ebene)Footnote 27 klassifiziert werden können: Insofern FeM per definitionem eine Person „von der freien Körperbewegung […] und/ oder vom normalen Zugang zu ihrem Körper [abhalten]“Footnote 28 hindern sie diese, ihr Bedürfnis nach und ihr Potenzial zu freier Körperbewegung zur Verwirklichung zu bringen.

Um FeM als Gewaltphänomen genauer zu begreifen, ist über diese prinzipielle Struktur der Verwirklichungshinderung hinaus, die noch recht allgemein bleibt, noch der Adressat in den Blick zu nehmen. Betreffen FeM wie im Untersuchungsbereich dieser Arbeit ältere Menschen, so handelt es sich um eine besondere Form von Gewalt gegen Ältere, die entsprechend unter elder abuse zu zählen ist. Nachdem dieses Phänomen lange tabuisiert und unerforscht blieb, setzte ab den 1970er JahrenFootnote 29 ein Prozess der kritischen Reflexion ein, der u. a. in folgender Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in der Toronto Declaration von 2002 mündete:

Unter Gewalt gegen ältere Menschen versteht man eine einmalige oder wiederholte Handlung oder das Unterlassen einer angemessenen Handlung im Rahmen einer Vertrauensbeziehung, wodurch einer älteren Person Schaden oder Leid zugefügt wird.Footnote 30

An dieser Definition sind drei Aspekte beachtlich: Erstens werden – durchaus im Widerspruch zum alltäglichen Gebrauch des Ausdrucks – ausdrücklich auch Unterlassungen unter Gewalthandlungen gezählt, wenn aus diesen Schaden oder Leid für die Betroffenen hervorgehen. Zweitens wird mit der Vertrauensbeziehung ein konkreter Rahmen benannt, in dem solche Handlungen erfolgen.Footnote 31 Drittens ist für die Definition bewusst offen bzw. unerheblich, ob die Gewalthandlung strafrechtlich relevant ist und – was hier von besonderem Interesse ist – ob sie auch mit der Intention durchgeführt wird, dem älteren Menschen Leid zuzufügen.Footnote 32 Für FeM in Sorgebeziehungen bedeutet dieser letzte Aspekt, dass es sich bei ihnen trotz der meist fürsorglichen Absicht und angezielter positiver Folgen für den Betroffenen um Gewalt handelt und FeM diesen Gewaltcharakter selbst dann nicht einbüßen, wenn sie ethisch oder rechtlich legitimiert sind: Auch legitimierte Gewalt bleibt Gewalt.Footnote 33 Vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass der Gewaltcharakter von Zwangsmaßnahmen ausdrücklich Eingang in die Ausführungen des Ethikrates zu dem Konzept des wohltätigen Zwangs fand.

Der geschärfte Blick auf ältere Menschen als Adressaten bzw. Opfer von Gewaltausübung hilft auch, genauer nach den Hintergründen solcher Handlungen zu fragen. Besonders aufschlussreich sind empirische Studienergebnisse, die auf Seiten der Betroffenen sowie der Ausübenden von Gewalt Risikofaktoren identifizieren, die die Wahrscheinlichkeit von Gewalthandlungen erhöhen: Hohe Evidenzen lassen sich im Falle der von Gewalt betroffenen Personen bei verschiedenen Risikofaktoren nachweisen, die (evtl. mit der einzigen Ausnahme des niedrigen sozioökonomischen Standes) bemerkenswerterweise alle im Kontext von FeM bedeutsam sein dürften: Die Literatur nennt hier äußerliche Faktoren wie funktionelle Einschränkung oder Abhängigkeit und einen schlechten Gesundheitszustand ebenso wie innerliche Faktoren wie kognitive Einschränkungen oder seelische Störungen (z. B. Depression), die besondere Risiken für ältere Menschen darstellen, Opfer einer Gewalthandlung zu werden. Mit Blick auf den möglichen Gewaltaspekt im Rahmen familiärer Sorgebeziehungen ist darüber hinaus von Interesse, dass auf Seiten der Gewaltausübenden neben eigenen seelischen Störungen oder Substanzmissbrauch vor allem die finanzielle, emotionale oder verwandtschaftliche Abhängigkeit mit hoher Evidenz einen Risikofaktor für Gewalt darstellt.Footnote 34 Allgemein ist im privaten Bereich auffällig, dass sich das Zusammenwohnen mit dem älteren Menschen als bedeutender Risikofaktor für Gewalthandlungen erweist.Footnote 35

Eine weitere Differenzierung von Gewalt, die zudem direkt an FeM heranführt, liegt mit derjenigen Görgens vor, der verschiedene Formen von Gewalt gegen ältere Menschen unterscheidet:

  • körperliche Misshandlungen

  • psychische Misshandlung / verbale Aggression

  • pflegerische Vernachlässigung

  • emotionale/psychosoziale Vernachlässigung

  • finanzielle Ausbeutung

  • vermeidbare Einschränkungen der Freiheit, Handlungs- und EntscheidungsautonomieFootnote 36

Mit der letztgenannten Kategorie sind deutlich verschiedene Formen der Freiheitseinschränkung und damit FeM angesprochen, sodass etwa Suhr und Teubner diese Kategorie in ihrer modifizierten tabellarischen Auflistung der Gewaltformen nach Görgen direkt als „freiheitsentziehende Maßnahmen“ benennen.Footnote 37 Mit Blick auf das in den terminologischen (siehe Abschn. 2.1) und rechtlichen (siehe Abschn. 2.6) Ausführungen Gesagte kann hier jedoch festgehalten werden, dass sinnvollerweise rechtliche Kriterien wie Dauer und Regelmäßigkeit der Maßnahme in Görgens Typologie nicht mitaufgenommen werden und somit FeM im allgemeineren Sinn gemeint sein dürften. Ein weiterer subtiler Unterschied zwischen Görgens Terminologie und derjenigen Suhrs und Teubners besteht darin, dass Görgens spezifizierendes Adjektiv „vermeidbar“ bei letzteren beiden wegfällt. Diese Auffassung soll hier geteilt werden: Auch für FeM, für die sich nach kritischer pflegefachlicher und ethischer Prüfung ergibt, dass sie die unvermeidliche ultima ratio darstellen, gilt nach wie vor, dass es sich bei ihnen um Formen der Gewaltanwendung handelt. Der Gewaltcharakter liegt also unabhängig von Legitimität und Vermeidbarkeit vor. In diesem Sinne urteilen auch Berzlanovich et al., dass der Einsatz von FeM

eine spezielle Form von Gewalt in der Pflege [ist]. Obwohl diese Vorkehrungen meist zum Schutz bzw. zur Sicherheit der zu Pflegenden eingesetzt werden, stellen sie schwerwiegende Eingriffe in die Menschenrechte mit gravierenden Auswirkungen auf die Würde, Lebensqualität und Gesundheit der Betroffenen dar.Footnote 38

Es lohnt sich, die hier zitierte Formulierung „spezielle Form von Gewalt“ etwas genauer zu reflektieren: Inwiefern unterscheiden sich FeM als spezielle Form von den anderen aufgeführten Gewaltformen? Neise und Zank sehen diesbezüglich in der „extremen Prävalenz“ solcher Anwendungen den unterscheidenden Indikator,Footnote 39 jedoch ließen sich noch weitere auffällige Merkmale von FeM anführen: Erstens handelt es sich um Gewalt, die in den meisten Fällen aus einer wohlmeinenden, fürsorglichen Absicht heraus ausgeübt wird, ohne dass die verursachten Schäden und das ausgelöste Leid direkt angezielt wären – was in vielen Formen körperlicher und psychischer Misshandlung anzunehmen ist. Damit verbunden ist zweitens der Umstand, dass es Fälle geben kann, in denen diese Form von Gewalt als ultima ratio zum Schutz der betroffenen Person ethisch geboten ist, während für die anderen genannten Gewaltformen der Misshandlung, Vernachlässigung und Ausbeutung durchweg gilt, dass diese unabhängig vom jeweiligen Kontext ethisch verboten bleiben. Drittens ist in der Gegenüberstellung mit den fünf anderen Gewaltformen Görgens herauszustellen, dass FeM als besonders facettenreiche Form von Gewalt teilweise Aspekte aller anderen Gewaltformen (mit Ausnahme der finanziellen Ausbeutung) aufweisen: Sie betreffen unmittelbar den ganzen Menschen als körperlich-seelische Einheit und sind demnach auch als physische und psychische Gewalt zu bezeichnen. In der Konsequenz können FeM – vor allem auch bei lang andauernder oder regelmäßiger Anwendung – eine pflegerische und emotionale bzw. psychosoziale Vernachlässigung darstellen oder zur Folge haben.

FeM sind als spezielle Form von Gewalt also so zu verstehen, dass sie in einer Handlung oder Unterlassung bestehen, durch die in einer Vertrauensbeziehung ältere Menschen aus fürsorglicher Absicht derart beeinflusst werden, dass sie ihre potenzielle Freiheit nicht verwirklichen können und ihnen auf diese Weise physischer Schaden, psychisches Leid oder Formen der pflegerischen und psychosozialen Vernachlässigung widerfahren können. Im Nachfolgenden soll nun genauer auf die verschiedenen – teils schon angeklungenen – Erscheinungsweisen solcher Maßnahmen eingegangen werden. Wie in den bisherigen Ausführungen um pharmakologische FeM bereits angedeutet, gibt es über bekannte mechanische Mittel wie Bettgitter o. ä. hinaus ein breites Spektrum an Maßnahmen, die die Definition von FeM erfüllen.

2.3 Erscheinungsformen von FeM in professionellen Sorgebeziehungen

Schon im Kontext der terminologischen Ausführungen zur Definition von FeM ist deutlich geworden, dass es auf den ersten Blick leichter erscheint, verschiedene konkrete Erscheinungsweisen derselben zu benennen, als eine allgemeingültige Wesensbestimmung von FeM vorzunehmen. Wenn also Bestimmungsversuche häufig dazu tendieren, bei einzelnen Maßnahmen im Besonderen zu beginnen, muss die Suche nach einer Definition von sich aus zu übergeordneten Merkmalen im Allgemeinen fortschreiten. Ist diese allgemeine Warte dann erreicht, so lässt sich wiederum erneut ein Blick auf die konkrete Ebene werfen: Es kann also mit der zuvor gewonnenen bzw. gewählten Definition von FeM gefragt werden, auf welche konkreten Fälle diese zutrifft.

Bemerkenswert ist an der Definition des Deutschen Ethikrats, die wiederum auf der Definition von Bleijlevens et al. fußt, dass sie bewusst offen formuliert ist und keinerlei Beispiele für konkrete Erscheinungsformen anführt. Insofern ist in ihr nicht etwa von Bettgittern, Fixiergurten, gewissen Medikamenten o. ä. die Rede, sondern von „[j]edwede[n] Maßnahmen“Footnote 40, die das Kriterium erfüllen, eine Person in einer Art und Weise von der freien körperlichen Bewegung und/oder dem Zugriff auf den eigenen Körper abzuhalten, dass sie von derselben nicht kontrolliert oder mühelos entfernt werden können. Mit der Formulierung, dass dies „durch die Anwendung irgendeiner Maßnahme“Footnote 41 geschehen kann, wird noch deutlicher, dass zunächst nicht objektiviert wird, ob es sich um diese oder jene Mittel handelt. Vielmehr ist die Art und Weise der Verwendung bzw. die Wirkung der Maßnahme entscheidend dafür, ob sie freiheitseinschränkenden Charakter hat. Was Bauer und Braun im rechtlichen Kontext formulieren – auf die juristische Perspektive wird noch einzugehen sein (siehe Abschn. 2.6) –, gilt also bereits pflegefachlich und ethisch:

Welche konkreten Maßnahmen als freiheitsentziehende Maßnahmen zu charakterisieren sind, ist stark vom Einzelfall abhängig. Dabei verbietet sich jegl[iche] Verobjektivierung. Entscheidend ist, wie die Maßnahme auf den Einzelnen nach dessen körperl[ichen] Fähigkeiten wirkt. Die gleiche Maßnahme kann sich daher bei einem Betroffenen als freiheitsentziehend auswirken, bei einem anderen Betroffenen hingegen nicht.Footnote 42

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird deutlich, dass es strenggenommen nicht zutrifft, etwa ein aufgestelltes Bettgitter in jedem Fall als FeM zu bezeichnen: Handelt es sich bspw. um ein einseitig angebrachtes oder ein geteiltes und nur zur Hälfte aufgestelltes Bettgitter, so sind die oben genannten Kriterien nicht erfüllt, wenn im Einzelfall davon auszugehen ist, dass sich der Betroffene noch barrierefrei aus dem Bett begeben könnte.Footnote 43 Umgekehrt bedeutet dies jedoch auch, dass Maßnahmen, die auf den ersten Blick nicht unmittelbar und in derselben Deutlichkeit als FeM erkennbar sind wie etwa ‚klassische‘ und in der pflegerischen Versorgungspraxis allgemein bekannte Formen, ebenfalls FeM darstellen können, wenn sie den jeweiligen Betroffenen in seiner spezifischen körperlichen und psychischen Verfassung daran hindern, seine Bewegungsfreiheit auszuüben. Die besondere Relevanz der psychophysischen Verfassung des pflegebedürftigen Menschen für den freiheitseinschränkenden Charakter von FeM illustriert das Beispiel pharmakologischer Interventionen: Hier hängt es in besonderem Maße von der jeweiligen Person ab, ob ein Medikament sedierend und somit freiheitseinschränkend wirkt. So können neben Psychopharmaka bspw. auch β-Blocker sedierend wirken und somit die Bewegungsfreiheit der Person einschränken.Footnote 44 Diese Überlegungen haben auch zur Folge, dass mechanische bzw. technische Hilfsmittel, die häufig als Alternative statt einer konkreten FeM Verwendung finden, unter gewissen Umständen selbst eine FeM darstellen können (siehe Abschn. 2.10).

Führt man nun konkrete Erscheinungsformen von FeM auf, die in der pflegerischen Praxis verbreitet sind – und dies stets unter dem aus diesen Überlegungen resultierenden Vorbehalt, keine Verobjektivierung von Maßnahmen vorzunehmen – so ist bereits in Abschnitt 2.1 angeklungen, dass sich diese in körpernahe, körperferne und medikamentöse Formen einteilen lassen.Footnote 45 Insgesamt ergibt sich ein weites Spektrum von Erscheinungsformen, das Hoffmann und Klie bspw. folgendermaßen abbilden:

  • Leibgurte und andere Fixierungsvorrichtungen an Stuhl oder Bett sowie Bettgitter, Fixierdecken, Zwangsjacken und Therapietische an Stuhl oder Rollstuhl, die der Betroffene nicht mit zumutbaren Mitteln überwinden bzw. öffnen kann […],

  • Schließmechanismen an Türen und andere Vorrichtungen zum Verhindern eines Öffnens von Türen, die dazu führen, dass der Betroffene die Tür nicht öffnen kann – auch das zeitweise Abschließen der Außentür der Wohnung des Betroffenen im Rahmen professioneller häuslicher Pflege,

  • Ausübung physischen und/oder psychischen Drucks durch das Personal wie Verbote, List, Zwang oder Drohungen,

  • Gabe von Medikamenten, Schlafmitteln oder Psychopharmaka mit dem Ziel einer Ruhigstellung (Sedierung) des Betroffenen, eines Verhinderns des Verlassens der Räumlichkeit oder des Fortbewegens in der Einrichtung […].

  • Ausstatten von Betroffenen mit Signalsendern […], sofern bei Signalauslösung umgehend freiheitsentziehende Maßnahmen ergriffen werdenFootnote 46

Besonders hervorzuheben ist an dieser Auflistung, dass wiederum Wert darauf gelegt wird, für die verschiedenen Erscheinungsformen jeweils die Art und Weise der Verwendung bzw. die Wirkung dieser Maßnahmen herauszustreichen: Das Beispiel von Signalsendern, womit sowohl Bewegungsmelder als auch verschiedene Technologien der Ortung angesprochen sind, veranschaulicht dies besonders eindrücklich: Entscheidend ist nicht der Umstand, dass solche Sender Verwendung finden und bei Verlassen des Aufenthaltsorts ein Signal z. B. an die Pflegenden abgeben, sondern vielmehr, wie diese Akteure dann auf das Signal reagieren: Wird die betroffene Person in Folge des Signals etwa stets zurück in das Bett, das sie zu verlassen suchte, gebracht und somit an der freien Bewegung gehindert, so dient der Signalsender in diesem Fall als eine FeM. Wird das Signal jedoch zum Anlass genommen, den Betroffenen seinen Bedürfnissen entsprechend bei der Bewegung zu unterstützen, so kann der Sender im Gegenteil gar dazu dienen, die Anwendung von FeM zu vermeiden (siehe Abschn. 2.10).

Wichtiger als der Versuch, im Rahmen dieser Arbeit eine erschöpfende Auflistung verschiedener Erscheinungsformen von FeM zu bieten, ist also die Erkenntnis der Einzelfallabhängigkeit des freiheitseinschränkenden Charakters. Dennoch sei der Vollständigkeit halber sowie besonders aufgrund des Umstandes, dass solche Handlungen häufig nicht als FeM erkannt werden, noch eine Reihe von Maßnahmen angeführt, die ebenfalls als FeM wirken können. Ein einschlägiger Rechtskommentar beschreibt diese Maßnahmen, die oben bereits teilweise anklangen, wie folgt:

  • Täuschungen oder falsche Behauptungen […],

  • Wegnahme der Straßenbekleidung, Wegnahme von Seh- oder Gehhilfen,

  • Tapetenwände, mit durchgehendem Bildmotiv tapezierte Türen und Wände, die schon für gesunde Menschen den Ausgang nur noch erahnen lassen,

  • Pförtner oder Pflegepersonal, die den Ausgangsbereich einer Einrichtung überwachen und den Bewohner vom Verlassen des Aufenthaltsorts auch mit List und körperl[ichem] Zwang abhalten,

  • Türklinken, die Türen statt nach unten nur nach oben öffnen oder zwei Türklinken, die gleichzeitig gedrückt werden müssen, um die Tür zu öffnen,

  • Türdrehknöpfe fremdartigen Aussehens und mit – insb. für demente Personen – ungewohntem, nicht zu beherrschendem Wirkmechanismus,

  • Alarmgesicherte Notausgangsverriegelungen an Hauptausgängen mit lautstarkem Alarmton bei schwieriger manueller Öffnung,

  • Sitzwachen am Bett, die das Aufstehen aus dem Bett verhindern […],

  • „Kindersicherungen“ an Ausgangstreppen, die zB nur schwer einsehbar und mühsam von der Rückseite der hüfthohen Sicherungsvorrichtung zu öffnen sind,

  • sämtl[iche] weiteren Maßnahmen, die für die Betroffenen nur durch unzumutbare Anstrengungen zu überwinden sind […].Footnote 47

Für den besonderen Fokus dieser Arbeit auf Menschen mit Demenz ist etwa das Beispiel von Türschließmechanismen oder verborgenen Ausgängen von hoher Anschaulichkeit: Es verdeutlicht, dass diese Maßnahmen in solchen Fällen freiheitseinschränkend werden können, in denen es pflegebedürftigen Menschen aufgrund ihrer kognitiven Beeinträchtigungen nicht (mehr) möglich ist, deren Handhabung bzw. Zweck zu erkennen und entsprechend ihre Bewegungsfreiheit umzusetzen.

Nachdem in diesem Abschnitt der Sachverhalt um die Erscheinungsformen von FeM dargelegt und somit ein Überblick über die Bandbreite solcher Maßnahmen gegeben wurde, die unter Umständen den Charakter einer FeM annehmen, soll im Nachfolgenden noch ein genaueres Verständnis von der Verbreitung des Phänomens FeM in professionellen Sorgebeziehungen gewonnen werden.

2.4 Die Prävalenz mechanischer FeM in professionellen Sorgebeziehungen

Im nachfolgenden Abschnitt soll ein Überblick über den Stand der internationalen und nationalen (bei gleichzeitiger Betonung der letzteren) empirischen Forschung zur Prävalenz von mechanischen FeM in den verschiedenen pflegerischen Versorgungskontexten gegeben werden. Dabei fokussieren die Abschnitte die Situation in der stationären Langzeitpflege (Abschn. 2.4.1), der ambulanten Pflege (Abschn. 2.4.2) sowie die in der akutstationären Versorgung (Abschn. 2.4.3).

2.4.1 Stationäre Langzeitpflege

Die Leitlinie FEM in ihrer aktualisierten Form aus dem Jahr 2015 gibt u. a. einen Überblick zu den Forschungsergebnissen hinsichtlich der Prävalenz von FeM in der stationären Pflege in Deutschland im Zeitraum von den frühen 2000er Jahren bis 2010. Die Prävalenz von FeM in stationären Einrichtungen der Altenpflege schwankte diesen Ergebnissen zufolge zwischen durchschnittlich 20 % und 40 %.Footnote 48 So ermittelte eine Studie im Jahr 2008 in 30 norddeutschen Einrichtungen der stationären Altenpflege die Verwendung von mechanischen FeM bei 26,2 % der Bewohner, wobei dieser Anteil von Pflegeeinrichtung zu Pflegeeinrichtung zwischen 4,4 % und 58,9 % schwankte. Den weitaus größten Teil von FeM machten mit fast einem Viertel (24,5 %) Bettgitter aus, während sich die Freiheitseinschränkung mittels Gurtfixierungen sowie durch Stecktische eher selten verzeichnen ließ.Footnote 49 Es zeigen sich also nicht nur Schwankungen innerhalb der Bundesrepublik, sondern auch von Einrichtung zu Einrichtung sowie von einer Form von FeM zur anderen. In der Schweiz zeichneten sich laut Erhebungen in zwei kulturell unterschiedlichen Kantonen im Zeitraum 2013 bis 2014 sowohl eine vergleichbare durchschnittliche Prävalenz von FeM (26,8 %) als auch vergleichbare Schwankungen von Einrichtung zu Einrichtung ab (2,6 % bis 61,2 %). Abermals bildeten Bettgitter die am häufigsten angewandte Form von FeM (20,3 %).Footnote 50

Im europäischen Vergleich ergeben sich weitere Perspektiven: Im Rahmen der RightTimePlaceCare Studie, die sich den Themen Lebens- und Pflegequalität von Menschen mit Demenz widmete, veröffentlichten Beerens et al. 2014 u. a. auch Daten zu der Prävalenz von FeM sowohl in der stationären Pflege als auch im häuslichen Bereich. Insgesamt nahmen dabei in Deutschland, England, Estland, Finnland, Frankreich, den Niederlanden, Spanien und Schweden 1123 in der eigenen Häuslichkeit und 791 in stationären Pflegeeinrichtungen lebende Menschen mit Demenz teil.Footnote 51 Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass bei insgesamt 41,3 % dieser Personen mechanische FeM zum Einsatz kamen, wobei dabei 31,4 % auf stationäre und 9,9 % auf ambulante Versorgungsformen entfielen. Da auf die ambulante Pflege an späterer Stelle eingegangen sei, sei zunächst die stationäre Pflege angesprochen: Auch hier variierten die Ergebnisse stark und reichten von der niedrigsten Prävalenz von 6,1 % in Frankreich bis zur höchsten, die mit 83,2 % in Spanien vorlag. Deutschland lag hier mit einer Prävalenz von 9,2 % an dritter Stelle.Footnote 52 Über den europäischen Kontext hinausgehend sei noch auf eine systematische Übersichtsarbeit und Metaanalyse aus dem Jahr 2021 verwiesen, die für „physical restraints“ weltweit zu einer durchschnittlichen Prävalenz von 33 % kommt, dabei jedoch auf die hohe Heterogenität der eingeschlossenen Studien verweist.Footnote 53 Was die Formen verwendeter Mittel betrifft, stellt auch hier die Anwendung von Bettgittern mit durchschnittlich 44 % Prävalenz die häufigste Maßnahme dar.Footnote 54

Weitere Perspektiven zur Häufigkeit der Anwendung von FeM in der Pflege in Deutschland sowie zur politischen Tragweite der Thematik ergeben sich aus der Kleinen Anfrage „Freiheitsentziehende Maßnahmen in der Altenpflege“ von Abgeordneten der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aus dem Jahr 2017.Footnote 55 Etwa vier Wochen nach der Anfrage, die einen kritischen Fragenkatalog von 25 Punkten aufwies, bezog die Bundesregierung schriftlich Stellung zu den erfragten Sachverhalten und beantwortete die Frage nach der Häufigkeit von richterlich genehmigten freiheitsentziehenden MaßnahmenFootnote 56 in der stationären und ambulanten Altenpflege mithilfe der zu diesem Zeitpunkt aktuellen Daten des Bundesamtes für Justiz.Footnote 57 Dieses erfasst jährlich die Anzahl beantragter, gerichtlich genehmigter sowie abgelehnter freiheitsentziehender Maßnahmen nach § 1906 Absatz 4 BGB (siehe Abschn. 2.6), die im Rahmen einer Betreuung beantragt worden sind.Footnote 58 Zum Zeitpunkt der Antwort lagen die Daten der Jahre vor bzw. bis 2015 vor. Es zeigt sich, dass die bundesweite Anzahl genehmigter freiheitsentziehender Maßnahmen zunächst von 83.781 (von 90.657 beantragten) im Jahr 2005 mit Schwankungen anstieg, 2010 ihren Höhepunkt mit 98.119 Genehmigungen (von 106.021 beantragten) erreichte und dann schwankend abnahm, um schließlich 2015 die Anzahl 59.945 (von 66.489 beantragten) zu erreichen. Neben diesen absoluten Zahlen, die einen Rückgang in den letzten Jahren erkennen lassen, sei auch auf den in relativer Hinsicht wachsenden Anteil an Ablehnungen beantragter freiheitsentziehender Maßnahmen hingewiesen, die sich 2005 noch auf 7,58 % beliefen und 2015 bereits 9,84 % betrugen.Footnote 59 Sechs Jahre später lassen sich diese Ergebnisse mittlerweile um Daten aus dem Jahr 2016 anreichern, wobei sich hier mit 51.097 genehmigten (von 56.538 beantragten) Maßnahmen der Rückgang fortsetzt. Es wurden 2016 jedoch in relativen Zahlen mehr freiheitsentziehende Maßnahmen genehmigt, denn der Anteil abgelehnter Maßnahmen lag lediglich bei 9,62 %.Footnote 60 Besonders bedauernswert ist, dass für das Jahr 2017 „aufgrund der Umstellung auf die B-Statistik und den damit verbundenen technischen Problemen“Footnote 61 keine Daten vorliegen und auch der Berichtszeitraum 2018 bis 2020 noch nicht einsehbar ist. Weitere Fragen, die Bestandteil der Anfrage an die Bundesregierung waren, betrafen sowohl die konkret angewandten Formen und die Dauer von freiheitsentziehenden Maßnahmen als auch häufigste Begründungen für dieselben sowie Gründe, aus denen hervorgeht, weshalb Anträge auf freiheitsentziehende Maßnahmen in der Vergangenheit von den Gerichten abgelehnt wurden. Der Bundesregierung lagen zu diesen Sachverhalten keine statistischen Daten vor.Footnote 62 Die empirische Basis der Bundesregierung bleibt entsprechend skizzenhaft und fragmentarisch. Im weiteren Verlauf der Anfrage verwies die Bundesregierung auf die jährlich stattfindenden externen Qualitätsprüfungen und die damit einhergehende Datenerhebung durch die Medizinischen Dienste der Krankenversicherung (MDK) der Länder in stationären Langzeit- und ambulanten Pflegeeinrichtungen sowie in Konsequenz auf den vierten Pflege-Qualitätsbericht des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e. V. (MDS), in welchem neben weiteren Aspekten der Pflegequalität auch der jeweils einrichtungsinterne Umgang mit freiheitsentziehenden Maßnahmen thematisiert wird.Footnote 63

Auch der aktuellste, sechste Pflege-Qualitätsbericht des MDS nach §114a Abs. 6 SGB XI vermittelt u. a. einen Überblick über die Häufigkeit der Anwendung von freiheitsentziehenden Maßnahmen in der stationären Langzeitpflege und die entsprechende Entwicklung in den letzten Jahren: So lagen 2016 bei 8,9 % der 104.344 in die Prüfung einbezogenen Bewohner freiheitsentziehende Maßnahmen vor. Es sei darauf hingewiesen, dass sich dieses Ergebnis ungefähr mit der bereits erwähnten Publikation von Beerens et al. von 2014 deckt und dabei einen leichten Rückgang erkennen lässt. Des Weiteren konnten in 92,5 % der vom MDS analysierten Fälle Einwilligungen oder Genehmigungen nachgewiesen werden. Bei der Interpretation dieses zunächst positiv wirkenden Ergebnisses darf nicht außer Acht gelassen werden, dass diese Maßnahmen damit im Umkehrschluss bei 7,5 % der Personen ohne Einwilligung oder richterliche Genehmigung (und damit rechtswidrig) erfolgten. Auch zeigt der Qualitätsbericht auf, dass bei 11,7 %, d. h. bei mehr als jeder zehnten betroffenen Person, die Notwendigkeit bzw. Erforderlichkeit dieser freiheitsentziehenden Maßnahmen sowie die Möglichkeit milderer Mittel (siehe Abschn. 2.10) in den stationären Pflegeeinrichtungen nicht regelmäßig überprüft wurde. In die Pflegequalitätsprüfung des MDS im Jahr 2019 wurden für den Zeitraum vom 1. Januar bis zum 31. Oktober insgesamt 94.899 Personen einbezogen, wobei sich hier in Ansätzen ein positiver Trend abzeichnete: Der Anteil freiheitsentziehender Maßnahmen bei den überprüften Bewohnern in der stationären Langzeitpflege lag hier mit 5,6 % um 3,3 % unter dem Ergebnis von 2016. Im Jahr 2019 kamen darüber hinaus bei 6,6 % dieser Fälle, d. h. bei etwa 350 Personen, freiheitsentziehende Maßnahmen zum Einsatz, die weder durch eine Einwilligung noch durch eine richterliche Genehmigung legitimiert waren. Abermals erfolgte in 10,2 % der Fälle keine regelmäßige Überprüfung dieser Maßnahmen nach den oben genannten Kriterien – kein wesentlicher Rückgang.Footnote 64

Auch für das Jahr 2020 liegen mit dem sechsten Pflege-Qualitätsbericht des MDS schon erste Ergebnisse bezüglich der Anwendung von freiheitsentziehenden Maßnahmen vor, die sich zudem durch eine weitere Differenzierung der geprüften Items eignen, ein vollständigeres Bild der derzeitigen Lage zu gewinnen. Diese Differenzierung ging mit der Umstellung des Prüfverfahrens der Qualitätsprüfungen in stationären Pflegeeinrichtungen zum 1. November 2019 einher. Das neue Prüfverfahren deckte entsprechend den Zeitraum von November 2019 bis März 2020 ab, wobei 18.842 Personen eingeschlossen wurden.Footnote 65 Erhoben wird nun im Qualitätsbereich 4 „Unterstützung in besonderen Bedarfs- und Versorgungssituationen“ u. a. der Qualitätsaspekt 4.4 „Freiheitsentziehende Maßnahmen“, der sich durch die folgende Qualitätsaussage definiert:

Der Einsatz von Gurtfixierungen, Bettseitenteilen und anderen Fixierungen wird soweit wie möglich vermieden; im Falle eines Einsatzes werden die jeweils relevanten fachlichen Anforderungen beachtet.Footnote 66

Bei 1304 der überprüften Personen (6,9 %) kamen zum Zeitpunkt der Prüfung oder in den letzten vier Wochen unmittelbar vor derselben freiheitsentziehende Maßnahmen zur Anwendung. Zusätzlich zur Häufigkeit von freiheitsentziehenden Maßnahmen werden im Rahmen des neuen Prüfsystems Auffälligkeiten und Defizite in Bezug auf den Qualitätsaspekt erhoben. So lagen bei 5,2 % dieser Maßnahmen Defizite vor, die mit einem Risiko für die Betroffenen einhergingen. Als Beispiel nennt der Bericht hier etwa die Anbringung von Gurtsystemen mit inadäquater Polsterung, die das Risiko von Druckstellen barg. Während solche befürchteten Folgen bei dieser Personengruppe zwar nicht eintraten, traten in 3,5 % der Fälle konkrete, durch die freiheitsentziehenden Maßnahmen bedingte, negative Folgen ein (siehe Abschn. 2.9). Nicht nur verweist der Bericht darauf, dass die Begründung der Maßnahmen in diesen Situationen nicht nachvollzogen werden konnte, sondern auch darauf, dass sich die vermeintliche Einwilligung der von der Maßnahme Betroffenen in einigen Fällen nicht nachweisen ließ. In manchen Fällen zeigte sich gar, dass freiheitsentziehende Maßnahmen ohne die erforderliche Überwachung bzw. fachliche Begleitung angewendet wurden.Footnote 67

Bei der Beurteilung der dargestellten Daten ist zusammenfassend festzustellen, dass die von den Abgeordneten erbetene und aus pflegefachlicher Perspektive durchaus gebotene Differenzierung zwischen ambulanten und stationären Versorgungsformen hinsichtlich freiheitsentziehender Maßnahmen in der Antwort der Bundesregierung ebenso wenig gegeben war wie die Konkretisierung nach Formen, Dauer und Begründungen der Maßnahmen. Aus den statistischen Daten des Bundesamtes für Justiz gehen diese Informationen nicht hervor. Im Rahmen des Prüfverfahrens durch die Medizinischen Dienste der Länder werden zwar sowohl stationäre als auch ambulante Pflegeeinrichtungen überprüft, jedoch finden sich freiheitsentziehende Maßnahmen als Prüfgegenstand ausschließlich im Bereich der stationären Langzeitpflege.Footnote 68 Auf Grundlage des sechsten Prüfberichts des MDS lassen sich zudem keine Informationen darüber gewinnen, wie sich die Situation um die Verabreichung von Medikamenten mit dem Ziel einer Freiheitseinschränkung (siehe Abschn. 2.5) darstellt.

Es ist auf Basis der MDS-Erhebungen kaum möglich nachzuvollziehen, wie sich die Situation um FeM in informellen und formellen bzw. gemischten ambulanten Sorgebeziehungen verhält, obwohl eine Auseinandersetzung mit der Thematik hier besonders relevant erscheint, denn „[i]m häuslichen Bereich ist das Thema Fixierung noch weitgehend ein Tabuthema. Auch hier gehören freiheitsentziehende Maßnahmen ganz häufig zum Alltag.“Footnote 69

2.4.2 Ambulante Pflege

Auch im Jahr 2019 hat diese zuletzt angeführte Feststellung Klies (siehe Abschn. 2.4.1) noch Gültigkeit: So kommen Wilke, Brosey und Kosuch in ihrem Reader Freiheitseinschränkende Maßnahmen in der häuslichen Pflege zu folgendem ernüchternden Urteil:

Leider existieren keine repräsentativen Zahlen zur Anwendung von FeM in der häuslichen Umgebung. Dies ist sicher auch dem Forschungsgegenstand geschuldet. Fragen nach Situationen und Handlungen in denen die Befragten Handlungen, wie z. B. FeM angewendet haben, stellen sogenannte „heikle Fragen“ dar. Dies sind Fragen zu Themen, die mit persönlichen und gesellschaftlichen Tabus belegt sind.Footnote 70

Es liegt unweigerlich in der Natur des häuslich-privaten Raumes mitbegründet, dass sich dieser erschwerter erschließen lässt als dies der öffentliche Raum ermöglicht. Hinzu kommt jedoch – wie die Autorinnen herausstellen – die Problematik, dass Antworten auf „heikle Fragen“ nicht immer der Wahrheit entsprechen sowie, dass sich informell Pflegende nicht immer im Klaren darüber sind, welche pflegerischen Handlungen eine FeM darstellen. Entsprechend variieren die Prävalenzdaten von FeM im ambulanten Versorgungsbereich:Footnote 71 Die Studien aus den frühen 2000er Jahren, die die Autorinnen zusammentragen, ergeben für diesen eine Prävalenz von 10 % bis 25 %, erlauben dabei jedoch noch kein differenziertes Bild.Footnote 72 Auf ausgewählte jüngere Studienergebnisse, die ebenfalls im Reader erwähnt werden und dabei weiterhin ein großes Spektrum abbilden, sei nachfolgend eingegangen.

Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt „ReduFix ambulant – Sicherheit und Lebensqualität in der häuslichen Versorgung von älteren Menschen mit Hilfe- und Pflegebedarf“ unter der Leitung Klies und Bredthausers bildete im Jahr 2013 eine Prävalenz von ca. 6 % bis 9 % Maßnahmen ab, die die Freiheit von Pflegebedürftigen in diesem Bereich einschränkten. Dabei dominierte die Verabreichung ruhigstellender Medikamente sowie die Anwendung von Bettgittern und das Einschließen im Wohnraum.Footnote 73 Die bereits eingangs zitierte europaweite Studie aus dem Jahr 2014 zur Lebens- und Pflegequalität von Menschen mit Demenz ermittelte eine 9,9 %ige Prävalenz von mechanischen FeM in der ambulanten Pflege der 1123 in der eigenen Häuslichkeit lebenden Studienteilnehmer. Während Deutschland im Ländervergleich bezüglich der Anwendung von FeM in der stationären Pflege, wie oben aufgezeigt, verhältnismäßig positiv abschnitt, stellte es mit 19,8 % das Land mit der höchsten Prävalenz von FeM im ambulanten Versorgungsbereich dar. Gemeinsam mit Spanien (17,8 %), das bereits im stationären Sektor durch die höchste Prävalenz auffiel, bildete Deutschland damit das eine Ende des Spektrums und stand England (3,7 %) und den Niederlanden (3,4 %) am anderen Ende gegenüber.Footnote 74 Auch Klie geht in seiner Monographie von 2015 von einer Prävalenz von etwa 20 % in der ambulanten Pflege aus.Footnote 75 Ergebnisse einer Befragung von 1006 pflegenden Angehörigen durch das Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) aus dem Jahr 2018 zeigen schließlich eine Prävalenz von 6 % als FeM zu wertender Maßnahmen. Dabei wurde erfragt, ob die pflegebedürftige Person in den letzten 6 Monaten gegen ihren Willen in einem Zimmer bzw. der Wohnung eingeschlossen wurde (1 %), zur Pflegeerleichterung medikamentös ruhiggestellt wurde (3 %) und auf andere Weise gegen ihren Willen in der Bewegungsfreiheit eingeschränkt wurde (2 %).Footnote 76 Die Varianz dieser Daten unterstreicht die Relevanz weiterer Forschung zum Thema FeM in der ambulanten Pflege.

2.4.3 Akutstationäre Pflege

Etwas dichter – jedoch lange nicht erschöpfend – erschlossen stellt sich die internationale und nationale Datenlage zu FeM in akutstationären Versorgungsformen dar. Eine Überblicksarbeit aus dem Jahr 2005 trug für den Zeitraum 1999 bis 2004 eine Prävalenz von 33 % bis 68 % zusammen, wobei auch hier die Breite des Spektrums auffällt.Footnote 77 Ein in der nationalen, wie internationalen Literatur häufig herangezogener systematischer Literaturüberblick zu mechanischen FeM in Akutkrankenhäusern von 2010 zeigt ebenfalls auf, dass „[n]ur wenig […] über die Situation in Krankenhäusern bekannt“Footnote 78 ist: Da sich die eingeschlossenen Studien in der jeweils zugrunde gelegten Definition von FeM (z. B. in Bezug auf die Frage, ob Bettgitter als solche zu werten sind), der methodischen Herangehensweise sowie in der Ergebnisdarstellung stark unterschieden, konnten diese nicht direkt verglichen werden. Es zeichnete sich weiterhin ab, dass innerhalb von Krankenhäusern FeM auf Intensivstationen besonders oft angewendet werden. Was die Form der angewandten FeM betrifft, schienen in dem Literaturüberblick Hand-, Stuhl- und Bettfixierungen zu überwiegen.Footnote 79

Eine Querschnittstudie von Krüger et al. aus dem Jahr 2013, die die Situation um FeM in deutschen Akutkrankenhäusern erfasste, schloss 1276 Personen (Altersdurchschnitt 65 Jahre) in vier Kliniken ein und kam zu dem Ergebnis, dass FeM zum Krankenhausalltag gehören:Footnote 80 Bei 11,8 % der Pflegebedürftigen im Krankenhaus kommt mindestens eine FeM zur Anwendung, wobei hier Bettgitter (9,8 %) und beidseitig angebrachte Handgelenkfixierungen (2,5 %) am häufigsten zum Einsatz kommen. Geringere Prävalenzen weisen einseitige Handgelenkfixierungen (0,5 %), Stecktische (0,4 %) und Bauchgurtfixierungen im Bett (0,1 %) auf.Footnote 81 Wie auch im Falle der bereits genannten Versorgungsbereiche variierte auch hier mit Werten von 6.2 % bis 16.6 % die Prävalenz zwischen den einzelnen Einrichtungen. Doch auch zwischen den verschiedenen Stationen innerhalb eines Krankenhauses konnten Schwankungen aufgewiesen werden, insofern die Prävalenz auf Allgemeinstationen 0 % bis 31,3 % und auf Intensivstationen 0 % bis 90 % betrug.Footnote 82

Im darauffolgenden Jahr erschienen in dem von dem Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung e. V. herausgegeben Pflege-Thermometer 2014 Ergebnisse einer bundesweiten Befragung von 1.844 leitenden Pflegekräften zur Pflegesituation von Menschen mit Demenz im klinischen Kontext.Footnote 83 In einem Zeitraum von sieben Tagen wurde u. a. die Dauer und Form der jeweils verwendeten FeM erhoben. Dabei kamen beidseitige Bettgitter auf den teilnehmenden Stationen durchschnittlich 4,4-mal zur Anwendung; Stecktische folgten mit 2,4-mal, während Fixiergurte 0,9-mal pro Woche eingesetzt wurden.Footnote 84 Die Autoren weisen kritisch darauf hin, dass deutschlandweit jährlich von etwa 500.000 Fixierungsmaßnahmen bei Menschen mit Demenz im Akutkrankenhaus auszugehen ist.Footnote 85

Die gegenwärtige Situation um FeM im klinischen Kontext sei abschließend an zwei aktuellen Studien veranschaulicht. Die im Jahr 2018 veröffentlichten Ergebnisse der durch die Robert Bosch Stiftung geförderten General Hospital Study (GHoSt) präsentieren, dass aktuell bei etwa einem Viertel der Patienten mit Demenzerkrankung und/oder Delir FeM wie z. B. Bettgitter, Fixiergurte und -decken, Stecktische und Türöffnungsvorrichtungen angewendet werden.Footnote 86 Auf die Gründe einer solch hohen Prävalenz bei Menschen mit Demenz im Besonderen sei im weiteren Verlauf vertieft eingegangen (siehe Abschn. 2.7 und 2.8). Eine jüngste Querschnittstudie von Thomann, Zwakhalen, Richter et al. aus dem Jahr 2021 mit einer gemischten Stichprobe von 29.477 hospitalisierten Personen (Altersdurchschnitt 70 Jahre) aus 140 Kliniken in Österreich und der Schweiz ergab für die Anwendung von mindestens einer FeM eine 30-Tage-Prävalenz von 8,7 %. Mit 55 % dominierten dabei mechanische FeM, wobei innerhalb dieser Gruppe wiederum Bettgitter mit einem Anteil von 86,7 % das häufigste Mittel darstellten.Footnote 87 Die Studie kommt zu dem Fazit, dass in den untersuchten Krankenhäusern Österreichs und der Schweiz etwa jeder elfte Pflegebedürftige von FeM betroffen ist,Footnote 88 was sich insofern gut mit den bereits dargestellten Ergebnissen Krügers et al. für den deutschen Raum vergleichen lässt.

Zusammenfassend lässt sich zur Prävalenz von FeM bei der disparaten Datenlage zumindest festhalten, dass FeM scheinbar in allen wesentlichen Versorgungsbereichen immer noch zur Standardversorgung gezählt werden. Gleichzeitig lässt sich z. B. in der stationären Langzeitpflege in der Tendenz ein Rückgang von FeM verzeichnen, was auch das von der Fachliteratur fortlaufend hervorgehobene Potenzial einer Pflegepraxis unterstreicht, die auf den Einsatz von FeM zu verzichten bzw. diesen zu reduzieren weiß. Die in diesem Kontext als rückläufig zu bezeichnenden Daten sind dabei jedoch – wie in vielen der beschriebenen Studien angesprochen – kritisch zu betrachten, da eine Vergleichbarkeit der Daten nur bedingt geleistet werden kann: Noch vor erheblichen inter- und intrainstitutionellen Schwankungen der ermittelten Zahlen auf Ergebnisebene erschwert bereits ein breites Spektrum verschiedener empirischer Methoden, Einschlusskriterien und Definitionen den direkten Vergleich. Besonders auf internationaler Ebene ist auffallend, dass bspw. aufgestellte Bettgitter immer wieder nicht als FeM gewertet und daher nicht miteingeschlossen wurden.Footnote 89 Auch unterscheiden sich – jeweils begründet durch verschiedene Zielsetzungen der einzelnen Studien – die eingeschlossenen Studienpopulationen. Grundsätzlich ist des Weiteren davon auszugehen, dass die Dunkelziffer nicht gemeldeter, nicht beantragter oder nicht erfasster FeM weitaus höher sein dürfte. So spricht bspw. Klie von geschätzt insgesamt 340.000Footnote 90 bis 350.000Footnote 91 als freiheitsentziehend zu wertenden Maßnahmen, die täglich in der stationären Langzeitpflege in Deutschland angewendet werden. Entsprechend geben Prävalenzzahlen wie die oben zitierten nur einen Hinweis auf die tatsächlichen Dimensionen des Problems.

Vor dem Hintergrund dieser fragmentarischen Datenlage sowie der hohen gesellschaftlichen Relevanz des Themas wäre es wünschenswert, dass die auf Bund- und Länderebene verantworteten Erhebungen zu FeM in formellen und informellen Sorgebeziehungen die gebotene Differenzierung hinsichtlich der Formen, Dauer und Begründungen der Maßnahmen systematisch und differenziert abbildeten. Gleichfalls sollte dies nach den verschiedenen Versorgungskontexten aufgeschlüsselt erfolgen, wobei besonders die Erschließung der Praxis um FeM im ambulanten sowie im akutstationären Sektor und damit auch die Versorgungsqualität in denselben profitieren würde. Während der Fokus bisher weitgehend auf mechanischen Formen von FeM in den verschiedenen Versorgungskontexten lag, sei im Folgenden auf die Datenlage zu pharmakologischen FeM eingegangen.

2.5 Die Prävalenz pharmakologischer FeM

War es schon bei mechanischen FeM aufgrund der zuvor genannten Limitationen erschwert, einen genauen Überblick über deren Prävalenz zu gewinnen, so gestaltet sich dies bei pharmakologischen, (potenziell) freiheitseinschränkenden Interventionen in pflegerischen Sorgebeziehungen, wie z. B. der Verabreichung von Psychopharmaka, umso schwieriger. Ein Hauptproblem scheint dabei darin zu liegen, dass wissenschaftlich sowie auf Bund- und Länderebene kaum erfasst, dokumentiert und erforscht wird, ob bzw. wann und wie häufig ruhigstellende Medikamente besonders bei kognitiv beeinträchtigten pflegebedürftigen Menschen mit dem Ziel der Ruhigstellung verabreicht werden. Dabei ist der Umstand, ob ein Medikament aufgrund einer eindeutigen medizinischen Indikation oder mit dem vorgeordneten Ziel der Ruhigstellung ärztlich angeordnet bzw. verabreicht wird, u. a. rechtlich von zentraler Bedeutung (siehe Abschn. 2.6).

Um einen Eindruck von der Situation in der Praxis zu gewinnen, gilt es daher, den Fokus zu weiten und zunächst auf die Problematik der Polypharmazie einzugehen. Als wesentlicher Risikofaktor für Sturzereignisse, deren Vorbeugung wiederum eine der Hauptbegründungen für FeM darstellt (siehe Abschn. 2.7), ist Polypharmazie von nicht zu unterschätzender Relevanz für den Sachverhalt. Im Anschluss sei auf die allgemeine Prävalenz von Psychopharmaka in der Pflege alter Menschen eingegangen, um die Psychopharmakaverabreichung in einem letzten Schritt auf die möglicherweise intendierte freiheitseinschränkende Wirkung zu prüfen. Die nachfolgenden Darstellungen werden sodann an geeigneter Stelle mit Blick auf die Gesamtthematik der vorliegenden Arbeit sowie mit Blick auf Menschen mit Demenz kontextualisiert.

Ein erster Überblick über das Phänomen der Polypharmazie sowie die Prävalenz von Psychopharmaka kann mithilfe des – auf standardisierten AOK-Daten zu gesetzlich versicherten Pflegebedürftigen basierenden – Pflege-Reports 2017 (Untersuchungszeitraum 2015) gewonnen werden, der seinen Schwerpunkt auf die Versorgungssituation pflegebedürftiger Menschen legte. Zugleich kann mit den aktuelleren Daten des Pflege-Reports 2021 (Untersuchungszeitraum 2019) jeweils die Frage nach Trends gestellt werden, die sich abzeichnen. Bezüglich der Polypharmazie, von der allgemein „im Sinne einer Verordnung von gleichzeitig mehr als 4 Medikamenten“Footnote 92 gesprochen wird, lässt sich festhalten, dass im Jahr 2015 im Durchschnitt 58,7 % und im Jahr 2019 im Durchschnitt 61,2 % der Pflegebedürftigen pro Quartal Verordnungen für fünf oder mehr Wirkstoffe erhielten. Die höchsten Raten wurden dabei 2015 bei den 60- bis 84-jährigen Pflegebedürftigen erfasst; hier wurden für mehr als jeden fünften Betroffenen pro Quartal zehn oder mehr Wirkstoffe verordnet. Im Jahr 2019 wurden im Vergleich die meisten Verordnungen bei der Gruppe der 70- bis 74-jährigen Pflegebedürftigen festgestellt, bei denen etwas mehr als jeder vierte zehn oder mehr Wirkstoffe angeordnet bekam.Footnote 93 Je nach Definition entspricht dies bereits dem Phänomen einer sogenannten „Hyper-Polypharmazie“.Footnote 94 Was die im Pflege-Report vorgenommene Differenzierung nach Versorgungskontexten betrifft, so zeigt sich, dass im Jahr 2019 der höchste Anteil an Polypharmazie mit 69,3 % auf die Pflegebedürftigen in der stationären Langzeitpflege entfällt sowie, dass das Phänomen in der rein informellen Pflege alter Menschen deutlich seltener ist.Footnote 95

Dass die Prävalenz von Polypharmazie im Alter für die Thematik dieser Arbeit von besonderer Relevanz ist, verdeutlicht ein Blick auf die möglichen Folgen derselben. In ihrer aktuellen narrativen Übersichtsarbeit über Definitionen, Prävalenz und klinische Folgen von Polypharmazie fassen Pazan und Wehling u. a. den Erkenntnisstand zu dem Zusammenhang von Polypharmazie und Sturzereignissen zusammen: So kamen internationale Studien je nach Polypharmaziedefinition zu einer 18 % höheren Wahrscheinlichkeit (Polypharmazie = min. vier Medikamente), einer 21 % höheren Wahrscheinlichkeit (Polypharmazie = min. fünf Medikamente) und für Extremfälle von Hyperpolypharmazie (= min. zehn Medikamente) gar einer 50 % höheren Wahrscheinlichkeit von Sturzereignissen.Footnote 96 Auch konnte in mehreren internationalen Studien nachgewiesen werden, dass Polypharmazie mit kognitiven Einschränkungen und speziell Demenzerkrankungen assoziiert ist, besonders wenn diese über lange Zeiträume andauert.Footnote 97

Nimmt man unter den verabreichten Medikamenten in pflegerischen Sorgekontexten genauer die Gruppe der Psychopharmaka in den Blick, so ist zunächst zu bemerken, dass diese auf viele verschiedene Weisen zur Behandlung von verschiedenen psychopathologischen Symptomen – wie bspw. Depressivität, Wahn, Halluzinationen – indiziert sein können.Footnote 98 Diese Symptomatik ist häufig mit Verhaltensauffälligkeiten wie Agitation, Unruhe, Störungen im Tag-Nacht-Rhythmus, Umherirren („wandering“) oder aggressivem Verhalten assoziiert – Verhaltensweisen, die „bei fast allen Demenzkranken im Laufe der Erkrankung auf[treten], wobei ein gleichzeitiges Auftreten verschiedener Auffälligkeiten die Regel ist“Footnote 99. Angesichts der (Demenz-)Erkrankungen, die eine solche Symptomatik hervorrufen können, kann nicht geleugnet werden, dass eine pharmakologische Therapie mithilfe von Psychopharmaka durchaus geboten bzw. erforderlich sein kann, um das Wohl bzw. die Lebensqualität der betroffenen Person zu gewährleisten – sofern eine eindeutige Indikation vorliegt und das Medikamentenmanagement unter der Berücksichtigung von Leitlinien- und Handlungsstandards erfolgt. Gleichzeitig muss das Therapieziel darin bestehen, medizinisch unangemessene bzw. gar unnötige Interventionen sowie besonders eine potenziell missbräuchliche Verwendung von Psychopharmaka zu vermeiden.Footnote 100

Allgemein fällt bei pflegebedürftigen Menschen eine recht hohe Prävalenz von Psychopharmaka auf, wie etwa mit Blick auf die Pflege-Reporte von 2017 und 2021 deutlich wird: Für das Jahr 2019 erfasste letzterer generell Verordnungen mit einer 36 %-igen Prävalenz, bei denen pro Quartal mindestens ein Antipsychotikum, Anxiolytikum, Hypnotikum bzw. Sedativum oder Antidepressivum angeordnet wurde – im Vergleich zu einer Rate von 39 % im Jahr 2015, was einen (wenn auch geringen) relativen Rücklauf erkennen lässt.Footnote 101 Über diese allgemeinen Durchschnittswerte hinaus ermittelte der Pflege-Report 2021 auch die Prävalenz von Psychopharmaka je nach Versorgungskontext, wobei sich bemerkenswerterweise für die vollstationäre Pflege abzeichnete, dass hier für mehr als die Hälfte (56 %) der Bewohner pro Quartal mindestens eines dieser Psychopharmaka verordnet wurde, während Menschen in informellen Sorgebeziehungen, die ausschließlich Pflegegeld erhielten, nur zu 28,2 % betroffen waren.Footnote 102

Was die bereits angesprochene Angemessenheit dieser Arzneistoffe bei älteren Menschen betrifft, verweist der Pflege-Report 2017 kritisch darauf, dass es sich bei den besagten Wirkstoffgruppen (Antipsychotika, Anxiolytika, Hypnotika/Sedativa und Antidepressiva) um diejenigen handelt, „die das Gros der PRISCUS-Problematik ausmachen“Footnote 103. Die PRISCUS-ListeFootnote 104 führt für den deutschen Arzneimittelmarkt 83 „potentiell inadäquate Medikamente“ (PIM) für ältere Menschen ab 65 Jahren auf, wobei ein PIM verstanden wird „als Wirkstoff, bei dessen Verabreichung das Risiko von unerwünschten Arzneimittelereignissen aufgrund einer veränderten Pharmakokinetik und veränderten Wirkungen im Alter erhöht ist und mögliche Verordnungsalternativen bestehen“Footnote 105. Dabei handelt es sich bei PIM um ein nicht zu unterschätzendes und verbreitetes Problem, denn laut Ergebnissen der europäischen RightTimePlaceCare Studie erhielten 60 % der teilnehmenden Studienpopulation (n = 2004 Menschen mit Demenz mit dem Durchschnittsalter 83 Jahre) mindestens ein PIM. Mehr als ein Viertel (26,4 %) der Menschen mit Demenz erhielten sogar zwei oder mehr PIM.Footnote 106 Insgesamt ergab die Studie, dass Menschen mit Demenz,

who were 80 years and older, lived in institutional long-term care settings, had higher comorbidity and were more functionally impaired were at higher risk of being prescribed two PIM or more. The prescription of two or more PIM was associated with higher chance of suffering from at least one fall-related injury and at least one episode of hospitalisation […].Footnote 107

Im nationalen Kontext ist der Pflege-Report 2021 erwähnenswert, der ebenfalls den Einsatz von PIM bei pflegebedürftigen alten Menschen analysierte – mit dem Ergebnis, dass unter allen verordneten PRISCUS-Wirkstoffen Psychopharmaka die prominenteste Gruppe bildeten.Footnote 108

Die Situation um Psychopharmaka lässt sich nicht nur auf die Verordnung von PIM befragen, sondern auch auf die Prävalenz einzelner Subgruppen. Ganz übergeordnet hält Thürmann im Pflege-Report 2017 diesbezüglich fest:

In der Zusammenschau […] lassen sich für Deutschland relativ hohe Verordnungsraten an Psychopharmaka, allen voran Neuroleptika, bei pflegegebedürftigen […] Bewohnern von Einrichtungen der Langzeitpflege aufzeigen. Die Mehrzahl der Neuroleptikaverordnungen wird für Patienten mit Demenz getätigt.Footnote 109

So belief sich der Anteil pflegebedürftiger Menschen mit Demenz ab 65 Jahren in der stationären Langzeitpflege mit mindestens einer ärztlichen Verordnung von Neuroleptika bzw. Antipsychotika im Jahr 2015 durchschnittlich auf 41,8 %.Footnote 110 Zwar geht aus der Datenlage des Pflege-Reports 2017 nicht hervor, ob Antipsychotika als Dauer- oder Bedarfsmedikation verordnet waren, jedoch waren diese für 59 % der pflegebedürftigen Menschen über einen Zeitraum von mindestens einem Jahr verordnet.Footnote 111 Dies ist nicht zuletzt deshalb bedenklich, da die S3-Leitlinie Demenzen für Antipsychotika die Empfehlung formuliert, dass eine solche „Behandlung […] mit der geringstmöglichen Dosis und über einen möglichst kurzen Zeitraum erfolgen [soll]“Footnote 112. Die Autoren äußern weiterhin den Verdacht, dass Antipsychotika hier

weniger zur Behandlung von Schizophrenien, Manien oder wahnhaften Depressionen, sondern vielmehr im Rahmen von psychischen und Verhaltensstörungen bei Demenz zum Einsatz kommen.Footnote 113

Eine Assoziation mit diesen verhaltensbezogenen und psychischen Symptomen lässt sich auch deswegen plausibilisieren, weil beinahe jeder dritte Mensch mit Demenz im Jahr 2015 pro Quartal ein Antipsychotikum erhielt. Für die stationäre Langzeitpflege konnte ermittelt werden, dass dieser Sachverhalt für 42 % der Bewohner mit Einschränkungen in der Alltagskompetenz, also z. B. Menschen mit Demenz, zutraf.Footnote 114 Folgt man dem leitlinienbasierten Ansatz der Antipsychotika-Behandlung von Menschen mit Demenz, so erscheint diese Prävalenz durchaus problematisch: Zu den Risiken, die bei Menschen mit Demenz in deutlich hohem Maße mit einer Neuroleptika-Therapie einhergehen, zählen mögliche extrapyramidale, kardiale und orthostatische Nebenwirkungen, zerebrovaskuläre Ereignisse, eine beschleunigte kognitive Verschlechterung sowie – dies erscheint im Rahmen dieser Arbeit besonders bedeutend – eine erhöhte Sturzgefahr und ein erhöhtes Mortalitätsrisiko.Footnote 115

Ähnliche Risiken sind auch bei den nachfolgenden Substanzgruppen – Anxiolytika, Hypnotika und Sedativa – zu beobachten, die, wie die Pflege-Reporte 2017 und 2021 verdeutlichen, regelmäßig in den Medikationsplänen von älteren Menschen bzw. Menschen mit Demenz zu finden sind. 49 % der pflegebedürftigen Menschen ab 65 Jahre, die im Jahr 2015 eine Anxiolytika-Verordnung aufwiesen, erhielten diese dauerhaft über das ganze Jahr hinweg.Footnote 116 Ein ähnlicher Anteil entfällt auf diejenigen mit einer Verordnung aus der Gruppe der Hypnotika und Sedativa: Mit 56 % war hier mehr als die Hälfte der erfassten Personengruppe betroffen. Zwar wurden diese Arzneistoffe 2019 seltener angeordnet als Antipsychotika, jedoch besteht hier eine ungleich höhere Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei dem jeweiligen Medikament um ein PIM handelt. Ungefähr jeder dritte (34,5 %) pflegebedürftige Mensch über 65 Jahre mit einer Anxiolytika-Verordnung erhielt ein Medikament, das sich auf der PRISCUS-Liste findet. Bei Personen mit Hypnotika- und Sedativa-Verordnung betrug dieser Anteil sogar 62,1 %.Footnote 117

Angesichts der häufig mit der Verabreichung von Hypnotika einhergehenden Risiken wie einer erhöhten Sturzgefahr und kognitiver Verschlechterung, ist diese Versorgungspraxis vor allem bei pflegebedürftigen Menschen mit Demenz kritisch zu beurteilen. Es lässt sich ebenfalls vermuten und – wie sich im weiteren Verlauf noch zeigen wird – auch rechtsmedizinisch plausibilisieren, dass Hypnotika nicht nur in Fällen mit klarer Indikation Anwendung finden, sondern auch und besonders zur freiheitseinschränkenden Ruhigstellung angesichts von herausfordernd wahrgenommenen Schlafstörungen bzw. Störungen im Tag-Nacht-Rhythmus. Im Sinne der Autoren der S3-Leitlinie Demenzen sind daher besondere Sorgfaltsmaßstäbe an die Verabreichung von Hypnotika anzulegen:

Aufgrund von Sedierung, Sturzgefahr und Verschlechterung der Kognition sollten Hypnotika nur in Situationen angewendet werden, die durch Verhaltensempfehlungen und Interventionen nicht ausreichend verbessert werden können und die zu einer erheblichen Belastung des Betroffenen und der Pflegenden führen. Störungen von Arbeitsabläufen und Organisationsstrukturen in Heimen durch gestörten Schlaf von Betroffenen stellen keine Indikation für den Einsatz von Hypnotika dar.Footnote 118

Auf Basis des Pflege-Reports 2021 lassen sich auch Aussagen zur Prävalenz von Antidepressiva bei pflegebedürftigen Menschen ab 65 Jahren treffen: So hatte im Jahr 2019 etwa ein Fünftel (19,9 %) dieser Personengruppe ein Antidepressivum verordnet bekommen. Interessant ist weiterhin, dass es sich bei etwa 20 % dieser Antidepressiva um PIM der PRISCUS-Liste handelte.Footnote 119 Was die Verwendung von Antidepressiva betrifft, liegt die Vermutung nahe, dass „Antidepressiva bei den hier betrachteten Pflegebedürftigen wahrscheinlich auch zur Behandlung von Hyperaktivität, zur Schlafinduktion oder zur Verbesserung der Schmerztherapie zur Anwendung kommen“Footnote 120. Mit Blick auf mögliche Folgen dieser Versorgungspraxis kann mit der S3-Leitlinie Demenzen abermals auf eine erhöhte Sturzgefahr und die zu erwartende kognitive Verschlechterung hingewiesen werden.Footnote 121

Nicht unberücksichtigt bleiben sollte der Blick auf die am Medikamentenmanagement beteiligten Akteure: Betrachtet man mit dem Pflege-Report 2017 die fachärztliche Behandlung von pflegebedürftigen Menschen über 65 Jahre, so ist auffällig, dass in den allermeisten Fällen die Verschreibung durch den Hausarzt und nicht durch einen Facharzt erfolgt: Bei Antipsychotika betrifft dies noch jede zweite (50,2 %) Verordnung (im Vergleich zu 26,8 % Verschreibungen durch Neurologen und 9,8 % durch Psychiater). Bei der Gruppe der Anxiolytika erfolgen jedoch schon in 63,9 % der Fälle Anordnungen durch den Hausarzt (im Vergleich zu 16,3 % durch Neurologen und 6,1 % durch Psychiater). Die höchste Verschreibungsrate durch Hausärzte lag mit knapp zwei Dritteln (65,3 %) bei Hypnotika und Sedativa vor (im Vergleich zu 14,9 % durch Neurologen und 5,5 % durch Psychiater). Antidepressiva wurden wiederum zu 61,7 % von Hausärzten verschrieben (im Vergleich zu 21,4 % durch Neurologen und 7,2 % durch Psychiater).Footnote 122 Diese Zahlen verdeutlichen die herausgehobene Stellung der hausärztlichen Versorgung alter Menschen bzw. von Menschen mit Demenz, die sich in vollstationärer Pflege oder in ambulanten Sorgebeziehungen befinden.

Die Daten aus der langzeitstationären und ambulanten Pflege lassen sich weiterhin durch Ergebnisse aus dem akutstationären Bereich ergänzen. Die bereits genannte GHoSt-Studie ermittelte via Stichtagerhebungen folgende Prävalenzzahlen: Am Stichtag der Erhebungen wiesen mehr als ein Viertel (26,5 %) der 270 erfassten Patienten mit Demenz eine Verordnung von Antipsychotika auf (im Vergleich zu nur 5,1 % der Patienten ohne kognitive Beeinträchtigung). An zweiter Stelle lassen sich Antidepressiva mit 22 % anführen, gefolgt von der Gruppe der Hypnotika und Sedativa (9,3 %) und der Anxiolytika (8,2 %). Eine etwas andere Verteilung ergibt sich bei Patienten (n = 290) mit einer leichten kognitiven Störung: Hier überwogen Antidepressiva mit 13,9 % sowie Hypnotika und Sedativa (12,5 %), gefolgt von Anxiolytika (9,4 %) und Antipsychotika (8 %).Footnote 123

In den bisherigen Ausführungen zur Polypharmazie sowie der Verabreichung von Psycholeptika und Psychoanaleptika klang bereits an, dass diese nicht nur aufgrund ihres Risikoprofils wie z. B. der erhöhten Sturzgefahr indirekt zu dem Einsatz von FeM führen können. Auch ist mit Blick auf Psychopharmaka möglich, dass diese direkt als FeM Anwendung finden, wenn sie etwa angesichts herausfordernd wahrgenommenen Verhaltens mit dem Ziel der Ruhigstellung verabreicht werden. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lässt sich ein gewisser ‚Teufelskreis’ vermuten, insofern Psychopharmaka sowohl die Mitursache von als auch die Reaktion auf bestimmte psychopathologische Symptome der Demenz oder Risiken wie die Sturzgefahr darstellen können. Damit verbunden ist die Problematik, dass sich in der Praxis nicht immer klare Grenzziehungen finden, ob Psychopharmaka tatsächlich für den (symptomatischen) Therapieerfolg erforderlich, angemessen und indiziert sind oder, ob sie vielmehr dazu dienen, durch Ruhigstellung der Betroffenen z. B. die institutionellen Abläufe sicherzustellen. Es stellt sich daher die Frage nach der ausdrücklich auf Ruhigstellung abzielenden und somit freiheitseinschränkend intendierten Verabreichung von Medikamenten.

Das bereits im Kontext der Prävalenz mechanischer FeM angeführte Pflege-Thermometer 2014, das 1.844 leitende Pflegekräfte in Akutkrankenhäusern zu der Anzahl unerwünschter Ereignisse in einem zurückliegenden Zeitraum von sieben Arbeitstagen befragte,Footnote 124 erhob auch Daten zu pharmakologischen FeM bei Menschen mit Demenz. Dabei konnte ermittelt werden, dass in insgesamt 7.596 Situationen sedierende Medikamente verabreicht wurden, durch die intentional auf die Ruhigstellung der Patienten mit Demenz abgezielt wurde: Dies entspricht einem Mittelwert von 4,6 Verabreichungen pro Woche.Footnote 125 Hochrechnungen des Pflege-Thermometers 2014 gehen entsprechend davon aus, dass in deutschen Akutkrankenhäusern jährlich ca. 2,6 Millionen Verabreichungen von sedierenden Medikamenten mit dem Ziel der Ruhigstellung erfolgen.Footnote 126

Interessante Einblicke ergeben sich auch durch weitere Ergebnisse der GHoSt-Studie, deren nachfolgend abgebildeten Analysen 2019 veröffentlicht wurden. Hier erfolgte auch eine Untersuchung der Prävalenz von „herausfordernden Pflegesituationen (care challenges)“Footnote 127 im Akutkrankenhaus bei kognitiv beeinträchtigten Menschen bzw. Menschen mit Demenz.Footnote 128 Unter anderem konnte dabei auf Grundlage der erhobenen Daten festgestellt werden, dass Pflegebedürftige in diesen Pflegesituationen einem 70,9 % höheren Risiko unterliegen, eine körpernahe FeM zu erfahren. Besonders relevant für die vorliegende Fragestellung ist der Umstand, dass auch die Verabreichung von Psycholeptika als mögliche Reaktion auf „herausfordernde Pflegesituationen“ erhoben wurde: In diesem Zusammenhang ließ sich ein 4,1 % höheres Risiko feststellen.Footnote 129

Die bereits angeführte Querschnittstudie von Thomann, Zwakhalen, Richter et al. aus dem Jahr 2021 erfasste nicht nur die Prävalenz von mechanischen, sondern auch von pharmakologischen FeM: Unter den 2577 Personen der Stichprobe hospitalisierter Personen in österreichischen und schweizerischen Kliniken (n = 29,477), bei denen mindestens eine FeM angewendet wurde, lag die Häufigkeit von pharmakologischen FeM bei 24.6 %.Footnote 130 Weitere aktuelle internationale Daten lassen sich der bereits genannten Übersichtsarbeit und Metaanalyse von Lee, Robins und Bell et al. aus dem Jahr 2021 entnehmen. Diese erfasste ebenfalls die Prävalenz von FeM in Form pharmakologischer Interventionen. Auch hier gilt, dass die Ergebnisse – wie von den Autoren dargelegt – aufgrund der u. a. methodologischen Heterogenität der in der Arbeit eingeschlossenen Studien „need to be treated with some caution“Footnote 131. Angesichts der nicht immer nach Intention der Medikamentenverabreichung differenzierenden Forschungsliteratur, die es entsprechend erschwert, das Ausmaß medikamentöser FeM einzuschätzen, ist besonders positiv hervorzuheben, dass nur diejenigen Studien in der Übersichtsarbeit berücksichtigt wurden, die explizit die Medikamentengabe mit Intention der Ruhigstellung erforschten.Footnote 132 Als Ergebnis der Analyse halten die Autoren international eine durchschnittliche Prävalenz medikamentöser FeM von 32 % fest. Aufschlussreich ist ebenfalls die Differenzierung nach den zur Ruhigstellung verwendeten Substanzklassen: Die Prävalenz rangierte dabei von den besonders häufig verabreichten Benzodiazepinen (42 %), Antipsychotika (38 %) und Antidepressiva (37 %), über Neuroleptika (29 %) und Antiepileptika (19 %) bis zu Anxiolytika (13 %) sowie Hypnotika (1 %).Footnote 133

Wie schon bei mechanischen FeM lässt sich auch bei pharmakologischen Formen der Freiheitseinschränkung vermuten, dass die Dunkelziffer tatsächlich angewendeter Maßnahmen weitaus höher sein dürfte als die Anzahl dokumentierter Fälle. Schon auf Ebene der beteiligten Akteure stellen sich die Fragen,

  1. 1)

    ob hier ein Bewusstsein über den Unterschied zwischen einer therapeutisch indizierten und einer auf Ruhigstellung abzielenden Verabreichung von Medikamenten vorliegt,

  2. 2)

    ob sich dieses Bewusstsein in Form einer eindeutigen ärztlichen Indikationsstellung z. B. im Bedarfsfall niederschlägt,

  3. 3)

    ob im Fall einer ruhigstellenden Intention der Medikamentengabe nicht nur ein Bewusstsein dafür besteht, dass es sich dabei um eine FeM handelt, sondern auch die Akzeptanz des Umstands, dass die Gerichte in den Prozess zu involvieren sind (siehe Abschn. 2.6) sowie

  4. 4)

    ob ein Bewusstsein über die besondere ethische Tragweite psychopharmakologischer Interventionen bei Menschen mit Demenz besteht (siehe Abschn. 4.2.3).

Mit diesen Fragen im Hinterkopf sei abschließend auf eine aktuelle rechtsmedizinische Studie von Gleich et al. eingegangen, die hilft, die Dunkelziffer pharmakologischer FeM zu erahnen. Dabei wurden 98 im Zeitraum von 2013 bis 2015 in Einrichtungen der stationären Langzeitpflege verstorbene Bewohner auf Interaktionsrisiken und Kontraindikationen im Zusammenhang mit Polypharmazie sowie auf gezielte Ruhigstellung untersucht.Footnote 134 Bei 94 der 98 Bewohner lagen neurologisch-psychiatrische Erkrankungen (wie Demenz, Parkinson, Epilepsie, chronische Psychose und Depression) vor.Footnote 135 Bei 64 Bewohnern bestand eine gesetzliche Betreuung; bei 13 Bewohnern lag ein richterlicher Beschluss zu einer freiheitsentziehenden Maßnahme vor. Bei rund der Hälfte (52,6 %) der Bewohner konnten fünf oder mehr Arzneistoffe und damit Polypharmazie nachgewiesen werden.Footnote 136 Für 95 der 98 Personen konnten neben Blutproben auch Proben von Urin, Glaskörpern oder Herzbeutelflüssigkeit für die toxikologische Analyse genutzt werden, um u. a. die Substanzklassen der verabreichten Arzneimittel zu ermitteln.Footnote 137 Kardiovaskulär wirksame Medikamente waren die am häufigsten vertretene Gruppe (n = 69) von Arzneimitteln; besonders relevant sind im Rahmen dieser Arbeit jedoch die ebenfalls nachgewiesenen Gruppen der Antipsychotika (n = 45), Antidepressiva (n = 29), Opioidanalgetika (n = 27) und Hypnotika/Sedativa (n = 19), Antiepileptika (n = 17) sowie der Muskelrelaxanzien (n = 3).Footnote 138 Insgesamt ergaben die Obduktionen problematische Ausmaße an Polypharmazie, Abweichungen von Leitlinien und Kontraindikationen sowie eine Rate von verordneten PRISCUS-Arzneistoffen, die bei der erfassten Gruppe doppelt so hoch war wie in der in der eigenen Häuslichkeit lebenden Bevölkerung.Footnote 139

Besonders aufschlussreich für die Thematik von pharmakologischen Interventionen als FeM ist der Umstand, dass bei 53 der Verstorbenen Medikationspläne vorlagen, sodass die bei der Obduktion in Körperflüssigkeiten nachgewiesenen Medikamente mit den tatsächlich verordneten verglichen werden konnten: In der Tat konnten in 37 Fällen nicht verordnete Arzneistoffe identifiziert werden, wobei diese mit wenigen Ausnahmen „ausschließlich zentral wirksame Substanzen wie Antipsychotika und Antidepressiva, überwiegend mit sedierenden Eigenschaften“Footnote 140 waren.

In einer direkt anschließenden Publikation analysierten Gleich et al. die Ergebnisse der Studie spezifisch im Hinblick auf den möglicherweise freiheitseinschränkenden Charakter dieser Medikamentengabe. Bei den 37 Fällen, in denen die zeitnah zum Todeszeitpunkt nachgewiesenen Substanzen vom Medikationsplan abwichen, überwogen Antipsychotika (z. B. Pipamperon, Tiaprid, Haloperidol, Risperidon), Hypnotika bzw. Sedativa (z. B. Midazolam, Nordazepam) und Antidepressiva (z. B. Citalopram, Mirtazapin), sodass die berechtigte Frage einer intendierten Freiheitsentziehung im Raum steht.Footnote 141

Doch nicht nur die auf den Medikationsplänen fehlenden Informationen erweisen sich als aufschlussreich; auch die expliziten Angaben ergeben ein interessantes Bild von der Praxis der Medikamentenverordnung und -verabreichung: Alle 53 Bewohner mit Medikationsplan wiesen zum Todeszeitpunkt mindestens eine Verordnung eines Arzneistoffes aus der Substanzklasse der Antipsychotika auf, wobei hier die ärztliche Indikation in neun Fällen nicht nachvollziehbar und in zwei Fällen nicht adäquat zu beurteilen war. Bei den 42 Fällen mit nachvollziehbarer Indikation wurde bei 37 eine Demenzerkrankung dokumentiert, wobei bei neun Personen noch zusätzlich ‚herausfordernde‘ Verhaltensweisen aufgeführt wurden. Bezüglich der Substanzklasse der Hypnotika bzw. Sedativa kann festgehalten werden, dass diese bei ungefähr der Hälfte der verstorbenen Menschen mit Medikationsplan (49,1 %) zum Todeszeitpunkt nachgewiesen wurden, obwohl bei keinem von ihnen eine Schlafstörung dokumentiert worden war.Footnote 142 Für diese Substanzgruppe kommen Gleich et al. zu dem ernüchternden Ergebnis, dass hier „nahezu alle Fälle ohne ärztliche Indikation resp. ohne evidenzbasierte Empfehlungen“Footnote 143 behandelt wurden.

Zuletzt ließ sich den Medikationsplänen bezüglich der Substanzklassen auch entnehmen, dass in der Tendenz ruhigstellende Antipsychotika abends und Hypnotika morgens verabreicht wurden.Footnote 144 Nicht nur der Zeitraum unmittelbar vor Todeseintritt wurde über die Obduktion analysiert: Durch die Untersuchung von Haarsegmenten bei 69 der 98 Obduzierten konnten Arzneimittel nachgewiesen werden, die den Bewohnern ca. drei Monate vor dem Versterben verabreicht worden waren. Auch hier ergab sich ein ähnliches Bild, insofern bei diesen Haarproben in 53 Fällen Antipsychotika, in 44 Fällen Antidepressiva und in 34 Fällen Hypnotika bzw. Sedativa nachgewiesen werden konnten und innerhalb dieser Gruppen wiederum Medikamente mit ruhigstellender Wirkung überwogen.Footnote 145

Die Datenlage zu der Prävalenz pharmakologischer FeM sowie zu den damit zusammenhängenden allgemeineren Themenbereichen der Polypharmazie und der Psychopharmakaverordnung bzw. -verabreichung hat gezeigt, dass es nicht nur epistemische Schwierigkeiten bei der empirischen Erfassung dieser Phänomene gibt, sondern auch eine Reihe ethischer und rechtlicher Problemfelder. Allem voran sind es die Intention der Verabreichung und die möglichen Folgen derselben für die betroffenen Menschen, die hier Anlass zur Reflexion geben. Das Fazit Pantels und Haberstrohs kann somit auch für diesen Abschnitt gelten:

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Einsatz von Psychopharmaka im Altenpflegeheim aufgrund institutioneller und struktureller Besonderheiten dieses Versorgungsbereiches, aber auch aufgrund der großen Abhängigkeit und Vulnerabilität eines großen Teils der Altenpflegeheimbewohner in besonderer Weise der Gefahr unterliegt, in inadäquater und missbräuchlicher Weise durchgeführt zu werden.Footnote 146

Es ist nicht zuletzt diese Gefahr, die es verständlich macht, dass FeM allgemein rechtlichen Rahmenbedingungen unterliegen, die zum Zweck eines umfassenderen Verständnisses der Situation in der Praxis nachfolgend dargestellt seien.

2.6 Rechtliche Rahmenbedingungen

Im Rahmen dieser Arbeit soll keine erschöpfende Gesamtdarstellung des komplexen rechtlichen Sachverhalts um die Anwendung von freiheitseinschränkenden Maßnahmen unternommen werden, weshalb z. B. der Themenkomplex der freiheitsentziehenden Unterbringung weitgehend ausgeblendet wird. Vielmehr dient der nachfolgende Abschnitt als ein Überblick über ausgewählte verfassungs-, zivil- und strafrechtliche Regelungen in Bezug auf freiheitseinschränkende Maßnahmen.

Grundsätzlich kann dabei mit dem Deutschen Ethikrat festgehalten werden, dass Maßnahmen des wohltätigen Zwangs als Maßnahmen, die im Kontext pflegerischen Sorgehandelns auftreten, wie jedes Sorgehandeln nach rechtlichen Vorgaben auszurichten sind:

Neben dem Grundgesetz sind auf der völkerrechtlichen Ebene die einschlägigen Menschenrechtskonventionen zu beachten, namentlich die Europäische Menschenrechtskonvention, der UN-Zivilpakt, der UN-Sozialpakt und die UN-Behindertenrechtskonvention. Konkrete Rechtsgrundlagen für Maßnahmen wohltätigen Zwangs bei der Altenpflege und Behindertenhilfe finden sich dann im Wesentlichen im Betreuungsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches, das Verfahren und der Rechtsschutz sind im Familienverfahrensgesetz geregelt.Footnote 147

Dabei ist der prinzipielle Dreh- und Angelpunkt jeder juristischen Überlegung über die Rechte von alten Menschen bzw. Menschen mit Demenz die in Art. 1 GG verankerte Menschenwürde:

Als ‚Grundnorm‘ personaler Autonomie, individueller Selbstwerthaftigkeit und Subjektqualität des Menschen in seiner wechselseitigen Anerkennung mit anderen markiert Art. 1 I GG den fundamentalen Anspruch auf gleiche Würde aller.Footnote 148

Aus Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes lässt sich unmittelbar ableiten, dass für alte Menschen und Menschen mit Demenz dieselben Rechte gelten wie für alle anderen Menschen. Entsprechend kennt die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland kein speziell für alte Menschen geltendes konkretes Recht. Dieser Anspruch ist weder von dem Lebensalter, noch von der Kommunikations- und Wahrnehmungsfähigkeit (oder anderen akzidentellen Eigenschaften) des Einzelnen abhängig. Losgelöst ist er auch davon, ob ein Bewusstsein der jeweils eigenen Würde existiert bzw. ein sich daraus ableitendes, entsprechendes Verhalten des Menschen zum Vorschein tritt. Mit der in Art. 3 Abs. 1 dargelegten Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz wird dies in aller Deutlichkeit gestützt.Footnote 149

Versuche, im Falle fortgeschrittener Demenzerkrankungen oder anderer kognitiver Beeinträchtigungen diesen grundrechtlichen Schutzanspruch anzuzweifeln bzw. gar abzusprechen, verbieten sich nach der gängigen rechtlichen Auffassung grundsätzlich:

Die Frage, wer Subjekt der Menschenwürde ist, wird von Rechtsprechung und Lehre ganz eindeutig beantwortet. Die Menschenwürde steht jedem Menschen zu kraft seiner Zugehörigkeit zur Spezies „Mensch“. Die jedem Menschen zukommende Würde hängt nicht von irgendwelchen geistigen und körperlichen Eigenschaften und Fähigkeiten des Einzelnen ab.Footnote 150

In der Argumentation dieser Arbeit wird noch darauf einzugehen sein, inwiefern diese rechtliche Festsetzung philosophisch-ethisch zu begründen ist (Abschn. 3.1.1).

Art. 1 GG wird hinsichtlich der Fortbewegungsfreiheit in Art. 2 Abs. 2 GG, in dem das Recht auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit sowie die Freiheit der Person formuliert wird, konkretisiert. Der Gesetzesvorbehalt für Eingriffe in die Fortbewegungsfreiheit wird hier in ganz besonderer Weise ausgeführt: „[…] Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“Footnote 151 Das Gesetz soll davor schützen, dass Menschen gegen ihren Willen in ihrer räumlichen Entfaltung beschränkt werden.Footnote 152 Dieses Grundrecht trifft „jede natürliche Person, die sich grundsätzlich physisch frei oder mit fremder Hilfe fortbewegen kann“Footnote 153.

Besonders relevant für die Thematik dieser Arbeit ist weiterhin der Umstand, dass diese in Art. 2 Abs. 2 GG geschützte Fortbewegungsfreiheit unter gewissen Voraussetzungen eingeschränkt werden kann. Bevor diese zivilrechtlich festgelegten Voraussetzungen thematisiert werden, sei jedoch auf Art. 104 GG eingegangen:

Art. 104 GG ist für die verfassungsrechtliche Behandlung freiheitsentziehender Maßnahmen im deutschen Recht prägend und determinierend: Aus ihm ergibt sich die richterliche Genehmigungsbedürftigkeit freiheitsentziehender Maßnahmen.Footnote 154

Aus Art. 104 Abs. 2 GG wird ersichtlich, dass über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung nur richterlich entschieden werden kann.Footnote 155

Wie in Abschn. 2.1 bereits angesprochen, kursieren in den verschiedenen fachwissenschaftlichen Diskursen um Eingriffe in die Fortbewegungsfreiheit bei pflegebedürftigen Menschen zahlreiche variierende Begriffe, die häufig auch synonym verwendet werden. Nicht immer wird dabei deutlich erkennbar, ob die Bezeichnungen in einem streng juristischen Sinn verwendet werden. Abhängig von dem jeweiligen Rechtsgebiet sind rechtlich folgende Termini zu unterscheiden: freiheitseinschränkende Maßnahmen im Verfassungsrecht, freiheitsbeschränkende sowie freiheitsentziehende Maßnahmen im Zivilrecht und schließlich Freiheitsberaubung im Strafrecht.Footnote 156 Auch die verwendeten Abkürzungen unterscheiden sich, insofern etwa FeM mit einem Minuskel-e für freiheitseinschränkende, FbM für freiheitsbeschränkende und FEM mit einem Majuskel-e für freiheitsentziehende Maßnahmen verwendet werden kann.Footnote 157 Um Missverständnisse zu vermeiden, werden diese Begriffe in diesem Abschnitt jedoch ausgeschrieben, zumal sich, wie in der Einleitung dargelegt, die terminologischen Gepflogenheiten in der Fachliteratur stark unterscheiden können.

Grundsätzlich bezeichnen freiheitseinschränkende Maßnahmen im verfassungsrechtlichen Sinn jeden Eingriff in die durch Art. 2 Abs. 2 GG geschützte Fortbewegungsfreiheit des Menschen:

Unter freiheitseinschränkenden Maßnahmen werden aus juristischer Sicht alle technischen, arzneimittelbasierten, kommunikativen und interaktiven Eingriffe in die (Fortbewegungs-) Freiheit einer Person verstanden.Footnote 158

Freiheitseinschränkende Maßnahmen, sofern sie nicht ausdrücklich von den Betroffenen autorisiert werden, greifen unmittelbar in die Menschenrechte ein, die im Kern ja Freiheitsrechte sind.Footnote 159

Zu betonen ist dabei, dass diese letztere Feststellung Bielefeldts unabhängig von dem jeweiligen Setting der Sorgebeziehung für alle in Frage kommenden Fälle gilt:

Freiheitseinschränkende Maßnahmen in der häuslichen Pflege bedürfen ebenso wie in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen einer fachlichen und rechtlichen Legitimation, denn freiheitseinschränkende Maßnahmen greifen unabhängig vom Ort […] in die grundrechtlich geschützten Freiheitsrechte […] ein.Footnote 160

Freiheitseinschränkende Maßnahmen stellen des Weiteren gewissermaßen den Oberbegriff für sowohl freiheitsbeschränkende als auch freiheitsentziehende Maßnahmen dar, die im Zivilrecht genauer voneinander unterschieden werden. Bei Eingriffen in die Fortbewegungsfreiheit von geringer Intensität und/oder Dauer wird von einer „rechtlich unerhebliche[n]“Footnote 161 freiheitsbeschränkenden Maßnahme gesprochen, die keiner richterlichen Genehmigung bedarf.Footnote 162 Nimmt z. B. eine Pflegefachkraft kurzfristig eine pflegebedürftige Person unter den Arm und führt sie zurück in das Zimmer, so handelt es sich dabei um eine freiheitsbeschränkende Maßnahme, solange dies nicht etwa regelmäßig geschieht. Wie sich noch zeigen wird, ist die Dauer oder Regelmäßigkeit hier jedoch entscheidend und kann dazu führen, dass eine solche Maßnahme im rechtlichen Sinn freiheitsentziehenden Charakter erhielte.

Die Frage, ab wann eine freiheitsentziehende und damit genehmigungspflichtige Maßnahme vorliegt, findet zuvorderst im § 1906 BGB ihre Beantwortung, der mit Klie folgendermaßen zu kontextualisieren ist:

Einzigartig im internationalen Rechtsvergleich ordnet das deutsche Recht die richterliche Genehmigung von freiheitsentziehenden Maßnahmen an und regelt im Betreuungsrecht, im § 1906 Abs. 1 und Abs. 4 BGB, die Voraussetzung bzw. in Verbindung mit dem FamFG die Verfahren.Footnote 163

Der § 1906 BGB trägt den Titel Genehmigung des Betreuungsgerichts bei freiheitsentziehender Unterbringung und bei freiheitsentziehenden Maßnahmen und regelt in den Abs. 1–3 die freiheitsentziehende Unterbringung – d. h. z. B. auf einem geschlossenen Wohnbereich in einem Altenpflegeheim – und fügt in Abs. 4 mit Blick auf freiheitsentziehende Maßnahmen hinzu, dass dieselben Absätze entsprechend gelten,

wenn dem Betreuten, der sich in einem Krankenhaus, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung aufhält, durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente oder auf andere Weise über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig die Freiheit entzogen werden soll.Footnote 164

Aufgrund der Themenstellung dieser Arbeit sei nachfolgend besonders auf freiheitsentziehende Maßnahmen in diesem Sinne eingegangen.

Seit Inkrafttreten des Betreuungsrechts im Jahr 1992 verfolgt dieses das Ziel, die durch Art. 2 Abs. 2 GG geschützten Freiheitsrechte und damit auch das Selbstbestimmungsrecht besonders für diejenigen Menschen sicherzustellen, die nicht mehr in der Lage sind, für sich selbst Entscheidungen zu treffen.Footnote 165 Ist eine volljährige Person vor dem Hintergrund einer psychischen Erkrankung oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung nicht im Stande, ihre Angelegenheiten zu besorgen, und hat sie keine Person des Vertrauens in einer Vorsorgevollmacht bevollmächtigt, diesen nachzugehen, so erhält sie durch einen vom Betreuungsgericht bestellten Betreuer Unterstützung in den gerichtlich bestimmten Aufgabenkreisen.Footnote 166 Dem gesetzlichen Betreuer bzw. dem Bevollmächtigten kommt im Kontext des § 1906 BGB als einzigem zu, eine freiheitsentziehende Maßnahme bei dem Betreuungsgericht zu beantragen.Footnote 167 Klie führt aus, was dies im Kontext professioneller Sorgebeziehungen konkret bedeutet:

Weder Arzt noch Pflegekraft können für sich entscheiden, ob eine freiheitsentziehende Maßnahme ergriffen werden darf oder nicht. So können sie fachliche Erforderlichkeit feststellen oder eine entsprechende Maßnahme empfehlen. Allenfalls im Notfall und Notstand sind sie befugt, eine solche Maßnahme kurzfristig (bis zur Möglichkeit einer Entscheidung des Betreuungsgerichts) und für kurze Zeit zu ergreifen. In allen anderen Fällen sind Bevollmächtigte, respektive Betreuer einzuschalten, die ihrerseits eine Genehmigung der Maßnahmen durch das Betreuungsgericht benötigen. Ist kein Betreuer bestellt oder liegt keine Vollmacht vor, die sich jeweils auf den Aufgabenkreis Unterbringung bzw. freiheitsentziehende Maßnahmen zu erstrecken hat, dann hat das Gericht im Eilverfahren selbst zu entscheiden.Footnote 168

Ganz deutlich wird in diesen Ausführungen die Zentralstellung des Betreuers (bzw. Bevollmächtigten) in der Angelegenheit um freiheitsentziehende Maßnahmen betont. Nicht nur liegt die Entscheidung über die Beantragung einer solchen Maßnahme beim Betreuungsgericht in der Kompetenz des Betreuers (bzw. Bevollmächtigten) – auch ist hinzuzufügen, dass dieser selbst „[n]ach Erteilung der Genehmigung […] nicht verpflichtet [ist], von ihr Gebrauch zu machen“Footnote 169, da sie eine Genehmigung darstellt und keine gerichtliche Anordnung. Auch handelt es sich – anders als häufig angenommen – bei freiheitsentziehenden Maßnahmen nicht um Maßnahmen, die von Ärzten angeordnet werden können, wenn auch deren wichtige Rolle bei der Entscheidungsfindung nicht zu bestreiten ist. Bezüglich der Notwendigkeit der Maßnahme gilt es, in interdisziplinärer Herangehensweise besonders pflegefachliche Aspekte miteinzubeziehen.Footnote 170

Ist damit ein Überblick über die Rolle des Betreuers (bzw. Bevollmächtigten) bei der Beantragung freiheitsentziehender Maßnahmen gewonnen, sind diese selbst nun noch genauer zu bestimmen. Ein besseres Verständnis dieser Maßnahmen kann erreicht werden, indem der Frage nachgegangen wird, welche rechtlich garantierten Freiheit(en) dabei betroffen sind: Ausdrücklich schützt § 1906 Abs. 4 BGB (wie bereits Abs. 1) sowohl die „Entschließungsfreiheit zur Fortbewegung“Footnote 171 als auch die „körperl[iche] Bewegungsfreiheit“Footnote 172. Dabei ist es unerheblich, ob die betroffene Person einen aktuellen Willen zur Fortbewegung hat. Vielmehr ist der freiheitsentziehende Charakter der Maßnahme bereits dann gegeben, wenn feststeht, „dass der Betreute sich aufgrund der Maßnahme nicht körperl[ich] bewegen könnte, wenn er es wollte“Footnote 173, d. h. wenn die grundsätzliche Fähigkeit zu einer willensgesteuerten Aufenthaltsveränderung noch gegeben ist.Footnote 174 „Im Zweifel ist zum Schutz der Betroffenen von dieser Fähigkeit auszugehen.“Footnote 175 Kann man nicht zuverlässig feststellen, ob eine Person noch zu einer willkürlichen Bewegung fähig ist, so gilt es, dies zunächst anzunehmen. Auch behält die Maßnahme ihren freiheitsentziehenden und damit genehmigungspflichtigen Charakter selbst dann, wenn das Verhalten der Person keine Absicht bekundet, den durch die Maßnahme begrenzten Bereich zu verlassen.Footnote 176

Da es sich bei freiheitsentziehenden Maßnahmen um massive Eingriffe in die persönliche (Fortbewegungs-)Freiheit im Sinne von Art. 2 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art 104 Abs. 2 GG handelt,Footnote 177 gilt – wie es in § 1906 BGB festgesetzt wird –, dass diese ausschließlich Anwendung finden dürfen, sofern sie „zum Wohl des Betreuten“Footnote 178 erforderlich sind: „Interessen oder Gefährdungen Dritter (oder sogar der Allgemeinheit) können nicht durch die betreuungsrechtl[iche] Freiheitsentziehung geschützt werden.“Footnote 179 Dies bedeutet weiterhin auch, dass sich aus vermeintlichen Begründungen wie Personalmangel oder Erleichterung der pflegerischen Abläufe (siehe Abschn. 2.7) rechtlich keine Erforderlichkeit der Maßnahme ergibt.Footnote 180

Nach den Grundsätzen der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit ist in jedem Einzelfall zu prüfen, ob die Maßnahme dem Wohl des Betroffenen dient und zudem die ultima ratio darstellt.Footnote 181 § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB knüpft die Erforderlichkeit freiheitsentziehender Maßnahmen zum Wohl der betroffenen Person an die Bedingung, dass der Betroffene „auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung“ Gefahr läuft, „dass er sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt“. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass vonseiten des Gerichts alle erforderlichen Feststellungen zu unternehmen sind, ob eine Gefahr in diesem Ausmaß tatsächlich besteht und ob die Maßnahme dazu geeignet ist, dieser zu begegnen.Footnote 182 Dementsprechend reichen weder „fern liegende oder nur abstrakte Gefahren“Footnote 183, noch „[b]loße Befürchtungen des (evtl. überängstl[ichen]) Betreuers/Bevollmächtigten“Footnote 184. Verlangt wird vielmehr nach einer fachlich fundierten „individuell auf den einzelnen Betroffenen bezogene[n] Prognoseentscheidung auf Grund tatsächl[icher] Feststellungen aus der Vergangenheit und der Gegenwart“Footnote 185.

Es zeigt sich jedoch, dass in der Pflegepraxis die tatsächliche oder von den Pflegekräften vermutete Sturzgefährdung gepaart mit einer DemenzerkrankungFootnote 186 in vielen Fällen ausreicht, um die Beantragung einer freiheitsentziehenden Maßnahme und somit deren Anwendung in die Wege zu leiten (siehe Abschn. 2.7). Dabei sind die freiheitsentziehenden Maßnahmen, die unter § 1906 Abs. 4 BGB fallen, lediglich dann potenziell gerechtfertigt, wenn nicht nur ein genereller oder geringer, sondern – wie dargelegt – ein erheblicher gesundheitlicher Schaden für den Betroffenen droht. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip fordert in dieser Hinsicht auch, dass neben dem durch die Situation des Betroffenen (z. B. Sturzrisiko) drohenden Schaden jener Schaden abgewogen wird, der wiederum durch die freiheitsentziehende Maßnahme selbst entstehen kann: Klassische mechanische Erscheinungsformen freiheitsentziehender Maßnahmen können sich etwa aufgrund der fehlenden oder unzureichenden Bewegungsmöglichkeiten oder bspw. der erhöhten Verletzungsgefahr beim Versuch, ein aufgestelltes Bettgitter zu übersteigen bzw. beim Versuch, sich von der Fixierung zu lösen, in gravierender Weise negativ auf den Betroffenen auswirken (siehe Abschn. 2.9).Footnote 187 Eng mit diesen Überlegungen zur Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Maßnahme ist die Frage verbunden, ob diese angesichts ihres schwerwiegenden Charakters das letztmögliche Mittel darstellt, denn für freiheitsentziehende Maßnahmen, die sich vermeiden lassen, besteht kein Anlass.Footnote 188 So halten auch Bauer und Braun fest:

Bevor eine Freiheitsentziehung in Betracht gezogen wird, sind alle alternativen Behandlungsoptionen oder Gefahrabwendungsmöglichkeiten zu prüfen, die den angestrebten Therapie- und Sicherheitszielen dienen und gleichzeitig eine Freiheitsentziehung mit den ihnen inhärenten Risiken und Grundrechtseingriffen vermeiden helfen.Footnote 189

Wie noch genauer im Rahmen der Arbeit ausgeführt wird, stehen den beteiligten Akteuren in professionellen Sorgebeziehungen (ebenso wie in informellen) verschiedene Alternativen – seien es mechanische Hilfsmittel oder psychosoziale Interventionen – zur Verfügung (siehe Abschn. 2.10), sodass eine Maßnahme, die in die (Fort-)Bewegungsfreiheit des Betroffenen eingreift, umgangen werden kann.Footnote 190

Der Abs. 4 des § 1906 BGB beschreibt, wie bereits dargelegt, dass die Abs. 1 und 2 gleichermaßen anzulegen sind, wenn statt einer freiheitsentziehenden Unterbringung freiheitsentziehende Maßnahmen, wie z. B. mechanische Vorrichtungen oder Medikamente, beantragt werden. Dementsprechend gelten dieselben materiell-rechtlichen Voraussetzungen für jene wie für diese.Footnote 191 Für die Genehmigung einer freiheitsentziehenden Maßnahme gelten daher die folgenden von Bauer und Braun zusammengefassten materiellen Voraussetzungen:

  • Vorliegen einer psychischen Erkrankung, seelischen oder geistigen Behinderung

  • Feststellung einer erhebl Selbstgefährdung iSv Abs 1 Nr 1 bzw der Notwendigkeit von medizinischen Maßnahmen zur Abwendung des Todes oder eines erhebl Gesundheitsschadens des Betroffenen iSv Abs 1 Nr 2

  • Charakterisierung der Maßnahme als Freiheitsentziehung

  • Ausschluss des freien Willens in Bezug auf die freiheitsentziehende Maßnahme

  • Durchführung der freiheitsentziehenden Maßnahme zum Wohl des Betroffenen (und nicht im Drittinteresse)

  • keine milderen Mittel

  • Verhältnismäßigkeit der MaßnahmeFootnote 192

Während die meisten dieser Voraussetzungen bereits diskutiert wurden und daher keiner weiteren Erklärung bedürfen, soll nachfolgend der Fokus auf der dritten dieser Voraussetzungen liegen: Anhand welcher Kriterien lässt sich eine Maßnahme rechtlich als freiheitsentziehend und damit genehmigungspflichtig charakterisieren?

Ganz übergeordnet ist – wie bereits im pflegefachlichen und ethischen Kontext (siehe Abschn. 2.3) – festzuhalten, dass sich nicht verobjektivieren lässt, welche Maßnahmen sozusagen ‚an sich‘ freiheitsentziehend sind. Bettgitter bspw. sind nicht schon als solche freiheitsentziehend – zumal sie zu ganz verschiedenen Zwecken und Zeiten, in durchgängiger und geteilter Form, einseitig oder beidseitig usw. Verwendung finden können. Vielmehr entscheidet die Wirkung auf den Betroffenen sowie die Art und Weise der Verwendung darüber, ob eine Maßnahme im rechtlichen Sinne als freiheitsentziehend zu bewerten ist. Ähnlich stellt sich die Lage bei Betroffenen mit jeweils verschiedenen körperlichen Fähigkeiten dar: „Die gleiche Maßnahme kann sich daher bei einem Betroffenen als freiheitsentziehend auswirken, bei einem anderen Betroffenen hingegen nicht.“Footnote 193 Ob z. B. ein an einem Stuhl angebrachter Therapie- bzw. Stecktisch freiheitsentziehenden Charakter hat, hängt davon ab, ob es dem Betroffenen möglich ist, diesen selbständig zu entfernen. Ist ihm dies nach eigenen Fähigkeiten unmöglich, so weist die Maßnahme den freiheitsentziehenden Charakter auf.Footnote 194

Des Weiteren kann die rechtliche Unterscheidung freiheitsbeschränkender und freiheitsentziehender Maßnahmen helfen, ein genaueres Verständnis des freiheitsentziehenden Charakters zu gewinnen. Um an dieser Stelle zu dieser eingangs berührten Frage zurückzukehren, sei darauf verwiesen, dass ein wesentlicher Unterschied in § 1906 Abs. 4BGB durch die Formulierung „über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig“ zum Ausdruck gebracht wird. Zu dem Kriterium des längeren Zeitraums ist grundsätzlich festzuhalten, dass dieses erfüllt ist, sobald sich abzeichnet, dass eine ursprünglich nur kurzfristig angedachte Maßnahme zeitlich verlängert bzw. ausgedehnt werden soll.Footnote 195 Diese längere Dauer zu konkretisieren, fällt dabei nicht leicht:

Der Begriff des längeren Zeitraums ist vom Gesetzgeber bewusst nicht näher definiert worden. Ob die Dauer einer Maßnahme über einen längeren Zeitraum angelegt ist, bestimmt sich zudem in Relation zum Charakter der Maßnahme.Footnote 196

Eine Orientierung – auch für die in dieser Arbeit thematisierten Versorgungsformen – bietet das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Juli 2018 zu körpernahen 5-Punkt- oder 7-Punkt-Fixierungen im akutpsychiatrischen Setting.Footnote 197 Dieses maßgebliche Urteil, das dazu dienen sollte, Freiheitsbeschränkung und Freiheitsentziehung im Sinne des Art 104 Abs. 2 GG zu unterscheiden, zog die Grenze, ab der ein längerer Zeitraum und damit eine Freiheitsentziehung mit richterlicher Genehmigungspflicht vorliegt, bei 30 Minuten.Footnote 198 Der Heidelberger Kommentar zum Betreuungs- und Unterbringungsrecht zieht aus diesem Urteil folgende Konsequenz für die Situation in allen in § 1906 Abs. 4 BGB abgedeckten Institutionen:

Da nicht ersichtl[ich] ist, wieso für Fixierungen nach BGB andere Zeitvorgaben gelten sollen und warum die nach Betreuungsrecht fixierten Personen anders als nach PsychKHG untergebrachte Personen behandelt werden, ist nach hiesiger Auffassung jedenfalls für körpernahe Fesselungen von einer richterl[ichen] Genehmigungspflicht gem[äß] § 1906 IV BGB bereits ab einer Dauer von 30 Minuten auszugehen.Footnote 199

Wie verhält es sich nun mit dem Kriterium der „regelmäßigen“ Anwendung? Zunächst gilt es zu betonen, dass das „oder“ im Gesetzestext markiert, dass es ausreicht, wenn eines dieser Kriterien – d. h. der längere Zeitraum oder die Regelmäßigkeit – erfüllt ist. Eine regelmäßige Freiheitsentziehung ist gegeben, wenn Maßnahmen

stets zur gleichen Zeit (Nachtzeit) oder aus gleichem Anlass (nächtl[iches] Umherirren) erfolgen, wie etwa das Absperren der Tür jeweils zur Nachtzeit oder aus wiederkehrendem Anlass etwa bei Eingitterung des Bettes eines Betroffenen immer dann, wenn er bei wiederkehrenden Unruhezuständen aus dem Bett oder Stuhl zu stürzen droht […].Footnote 200

Dies bedeutet konkret mit Blick auf das Kriterium des längeren Zeitraums, dass dieser hier unerheblich ist und auch kurzfristige Maßnahmen etwa von wenigen Sekunden bzw. Minuten freiheitsentziehend und damit genehmigungspflichtig sind, wenn sie wiederholt zur gleichen Zeit oder aus demselben Anlass Anwendung finden.Footnote 201 Die Tragweite dieser Definition ist nicht zu unterschätzen, denn nach einem alltagssprachlichen Verständnis würde man unter „regelmäßig“ wohl meist nur „zur gleichen Zeit“ verstehen und die Bedeutung „aus gleichem Anlass“ kaum berücksichtigen. Es ist fraglich, ob diese letztere Bedeutung und damit einhergehend der freiheitsentziehende Charakter vieler angewandter Maßnahmen den beteiligten Akteuren in professionellen Sorgebeziehungen hinreichend bewusst ist.

Ist damit nun auch der zeitliche Aspekt von freiheitsentziehenden Maßnahmen bestimmt, ist schließlich noch die räumliche Komponente miteinzubeziehen, die in Folge die Frage aufwirft, wie freiheitsentziehende Maßnahmen in ambulanten Sorgebeziehungen rechtlich zu bewerten sind. Im Gesetzestext ist diesbezüglich die Rede von „dem Betreuten, der sich in einem Krankenhaus, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung aufhält“Footnote 202. Damit sind die akutstationäre sowie die stationäre Langzeitpflege eindeutig benannt, sodass deutlich wird, dass freiheitsentziehende Maßnahmen in diesen Bereichen der Genehmigungspflicht unterliegen. Gleichzeitig ist mit der offenen Formulierung der so bezeichneten sonstigen Einrichtung angedeutet, dass noch weitere räumlich-institutionelle Bereiche unter das Gesetz fallen. In der Kommentarliteratur wird hier vor allem die Pflege in der eigenen Häuslichkeit diskutiert. Demzufolge

kann auch die eigene Wohnung des Betroffenen zu einer „sonstigen Einrichtung“ iSd Abs 4 werden, wenn der Betroffene dort ausschließl[ich] oder zumindest überwiegend (neben Familienangehörigen) von einem ambulanten Pflegedienst versorgt wird.Footnote 203

Dies legten bereits 2012 z. B. Hoffmann und Klie dar, als sie festhielten, dass die eigene Häuslichkeit eines Betroffenen „[e]iner Einrichtung gleichgestellt ist […], wenn er in dieser von professionellen ambulanten Diensten betreut und gepflegt wird“.Footnote 204

Es handelt sich hier also im ambulanten Setting ebenfalls im vollen Sinne um freiheitsentziehende Maßnahmen, die der Genehmigungspflicht unterliegen und zudem nur von dem Betreuer (bzw. Bevollmächtigten) beantragt werden dürfen. Folgt eine Genehmigung, so obliegt es dieser Person ebenfalls, die freiheitsentziehende Maßnahme „zu beenden, wenn ihre Voraussetzungen weggefallen sind“Footnote 205. Familienangehörige als solche verfügen rechtlich gesehen nicht über die Kompetenz, Entscheidungen über die Erforderlichkeit einer freiheitsentziehenden Maßnahme zu treffen, sofern sie nicht zum Betreuer bestellt (bzw. bevollmächtigt) wurden.Footnote 206

Abschließend seien an dieser Stelle noch spezielle Aspekte zwei verschiedener Formen freiheitsentziehender Maßnahmen in der rechtlichen Bewertung thematisiert. Dabei soll zunächst kurz auf mechanische und sodann auf medikamentöse Maßnahmen eingegangen werden.

Für jedwede mechanische Maßnahme der Freiheitsentziehung gilt, dass sie einer fachpflegerischen Aufsicht bedarf. Die Kommentarliteratur betont in diesem Kontext etwa im Blick auf Gurtfixierungen, dass diese grundsätzlich nur im Zusammenspiel mit einer dauernden Sitzwache Anwendung finden dürfen. Im Idealfall sollte sich diese Zusatzinformation im Genehmigungsbeschluss schriftlich niederschlagen.Footnote 207 Führt man sich diesen Umstand der Notwendigkeit von Sitzwachen vor Augen, so kann festgehalten werden, dass die häufige Annahme, man spare durch den Einsatz freiheitsentziehender Maßnahmen personelle Ressourcen (siehe Abschn. 2.7), nicht haltbar sein kann (vorausgesetzt, man hält sich an geltendes Recht). Darüber hinaus kann eine Sitzwache maßgeblich dazu beitragen, auf Fixierungsmaßnahmen zu verzichten. Es stellt sich also die berechtigte Frage, ob die zu der Überwachung einer Fixierungsmaßnahme aufgewendeten personellen Ressourcen nicht im Gegenteil sinnvoller dafür verwendet werden könnten, dieselbe zum Wohle des Betroffenen gänzlich zu umgehen.

Wegen der besonderen Verbreitung pharmakologischer Interventionen in der Pflege alter Menschen – erinnert sei etwa an das Ergebnis des Pflege-Reports 2021, dass für etwas mehr als jeden zweiten Bewohner (ab 65 Jahren) in der Langzeitpflege mindestens ein Psychopharmakon angeordnet istFootnote 208 – sei auf die rechtliche Stellung der Freiheitsentziehung durch Medikamente hier gesondert eingegangen. Wie oben bereits dargelegt, lässt sich nicht verobjektivieren, welche verschiedenen Mittel sozusagen an sich freiheitsentziehenden Charakter aufweisen (siehe Abschn. 2.3). Es geht vielmehr darum, wie diese Einsatz finden und sich auf Betroffene auswirken. Im Fall der medikamentösen Intervention entscheidet auch rechtlich die Intention der Medikamentengabe über deren freiheitsentziehenden Charakter: Erfolgt diese primär mit dem Ziel der Heilung und hat dabei eine nicht direkt intendierte Nebenwirkung, durch die der Betroffene in seiner Freiheit eingeschränkt wird, liegt rechtlich keine freiheitsentziehende Maßnahme (und damit auch keine Genehmigungspflicht) vor.Footnote 209 Soll das Medikament jedoch der Ruhigstellung des Betroffenen dienen – z. B. aufgrund möglicherweise als störend empfundener Verhaltensweisen –, liegt eine genehmigungspflichtige freiheitsentziehende Maßnahme im Sinne des § 1906 Abs. 4 BGB vor. Weiterhin gilt für solche Fälle, in denen nicht eindeutig klar ist, ob das Medikament vorranging auf Ruhigstellung abzielt, dass im Zweifel und für den größtmöglichen Schutz der Betroffenen davon auszugehen ist, dass auch dieses Medikament einer Genehmigung bedarf. Dies erhellt besonders aus der folgenden Passage aus dem Heidelberger Kommentar zum Betreuungs- und Unterbringungsrecht:

Im Zweifel ist wegen des weiten Schutzzweckes der Norm und wegen des mit der Norm bezweckten Grundrechtsschutzes (Art 2 II 2, 104 II GG) von einer durch die Medikation hervorgerufenen Freiheitsentziehung und damit von einer Genehmigungspflicht […] auszugehen. Werden Psychopharmaka eingesetzt, um gezielt die Fortbewegungsfreiheit […] einzuschränken oder aufzuheben, stellen sie sich als freiheitsentziehende Maßnahmen dar. […] Wird die freiheitsentziehende Wirkung eines Medikaments, das anderen therapeutischen Zwecken dient, bewusst in Kauf genommen oder […] als Nebenzweck verfolgt, ist die Frage seiner Genehmigungspflicht daher umstritten. Angesichts der Gefahr nicht indikationsgerechter Verordnung […] ist daher besonders genau die Einwilligungs- und Genehmigungsfähigkeit zu prüfen. Ein sog[enannter] Off-Label-Use darf nicht auch noch durch eine betreuungsgerichtl[iche] Genehmigung legitimiert werden.Footnote 210

Auch wenn diese Ein- bzw. Vorsicht hier mit Blick auf medikamentöse Formen der Freiheitsentziehung formuliert wurde, lässt sie sich im Wesentlichen auf alle Formen freiheitsentziehender Maßnahmen übertragen. Bereits im Kontext der Bewegungsfreiheit bzw. -fähigkeit wurde deutlich, dass diese bei den Betroffenen ebenfalls im Zweifel vorauszusetzen ist. Aus rechtlicher Sicht ist angesichts der Schwere des Eingriffs in die Freiheitsrechte der Betroffenen stets der maximale Schutz derselben anzuzielen.

Nachdem nun anhand des § 1906 BGB ein Überblick über die zivilrechtliche Einordnung von freiheitsentziehenden Maßnahmen gegeben wurde, sei noch kurz auf die strafrechtliche Komponente der Thematik eingegangen. Der Auftrag des Strafrechts besteht ganz übergeordnet darin, grundlegend geschützte Rechtsgüter, wie z. B. das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie die Freiheit, zu wahren. Dies schlägt sich konkret in strafrechtlichen Regelungen zum Schutz des Lebens (§§ 211 ff. StGB), der körperlichen Unversehrtheit (§§ 232 ff. StGB) sowie der persönlichen Freiheit (§§ 232 ff. StGB) nieder. Des Weiteren dient das Strafrecht dazu, diejenigen zur Verantwortung zu ziehen, die diese Rechtsgüter verletzen.Footnote 211 Auch und besonders in der stationären Langzeitpflege hat das Strafrecht eine große Bedeutung, denn wenn es die Aufgabe des Sozialstaates ist, jeder pflegebedürftigen Person „ein möglichst selbständiges und selbstbestimmtes Leben“Footnote 212 frei von Gewalt zu ermöglichen, muss besonders hier gewährleistet sein, dass die strafrechtlichen Schutznormen befolgt werden.Footnote 213

Von besonderer Relevanz für die Thematik dieser Arbeit ist im strafrechtlichen Kontext der § 239 StGB, der die Freiheitsberaubung zum Gegenstand hat. Prinzipiell kann eine Freiheitsberaubung jeden Menschen betreffen. Für die Wirksamkeit des § 239 StGB ist es dabei gänzlich unerheblich, ob die von der Freiheitsberaubung betroffene Person als zurechnungsfähig eingestuft wird, denn entscheidend ist hier nicht, ob der Mensch sich zu einem bestimmten Zeitpunkt fortbewegen möchte, d. h. ob er in der Lage ist, den Willensentschluss einer Fortbewegung zu fassen: Das erforderliche Kriterium liegt vielmehr darin, ob der Mensch sich fortbewegen könnte, d. h. ob er über die prinzipielle Fähigkeit verfügt, eine Ortsveränderung durchzuführen – auch unabhängig von etwaigen krankheitsbedingten Einschränkungen in seiner Bewegungsmöglichkeit.Footnote 214 Insofern findet sich hier ein Sachverhalt wieder, der schon im Rahmen von § 1906 BGB deutlich wurde. Das in § 239 StGB geschützte Rechtsgut ist demnach nicht die aktuale, sondern die „potenzielle persönliche FortbewegungsfreiheitFootnote 215. Die Regelungen des § 239 StGB sind an dieser Stelle insofern relevant, da freiheitsentziehende Maßnahmen den Tatbestand der Freiheitsberaubung erfüllen können,

wenn weder das Einverständnis der Betroffenen […], die Zustimmung der BetreuerInnen, eine Genehmigung der Vormundschaftsgerichte […], noch ein rechtfertigender Notstand vorliegen. Bei nicht sach- und fachgerechten angewendeten Fixierungen kann der Tatbestand von Körperverletzungen bis hin zu Tötungsdelikten erfüllt sein […].Footnote 216

Wird also eine freiheitsentziehende Maßnahme widerrechtlich ohne Einwilligung des Betroffenen bzw. Genehmigung des Betreuers (bzw. Bevollmächtigten) angewendet, so kann diese den strafrechtlichen Tatbestand der Freiheitsberaubung (sowie weitere Tatbestände, wenn es bei dem Betroffenen zu gesundheitlichen Schäden kommt) erfüllen.

Eine Ausnahme kann dabei im rechtfertigenden Notstand vorliegen, dessen Voraussetzungen wiederum in § 34 StGB geregelt sind. Eine solche Notstandslage kann gerechtfertigt sein, wenn bei der Verwirklichung eines strafrechtlichen Tatbestandes – z. B. der Freiheitsberaubung – die folgenden Voraussetzungen bestehen:

1) Es muss sich um eine Gefahrensituation handeln. Unter einer Gefahrensituation versteht sich ein objektiver Zustand, in dem aufgrund tatsächlicher Umstände die Wahrscheinlichkeit und die begründete Besorgnis gegeben ist, dass ein schädigendes Ereignis eintritt.Footnote 217 „Das Vorliegen einer Gefahr drückt sich demnach in einem Urteil über eine künftige Entwicklung aus […].“Footnote 218

2) Ein weiteres Kriterium liegt in der Gegenwärtigkeit der Gefahr. Gegenwärtig ist eine Gefahr, wenn der Eintritt eines Schadens bei natürlicher Entwicklung der Dinge sicher oder höchstwahrscheinlich ist, sofern nicht sofort bzw. binnen kurzer Zeit Abwehrmaßnahmen ergriffen werden.Footnote 219

3) Ferner darf die Gefahr nicht anders abwendbar sein, als durch das Begehen der in Frage stehenden Tat.Footnote 220 Dabei muss die Handlung nach dem Grundsatz der Geeignetheit und dem Grundsatz des relativ mildesten Mittels dem Erhaltungsgut so viel Schutz wie möglich und dem Eingriffsgut so wenig Schaden wie nötig verursachen.Footnote 221 Unter diesem Doppelaspekt muss die Tat folglich geeignet und erforderlich sein, um die Gefahr abwenden zu können. Es ist vom Täter gewissenhaft zu prüfen, ob ihm kein weniger einschneidendes Abwendungsmittel zur Verfügung steht.Footnote 222

Hat die zivilrechtliche Einordnung von freiheitsentziehenden Maßnahmen gezeigt, dass diese im Beantragungs- und Genehmigungsverfahren strengen Auflagen zu genügen haben, so zeigt sich zusammenfassend auch im Strafrecht, dass auch (vermeintliche oder tatsächliche) Ausnahmesituationen keine Willkür zulassen. Vielmehr haben in Notfällen ergriffene freiheitsentziehende Maßnahmen allen drei genannten Voraussetzungen zu entsprechen, damit ein rechtfertigender Notstand nach §34 StGB vorliegt. Für die Anwendung freiheitsentziehender Maßnahmen bei akuter Gefahr für Leib und Leben gilt mit Engelfried gesprochen daher, dass

[i]m allergrößten Notfall […] unter dem Gesichtspunkt des Notstandes (34 StGB) zur Abwehr schwerster Gesundheitsgefahren eine Anwendung vor Genehmigung ausnahmsweise möglich [ist]. Auch dies sollte dem Gericht sofort angezeigt werden.Footnote 223

Zusammenfassend lässt sich bezüglich der Rechtslage in der Bundesrepublik Deutschland feststellen, dass Phänomene der Freiheitseinschränkung in professionellen Sorgebeziehungen rechtlich durchaus in ihrer Komplexität wahrgenommen werden. Ganz grundlegend stellt jeder Eingriff in die Fortbewegungsfreiheit des Menschen im Sinne des Grundgesetzes eine freiheitseinschränkende Maßnahme dar. Je nach Intensität und Dauer können diese zivilrechtlich weiterhin als freiheitsentziehende Maßnahmen klassifiziert werden. Entscheidend für diese Unterscheidung ist dabei vor allem, ob die Maßnahme über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig (d. h. stets zu dem gleichen Zeitpunkt oder Anlass) Anwendung findet. Ist dies der Fall, so handelt es sich um eine freiheitsentziehende Maßnahme, die richterlich genehmigungsbedürftig ist. Hervorgehoben sei an dieser Stelle der Schutzcharakter der hier diskutierten Gesetze: Dieser geht mit der Regelung einher, dass im Zweifel – d. h. etwa in Fällen, in denen der mutmaßliche Wille oder die Bewegungsfähigkeit der Person nicht mit Gewissheit ergründet werden können – stets von einem freiheitsentziehenden Charakter und somit einer richterlichen Genehmigungspflicht der Maßnahme auszugehen ist.

Vor dem Hintergrund der richterlichen Genehmigungspflicht sei abschließend noch ein Exkurs unternommen, der veranschaulicht, wie weit diesbezüglich Ideal und Praxis in Deutschland noch auseinanderliegen. Seit dem Jahr 2015 nimmt die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter jährlich bundesweite Besuche in Einrichtungen der stationären Langzeitpflege alter Menschen vor, um zum Zweck der Sicherstellung einer menschenwürdigen Pflege und Betreuung u. a. auch die Situation um die Anwendung freiheitsentziehender Maßnahmen zu überprüfen und zu beurteilen. Die Ergebnisse werden in Form von Jahresberichten festgehalten und auf der Homepage der Nationalen Stelle zur Verfügung gestellt. Im Jahr 2018 wurden aufgrund des Schwerpunkt-Themas des Berichts insgesamt 28 Alten- und Pflegeheime besucht.Footnote 224 Allein der Umstand, dass die Nationale Stelle freiheitsentziehende Maßnahmen dabei in die Untersuchung mitaufnimmt, verweist auf die Schwere sowie auf die weitreichenden Folgen dieser Maßnahmen. Dabei bedeutet dies nicht, dass freiheitsentziehende Maßnahmen rechtlich mit Folter gleichzusetzen sind, vielmehr beschäftigt die Nationale Stelle „sich nicht nur mit Folter im engeren Sinne des Wortes, sondern auch mit anderen Formen grausamer und unmenschlicher Behandlung“Footnote 225 bzw. zielt mit ihrem Wirken allgemein auf „die Wahrung menschenwürdiger Unterbringung und Behandlung im Freiheitsentzug“Footnote 226 ab.

Für den Berichtszeitraum 2018 konnten teilweise rechtlich (sowie ethisch) besorgniserregende Umstände konstatiert werden: Häufig gab es bei konkreten bewilligten Maßnahmen der Freiheitsentziehung aufgrund nicht immer nachvollziehbarer Begründungen berechtigten Zweifel, ob diese rechtmäßig waren. Auch gab es bezüglich der Frage, welche Maßnahmen als freiheitsentziehend und damit genehmigungspflichtig zu werten sind, erhebliche Schwankungen – angefangen bei den Pflegeeinrichtungen bis in einzelne Gerichte hinein: Aufgeführt wird der Fall des Amtsgerichts Köthen (Sachsen-Anhalt), das in einem Schreiben von 2014 pauschal die Anwendung von Bettgittern als nicht genehmigungspflichtige Schutzmaßnahme charakterisierte. In der Konsequenz wandte beispielsweise eine von der Nationalen Stelle besuchte Pflegeeinrichtung in diesem Bezirk ohne jede richterliche Genehmigung oder Einwilligung der Betroffenen (bzw. ihrer Betreuer oder Bevollmächtigten) aufgestellte Bettgitter an. Über solche Extrembeispiele hinaus kam in vielen Einrichtungen und in vielen Fällen der Verdacht auf, dass die im Verfahren um die Genehmigung freiheitsentziehender Maßnahmen zwingend erforderliche persönliche Anhörung durch den zuständigen Betreuungsrichter nicht stattgefunden hat.Footnote 227 Darüber hinaus fanden in besuchten Einrichtungen wiederholt freiheitsentziehende Maßnahmen ohne richterliche Genehmigung bzw. ohne erforderliche Einwilligung oder noch nach Erlöschen von Genehmigungen Anwendung. Gleichfalls bedenklich ist der Umstand, dass vonseiten mancher Pflegeeinrichtungen die Freiheitsentziehung durch Zurückführen Betroffener auf den Wohnbereich, Schließmechanismen an Türen oder verschiedene Methoden der Täuschung (wie z. B. Verschleierung von Ausgängen mittels Tapeten, Vorhängen oder Jalousien) nicht als freiheitsentziehend erkannt wurden.Footnote 228 Doch nicht nur Missstände bezüglich mechanischer oder räumlicher Mittel zur Freiheitsentziehung konnten nachgewiesen werden; bezüglich des Umgangs mit Psychopharmaka als Bedarfsmedikation ließ sich feststellen, dass die allgemein bekannten fachlichen Anforderungen, die mit einer solchen einhergehen, in einigen Fällen nicht erfüllt waren.Footnote 229 So fanden sich ärztlich gestellte Indikationen wie „‚bei Unruhe‘, ‚bei auffälligem Verhalten‘ oder ‚bei Bedarf‘“Footnote 230, die pauschalisiert und fragwürdig blieben. Dies erscheint nicht zuletzt ethisch wie fachlich ganz besonders kritisch, sind doch bei der Verabreichung von Psychopharmaka aufgrund ihrer Eingriffstiefe und häufiger persönlichkeitsverändernder Wirkungen „sowohl an die konkrete Diagnose, Indikationsstellung und Dosierung als auch an die regelmäßige Überprüfung der Notwendigkeit einer Fortsetzung der Medikation besonders strenge Sorgfaltskriterien anzulegen“Footnote 231.

Nach diesem Exkurs zu der Diskrepanz zwischen rechtlichen Rahmenordnungen und konkreter Praxis in Deutschland sei abschließend noch einmal auf die Frage der Terminologie eingegangen. Wie in der Einleitung sowie in der terminologischen Reflexion deutlich gemacht wurde, wird in dieser Arbeit aufgrund ihres zuvorderst gerontologisch-pflegefachlich-ethischen Profils der Begriff freiheitseinschränkende Maßnahmen (FeM) in dem ausgehend vom Deutschen Ethikrat definierten Sinn verwendet (siehe Abschn. 2.1). Dennoch sollte auf eine Verhältnisbestimmung dieses Begriffes zu den entsprechenden rechtlichen Konzepten in dieser Arbeit nicht verzichtet werden. Führt man sich die Definition des Ethikrates vor Augen, nach der „[j]edwede Maßnahmen […] die eine Person von der freien Körperbewegung abhalten“Footnote 232 abgedeckt sind, so scheint dies dem zu entsprechen, was auch rechtlich als freiheitseinschränkende Maßnahme definiert ist. Die Dauer oder Regelmäßigkeit der Maßnahme, die rechtlich unter- und entscheidend ist, ist dabei für die gerontologisch-pflegefachlich-ethische Analyse zweitrangig und geht aus diesem Grund nicht in die für diese Arbeit gewählte Definition ein, weswegen bewusst nicht von freiheitsentziehenden Maßnahmen gesprochen wird (außer, wenn dieser rechtliche Begriff im jeweiligen Kontext erforderlich ist). Dementsprechend wird gegenüber den konkreten Begriffen freiheitsbeschränkend und freiheitsentziehend der allgemeinere Begriff freiheitseinschränkend vorgezogen, auch wenn darauf hingewiesen sei, dass es sich bei einem Großteil dieser Maßnahmen sowohl in der langzeitstationären, der ambulanten als auch der akutstationären Pflege von Menschen mit Demenz rechtlich gesehen um genehmigungspflichtige freiheitsentziehende Maßnahmen handeln dürfte.Footnote 233 In jedem Fall stellen solche Maßnahmen – seien sie genehmigungspflichtig oder nicht – einen schwerwiegenden Eingriff in die Autonomie des Menschen dar. Es drängt sich daher noch deutlicher die bereits angeklungene Frage auf, wie ein solcher Eingriff in professionellen Sorgebeziehungen konkret begründet wird.

2.7 Begründungen für die Anwendung von FeM

Was bereits in der ethischen Bestimmung von FeM als Form des wohltätigen Zwangs anklang, ist nachweislich die Hauptbegründung, die für die Anwendung von FeM vorgebracht wird: ganz übergeordnet geht es den Akteuren darum, das gesundheitliche Wohl der Pflegeempfänger zu schützen.Footnote 234

Dieses Ziel gilt dabei unabhängig von den jeweiligen Versorgungssettings,Footnote 235 auch wenn es sich je nach Versorgungsform und Pflegesituation verschiedentlich konkretisiert. Geleitet von dem übergeordneten Schutzgedanken bilden sich wiederum verschiedene konkrete Begründungsansätze für FeM heraus, die in der empirischen Forschung über die Jahrzehnte hinweg unterschiedlich klassifiziert wurden. Dabei zeichnet sich ab, dass FeM in der Pflege alter Menschen allem voran zur Verhütung von Sturzereignissen bzw. sturzbedingten Verletzungen sowie bei herausfordernd wahrgenommenen Verhaltensweisen (z. B. von Menschen mit Demenz) Anwendung finden; häufig wird im Zusammenhang mit letzterem auch die Sicherung medizinischer Maßnahmen angeführt.Footnote 236 Für ein umfassenderes Verständnis lassen sich die Begründungen für FeM angelehnt an eine Typologie der Leitlinie FEM in patientenorientierte Gründe (Abschn. 2.7.1), behandlungsorientierte Gründe (Abschn. 2.7.2), sozialorientierte Gründe (Abschn. 2.7.3) sowie personal- und organisationsorientierte Gründe (Abschn. 2.7.4) einteilen.Footnote 237 Im Nachfolgenden soll mithilfe dieser formalen Einteilung auf zentrale ausgewählte Begründungen für FeM eingegangen werden.

2.7.1 Patientenorientierte Gründe

Als häufigster patientenorientierter Grund für FeM gilt die bereits genannte Prävention von Sturzereignissen.Footnote 238 Möhler und Meyer halten in ihrer systematischen Übersichtsarbeit fest: „Fall prevention seems to be the most important justification for physical restraints use, despite a clear lack of evidence for the benefit and safety.“Footnote 239 Auch die bereits genannte, aktuelle Studie von Thomann, Zwakhalen, Richter et al. kam zum Ergebnis, dass im akutstationären Setting der Schutz vor Sturzereignissen mit 43,8 % der erfassten Fälle als häufigste Begründung für die Anwendung einer FeM genannt wurde.Footnote 240 Im Rahmen des bereits genannten Pflege-Thermometers 2014, das 1.844 leitende Pflegekräfte in Akutkrankenhäusern zu der Anzahl unerwünschter Ereignisse bei Menschen mit Demenz befragte, ergab sich, dass in einem zurückliegenden Zeitraum von sieben Arbeitstagen insgesamt 2114 Sturzereignisse eintraten. Durchschnittlich kam es damit etwa einmal in sieben Arbeitstagen zu einem Sturz.Footnote 241 Hochrechnungen lassen entsprechend eine Prävalenzeinschätzung von 725.000 Sturzereignissen von Menschen mit Demenz im akutstationären Setting im Jahresverlauf zu; ebenfalls wird die Häufigkeit von unbeaufsichtigtem Aufstehen trotz diagnosebedingter Bettruhe auf 950.000 Vorkommnisse geschätzt.Footnote 242 Eine Verbindung mit Stürzen besteht auch insofern, als dass vorangegangene Sturzereignisse und Frakturen wiederum zu der Anwendung von FeM zur Vorbeugung weiterer solcher Ereignisse führen können.Footnote 243 Paradox ist in diesem Zusammenhang, dass in der Fachwissenschaft wiederholt darauf hingewiesen wurde und wird, dass FeM keine adäquate Intervention zur Prophylaxe von Stürzen darstellen und diese sogar begünstigen können. Schon 2006 hielt z. B. der Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege unmissverständlich fest:

Freiheitsbeschränkende Maßnahmen, d. h. die Benutzung mechanischer Hilfsmittel wie Gurte und Bettgitter, das Absperren von Türen, die Wegnahme von Fortbewegungsmitteln (Rollstuhl etc.) oder der Einsatz sedierender Medikamente sollten keinesfalls zum Zweck der Sturzprävention eingesetzt werden.Footnote 244

Mit einem Verweis auf das mit FeM assoziierte Sturz- und Verletzungsrisiko bekräftigt der Expertenstandard in seiner ersten Aktualisierung 2013 diese Aussage erneut und erweitert die dort abgebildeten umgebungsbezogenen Risikofaktoren für Stürze um die Anwendung von FeM als eigenen Risikofaktor.Footnote 245 Auch wenn diesbezüglich zunehmend Forschungskonsens zu herrschen scheint, halten Möhler und Meyer fest:

Nurses expected physical restraints to be effective in preventing falls or injuries […]. These expectations are clearly in contrast to the available evidence, which indicates that physical restraints use does not lead to a decrease in falls or fall-related injuries. Irrespective of this evidence, the myth about physical restraints as an adequate intervention to prevent falls still seems to persist.Footnote 246

Einen veränderten Blick auf die Thematik empfehlen Evans und Cotter, die festhalten, dass „[t]he focus should be on preventing injurious falls, not on preventing falls at any costFootnote 247. Tatsächlich kann es helfen, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass nicht Stürze an sich, sondern vielmehr sturzbedingte Verletzungen abzuwenden sind – und dies durch geeignete Mittel: Auf diese Weise kommen bspw. alternative Maßnahmen in den Blick, Stürze abzufedern und Frakturen vorzubeugen, ohne dafür – wie dies im Falle von FeM droht – die Immobilisierung des Betroffenen in Kauf zu nehmen (siehe Abschn. 2.10).

Der zweite wesentliche patientenorientierte Grund, der für die Anwendung von FeM – besonders, aber nicht nur bei Menschen mit Demenz – angeführt wird, bezieht sich auf eine Gruppe von Verhaltensweisen und Symptomen, die von Agitiertheit, Verwirrtheit, Unruhe und Aggression bis hin zu sog. „wandering“ reichen und denen mithilfe der jeweiligen (auch und vor allem medikamentösen) FeM begegnet werden soll.Footnote 248 Auch bei deliranten Zuständen, die mit solchen Symptomen assoziiert sind, finden FeM Anwendung.Footnote 249 Mit 20,4 % bildete „confusion or delirious behaviour“ in der bereits zitierten Studie von Thomann, Zwakhalen, Richter et al. die zweithäufigste Begründung für den Einsatz von FeM in dem untersuchten akutstationären Kontext; getrennt davon wurden noch Agitation (4,8 %), „[n]on-compliance with treatment“ (2,8 %), (Prävention von) „wandering“ (2,2 %) sowie (Prävention von) Aggressivität (1,3 %) angeführt.Footnote 250 Was die Prävalenz solcher Verhaltensweisen betrifft, ergab etwa das Pflege-Thermometer 2014, dass im klinischen Kontext innerhalb von sieben Arbeitstagen bei Menschen mit Demenz häufig Aktivitäten innerhalb der Nachtruhe (9.491 Ereignisse), das An- und Auskleiden zu unpassenden Zeitpunkten (6.770 Ereignisse), das Entleeren der Blase oder des Darms an unangemessenen Plätzen (4.259 Ereignisse) und das unbemerkte Verlassen der Station (1.567 Ereignisse) auftraten.Footnote 251 Die Autoren verweisen zudem auf weitere unerwünschte Vorkommnisse dieser Art und errechneten u. a. eine geschätzte Jahresprävalenz von 1.600.000 Ereignissen für Abwehrverhalten bei der Mundpflege und von 1.476.000 Ereignissen für Abwehrverhalten bei der Lagerung.Footnote 252

Die bereits oben zitierte repräsentative GHoSt-Studie, die u. a. die Häufigkeit von „care challenges“ unter den in die Studie eingeschlossenen Menschen über 65 Jahren (n = 1469) in Akutkrankenhäusern erhob, erlaubt einen noch differenzierteren Einblick in solche Situationen. Zunächst ergab die Studie, dass ca. 40 % der über 65-jährigen Patienten im akutstationären Kontext eine kognitive Beeinträchtigung aufweisen.Footnote 253 Genauer wurde dieser Anteil in der Darstellung der Studienergebnisse u. a. nach Menschen mit einer Demenzerkrankung oder einem Delir (n = 297) und Menschen mit leichten kognitiven Einschränkungen (n = 290) aufgeschlüsselt. Bei Menschen mit Demenz und/oder Delir trat dabei besonders häufig abwehrendes Verhalten auf – sei es gegenüber der Behandlungspflege (53,7 %), der Medikamenteneinnahme (42,9 %), der Grundpflege (27,5 %), der Unterstützung beim Essen und Trinken (13,6 %), der Wundversorgung (12,2 %) oder der ärztlichen Behandlung (6,9 %). Schlafstörungen traten bei 42,1 % der Menschen mit Demenz und/oder Delir und bei jedem fünften (20,4 %) Menschen mit leichter kognitiver Beeinträchtigung auf. Ebenfalls wurden bei Menschen mit Demenz und/oder Delir oft verbale Auffälligkeiten wie z. B. „[b]eing verbally agitated“ (19,5 %), das Hilferufen (17,5 %) und beleidigende Äußerungen (9,8 %) beobachtet. Eine weitere erfasste Verhaltensweise dieser Personengruppe stellte das Betätigen der Klingelanlage ohne erkennbaren Anlass (15,2 %) dar. Physische Aggressivität trat etwa in Form körperlicher Gewalt gegenüber anderen (12,1 %) und des Werfens von Nahrung (3,7 %) auf, während diese etwa bei Menschen mit einer leichten kognitiven Beeinträchtigung kaum bis gar nicht auftraten (1 % und 0 %). Ebenfalls im Kontext von FeM zu nennen sind Verhaltensweisen von Menschen mit Demenz und/oder Delir wie „[w]andering“ (12,1 %) und das unbemerkte Verlassen der Station oder Klinik (6,8 %).Footnote 254 Aus pflegefachlicher Perspektive können diese Ergebnisse mit Blick auf die spezifischen Bedingungen im akutstationären Bereich kaum verwundern. Diese legen Riedel und Linde in ihrer ethischen Analyse eindrücklich wie folgt dar:

Menschen mit Demenz bringen eine besondere Vulnerabilität in Form von besonderen Bedürfnissen und Bedarfen mit, sie sind sowohl bei der Krankenhauseinweisung als auch während des Krankenhausaufenthaltes höheren Risiken […] ausgesetzt. Vielfach belastend ist die Situation ferner aufgrund dessen, dass krankheitsbedingt kognitive Funktionen und damit auch die Fähigkeit, sich schnell auf unbekannte Situationen einzustellen, eingeschränkt sind. Folglich bleiben situativ eingeforderte Anpassung und Kooperationsbestrebungen aus, was seitens des Umfeldes zu zusätzlichen Irritationen führen kann.Footnote 255

Für kognitiv beeinträchtigte Pflegeempfänger stellt eine Krankenhauseinweisung bzw. ein Krankenhausaufenthalt eine besondere Herausforderung dar, zumal das Personal vonseiten des Pflegedienstes und der Ärzteschaft häufig nicht über das nötige demenzspezifische und -sensible Fachwissen verfügt, um den Bedürfnissen dieser Personengruppe ganzheitlich zu begegnen.Footnote 256 Aufgrund der besonderen Tragweite dieser Problematik gilt „[g]erontopsychiatrisches und geriatrisches Wissen bei pflegerischem und ärztlichem Personal […] zunehmend als Schlüsselqualifikation in Notaufnahmen und Krankenhausbetrieb“Footnote 257.

Eine Untersuchung, deren Ergebnisse in den Pflegereport 2017 einflossen, zeigt darüber hinaus auf, dass solche Verhaltensweisen auch in langzeitstationären Pflegeeinrichtungen durchaus auf belastende Weise den pflegerischen Alltag begleiten: So gab hier eine deutliche Mehrheit der befragten Pflegekräfte (n = 2445) an, täglich verbal auffälliges Verhalten (77,6 %) und körperliche Unruhe (73,1 %) seitens der Bewohner zu erfahren. Mehr als ein Drittel (36,8 %) der Pflegekräfte erlebte täglich verbal aggressives Verhalten, während 15 % der Befragten täglich körperlich aggressives Verhalten wie Schlagen, Kratzen oder Treten erfuhren. Mehr als ein Viertel (26,8 %) der Pflegekräfte empfand diese Erfahrungen als belastend.Footnote 258

Als Sammelbegriff für solche Verhaltensformen dient häufig der Begriff „verhaltensbezogene und psychische Symptome der Demenz“ als Übersetzung des im Englischen gebräuchlichen „behavioural and psychological symptoms of dementia“ (BPSD).Footnote 259 Mit James und Jackman ist jedoch festzuhalten, dass sich dieser Terminus nur bedingt eignet, insofern er einen direkten Zusammenhang mit dem Prozess einer Demenzerkrankung suggeriert.Footnote 260 Auch könnte man an dieser Stelle kritisch anmerken, ob die vermeintlich objektive medizinisch-psychiatrische Klassifizierung dieser Verhaltensweisen als Symptome einer Demenzerkrankung nicht letztlich zu einer Pathologisierung all jenes Verhaltens von kognitiv beeinträchtigten alten Menschen führt, das sich auf den ersten Blick in seiner Sinnhaftigkeit nicht erschließt oder sich strukturell-pflegerischen Abläufen entzieht. Die Frage, ob sich in diesen Verhaltensweisen ‚die Demenz‘ ausdrückt oder doch vielmehr ein Mensch mit Demenz mit je eigenen Bedürfnissen, sei hier nur angedeutet (siehe Abschn. 3.2.3). Ähnliche Probleme ergeben sich bei dem verbreiteten Begriff „herausforderndes Verhalten“ (engl. „challenging behaviour“):Footnote 261 Verstanden als „Handlung […], die das Wohlbefinden einer Person beeinträchtigt, weil sie für das Setting, in dem die Handlung stattfindet, eine physische oder psychische Belastung darstellt“Footnote 262, dient dieser dazu, zum Ausdruck zu bringen, dass solche Verhaltensweisen spezifische pflegerische Herausforderungssituationen darstellen, die der adäquaten Erfassung und Reaktion vonseiten des pflegerischen Personals bedürfen. Unterdessen hat sich der Begriff jedoch zu einem „Label“ entwickelt, das ungewollte oder unverstandene Handlungsweisen und somit ihre Urheber, d. h. kognitiv beeinträchtigte Menschen, stigmatisieren kann – mit der Konsequenz, „dass an Demenz erkrankte Menschen, die dieses Label tragen, schneller ruhiggestellt, sediert und in ein Pflegeheim eingewiesen werden“Footnote 263.

Von daher ist es verständlich, dass in der Literatur eine Reihe von alternativen Begriffen vorgeschlagen wird: Der Terminus „Verhalten, das herausfordert“Footnote 264 und die im Kontext dieser Arbeit häufig verwendete Formulierung „herausfordernd wahrgenommenes Verhalten“ helfen, zu betonen, dass solches Verhalten von den Sorgeempfängern nicht als herausfordernd intendiert ist, sondern vielmehr von den Sorgenden als solches wahrgenommen und gewertet wird. Welches Handeln als herausfordernd wahrgenommen wird, ist letztlich sozial konstruiert sowie subjektiv und normativ geprägt.Footnote 265

Eine erste wichtige Fokusverschiebung, die die Anerkennung der pflegebedürftigen Person mit ihren spezifischen Bedürfnissen in den Mittelpunkt rückt, nimmt der Expertenstandard Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz vor, indem er von „bindungssuchendem Verhalten“ spricht.Footnote 266 Damit wird unterstrichen, dass es sich bei Verhalten wie etwa dem wiederholten Rufen, nonverbalen Formen der Kommunikation oder einer gesteigerten Erregtheit um Ausdrücke des menschlichen Bedürfnisses nach Bindung handelt, die als solche wahrzunehmen und anzuerkennen sind. Der MDS, der diese Fokusverschiebung zwar begrüßt, schlägt in seiner Grundsatzstellungnahme Menschen mit Demenz – Begleitung, Pflege und Therapie von 2019 jedoch vor, an dieser Stelle allgemeiner und wertfrei von „aufforderndem Verhalten“ zu sprechen, um zu betonen, dass erstens

der Betroffene Bedürfnisse hat, die er durchaus ausdrücken kann, die sich nicht zwingend in seinen Worten, sondern die sich vielmehr in seinem Verhalten zeigen. Zweitens verweist der Begriff „auffordernd“ auch darauf, dass es aus Sicht seiner sozialen Umwelt darum gehen muss, herauszufinden, welche Aufforderung und welche Botschaft sich hinter den Verhaltenssymptomen des Menschen mit Demenz verbergen.Footnote 267

Vor dem Hintergrund dieser theoretisch-terminologischen Reflexion, die an späterer Stelle noch im Kontext der leiblich versichtbarten Vulnerabilität des Menschen ethisch vertieft werden soll (siehe Abschn. 3.2.3), ist die bloße Begründung von FeM mit aufforderndem Verhalten prinzipiell fragwürdig geworden: Handelt es sich bei einer FeM, z. B. der intendierten Ruhigstellung durch Psychopharmaka, die als Antwort auf aufforderndes Verhalten angewendet wird, um eine adäquate Antwort auf die (Auf-)Forderung, die der Verhaltensweise zugrunde liegt?

Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass sich auch bezüglich des Umgangs mit aufforderndem Verhalten beobachten lässt, dass dieses nicht nur den Grund für die Anwendung von FeM bilden, sondern auch als Reaktion auf FeM eintreten kann. Das Risiko, welches der Deutsche Ethikrat allgemein als „Spirale aus Abwehr und Zwang“Footnote 268 bezeichnet, kann sich also besonders bei aufforderndem Verhalten ergeben: „[C]hallenging behaviour and verbal agitation seem to be cofactors for restraint use, as mentioned in previous studies. This behaviour could be a response to physical restraint, which involves a vicious circle.“Footnote 269 Es droht also die Gefahr eines negativen Aktion-Reaktion-Kreislaufs, wie ihn etwa Xyrichis, Hext und Clark beschreiben: „Restrictive practice in turn may result in patient frustration, challenging behaviour, stigmatisation and further acts of violence and aggression necessitating restrictive intervention.“Footnote 270 Auf diese Problematik wird im Kontext der mit FeM assoziierten Folgen zurückzukommen sein (siehe Abschn. 2.9).

2.7.2 Behandlungsorientierte Gründe

Als behandlungsorientierter Grund für die Anwendung von FeM wird der Umstand benannt, dass FeM (besonders im akutstationären Bereich) regelmäßig zum Zweck der Sicherung medizinischer Maßnahmen eingesetzt werden bzw. zum Schutz der Betroffenen vor Selbstschädigung durch unbeabsichtigtes Manipulieren solcher therapienotwendigen Vorrichtungen.Footnote 271 Konkret geht es dabei z. B. um die Gewährleistung der Sauerstoffversorgung, Ernährung oder Flüssigkeitszufuhr, weshalb etwa Infusionsleitungen, Sauerstoffleitungen und Katheter vor der Manipulation oder Entfernung zu schützen seien.Footnote 272 Wiederum kann auf das Pflege-Thermometer 2014 verwiesen werden: In dem Untersuchungszeitraum von sieben Arbeitstagen trat hier laut Angabe der 1.844 befragten leitenden Pflegekräfte in Akutkrankenhäusern bei Menschen mit Demenz 5.455-mal das Entfernen von Verbänden und Pflastern, 4971-mal das Entfernen von peripheren Venenzugängen, 4.719-mal das Auflösen von Schutzhosen und Verteilen der Ausscheidungen sowie 1.554-mal das eigenständige Herausziehen eines Blasenverweilkatheters auf.Footnote 273 In diesem Zusammenhang lässt sich erneut die GhoSt-Studie anführen, die ermittelte, dass etwa ein Fünftel (19,9 %) der akutstationären Patienten mit Demenz und/oder Delir durch „[p]ulling out infusion needles, catheters etc.“ in die Gefahr gerieten, sich selbst zu verletzen – gegenüber im Vergleich 1,7 % der Patienten mit einer nur leichten kognitiven Beeinträchtigung.Footnote 274 Da es häufig jene Verhaltensweisen und Symptome sind, die oben als aufforderndes Verhalten charakterisiert wurden, die dazu führen können, dass sich kognitiv beeinträchtigte Menschen (unbeabsichtigt) durch Entfernen dieser Vorrichtungen selbst schädigen, sind diese zwei Begründungen – die patientenorientierte Begründung des ‚herausfordernden‘ Verhaltens und die behandlungsorientierte Begründung – in der empirischen Forschung nicht immer ganz voneinander zu scheiden.Footnote 275 Hinzu kommen vor allem im Versorgungssetting Akutkrankenhaus – wie allgemein bekannt ist – weitere z. B. strukturelle Einflussfaktoren, die es Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen erschweren oder gar verunmöglichen, den Sinn von medizinischen Interventionen nachzuvollziehen.

Eine besondere Zuspitzung erhält die vorliegende Thematik im intensivmedizinischen Setting: Die empirische Datenlage veranschaulicht, dass der Aufenthalt auf einer Intensivstation mit einer höheren Wahrscheinlichkeit assoziiert ist, die Anwendung von FeM zu erfahren.Footnote 276 Teece, Baker und Smith stellten in ihrer Übersichtsarbeit konkret mit Blick auf einzelne medizinische Vorrichtungen im intensivmedizinischen Kontext heraus, dass nasogastrale Sonden, venöse Zugänge und besonders die endotracheale Intubation nach Studienergebnissen mit der Anwendung von FeM assoziiert waren.Footnote 277 Eine aktuelle integrative Übersichtsarbeit mit dem spezifischen Fokus auf FeM in intensivmedizinischen Settings konnte feststellen, dass auf Intensivstationen grundsätzlich die Verhinderung der Selbstschädigung durch „treatment interference“ die Hauptbegründung für den Einsatz von FeM darstellt. Konkret war dabei die Prävention einer eigenständigen Extubation die am häufigsten genannte Begründung, gefolgt von der Verhütung einer Entfernung von Schläuchen und Drainagen durch den Patienten,Footnote 278 sodass die Autoren zu der Schlussfolgerung kamen: „[P]atients who were mechanically ventilated were found to be far more likely to be physically restrained than those who were not“Footnote 279.

Die behandlungsorientierte Begründung von FeM scheint vor dem Hintergrund der angeführten Daten zunächst eine naheliegende zu sein. Besonders im akutstationären Setting – und darin noch einmal in besonderem Maße auf Intensivstationen – ist die Verhinderung von Selbstschädigung bspw. durch eigenständige Extubation eine verbreitete und auf den ersten Blick plausible Begründung. Dabei ist die Datenlage bezüglich der Effektivität von FeM zu diesem Zwecke noch dünn. Zumindest sei in Bezugnahme auf drei in den Review von Perez et al. eingeschlossene Studien darauf hingewiesen, dass sich diese durchaus hinterfragen lässt: So ermittelten die Autoren, dass in allen drei Studien jeweils mehr als 80 % der Studienpopulation trotz der Anwendung von FeM in der Lage dazu waren, sich eigenständig zu extubieren.Footnote 280

2.7.3 Sozialorientierte Gründe

Mit sozialorientierten Gründen können Begründungsansätze von beteiligten Akteuren in den Blick genommen werden, die eine FeM (zumindest teilweise) mit Hinblick auf die soziale Umwelt – allem voran die weiteren Sorge- bzw. Pflegeempfänger in der Institution – rechtfertigen. Schon 2002 hielt das Joanna Briggs Institute fest, dass FeM auch Anwendung finden, „to maintain a comfortable social environment (such as to stop residents bothering others)“Footnote 281. Bereits an dieser Formulierung wird deutlich, wie fließend an dieser Stelle die Grenzen zu der patientenorientierten Begründung mittels des auffordernden Verhaltens sind, da verbale oder physische Verhaltensauffälligkeiten, die als disruptiv wahrgenommen werden, in beide Kategorien fallen könnten. Dass aufforderndes Verhalten oft auch andere Pflegeempfänger betrifft und zudem zum pflegerischen Alltag gehört, lässt sich etwa mit der GhoSt-Studie illustrieren, die spezifisch für den akutstationären Bereich ermittelte, dass bei 15,8 % der Patienten mit Demenz und/oder Delir und 8,6 % der Patienten mit einer leichten kognitiven Beeinträchtigung Beschwerden anderer Patienten über deren Verhalten auftraten.Footnote 282 Zumindest kann festgehalten werden, dass sich die beteiligten Akteure bei der Anwendung von FeM wiederholt auf den Schutz von anderen Bewohnern oder Patienten berufen: Goethals, Dierckx de Casterlé und Gastmans hielten etwa 2013 fest, dass Pflegekräfte eine ethische Pflicht angaben, andere Pflegeempfänger vor Verletzungen durch Betroffene zu schützen oder den Kontakt der Bewohner bzw. Patienten untereinander zu unterbinden.Footnote 283 Auch eine Meta-Synthese aus dem Jahr 2016 ergab, dass „[s]afety for resident, staff or other residents“ regelmäßig als Begründung von FeM angeführt werden.Footnote 284 Ohnehin kann es helfen, den Blick künftig zu weiten, um die Interrelation der pflegebedürftigen Menschen innerhalb von Institutionen als möglicherweise beeinflussenden Faktor für die Begründung und Anwendung von FeM zu erkennen. In ihrer vergleichenden ethnographischen Studie von drei Altenheimen in Norwegen im Jahr 2016 kamen etwa Øye, Jacobsen und Mekki zu dem Ergebnis, dass

the use of restraint cannot be explained by individual resident characteristics alone, but it needs also to be explained relative to the mix of residents – that is how many residents in the ward are at the same time agitated, aggressive or wandering.Footnote 285

Nachdem nun neben patienten- und behandlungsorientierten Gründen für die Anwendung von FeM auch sozialorientierte Begründungen thematisiert wurden, gilt es abschließend die Fokusweitung, die durch letztere begonnen wurde, fortzuführen.

2.7.4 Personal- und organisationsorientierte Gründe

Personal- und organisationsorientierte Gründe für die Anwendung von FeM bezeichnen eine vielschichtige Kategorie von Begründungsansätzen, die sich allgemein dadurch kennzeichnen lassen, dass sie FeM im Hinblick auf personelle Konstellationen und organisatorische Abläufe der jeweiligen Institution rechtfertigen. Ganz konkret beginnen personalorientierte Gründe bereits damit, dass FeM nicht nur zum Schutz anderer Pflegeempfänger Einsatz finden, sondern häufig auch zum Eigenschutz der Ausübenden. Sowohl die systematische Übersichtsarbeit von Möhler und Meyer aus dem Jahr 2014 als auch die Meta-Synthese von Kong et al. aus dem Jahr 2016 stellten heraus, dass Pflegekräfte FeM anwandten „to prevent themselves from being harmed“Footnote 286 bzw. „to protect themselves from residents’ behaviour such as assault or unjust attack“Footnote 287. Auch hier fällt unmittelbar auf, dass eine klare Abgrenzung zu auffordernden Verhaltensweisen schwerfällt, insofern diese auch ausdrücklich körperlich und verbal aggressives Verhalten oder Abwehrhandlungen einschließen. In der patientenorientierten Begründung, der pflegebedürftige Mensch zeige auffordernde Verhaltensweisen, dürften somit auch zu einem gewissen Punkt personalorientierte Gründe mitschwingen.

Weiterhin geben Pflegekräfte den personal- sowie organisationsorientierten Grund an, dass sie in solchen zeit- und personalknappen Situationen das Bedürfnis empfinden, zu FeM zu greifen, in denen sie anderen pflegerischen Aufgaben nachzugehen haben.Footnote 288 In diesem Zusammenhang wird auch die Begründung angeführt, dass Pflegekräften kaum Alternativen zur Verfügung stünden:

In several studies, nurses described their decision in favour of physical restraints as being due to the lack of alternatives; however, in studies where the participants described possible alternatives, they often decided in favour of physical restraints use. Using physical restraints seems to be an integral part of nursing, and the decision-making is often based on routines or traditions rather than on an individual assessment […]. The opportunity of choosing an alternative approach […] is rarely used.Footnote 289

Mit der Ressourcenknappheit ist bereits die Organisationsebene angesprochen, die ebenfalls in Begründungen für FeM Erwähnung findet: Laut dem Joanna Briggs Institute wurden bzw. werden FeM durchaus „used to help achieve organisation goals (such as to enable work schedules to be completed)“Footnote 290. Tatsächlich werden Entscheidungen zugunsten von FeM von den Akteuren auch auf einrichtungsintern etablierte Verfahrensweisen, Routinen und Abläufe zurückgeführt.Footnote 291 Solche strukturellen Gewohnheiten können auch dazu führen, dass etwa FeM, die zu einem früheren Zeitpunkt, auf einer anderen Instanz oder in einer anderen Institution – bspw. in dem Pflegeheim, in dem ein Betroffener vor der Krankenhauseinweisung lebte – getroffen wurden, ohne erneute Evaluation ihrer Angemessenheit oder Notwendigkeit fortgeführt werden.Footnote 292 Die Abhängigkeit von weiteren beteiligten Akteuren in der Entscheidung für oder wider FeM kommt darüber hinaus darin zum Ausdruck, dass Pflegekräfte sich immer wieder auch auf ärztliche Anordnungen oder auf die Bitten bzw. Forderungen von An- und Zugehörigen der Pflegeempfänger berufen.Footnote 293

Mit diesem Überblick über patienten-, behandlungs-, sozial- und personal- bzw. organisationsorientierte Gründe für die Anwendung von FeM konnte nun deutlich gemacht werden, wie vielfältig die in der Pflegepraxis angeführten Begründungen für die Anwendung von FeM sind. In einem weiteren Schritt soll nun gefragt werden, welche Einflussfaktoren diese Begründungen möglicherweise beeinflussen und ihnen zugrunde liegen können. Diese tieferliegenden Faktoren – wie etwa bestimmte Charakteristika der Pflegeempfänger oder Einstellungen der Pflegenden – dürften denselben zwar nicht immer bewusst sein, sie beeinflussen darum jedoch nicht weniger die Praxis um die Anwendung von FeM bei pflegebedürftigen alten Menschen (mit Demenz).

2.8 Einflussfaktoren für die Anwendung von FeM

Die Anwendung von FeM in professionellen Sorgebeziehungen unterliegt dem Einfluss und dem Zusammenspiel verschiedener Faktoren, die sich angelehnt an eine Typologie Hamers’ und HuizingsFootnote 294 unterscheiden lassen: Auszugehen ist dabei von den oben diskutierten konkreten Begründungen, die von professionell Sorgenden und anderen beteiligten Akteuren für die Anwendung von FeM ins Feld geführt werden. Immer wieder lassen sich diese Begründungen weiterhin mit einzelnen Charakteristika der Betroffenen in Verbindung bringen (Abschn. 2.8.1). Wendet man den Blick von Sorgeempfängern zu Sorgenden, so lässt sich zudem die Einstellung pflegerischer Akteure in den Blick nehmen, die im Kontext der Anwendung von FeM eine zentrale Position einnimmt (Abschn. 2.8.2). Ist somit auf der Mikroebene die Beziehung von Sorgenden und Sorgeempfängern beschrieben, gilt es auf der Makroebene, ausgewählte Charakteristika der (Pflege-)Einrichtung zu analysieren, die die Anwendung von FeM mitbeeinflussen können (Abschn. 2.8.3).Footnote 295 Dabei werden diese Faktoren bewusst settingübergreifend betrachtet und dargestellt, um eine allgemeine Gesamtschau zu ermöglichen, auch wenn an geeigneter Stelle auf spezifische settingabhängige Umstände eingegangen sei.

2.8.1 Charakteristika der Betroffenen

Ein prinzipieller Einflussfaktor, der in den bisherigen Ausführungen etwa zu patienten- und behandlungsorientierten Gründen für FeM stets implizit mitschwang, besteht in den Charakteristika der Betroffenen, die dazu führen können, dass FeM angewendet werden. Tatsächlich sind nicht alle Personengruppen im selben Maße von der Anwendung von FeM betroffen; vielmehr kann darauf hingewiesen werden, dass FeM gerade bei solchen Personengruppen und in solchen Situationen häufiger Anwendung finden, die sich durch eine besondere Vulnerabilität auszeichnen. Entsprechend lassen sich in der Fachliteratur verschiedene Charakteristika finden, die immer wieder mit FeM in Verbindung gebracht werden. Bezüglich solcher individuellen Eigenschaften der Betroffenen gibt es auch in der empirischen Forschung Indizien, dass diese zum Teil schwerer wiegen können als etwa strukturelle Faktoren.Footnote 296

An erster Stelle ist hier mit dem Deutschen Ethikrat auf kognitive Einschränkungen zu verweisen, die – wie sich zeigen wird – als wesentlicher Faktor zu gelten haben:

Besonders hoch ist die Wahrscheinlichkeit, wohltätigem Zwang ausgesetzt zu werden, für Menschen mit kognitiven Einschränkungen oder Demenz. Das betrifft einerseits freiheitsentziehende Maßnahmen wie etwa […] den Einsatz von Bettgittern, Gurten und anderen mechanischen Fixierungen; andererseits gehören dazu Pflege- und Betreuungshandlungen, die einem Menschen mit Pflegebedarf aufgenötigt werden, weil man es „gut mit ihm meint“.Footnote 297

Diese Feststellung des Deutschen Ethikrats steht im Einklang mit der empirischen Forschung, die wiederholt auf die Assoziation von kognitiven Beeinträchtigungen und FeM verwiesen hat. Das Joanna Briggs Institute stellte etwa „psychiatric diagnosis or cognitive impairment“Footnote 298 als Charakteristikum der betroffenen Personengruppen heraus. Ebenso führten Hamers und Huizing einen „impaired cognitive status“Footnote 299 der Betroffenen als einen der Prädiktoren von FeM an. Dies bestätigt auch die weitere internationale Studienlage, wobei die Terminologie in diesem Zusammenhang z. B. zwischen „severe cognitive impairments“Footnote 300, „impairment in cognitive status“ bzw. „poor cognitive status“Footnote 301, „low cognition“Footnote 302, „abnormal mental states“Footnote 303 sowie „mental and behavioural disorders“Footnote 304 schwankt. Damit sind unweigerlich Menschen mit Demenz und/oder Delir angesprochen, was nicht verwundert, wenn man sich die diskutierten Begründungsansätze für FeM vor Augen führt. Als wesentlicher Faktor beeinflusst das Vorliegen einer Demenz oder eines akuten Delirs die Praxis um FeM.

Als weitere Gruppe von Charakteristika sind solche Eigenschaften zu nennen, die im weiteren Sinn in den Bereich der Angewiesenheit auf Sorge fallen: So hebt das Joanna Briggs Institute hervor, dass „it was frail elderly that were most likely to be restrained, and factors such as incontinence and inability to independently perform activities of daily living increased this risk“Footnote 305. Was unter dem damit angesprochenen Frailty-Syndrom allgemein zu verstehen ist, fassen Benzinger, Eidam und Bauer wie folgt zusammen:

Frailty ist ein multidimensionales geriatrisches Syndrom, das durch einen Verlust an individueller Reservekapazität und eine erhöhte Vulnerabilität gegenüber internen und externen Stressoren gekennzeichnet ist. Frailty ist mit einem erhöhten Risiko für Stürze und einen Autonomieverlust sowie mit einer erhöhten Mortalität verbunden.Footnote 306

Vor dem Hintergrund des Umstands, dass die (vermeintliche oder tatsächliche) Sturzgefahr von Betroffenen als eine der Hauptbegründungen für die Anwendung von FeM gilt, ist der Zusammenhang mit dem Frailty-Syndrom, das betroffene ältere Menschen besonders zu Stürzen prädisponiert, nicht von der Hand zu weisen.

Des Weiteren benennen Hamers und Huizing „poor mobility“ sowie „high dependency“Footnote 307 als zusätzliche Prädiktoren der Anwendung von FeM. Eine Assoziation der Charakteristika der MobilitätseinschränkungFootnote 308 und der PflegebedürftigkeitFootnote 309 mit der Anwendung von FeM findet sich entsprechend in der empirischen Studienlage bestätigt. Wiederum kann eine Verbindung dieser Faktoren mit den konkreten Begründungen von FeM aufgewiesen werden, insofern „[t]he strong association between restraint use and impairment in mobility is also related to the main reason for using restraints – fall prevention“Footnote 310. Ohnehin ist festzuhalten, dass diese Charakteristika kaum voneinander zu scheiden sind und einer komplexen Interaktion unterliegen; mit Hofmann und Hahn kann formuliert werden, dass „[t]hey seem to be interconnected and form a pattern“Footnote 311. Die Sturzgefahr, auffordernde Verhaltensweisen und die Gefahr einer Manipulation medizinischer Vorrichtungen als konkrete Gründe für die Anwendung von FeM sind auf einer tieferen Ebene auf solche spezifischen „Muster“ dieser Charakteristika (z. B. kognitive Beeinträchtigung, Frailty, Mobilitätseinschränkung und Pflegebedürftigkeit) zurückzuführen. Dies bedeutet jedoch auch, dass sich aufgrund der Einzigartigkeit und der je eigenen Charakteristika der jeweiligen Person jede Situation, die eine FeM zu erfordern scheint, als eine einzigartige Situation darstellt und sich mithin der Standardisierung entzieht. Pflegefachlich kommt es daher auch und besonders darauf an, mit welchen Einstellungen pflegerische Akteure in solchen Situationen an pflegebedürftige Menschen herantreten. Auch in der empirischen Forschung steht fest, dass „[r]isk of falling, cognitive decline, and impaired activities of daily living are resident characteristics associated with greater use of restraints“ und, dass darüber hinaus „personal beliefs and staff attitudes may predict the use of physical restraints“Footnote 312.

2.8.2 Einstellung der Pflegenden gegenüber der Anwendung von FeM

Das in dieser Arbeit bereits skizzierte Modellvorhaben ReduFix, das durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie die Robert Bosch Stiftung gefördert wurde, zielte darauf ab, durch gezielte Interventionen die Verwendung körpernaher Fixierungen als Form der mechanischen FeM in der Altenpflege zu reduzieren.Footnote 313 Bedeutend ist, dass im Zuge dieser Bemühungen auch Einflussfaktoren für die Verwendung von FeM identifiziert wurden und, dass dabei besonders die Rolle der Pflegenden bzw. die Bedeutung ihrer Einstellung in den Blick rückte:

Die wichtigste Erkenntnis aus dem als Forschungsprojekt gestarteten ReduFix-Konzept: Auf die Haltung kommt es an, sowohl bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern als auch auf der Leistungsebene oder in Familien.Footnote 314

Ein Überblick über die Forschungslage zu der Einstellung von Pflegekräften gegenüber der Anwendung von FeM in der Pflege alter Menschen lässt sich mithilfe der einschlägigen Arbeit von Möhler und Meyer aus dem Jahr 2014 gewinnen: In einem systematischen Review wurden dabei 31 deutsch- und englischsprachige qualitative und quantitative Studien (darunter 20 quantitative, 10 qualitative und eine Mixed-Method-Studie) zu entsprechenden Haltungen und Einstellungen der Pflegenden in akut- und langzeitstationären Settings analysiert.Footnote 315 Dabei konnte ganz übergeordnet herausgefunden werden, dass eine unkritische Haltung zu überwiegen scheint: „The nurses did not question the use of physical restraints in general, and it seems that nurses considered physical restraints to be a regular nursing intervention in geriatric care.“Footnote 316 Die Vorstellung, dass FeM zur gängigen pflegerischen Praxis gehören, ist dabei jedoch von verschiedenen überwiegend negativen Emotionen begleitet, die Pflegekräfte unter nicht zuletzt moralischen Druck setzen können. Dabei können die negativen Gefühle von Unwohlsein, Mitleid und Traurigkeit bis zu Frustration und Schuldgefühlen reichen, während in manchen Fällen auch neutrale oder positive Gefühle gegenüber der Anwendung von FeM ermittelt wurden.Footnote 317 Aus der Diskrepanz zwischen der empfundenen Notwendigkeit von FeM auf der einen und den negativen Gefühlen angesichts ihrer Anwendung auf der anderen Seite ergeben sich häufig innere moralische Konflikte. Allgemein scheint in solchen moralischen Konfliktsituationen jedoch die Annahme der (vermeintlichen) Erforderlichkeit der Maßnahme schwerer ins Gewicht zu fallen als die damit verbundene negative emotionale Betroffenheit:

In these situations, the perceived need for using physical restraints has a stronger influence on the decision of physical restraints use than the negative feelings. […] These conflicts were described in all of the studies; however, they did not lead to an alteration in the decision on physical restraints use. Nurses used strategies to cope with their moral conflicts instead.Footnote 318

Beim Umgang mit solchen moralischen Dilemmata zeichnen sich empirisch verschiedene Bewältigungsstrategien ab, wobei Möhler und Meyer festhalten, dass besonders Versuche dominieren, „to re-define the meaning of physical restraints by focussing on the expected benefit […] or the positive intention in using physical restraints rather than the restriction or the use […] against the resident’s or patient’s will“Footnote 319. Diese Strategie zeigt sich etwa daran, dass FeM von manchen Pflegekräften mithilfe von positiv konnotierten Begriffen als „enablers, supporters or alleviators“ interpretiert wurden.Footnote 320 Mit der Terminologie des Deutschen Ethikrates könnte man diesbezüglich davon sprechen, dass die Akteure den moralischen Druck, den sie verspüren, dadurch zu bewältigen versuchen, dass sie bei Maßnahmen des wohltätigen Zwangs den Fokus auf den Wohltätigkeits- statt auf den Zwangscharakter der Handlung legen.

Dass FeM häufig als Normalität gelten, dürfte darüber hinaus auch auf unzureichendes Wissen um alternative Handlungsstrategien und Mittel zurückzuführen sein.Footnote 321 Dies erscheint auch und besonders deswegen bedenklich, da die Effektivität von FeM alles andere als unumstritten ist und im wissenschaftlichen Diskurs zunehmend in Frage gestellt wird. Tatsächlich lässt sich in der Einstellung Pflegender keine vergleichbare Veränderung wie in der fachlichen Literatur erkennen, in der die Verwendung von FeM immer tiefergehender hinterfragt wird: Möhler und Meyer halten fest:

Most interestingly, nurses’ attitudes seem to be unchanged over time, as recent publications have reported results comparable to those that appeared in papers published 20 years ago. […] Although […] various international nursing guidelines and scientific publications recommend a restraint-free environment and physical restraints use only as a last resort, this was not reflected in nurses’ attitudes in studies published in the last ten years, which indicates that nurses consider physical restraints to be an ordinary nursing intervention.Footnote 322

Dass dieser Sachverhalt immer noch aktuell ist, lässt sich an einer deutschen Forschungsarbeit aus dem Jahr 2019 illustrieren, die zu dem ähnlichen Ergebnis kam:

[N]ursing staff still showed positive or uncritical attitudes towards using physical restraints to some extent despite clear evidence of the lack of effectiveness and the strong ethical implications of physical restraints against residents’ dignity and freedom […].Footnote 323

2.8.3 Charakteristika der (Pflege-)Einrichtung

Sind damit auf der Mikroebene Sorgeempfänger und Sorgende beschrieben, so soll auf der Makroebene der Einflussfaktor der (Pflege-)Einrichtung in den Blick genommen werden, da die institutionellen Rahmenbedingungen die Praxis um FeM wesentlich mitbeeinflussen.Footnote 324

Der bereits bezüglich der Einstellung von Pflegekräften angesprochene Umstand, dass FeM häufig als normale Maßnahme angesehen werden – es lässt sich von „normal part of resident care, matter of routine, common practice, inevitable practice or good practice“Footnote 325 sprechen – bleibt nicht auf die Individualebene beschränkt. Tatsächlich kann davon ausgegangen werden, dass sich hierin nicht nur eine individuelle Haltung ausdrückt, sondern auch eine kollektiv geprägte Pflegekultur der jeweiligen Einrichtung. Man kann an dieser Stelle geradezu von „traditions of the ward“Footnote 326 oder „unit culture“Footnote 327 sprechen bzw. mit einer bereits genannten vergleichenden ethnographischen Studie aus Norwegen die Bedeutung der „staff culture“Footnote 328 hervorheben. In derselben Studie wird die Bedeutung der Einrichtungsmerkmale entsprechend deutlich unterstrichen:

The use of different forms of restraint […] is not a matter of either resident characteristics or organisational characteristics, but both. The use of restraint can be explained by resident characteristics […] as well as organizational constraints such as resident mix, staff culture, location and available human resources. Consequently, the use of restraint can be explained as a dynamic and fluctuating interaction between these different factors, that is use of restraint is a matter of a combination of different factors influenced by the NHs’ [= nursing home’s] fluctuating social life.Footnote 329

Je nach konkreten institutionellen Gegebenheiten und Bedingungen in den jeweiligen Versorgungssettings (bzw. noch ausdifferenzierter in einzelnen Pflegeeinrichtungen) können sich verschiedene Organisations- und Pflegekulturen herausbilden, die die routinierte Anwendung von FeM unter Umständen begünstigen. Besonders im Hinblick auf Menschen mit Demenz, die etwa durch auffordernde Verhaltensweisen nicht in den routinierten Ablauf im Pflegealltag ‚passen‘, kann vermutet werden, dass in einer Einrichtung mit einer vorherrschenden „culture of ‘control‘“Footnote 330 eher zu FeM gegriffen wird. Man kann vermuten, dass sich in solchen Pflegekulturen häufig auch der von Hoffmann und Klie konstatierte Mangel an fachlicher Expertise und geeigneten Betreuungskonzepten sowie das Vorhandensein defizitorientierter Vorstellungen von pflegebedürftigen Menschen widerspiegelt. Diesbezüglich gilt es vonseiten der Einrichtungsleitung, im Rahmen des Qualitätsmanagements Verfahren zu etablieren, um in Frage kommende FeM auf ihre konkrete Erforderlichkeit zu prüfen.Footnote 331

Dass die Bedeutung von organisatorischen Einflussfaktoren zunehmend erkannt wird, belegt auch der Leitfaden des Bayerischen Landespflegeausschusses Verantwortungsvoller Umgang mit freiheitsentziehenden Maßnahmen in der Pflege aus dem Jahr 2015, der u. a. ausführliche Checklisten zur Etablierung einer reflektierten und möglichst FeM-freien Pflegekultur zur Verfügung stellt, die explizit auch die Organisations- und Leitungsebene thematisieren.Footnote 332 Der Leitfaden geht mit Blick auf FeM dabei auch von dem Ideal einer kooperativen multidisziplinären Pflegekultur aus, welche von besonderer Bedeutung ist, wie etwa in der Meta-Synthese von Kong, Choi und Evans hervorgehoben wird: Die Autoren hielten fest, dass die Nicht-Einbindung der Pflegekräfte in Entscheidungsprozesse sowie mangelnde Multidisziplinarität deutliche Hürden einer Reduktion von FeM darstellen können.Footnote 333

Nicht zuletzt wird in der Forschungsliteratur auch wiederholt der Einfluss personeller und zeitlicher Ressourcen als Einflussfaktor für die Anwendung von FeM angeführt. So fanden etwa Goethals, Dierckx de Casterlé und Gastmans in ihrer Studie heraus, dass „limited time and staff during evening and night shifts are circumstances that often lead to the use of physical restraint“Footnote 334. Interessanterweise bedeutet dies jedoch nicht direkt, dass die Anzahl an zur Verfügung stehendem Personal signifikant mit dem Einsatz von FeM assoziiert ist.Footnote 335 Umgekehrt bedeutet dies auch, dass nicht nachgewiesen werden konnte, „dass ein besserer Personalschlüssel automatisch zu einer Reduzierung von freiheitsentziehenden Maßnahmen führte“Footnote 336. Hoffmann und Klie geben weiterhin zu bedenken:

[Es] gibt […] große Unterschiede was die Häufigkeit von freiheitseinschränkenden und -entziehenden Maßnahmen in deutschen Einrichtungen anbelangt, ohne dass diese […] auf objektive Strukturmerkmale zurückgeführt werden können, wie etwa Personalausstattung oder Fachkräfteeinsatz. Es kommt ganz offensichtlich auf eine spezielle Konzeption, auf eine zielgruppenspezifische Qualifikation, aber auch auf […] Faktoren wie Haltungen und Einstellungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter insbesondere auf der Leitungsebene an.Footnote 337

Mit der hier deutlich hervorgehobenen Haltung der Leitungsebene als entscheidendes Charakteristikum der Pflegeeinrichtung ist ein durchaus wichtiger Punkt angesprochen, da nicht nur Handlungskonzepte und -anweisungen, sondern ganz konkret auch die Bereitstellung und Finanzierung von Hilfsmitteln zur Vermeidung von FeM in den Aufgabenbereich der Einrichtungsleitung fallen. In der empirischen Literatur zeigte sich, dass sowohl ein Mangel an alternativen Mitteln als auch ein Mangel an Unterstützung vonseiten des Managements die Reduktion von FeM verhindern können.Footnote 338

Zusammenfassend kann zu den Faktoren, die die Anwendung von FeM in der Praxis beeinflussen, festgehalten werden, dass sie in komplexen Wechselwirkungen auftreten, die sich in verschiedenen Bereichen je unterschiedlich darstellen und zu unterschiedlichen Entscheidungen bezüglich der jeweiligen pflegerischen Intervention führen können. Auf der Mikroebene konnte zunächst gezeigt werden, dass bestimmte Charakteristika von Sorgeempfängern – besonders eine kognitive Beeinträchtigung, das Frailty-Syndrom, eine Mobilitätseinschränkung sowie der Grad an Pflegebedürftigkeit – geradezu prädestinierend für das Erwägen bzw. Anwenden von FeM bei den Betroffenen sein können. Eine Fokusweitung auf die Pflegenden sowie darüber hinaus die (Pflege-)Einrichtung auf der Makroebene konnte sodann zeigen, dass es hier neben äußeren Faktoren auch und vor allem auf die innere Einstellung der Handelnden ankommt. Auch konnte aufgezeigt werden, dass dem Wissen der beteiligten Akteure bezüglich der Anwendung von FeM in der Praxis eine entscheidende Rolle zukommt. Wissen wiederum impliziert stets, dass sich der Wissende der Konsequenzen seines Handelns bewusst ist.

2.9 Folgen der Anwendung von FeM

Anhand der vielfältigen in der Pflegepraxis implizit und explizit nachweisbaren Begründungen und Einflussfaktoren von FeM sollte bereits deutlich geworden sein, dass diese häufig noch unreflektiert als alltägliche pflegerische Maßnahmen gesehen werden.Footnote 339 Dies kann auch dazu führen, dass bei den beteiligten Akteuren ein zu wenig reflektiertes Bewusstsein über die Folgen dieser Handlungen für Betroffene herrscht. Wie in Abschnitt 2.2 herausgestellt, handelt es sich jedoch bei FeM um eine spezielle Form von Gewalt in dem Sinne, dass sie in einer Handlung (oder Unterlassung) bestehen, durch die in einer Vertrauensbeziehung ältere Menschen aus fürsorglicher Absicht derart beeinflusst werden, dass sie ihre potenzielle Freiheit nicht verwirklichen können. Auf diese Weise können ihnen physischer Schaden, psychisches Leid oder Formen der pflegerischen und psychosozialen Vernachlässigung widerfahren. Im Folgenden sollen ausgehend von diesem Verständnis die möglichen Folgen der Anwendung von FeM aufgezeigt werden. Dabei zeigt sich, dass die verschiedenen Dimensionen von Gewalt, die hier unterschieden wurden, sich auch in der Forschung zu den Folgen von FeM wiederfinden: Die Übersichtsarbeit von Hamers und Huizing aus dem Jahr 2005 kategorisiert die Folgen von FeM in 1) körperliche, 2) psychische und 3) soziale und trägt diesbezügliche empirische Forschungsergebnisse zusammen.Footnote 340 Dabei kann ganz übergeordnet festgehalten werden, dass negative Auswirkungen sowohl mit kurzfristig als auch mit langfristig angewendeten FeM assoziiert sein können.Footnote 341 Im weiteren Verlauf des Abschnitts soll nun eine Übersicht über die möglichen Folgen von FeM gegeben werden, die sich an dieser Dreiteilung orientiert und dabei jeweils exemplarische Schwerpunkte setzt.

1) Als körperliche Folgen von FeM werden in der Literatur Stürze, Druckgeschwüre, Sarkopenie, Ausdauerverlust, Kontrakturen, Balance- und Koordinationsschwierigkeiten sowie (Stuhl- und Harn-)Inkontinenz angeführt.Footnote 342 Diese Konsequenzen lassen sich nach einer aktuellen Zusammenführung von Berzlanovich et al. mit Entzündungen, Infektionen, Thrombosen, Muskelatrophien, Verletzungen (z. B. Hautabschürfungen, Hämatome, Weichteilquetschungen, Nervenschädigungen, Frakturen) und einer Verschlechterung der Steh- und Gehfähigkeit ergänzen.Footnote 343 FeM gehen je nach Maßnahme mit einer mal mehr, mal weniger ausgeprägten Immobilisierung der Betroffenen einher. Dies ist besonders aufgrund der weitreichenden gesundheitlichen Folgen von Immobilität bedenklich, die Hauer und Bauer z. B. für Krankenhausaufenthalte wie folgt festhalten:

Die Wirkung der Immobilisation […] auf den Funktionszustand ist immens […]. Während jüngere Menschen auch bei vergleichsweise langen Immobilisationsphasen nur begrenzt Muskulatur abbauen, verlieren ältere Menschen mit stabilem Gesundheitszustand innerhalb von 10 Tagen Bettruhe bereits 12–14 % ihrer Beinkraft bei einem absoluten Verlust der Bein-Muskelmasse von mehr als 1 kg. Bei älteren akut erkrankten Krankenhauspatienten reicht eine dreitägige Hospitalisationsdauer aus, um vergleichbare Effekte zu verursachen. Der Verlust von 10–15 % an Muskulatur entspricht dabei dem alterungsbedingten Muskelabbau eines Jahrzehnts.Footnote 344

Spezifisch für pharmakologische Interventionen wie z. B. die herbeigeführte Sedierung verweist die Projektgruppe ReduFix auf Komplikationen wie Exsikkose und Pneumonie durch sedierungsbedingt reduzierte Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme sowie Atemexkursionen (darüber hinaus sei hier auf die bereits in Abschnitt 2.5 besprochenen Folgen von Psychopharmaka verwiesen).Footnote 345 Für die Antipsychotika-Therapie bei älteren Menschen im (nordamerikanischen) langzeitstationären Kontext ergab eine Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2015 u. a. Risiken wie Somnolenz, Hüftfrakturen, thrombotische und kardiovaskuläre Ereignisse, verlängerte Krankenhausaufenthalte sowie eine erhöhte Mortalität.Footnote 346 Aufgrund der besonderen Tragweite im Alter sei nachfolgend auf die Komplikation der Sturzereignisse im Zusammenhang mit FeM eingegangen.

Angesichts der Tatsache, dass die Sturzprophylaxe mitunter die häufigste Begründung für den Einsatz von FeM bei Menschen mit Demenz in professionellen Sorgebeziehungen darstellt (siehe Abschn. 2.7), erscheint es besonders problematisch, dass FeM wiederum selbst mit Stürzen assoziiert sind. Schon 2002 kam das Joanna Briggs Institute zu dem Ergebnis, dass

[w]hile restraints were used to prevent falls, restrained residents were at equal or greater risk of falling than unrestrained residents. Serious falls-related injury was also more common in restrained residents. For residents who were continuously restrained there was a greater risk of injury than for those residents who were subject to intermittent restraint. Finally, it appears the discontinuation of restraint reduces the risk of falls-related injury.Footnote 347

Für Fixierungen hielt die Projektgruppe ReduFix 2007 in Anlehnung an diese Ergebnisse fest, dass „nicht-fixierte Personen nicht häufiger stürzen als fixierte. Fixierte Personen sind im Vergleich zu nicht-fixierten Personen sogar öfter von schweren, sturzbedingten Verletzungen betroffen“Footnote 348. Umgekehrt führt bspw. die Reduktion bzw. der Verzicht auf mechanische FeM wie z. B. aufgestellte Bettgitter nicht zu einer erhöhten Anzahl an Sturzereignissen aus dem Bett.Footnote 349 Spätere Studien bestätigen dies:

The prevention of belt restraint and other types of physical restraint use in newly admitted residents in nursing homes seems to be attainable without causing an increase in psychoactive drug use, falls and fall-related injuries.Footnote 350

Eine systematische Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2013, die Sturzfaktoren von Menschen mit Demenz in der stationären Langzeitpflege erforschte, zeigte, dass z. B. psychotrope Medikamente und „physical restraints“ Sturzereignisse begünstigen.Footnote 351 Worauf diese Assoziation von FeM mit Sturzereignissen zurückzuführen ist, ist aufgrund dieser Datenlage jedoch nicht gesichert: Angedacht wird etwa die Möglichkeit, dass Sturzereignisse nur deshalb bei Personen, bei denen FeM Anwendung finden, gehäuft nachgewiesen werden, weil diese aufgrund ihrer körperlichen und kognitiven Verfassung ohnehin einer höheren Sturzgefahr ausgesetzt sind.Footnote 352 Genau so ist jedoch auch eine kausale Beziehung in Erwägung zu ziehen, bei der „restraint use is the reason for increased fall risk due to decreased walking ability and increased behavioral issues“Footnote 353. Mit der Leitlinie FEM ist sich der zweiten dieser Vermutungen anzuschließen, die den Zusammenhang auf „die Abnahme der Mobilität durch fehlende Übung und den Abbau von Muskelkraft und Gleichgewicht aufgrund der FEM-bedingten Immobilität“ zurückführt.Footnote 354 Vor dem Hintergrund der bereits zitierten Folgen einer Immobilisierung der Betroffenen erscheint diese Begründung umso plausibler.

Sturzereignisse sind wiederum mit nicht zu unterschätzenden Folgen für den Betroffenen verbunden: Nicht nur steigt mit zunehmendem Alter das Risiko, zu stürzen, sondern besonders auch die Gefahr, schwerwiegende physische und/oder psychische Sturzfolgen zu erleiden.Footnote 355 Nachweislich sind Stürze mit einem erhöhten Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko verbunden, was besonders für ältere Menschen gilt, die in Institutionen leben. Häufig können Stürze bei älteren Menschen zu Frakturen – allem voran Radius- und proximale Femurfrakturen – führen, die wiederum die Angewiesenheit auf pflegerische Unterstützung erhöhen.Footnote 356 Zusätzlich seien noch Prellungen, Quetschungen, Hautabschürfungen und Blutergüsse als häufige Sturzfolgen angeführt.Footnote 357 Für Sturzereignisse, die in der akutstationären Versorgung eine häufige Komplikation darstellen, halten Hauer und Bauer fest, dass diese mit einer deutlich verlängerten Hospitalisierung einhergehen.Footnote 358 Darüber hinaus befördert ein Sturzereignis an sich wiederum potenziell die Angst vor (weiteren) Stürzen und kann somit in eine Immobilisierung und Beschränkung des Aktionsradius der betroffenen Person münden. Es besteht die Gefahr, dass ältere Menschen nach einem Sturz das Vertrauen in eigene Fähigkeiten und Ressourcen verlieren und in der Konsequenz bewusst oder unbewusst sozial eingeschränkt werden.Footnote 359

In Extremfällen können die körperlichen Folgen von FeM – wie z. B. ein Sturzereignis – bis zum Tod der Betroffenen führen. Dies bleibt jedoch nicht auf mechanische Mittel der FeM beschränkt: So wurde bereits auf die erhöhte Mortalität von Menschen mit Demenz im Zusammenhang mit einer Neuroleptikatherapie hingewiesen (siehe Abschn. 2.5). In diesem Kontext sei ebenfalls auf eine Nutzen-Risiko-Darstellung verwiesen, die im Jahr 2009 von Banerjee für das britische Gesundheitsministerium aufgestellt wurde und in den Pflege-Report 2017 Eingang fand. Dabei wurde errechnet, dass ausgehend von einer Zahl von 1000 Menschen mit Demenz mit psychopathologischen Symptomen, die man über einen Zeitraum von drei Monate mit atypischen Neuroleptika therapierte, im Durchschnitt mit zehn zusätzlichen Todesfällen zu rechnen wäre. Hinzu kämen 18 zerebrovaskuläre Ereignisse wie Schlaganfälle – im Vergleich zu einer signifikanten Besserung, die etwa ein Zehntel bis ein Fünftel (91 bis 200) der Betroffenen erfahren würden. Auch Gehstörungen – die wiederum zu Sturzereignissen führen können – würden durch eine solche Therapie bei 58 bis 95 Personen befördert. Bei einer Verabreichung dieser Medikamente über einen Zeitraum von 2 Jahren wären gar 167 zusätzliche Todesfälle zu erwarten.Footnote 360

Besser erforscht ist der Zusammenhang von Mortalität und mechanischen FeM. In Bezug auf einige Publikationen der 90er Jahre kategorisierten etwa Evans, Wood und Lambert in ihrer systematischen Übersichtsarbeit die Todesfälle in direktem Zusammenhang mit aufgestellten Bettgittern. Dabei bildeten sich drei Konstellationen heraus, in denen Bettgitter in Einzelfällen zum Tod der Betroffenen führten: Erstens das Ersticken durch Einklemmung zwischen Bettgitter und Matratze mit dem Gesicht nach unten gerichtet, zweitens das Einklemmen im Bettgitter, während man sich noch im Bett befindet, und drittens das Einklemmen von Kopf oder Hüften bei dem Rutschen aus dem Bett.Footnote 361

Insbesondere Gurtfixierungssysteme, die weder sach- noch fachgerechtFootnote 362 verwendet werden, bergen schwerwiegende Verletzungen wie Hautabschürfungen, Hämatome, Weichteilquetschungen, Nervenschädigungen oder Frakturen – unter Umständen kann selbst der Tod durch Erstickung verursacht werden.Footnote 363 Das Institut für Rechtsmedizin München führte über einen Zeitraum von 14 Jahren (1997–2010) 27.353 Obduktionen an Verstorbenen durch. Es konnte festgestellt werden, dass insgesamt 26 dieser Menschen am Lebensende durch ein Gurtsystem fixiert waren, was Anlass zu einer retrospektiven Analyse auf einen möglichen Zusammenhang zwischen Fixierung und Todeseintritt gab. Bei 22 Menschen, die während der Fixierungsmaßnahme nicht unter dauernder Beobachtung standen, konnte der Tod allein aufgrund des Fixierungssystems festgestellt werden. Am häufigsten war die Todesursache dabei eine Strangulation (bei 11 Personen), gefolgt von einer Thoraxkompression, die bei acht Personen und der Kopftieflage, die bei drei Personen festgestellt werden konnte.Footnote 364 Die 22 Betroffenen waren im Durchschnitt etwa 76 Jahre alt, während sechs Personen davon über 90 waren. Mit 15 Personen waren mehr als zwei Drittel der Verunglückten an einer Demenz erkrankt. Was das konkrete pflegerische Setting betrifft, wohnten 16 der verstorbenen Personen in einem Altenpflegeheim. Weitere fünf Betroffene befanden sich in akutstationärer Behandlung; eine Person verstarb in der eigenen Häuslichkeit. Vor dem Hintergrund der bereits diskutierten Begründungen für FeM verwundert es kaum, dass die Fixiersysteme bei 18 Personen aufgrund des Sturzrisikos verwendet wurden; bei jeweils zwei Personen wurde der Fixiergurt mit einer Weg- bzw. Hinlauftendenz oder der Gefahr einer Selbstschädigung begründet.Footnote 365 Aufschlussreich ist auch die Zeitspanne zwischen dem letzten Lebendkontakt und der Auffindung des Verstorbenen; dieser reichte von kurzen 15 Minuten bis zu schwer nachvollziehbaren knappen drei Tagen (im Rahmen der häuslichen Pflege).Footnote 366 Mit Rekurs auf eine Untersuchung von Miles und IrvineFootnote 367 hält das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) fest, dass bereits ein unbeobachteter Zeitraum ab 10 Minuten ausreicht, dass durch eine Gurtfixierung der Tod eines Menschen durch Strangulation herbeigeführt werden kann.Footnote 368 In diesem Kontext betont auch die rechtliche Kommentarliteratur die Erforderlichkeit der stetigen pflegerischen Fachaufsicht bei der Anwendung mechanischer Maßnahmen:

Dies gilt insbes[ondere] für dauernde Sitzwachen bei körpernahen Fixierungen. Denn Fixierungen mit handelsübl[ichen] Fixiergurten sind schon nach den eigenen Sicherheitsbestimmungen der Hersteller nur dann zulässig, wenn eine ständige visuelle Aufsicht des Fixierungsgeschehens gewährleistet ist.Footnote 369

Eine systematische Übersichtarbeit aus dem Jahr 2018, die sich der internationalen Fachliteratur zu Todesfällen in Verbindung mit FeM widmet, kommt – sowohl im Hinblick auf die Todesumstände als auch bezüglich der Rolle pflegerischer Aufsicht – zu vergleichbaren Ergebnissen.Footnote 370 Hinsichtlich der Todesfälle durch FeM wie z. B. Fixiergurte ist nicht zuletzt noch darauf hinzuweisen, dass eine wesentlich höhere Dunkelziffer solcher Fälle nicht ausgeschlossen werden kann. So weist Hartwig darauf hin, dass es nicht immer möglich ist, den Zusammenhang zwischen einer Fixierungsmaßnahme und dem Tod einer Person herzustellen, da dies einer genauen Kenntnis der lokalen Gegebenheiten sowie der Auffindesituation bedarf, über die Gerichtsmediziner nicht immer verfügen.Footnote 371

2) Auch auf der psychischen Ebene, die sich ohnehin aufgrund der Leiblichkeit des Menschen kaum von der physischen scheiden lässt, sind FeM mit zahlreichen verschiedenen Konsequenzen assoziiert. Die Übersichtsarbeit von Hamers und Huizing führt als psychische Folgen u. a. negative Gefühle wie Unwohlsein und Teilnahmslosigkeit sowie depressive Verstimmungen und aggressives Verhalten auf.Footnote 372 Weiterhin werden Stress, Angst- und (gesteigerte) Unruhezustände, zunehmende Desorientierung gepaart mit kognitiver Verschlechterung, Stimmungsschwankungen, Kränkung, Frustration, Misstrauen gegenüber den Pflegenden, Einsamkeit, Gefühle des Ausgeliefertseins, erhöhter Unterstützungsbedarf in der Alltagsbewältigung, Passivität und Resignation berichtet.Footnote 373 Nicht zuletzt können FeM besonders in akutstationären Versorgungsformen auch zu der Entstehung oder Verschlimmerung eines Delirs beitragen. Beispielsweise stellen das höhere Lebensalter, das Frailty-Syndrom, Multimorbidität, Polypharmazie, die Einnahme von Benzodiazepinen sowie eine Demenzerkrankung Prädispositionsfaktoren dar, die bei dem Zusammenwirken mit auslösenden Noxen zu Delirien führen können.Footnote 374 Zu diesen Auslösern zählt neben einem chirurgischen Eingriff, dem Aufenthalt auf einer Intensivstation und der Einnahme anticholinerger und psychoaktiv wirksamer Medikamente, auch die Anwendung „freiheitseinschränkende[r] Maßnahmen“Footnote 375 sowie darunter besonders die „Anwendung von Fixierungsmaßnahmen“Footnote 376.Footnote 377 Im Zusammenhang mit Delirien stellen mechanische und pharmakologische FeM interessanterweise oft nicht nur eine Antwort auf, sondern auch eine begünstigende Ursache von deliranten Zuständen dar:Footnote 378

One must guard against perceiving the continued need for life-sustaining treatment and the use of restraints as being independent factors, because that misconception can lead to a vicious cycle. For example, a patient who has persistent delirium from polypharmacy and needs artificial nutrition and hydration which perpetuates the need for continued chemical and physical restraints. Correcting the polypharmacy and the restraint as a potential cause of the delirium can break the cycle.Footnote 379

Erneut lässt sich in Bezug auf die Anwendung von FeM somit ein potenzieller Teufelskreis nachzeichnen, denn

[a]usgerechnet dasjenige Mittel, das im Klinikalltag häufig als Intervention bei Delirien Anwendung findet, begünstigt die Entstehung derselben, kann bereits bestehende Delirzustände verschlimmern und ist mit einer erhöhten Verletzungsgefahr assoziiert.Footnote 380

Aufgrund dieses Risikoprofils der Anwendung von FeM in Bezug auf die – vor allem im akutstationären Bereich verbreitete – Komplikation des Delirs stellen diese hier aus pflegefachlicher Sicht kaum eine adäquate Intervention bei Menschen mit Demenz dar. Mit den somit angesprochenen psychischen Folgen von FeM ist zugleich deutlich geworden, dass sich körperliche und seelische Aspekte hier nicht immer klar trennen lassen und man insofern bei Phänomenen wie dem Delir von psychophysischen bzw. leiblichen Phänomenen sprechen kann. Zugleich klangen mit Gefühlen des Ausgeliefertseins und der Passivität bereits soziale Dimensionen der Thematik an.

3) Weitet man nun den Fokus und bezieht auch soziale Folgen von FeM mit ein, so fällt zunächst auf, dass solche Maßnahmen bestehende Abhängigkeiten und Beeinträchtigungen der zwischenmenschlichen Kommunikationsfähigkeit intensivieren können. Dies beginnt bereits mit einer nachweislich längeren Hospitalisierungsdauer von Patienten mit FeM im klinischen Kontext,Footnote 381 die zu einer zunehmenden Isolation von dem bisherigen sozialen Gefüge – sei es im familiären Umfeld oder in einer Einrichtung der stationären Langzeitpflege – führen kann. Auch innerhalb der jeweiligen Institution können FeM sozial isolierend wirken; in der empirischen Forschung wurden wiederholt Phänomene wie „decline in social behaviour“Footnote 382 und „impaired social functioning“Footnote 383 in Verbindung mit FeM nachgewiesen. Personen, deren Bewegungsfreiheit eingeschränkt wird – gleich, ob durch mechanische oder (psycho-)pharmakologische Interventionen – haben weniger Möglichkeiten der Teilhabe an sozialen Begegnungen z. B. mit anderen Bewohnern der Pflegeeinrichtung.Footnote 384

Eine Freiheitseinschränkung kann darüber hinaus das Vertrauensverhältnis von Pflegenden und Pflegeempfängern in professionellen Sorgebeziehungen berühren: Als Zwangs- und Gewaltmaßnahme kann, wie die Überblicksarbeit von Hamers und Huizing herausstellt, eine FeM bei den Betroffenen zu „demoralization“ und „humiliation feelings of low self worth“Footnote 385 führen. Um das Phänomen der Demütigung im Zusammenhang mit FeM genauer zu beschreiben, bietet sich der Rekurs auf den israelischen Philosophen Avishai Margalit an, der in seiner Monographie Politik der Würde (Originaltitel The Decent Society) eine umfassende Analyse institutioneller Demütigung vornahm.Footnote 386 Ganz übergeordnet versteht Margalit Demütigung als „alle Verhaltensformen und Verhältnisse, die einer Person einen rationalen Grund geben, sich in ihrer Selbstachtung verletzt zu sehen“Footnote 387 und betont dabei, dass es sich bei diesen demütigenden Verhältnissen zwar um menschengemachte, jedoch nicht immer um intendierte handeln muss.Footnote 388 Es kann also Situationen der Demütigung geben, ohne dass eine solche dabei von dem einzelnen Akteur beabsichtigt ist, weswegen Margalit auch unterstreicht, dass es weniger um die Identifikation einzelner entwürdigender bzw. demütigender Akte und Akteure, sondern vielmehr um die Identifikation demütigender Situationen gehen sollte.Footnote 389 Für die Anwendung von FeM ist dabei sogar davon auszugehen, dass diese in den meisten Fällen aus einem auf die Vulnerabilität pflegebedürftiger Menschen antwortenden fürsorglichen Schutzgedanken heraus Anwendung finden (ohne dass damit eine Form der Demütigung angezielt wäre). Mit Verweis auf Margalit weist Kruse auf die Risiken einer solchen Haltung hin:

Dieses Erkennen und Anerkennen [der Verletzlichkeit älterer Menschen] darf aber nicht in eine ‚Demütigung‘ münden, etwa der Art, dass man alten Menschen mit einem falsch verstandenen Fürsorge- oder sogar Barmherzigkeitsmotiv begegnet, dass man ihnen die Fähigkeit und den Willen zum selbstständigen und selbstverantwortlichen Leben abspricht […]. Wir neigen dazu, gerade Menschen im hohen Lebensalter übermäßig zu behüten und zu beschützen, zu reglementieren, mithin Freiheit zu nehmen.Footnote 390

Von den verschiedenen „Varianten“ der Demütigung, die Margalit unterscheidet, ist im Kontext von FeM vor allem die Kategorie der „Handlungen, die zum Verlust der Selbstkontrolle führen oder diesen verdeutlichen“Footnote 391 relevant. An der Formulierung Margalits fällt auf, dass nicht nur solche Handlungen bzw. Situationen angesprochen sind, in denen eine vorhandene Fähigkeit zur Selbstkontrolle beschnitten wird, sondern auch solche, in denen ein Verlust an Selbstkontrolle verdeutlicht, d. h. sozusagen symbolisch zum Ausdruck gebracht wird. Demütigung kann entsprechend darin bestehen, dass „man die Freiheit eines anderen beschneidet und ihm mit entsprechenden Gesten deutlich macht, daß er die Kontrolle über sich weitgehend verloren hat“Footnote 392. Vergleicht man die Ruhigstellung mithilfe eines Psychopharmakons, die dem Betroffenen die Selbstkontrolle sozusagen direkt zu nehmen vermag, mit einer mechanischen FeM wie z. B. einer Sitzhose im Rollstuhl, die zwar die grundsätzliche Selbstkontrolle intakt lässt, sie jedoch an ihrer tatsächlichen Ausübung hindert, so können somit beide unter Umständen demütigend für den Betroffenen wirken. Es ist – wie Selbstaussagen Betroffener illustrieren – oft auch und besonders die symbolische Dimension einer Verdeutlichung der beeinträchtigten Selbstkontrolle, die von Menschen in Sorgebeziehungen als sozial ausschließend und demütigend empfunden wird.Footnote 393

Den potenziellen Folgen, die mit der Anwendung von FeM assoziiert sind, eignet – wie durch die obigen Ausführungen deutlich wurde – eine besondere Vielschichtigkeit und Interdependenz. Ebenso wie der betroffene Mensch ein physisches, psychisches und soziales Wesen ist, ist er von FeM auch nicht nur in einer dieser Hinsichten betroffen: FeM betreffen den Menschen als Ganzen. Das ethisch-fachliche Gebot kann an dieser Stelle also nur darin bestehen, über unmittelbar körperliche Folgen und Risiken hinaus auch psychische und soziale Auswirkungen von FeM zu reflektieren. Auch wird deutlich, dass der ethische ultima-ratio-Charakter von FeM nicht nur thetisch behauptet werden kann, sondern seine Begründung in gewisser Weise auch unmittelbar aus den weitreichenden Folgen von FeM bezieht. Ist damit ein Überblick über die Tragweite der Problematik gegeben, gilt es in einem nächsten Schritt danach zu fragen, ob und auf welche Weise FeM durch alternative Handlungskonzepte vermieden werden können.

2.10 Interventionen zur Vermeidung von FeM

Die Erkenntnisse der vorangegangenen Abschnitte veranschaulichen, dass FeM verschiedener Formen in der Pflege und Versorgung von Menschen mit Demenz weite Verbreitung gefunden haben und häufig als erstes Mittel der Wahl gelten,Footnote 394 obwohl ihre Effektivität alles andere als gesichert ist und nachweislich diverse negative Folgen mit FeM assoziiert sein können. Dieser Praxis steht dabei stets die ethische (und rechtliche) Forderung gegenüber, FeM lediglich als angemessene und verhältnismäßige ultima ratio anzuwenden. Eine solche Situation drängt von sich aus zu der Suche nach Interventionen zur Vermeidung von FeM, die diesem Anspruch gerecht werden können – angefangen bei allgemeinen Alternativen zur Vermeidung oder Reduktion von FeM bis hin zu konkreten Hilfsmitteln, die an die Stelle von FeM treten können.Footnote 395

Dabei lässt sich ganz übergeordnet die Faustregel formulieren, dass wiederum der Einzelfall bzw. die einzelne Maßnahme bestimmend ist: Dies gilt bereits bei FeM selbst, für die rechtlich zählt, dass die Frage, „[w]elche konkreten Maßnahmen als freiheitsentziehende Maßnahmen zu charakterisieren sind, […] stark vom Einzelfall abhängig [ist]“Footnote 396, was sich wiederum ethisch etwa in der Definition des Deutschen Ethikrates widerspiegelt, die bewusst allgemein von „[j]edwede[n] Maßnahmen, die eine Person von der freien Körperbewegung abhalten und/ oder vom normalen Zugang zu ihrem Körper“Footnote 397 spricht. Dasselbe trifft dementsprechend auch für Alternativen von FeM zu, die sich ebenso der Verobjektivierung entziehen: Es wäre zu kurz gegriffen, etwa spezifische mechanische Hilfsmittel, wie z. B. Alarmsysteme, schlichtweg zu alternativen Mitteln von FeM zu erklären, da es auch hier auf die Art und Weise von deren Verwendung und deren Wirkung ankommt. In diesem Sinne merkt die Leitlinie FEM an:

[D]er Einsatz bestimmter Hilfsmittel [kann] auch eine FEM sein. Ein Niedrigbett, das beispielsweise tief gestellt wird, damit eine Bewohnerin nicht mehr aufstehen kann oder eine Sensormatte, deren Signal genutzt wird um eine Bewohnerin gegen ihren Willen am Herumlaufen zu hindern, sind solche Fälle.Footnote 398

Die Suche nach alternativen Maßnahmen darf also nicht dazu führen, dass lediglich neue, nur scheinbar mildere Formen der Freiheitseinschränkung gewählt werden, vielmehr sollte dabei das Ziel leitend sein, bei möglichst weitgehender Ermöglichung und Wahrung der Freiheit einen vergleichbaren oder höheren Schutz der Betroffenen zu gewährleisten.Footnote 399 Um dies zu garantieren, bedarf es ganz grundlegend einer Kenntnis und eines Bewusstseins darüber, unter welchen Umständen Maßnahmen als FeM fungieren und wie diese von Alternativen abzugrenzen sind. Wiederholt wurde in der Forschung darauf hingewiesen, dass ein zu enges Verständnis von FeM, z. B. ein solches, das lediglich Fixiergurte als Mittel zur Freiheitseinschränkung sieht, dazu führen kann, dass erstens nicht alle FeM als solche erkannt werden und zweitens aus diesem Grund auch keine Alternativen erwogen werden.Footnote 400 Auch in dieser Hinsicht kommt dem Wissen der beteiligten Akteure – allem voran der Pflegefachpersonen – eine zentrale Rolle zu.

Es besteht fachwissenschaftlicher Konsens, dass „die beste Alternative zum Einsatz von FEM deren Nichtanwendung und die Suche nach spezifischen Lösungen für die zu Grunde liegenden Probleme“Footnote 401 ist. Dass die Option der Nichtanwendung für viele Pflegekräfte nicht in Frage zu kommen scheint, dürfte nicht nur auf die bereits diskutierten Begründungen (siehe Abschn. 2.7) und Einflussfaktoren (siehe Abschn. 2.8) zurückzuführen sein, sondern letztlich auch auf die verbreitete Befürchtung, zur Verantwortung gezogen zu werden, wenn Pflegeempfänger bei Nichtanwendung von FeM zu Schaden kommen.Footnote 402 Dieses ernstzunehmende Problem, das über die rein rechtliche Komponente hinaus auch eine ethische Dilemmasituation bezeichnet, wurde vom Deutschen Ethikrat wie folgt dargelegt:

In Situationen, in denen es […] um die Entscheidung für oder gegen die Selbstbestimmung des pflegebedürftigen Menschen geht, spielt häufig die Sorge eine Rolle, sich an dem anvertrauten Menschen wegen mangelnder Fürsorge schuldig zu machen. Bei Pflegefachpersonen besteht zudem die Furcht, dafür verantwortlich gemacht zu werden, wenn ein pflegebedürftiger Mensch zum Beispiel durch einen Sturz Schaden nimmt, der durch ein Bettgitter hätte verhindert werden können. Dadurch kann es zur Anwendung von freiheitsentziehenden Maßnahmen oder zwangsweise durchgesetzten Pflegehandlungen kommen.Footnote 403

Auch wenn diese Sorge zunächst verständlich erscheint, so darf sie im pflegerischen Alltag nicht so bestimmend werden, dass Freiheitsräume zunehmend verkleinert werden. Klie weist ausdrücklich darauf hin, dass es hierfür auch rechtlich keine Rechtfertigung gibt: So besteht etwa – auch wenn dies in Pflegeeinrichtungen häufig so empfunden wird –Footnote 404 keine Aufsichtspflicht gemäß § 832 BGBFootnote 405 und „[d]ass man sich immer wieder auf sie beruft, macht eher deutlich, welche Grundhaltungen für viele Heime und Pflegekräfte prägend sind“Footnote 406. Auch hier bestätigt sich wieder die Bedeutung der Einstellung beteiligter Akteure.

Statt dieser vermeintlichen Aufsichtspflicht, die als Begründung für die Kontrolle des Verhaltens von Pflegeempfängern herangezogen wird, besteht im Sinne einer ethisch-fachlich fundierten Versorgungspraxis vielmehr die Pflicht, das Pflegehandeln nach dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse auszurichten. Pflegerische Verantwortlichkeit ist also daran zu messen, „ob die Pflegekraft bei der Durchführung der jeweiligen Maßnahme/Entscheidung den fachlichen Standard beachtet und wenn nicht, in welchem Ausmaß sie sich von diesem entfernt hat“Footnote 407. Am Beispiel der Verhinderung von Sturzereignissen, die als eine der häufigsten Begründungen für die Anwendung von FeM zählt, würde dies bedeuten, dass Haftungsfragen etwa an die Einhaltung des Expertenstandards Sturzprophylaxe in der Pflege geknüpft sind. Insofern dieser FeM jedoch ausdrücklich als Risikofaktor für und nicht als Mittel zu Vermeidung von Sturzereignissen benennt,Footnote 408 stellt die Anwendung einer FeM in diesem Fall tatsächlich das Abweichen vom fachlichen Standard dar. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass nicht nur beim Unterlassen angemessener, sondern auch beim Anwenden unangemessener Maßnahmen ein Haftungsrisiko besteht:Footnote 409

Ein Haftungsrisiko besteht nicht nur dann, wenn man eine Maßnahme, die geboten ist um einen Schaden zu vermeiden, unterlässt, sondern auch […], wenn ich eine Maßnahme zur Risikovermeidung wähle, die unverhältnismäßig und rechtswidrig in die Rechte von Betroffenen eingreift. So besteht ein Haftungsrisiko, z. B. […] bei Aufstellen der Bettgitter ohne Berechtigung.Footnote 410

Die Aspekte Risikovermeidung und Risikomanagement sind somit zentral für die Frage der Haftung und besonders für die fachliche Entscheidungsfindung, ob auf eine FeM verzichtet werden darf oder vielleicht sogar sollte. Erhellend sind auch die Ausführungen Klies in diesem Kontext, der gleichfalls eine gewisse Risikokultur anspricht, die es vor allem im Kontext der Demenz in Pflegeeinrichtungen zu etablieren gilt:

[M]an [ist] verantwortlich für eine fachgerechte Begleitung und Betreuung, für eine fundierte Risikoeinschätzung. Aber eine Aufsichtspflicht gibt es grundsätzlich nicht. […] Es gibt auch ein Recht auf Risiko, ein mitverantwortetes Risiko. Und überwiegend verkannt werden die vielen Risiken, die mit dem Einsatz von freiheitsentziehenden Maßnahmen verbunden sind […]. Werden fachliche Standards eingehalten, sind fachlich begründete Risikoeinschätzungen vorhanden, so hat ein Heim, so haben Pflegekräfte haftungsrechtlich nichts zu befürchten – notfalls tritt eine Haftpflichtversicherung ein.Footnote 411

Ein gewisses Grundrisiko etwa in Bezug auf Sturzereignisse gilt es letztlich – das soll die Rede von einem „Recht auf Risiko“ in diesem Zusammenhang zum Ausdruck bringen – mitzuverantworten, zu ertragen bzw. zuzulassen, da dieses in der Bewegungsfreiheit der Person implizit ist. Mit Recht spricht Klie außerdem davon, dass in einer Nutzen-Risiko-Abwägung die Risiken von FeM selbst ausgeblendet werden. Eine solche Versorgungspraxis verwundert, wenn man sich die Risiken von FeM – man denke an mechanische Maßnahmen, aber auch an pharmakologische Interventionen – vor Augen führt (siehe Abschn. 2.9). Bei der Vermeidung von FeM und der Suche nach alternativen Maßnahmen gilt es daher, die verschiedenen Risiken einer Situation abzuwägen und dabei mit in Erwägung zu ziehen, welche Risiken mitverantwortet und zugelassen werden können, um die Freiheit der Person möglichst weitgehend zu wahren.

Dass sich FeM reduzieren lassen, ohne dass dabei zu große Risiken für die Betroffenen zu befürchten wären, konnte in den vergangenen Jahrzehnten in diversen nationalen sowie internationalen Studien nachgewiesen werden. Vor diesem Hintergrund und auch vor dem Hintergrund möglicher Interventionen zur Vermeidung von FeM soll an dieser Stelle das in dieser Arbeit bereits häufig herangezogene Forschungsprojekt ReduFixFootnote 412 näher betrachtet werden. Dieses wurde in deutschen Einrichtungen der Altenpflege in Baden-Württemberg, Bayern und Sachsen durchgeführt und hatte zum Ziel, sowohl die Anzahl als auch die Dauer von körpernahen Fixierungsmaßnahmen in denselben langfristig zu reduzieren, ohne dass im Gegenzug Sturzereignisse, Verhaltensauffälligkeiten oder eine potenziell schädliche Psychopharmakaverabreichung zunehmen. Auch wenn die nachfolgenden Ergebnisse bzw. Empfehlungen von ReduFix zunächst im Heimbereich entwickelt wurden, betonte die Projektgruppe deren Geltung und Anwendbarkeit gleichermaßen für andere Versorgungsbereiche.Footnote 413

Die ReduFix-Intervention bestand dabei konkret aus einem Bündel an Maßnahmen – angefangen bei pflegewissenschaftlichen Schulungen und der Vermittlung gerontopsychiatrischen Fachwissens für den Umgang mit aufforderndem Verhalten über juristische Beratung bis hin zu der Bereitstellung von Hilfsmitteln wie Sensorsystemen, Hüftprotektorenhosen und „Antirutsch-Hausschuhstrümpfen“.Footnote 414 Tatsächlich zeitigte die Intervention großen Erfolg, da es u. a. binnen dreier Monate gelang, bei jedem fünften der betroffenen Pflegeempfänger die jeweiligen FeM zu beenden oder deutlich in ihrer Dauer zu verkürzen, ohne dass Verletzungen oder Ruhigstellungen durch Psychopharmaka zunahmen.Footnote 415 Besonders hebt die Projektgruppe neben der hohen Akzeptanz unter Pflegenden auch die Reaktion der betroffenen pflegebedürftigen Menschen hervor, denn „diese reagierten auf die Intervention – auf diese ‚Entfesselung‘ – positiv, mit weniger Verhaltensstörungen und einer Besserung der psychischen Verfassung“Footnote 416. Nach wie vor trägt ReduFix dazu bei, FeM wie z. B. Fixierungen zu reduzieren:

Gute Pflegeheime machen sich inzwischen dafür stark, ein fixierungsfreies Heim zu werden. In Baden-Baden und Rastatt hat man sich mit Unterstützung von Stadt und Landkreis auf den Weg gemacht, dass alle Heime fixierungsfrei werden. In der konsequenten Umsetzung von ReduFix-Vorgaben lässt sich dieser Weg in der Regel erfolgreich einschlagen.Footnote 417

Mögliche alternative Ansätze, um die Anwendung von FeM bei einer sturzbedingten Verletzungsgefahr zu umgehen, lassen sich mit den Erkenntnissen aus dem Projekt ReduFix in drei Interventionsebenen abbilden, die als „Ideensammlung“Footnote 418 auf der Suche nach Alternativen fungieren können:

  1. 1.

    Umgebungsebene

    1. 1.

      a Umgebungsebene – Milieu

    2. 2.

      b Umgebungsebene – baulich

  2. 2.

    Ebene der Pflegekräfte

  3. 3.

    BewohnerebeneFootnote 419

1) Im Rahmen der Umgebungsebene gilt es, ein angemessenes und sicheres Umfeld zu schaffen, das den Bedürfnissen von Menschen mit Demenz gerecht wird. Diese Ebene unterteilt sich dabei genauer in die Subebenen des Milieus und der baulichen Umgebung: Auf der 1. a) Milieuebene sollte zunächst sichergestellt werden, dass pflegebedürftige Menschen und hier vor allem Menschen mit Demenz in einem psychosozialen Umfeld leben können, das ihnen und ihren Bedürfnissen angemessen ist. Zu nennen ist hier u. a. ein „wertschätzend-akzeptierende[s] und empathische[s]“Footnote 420 Milieu, das sich auch in der Kommunikation mit den pflegebedürftigen Menschen sowie in dem Angebot sinnvoller Beschäftigungsmöglichkeiten ausdrückt. Auf der 1. b) baulichen Umgebungsebene sollte sichergestellt werden, dass das Wohnumfeld die betroffenen Menschen angemessen ist: Dies umfasst die Umgebungsanpassung sowie die Bereitstellung von technischen und elektronischen Hilfsmitteln.Footnote 421 2) Die Ebene der Pflegekräfte nimmt solche Interventionen in den Blick, die sowohl die Haltung der Pflegenden als auch die Organisation der Einrichtung so strukturieren, dass eine ganzheitliche, bedürfnis- und personenorientierte Pflege und Betreuung ermöglicht werden kann.Footnote 422 3) Mit der Bewohnerebene sind schließlich alle Interventionen angesprochen, die individuell abgestimmt auf die Erhaltung und Förderung der Freiheit und Autonomie der pflegebedürftigen Person abzielen.Footnote 423

Geht es weiterhin um die konkrete Etablierung dieser Interventionen zur Reduzierung von FeM, so stellt die Projektgruppe einen „[m]ultidisziplinäre[n] Entscheidungsprozess in fünf Schritten“ vor, der einige zu berücksichtigende prozessuale Aspekte umfasst. Dieser Prozess, der sich in vielen Einrichtungen bewährt hat,Footnote 424 sei hier kurz dargestellt:

  1. 1.

    Problemanalyse und Zielsetzung

  2. 2.

    Einschätzung der Alternativen

  3. 3.

    Entwicklung eines Maßnahmenplans und Treffen der Entscheidung

  4. 4.

    Umsetzen der Maßnahme

  5. 5.

    Beobachtung und EvaluationFootnote 425

Es soll an dieser Stelle nicht auf alle Einzelschritte dieses Entscheidungsprozesses im Detail eingegangen werden, zumal viele der angesprochenen Fragen nur im Einzelfall sinnvoll zu stellen und zu beantworten sind. Stattdessen soll im weiteren Verlauf dieses Kapitels besonders die in Schritt 2 angesprochene Einschätzung der Alternativen fokussiert werden. Diese können mithilfe von ReduFix nicht nur in die drei dargelegten Ebenen unterschieden werden, sondern auch in drei Kategorien, die im Folgenden detaillierter dargelegt und um weitere Informationen und Beispiele aus der Literatur ergänzt werden sollen: Nach einer Kategorisierung Bredthauers,Footnote 426 die auch von Hoffmann und KlieFootnote 427 übernommen wird, lassen sich die Interventionen zur Vermeidung von FeM in pflegekonzeptuelle bzw. organisatorische Maßnahmen, Leitlinien und Standards (Abschn. 2.10.1), baulich-architektonische Alternativen (Abschn. 2.10.2) sowie technische Alternativen (Abschn. 2.10.3) untergliedern.

2.10.1 Konzeptuelle bzw. organisatorische Maßnahmen, Leitlinien und Standards

Mit pflegekonzeptuellen bzw. organisatorischen Maßnahmen sind all jene Interventionen angesprochen, die bei den Kompetenzen der Pflegenden ansetzen und diese zu erweitern beabsichtigen, um eine möglichst adäquate bzw. in diesem Fall möglichst FeM-freie Pflege- und Versorgungspraxis zu etablieren.Footnote 428 Dabei trägt eine Herangehensweise auf organisationaler Ebene dem Umstand Rechnung, dass die Vermeidung bzw. Reduktion von FeM nicht nur die Aufgabe einzelner Pflegefachpersonen ist, sondern auch eines umfassenden Einstellungswandels, einer ethischen Reflexionskultur sowie innovativer Herangehensweisen in den prozeduralen Abläufen und kommunikativen Prozessen bedarf.Footnote 429 Zu dieser Kategorie gehören daher auch übergeordnete Leitlinien und Standards, die die Thematik von FeM mittelbar oder unmittelbar betreffen,Footnote 430 insofern – wie der Deutsche Ethikrat bezüglich wohltätigen Zwangs hervorhebt – „[p]rofessionelles Sorgehandeln […] fachlichen Qualitätsstandards genügen [muss], das heißt, die jeweilige Handlung muss fachlich angemessen sein. Im Falle von Zwangsmaßnahmen muss auch die zwangsweise Durchführung fachlich angemessen sein“Footnote 431. Exemplarisch genannt seien auf nationaler Ebene (und in Ergänzung zu den Ausführungen Hoffmanns und Klies) folgende Leitlinien, Standards und andere Publikationen:

  • die Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen von 2006Footnote 432

  • der Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege von 2006 bzw. 2013Footnote 433

  • die Leitlinie FEM in ihrer aktualisierten Form aus dem Jahr 2015Footnote 434

  • der Leitfaden Verantwortungsvoller Umgang mit freiheitsentziehenden Maßnahmen in der Pflege des Bayerischen Landespflegeausschusses von 2015Footnote 435

  • die S3-Leitlinie Demenzen von 2016Footnote 436

  • die Leitlinie Delir aus dem Jahr 2017Footnote 437

  • der Expertenstandard Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz von 2018Footnote 438

  • die Stellungnahmen des Deutschen Ethikrats zum Thema Demenz und Selbstbestimmung aus dem Jahr 2012Footnote 439 sowie zur Thematik des wohltätigen Zwangs in professionellen Sorgebeziehungen aus dem Jahr 2018Footnote 440

  • der Praxisleitfaden zum Aufbau demenzsensibler Krankenhäuser von 2019Footnote 441

  • die Grundsatzstellungnahme Menschen mit Demenz des MDS von 2019Footnote 442

  • die S2k-Leitlinie Einwilligung von Menschen mit Demenz in medizinische Maßnahmen von 2020Footnote 443

Über diese Grundsätze, Standards, Stellungnahmen, Leitlinien und Leitfäden hinaus sind eine Reihe pflegekonzeptueller bzw. organisatorischer Interventionen und Maßnahmen anzuführen, die im Folgenden anhand ausgewählter Beispiele vorgestellt werden sollen. Ganz übergeordnet lässt sich dabei Evans und Cotter folgen, die settingübergreifend festhalten, dass „there are two keys to avoiding restraints in this population: understanding, preventing, and responding to a patient’s behaviors and working toward organizational change, regardless of setting“Footnote 444. Konkret bedeutet dies, dass sich Interventionen zur Vermeidung von FeM in gewisser Weise als Negativfolie derjenigen Gründe (siehe Abschn. 2.7) und Einflussfaktoren (siehe Abschn. 2.8) darstellen, die den Einsatz von FeM begünstigen. Anders gesagt hat die Reduktion von FeM konkret an denjenigen Punkten anzusetzen, von denen ausgehend zu ihnen gegriffen wird.

Allem voran sind hier erneut die Einstellung und das Wissen der Pflegenden zu thematisieren, die für die Anwendung von FeM maßgeblich sind. In den Worten der Leitlinie FEM:

Eine gute und sichere Pflege ohne FEM kann gelingen, wenn die Bedürfnisse und Möglichkeiten der Bewohnerinnen bekannt sind und beachtet werden. Zur Erlangung dieses Ziels bedarf es vor allem der Einstellung, eine Pflege ohne FEM möglich machen zu wollen. […] Genauso wichtig wie die Haltung und Einstellungen der Pflegekräfte zur Vermeidung von FEM ist die Haltung der Organisation, also der Führungskräfte einer Einrichtung. FEM zu vermeiden und zu reduzieren, ist daher auch eine wichtige Führungsaufgabe.Footnote 445

Schulungen versuchen an eben dieser Stelle anzuknüpfen, um u. a. eine Haltungsänderung zu erwirken: Aufgrund der Forschungslage konnte zu verschiedenen Interventionen mit Blick auf die Reduktion von FeM in der Leitlinie FEM aus dem Jahr 2015 nur für Multikomponentenprogramme mit Schulungskomponente eine „starke Empfehlung“ ausgesprochen werden.Footnote 446 Daraus lässt sich jedoch nicht ableiten, dass andere Interventionen, für die keine explizite Empfehlung der Leitlinie vorliegt, nicht umgesetzt werden dürfen. Diese können durchaus im jeweiligen Einzelfall eine wertvolle Alternative zu FeM darstellen, lassen sich aber zugleich nicht verallgemeinert empfehlen, wie dies etwa für Multikomponentenprogramme mit Schulungskomponente gilt.Footnote 447 Bezüglich solcher Programme hält die Leitlinie FEM fest, dass einzelne, punktuelle Schulungen wahrscheinlich nicht effektiv eine Reduktion von FeM herbeiführen können, wenn sie nicht in ein komplexeres Multikomponentenprogramm eingebettet sind, das bspw. mithilfe von Richtlinienänderungen und anderen Maßnahmen einen umfassenden Kulturwandel in den jeweiligen Einrichtungen anstrebt.Footnote 448 Dies dürfte nicht zuletzt dem Umstand geschuldet sein, dass FeM multifaktoriell bedingt sind und sich daher auch nicht durch die Bearbeitung nur einzelner Faktoren gänzlich reduzieren lassen. Die Leitlinie verweist jedoch darauf, dass noch nicht eindeutig gesagt werden kann, aus welchen einzelnen Komponenten ein solches Multikomponentenprogramm mit Schulungskomponente im Genaueren zusammengesetzt sein sollte – in Frage kommen bspw. Schulungen des Personals, gesonderte Schulung und Begleitung von Multiplikatoren in den Einrichtungen, Verpflichtungserklärungen der Einrichtung zur Reduktion von FeM sowie die Bereitstellung von Leitlinien, Informationsmaterialien und technischen Hilfsmitteln.Footnote 449

Ein zusätzlicher, weit verbreiteter und erfolgreicher Ansatz, der auf die Reduktion von FeM abzielt – und auf den die Leitlinie FEM ebenfalls hinweist –Footnote 450 ist der sog. Werdenfelser Weg, der im Jahr 2007 am Landgericht Garmisch-Partenkirchen erarbeitet wurde. Im Rahmen des Werdenfelser Wegs werden Personen mit beruflicher Erfahrung in der Pflege über zwei bis drei Tage hinweg zu Verfahrenspflegern geschult, die daraufhin von Amtsgerichten in das Genehmigungsverfahren von freiheitsentziehenden Maßnahmen einbezogen werden können. Diese Verfahrenspfleger geben im Rahmen des Genehmigungsverfahrens ihre fachliche Einschätzung ab und wägen durch eine Analyse von möglichen Risiken für die Betroffenen ab, ob sich die jeweils beantragte freiheitsentziehende Maßnahme möglicherweise durch alternative Handlungsansätze bzw. konkrete Hilfsmittel umgehen lässt. Ein besonderes Anliegen des Werdenfelser Weges besteht weiterhin darin, eine Plattform für den bundesweiten, interprofessionellen Austausch der beteiligten Akteure zu bieten.Footnote 451 Vor diesem Hintergrund werden Informationsveranstaltungen und -materialien (darunter auch Softwares zum FeM-Management) angeboten, um damit auch über Einzelfälle hinaus ein Umdenken in der Pflegekultur der Pflegeeinrichtungen anzuregen. Um den Austausch aktiv mitzugestalten, finden z. B. jährliche Fachtagungen mit entsprechender Dokumentation der Ergebnisse statt. Der Werdenfelser Weg thematisiert dabei nicht nur die Anwendung von FeM bei alten pflegebedürftigen Menschen, sondern auch die Praxis um FeM in Sorgebeziehungen mit Kindern und Jugendlichen.Footnote 452

Führt man sich darüber hinaus vor Augen, dass die Verhütung von Stürzen zu den Hauptbegründungen von FeM zählt, so kann daraus die Hypothese abgeleitet werden, dass alternative Handlungskonzepte und Hilfsmittel, die das Sturzrisiko tatsächlich vermindern, auch zu einer Reduktion von mechanischen oder pharmakologischen FeM führen können. Ähnlich dürfte sich die Lage bei der patientenorientierten Begründung des auffordernden Verhaltens darstellen, das sich als weiterer maßgeblicher Grund für die Anwendung von FeM erwiesen hat: Handlungskonzepte, die helfen, auffordernden Verhaltensweisen und deren Ursachen adäquat zu begegnen und somit im Sinne einer Demenzsensibilität die spezifischen Bedürfnisse von Menschen mit Demenz zu erfüllen, können damit im weitesten Sinn auch als Alternative von FeM fungieren. Insofern bereits gezeigt werden konnte, dass sich die Situation um FeM als häufige Antwort auf auffordernde Verhaltensweisen in der Akutversorgung zuspitzt, sei hier exemplarisch auf die GhoSt-Studie verwiesen, die die Ergebnisse verschiedener Interventionsprogramme zusammenträgt, welche auf Demenzsensibilität im Akutkrankenhaus abzielen. Wichtige Komponenten solcher Programme, die somit auch für die Frage nach Alternativen von FeM relevant sind, sind u. a.:

  • Einsatz von spezifisch qualifiziertem Personal (z. B. Demenzbeauftragter /Delirpfleger)

  • Identifikationen und Monitoring kognitiver und nichtkognitiver Störungen

  • Ressourcenorientierter, validierender Umgang

  • Frühmobilisation

  • Verbesserung der Sensorik (z. B. Seh- und Hörhilfen, Reduktion von Überstimulation)

  • Kognitive Aktivierung (Orientierungshilfen, Gesprächskreis, Erinnerungsarbeit)

  • Verbesserung von Schlaf, Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme

  • Verbessertes Medikamenten- und Schmerzmanagement

  • Einbeziehung von Angehörigen

  • Kontinuierliche Begleitung der Patienten (z. B. durch geschulte Freiwillige, Pflegekräfte)Footnote 453

Die Erkenntnis, dass diese anzustrebende Demenzsensibilität auch direkt mit einer Reduktion von FeM verbunden sein kann und sich pflegekonzeptuelle bzw. organisatorische Maßnahmen somit als erfolgreich erweisen, setzt sich zunehmend durch:

Insgesamt kommt es auf die Konzeption der Kliniken im Umgang mit Menschen mit Demenz an. Beispiele demenzsensibler Krankenhäuser liefern vielfältige Praxisbeispiele, die deutlich machen: Es geht (weitgehend) auch ohne freiheitsentziehende Maßnahmen.Footnote 454

Konkret sind damit – um weiterhin bei dem Beispiel des Krankenhauses zu bleiben – verschiedene Interventionen angesprochen wie z. B. die Implementierung interner Standards, die etwa die Einbeziehung von An- und Zugehörigen bzw. Betreuern und Bevollmächtigten durch Rooming-in-Konzepte oder Sitzwachen, alltagsstrukturierende Angebote sowie den Einsatz ehrenamtlicher bzw. beruflicher Assistenzkräfte vorsehen.Footnote 455 Zu diesen Interventionen sind auch (settingübergreifend) Rehabilitationsangebote für Menschen mit Demenz zu zählen, die etwa zu Erhalt und Förderung ihrer Mobilität dienen.Footnote 456

Um die exemplarischen Ausführungen zu pflegekonzeptuellen bzw. organisatorischen Maßnahmen an dieser Stelle abzuschließen, sei noch einmal gesondert auf die Thematik der Medikation eingegangen. Spezifisch für ruhigstellende pharmakologische Interventionen stellt ein reflektiertes Medikamentenmanagement eine wichtige Komponente dar, die dazu beitragen kann, FeM zu reduzieren. Dies besonders aus dem Grund, da die Verordnung von Psychopharmaka und das Vorliegen einer Polypharmazie als die wichtigsten Risikofaktoren für Stürze im Alter geltenFootnote 457 und FeM wiederum häufig mit dem Ziel der Sturzprophylaxe begründet und eingesetzt werden (siehe Abschn. 2.5 und 2.7.1). In diesem Sinne hält auch z. B. der Krankenhaus-Report 2021 fest, dass die Medikation zu denjenigen Prädiktoren von Sturzereignissen zählt, die sich am besten beeinflussen lassen, auch wenn eine Anpassung des Medikamentenplans leider – wie die Autoren kritisch anmerken – in der Praxis weder bei ermitteltem Sturzrisiko, noch bei bereits vorangegangenen Sturzereignissen fest etabliert ist.Footnote 458 Dabei gilt für pharmakologische Interventionen allgemein, dass stets ein Mittelweg einzuschlagen ist, der psychopharmakologische Therapien nicht grundsätzlich ablehnt, aber auch nicht naiv als Allheilmittel ansieht:

Psychologische Interventionen können eine wirksame und in manchen Fällen humanere Alternative zur Medikamentengabe sein oder diese – in Fällen einer medizinisch klar indizierten Psychopharmakaverschreibung – sinnvoll ergänzen. Gleichwohl ist eine „Dämonisierung“ der Psychopharmakabehandlung, die jeglichen Einsatz unter den Pauschalverdacht des Missbrauchs stellt, ebenso wenig hilfreich und zielführend wie eine unkritische Wahrnehmung jeglicher psychologischer bzw. psychotherapeutischer Intervention als humanere und gleichzeitig wirksame Alternative.Footnote 459

In jedem Fall sind an das Medikamentenmanagement – auch und besonders bei Menschen mit Demenz – strenge Sorgfaltskriterien anzulegen.Footnote 460 Dies gilt nicht nur, wenn diese Medikamente als FeM, d. h. mit dem hauptsächlichen Ziel der Ruhigstellung, verabreicht werden, sondern auch im allgemeinen Sinn. Sowohl der Deutsche Ethikrat als auch die S3-Leitlinie Demenzen stellen deutlich heraus, dass „[d]ie medikamentöse Behandlung von Verhaltensauffälligkeiten […] nicht das erste, sondern allenfalls das letzte Mittel im Umgang mit Demenzbetroffenen sein [sollte]“Footnote 461 und dass „[e]ine pharmakologische Behandlung […] erst in Erwägung gezogen werden [sollte], wenn alle Modifikationen der Umwelt und der Kommunikation […] und alle verfügbaren psychosozialen Interventionen eingesetzt wurden“Footnote 462. Diese allgemeine Forderung spitzt sich besonders dann zu, wenn mit der Medikation primär die Ruhigstellung von kognitiv beeinträchtigten Menschen angezielt wird, die auffordernde Verhaltensweisen zeigen: Diese kommt – nicht zuletzt aufgrund der Risiken von Psychopharmaka und der großen MissbrauchsgefahrFootnote 463 – lediglich als letztmögliches Mittel in Frage, wobei sich dieser ultima-ratio-Charakter hier sowohl fachlich und ethisch als auch rechtlich manifestiert.

Mit Pantel und Haberstroh lassen sich weitere Kriterien für einen fachlich adäquaten und ethisch reflektierten Umgang mit Psychopharmaka (besonders) bei Menschen mit Demenz anführen. Negativ formuliert besteht eine solche Praxis darin, unnötige Psychopharmakatherapien zu vermeiden, wobei das Attribut „unnötig“ (unnecessary) hier in Anlehnung an amerikanische Leitlinien gilt, wenn die jeweilige Behandlung

  • […] mit exzessiver Dauer oder Dosis verschrieben wird

  • ohne klare (medizinisch-psychiatrische) Indikation zum Einsatz kommt

  • mit schwerwiegenden Nebenwirkungen behaftet ist

  • unzureichendem Monitoring unterliegt oder polypharmazeutisch (=mehr als ein Medikament mit ähnlicher Wirkung) zum Einsatz kommt.Footnote 464

Zu der praktischen Umsetzung der Erfordernisse einer ethisch sowie fachlich reflektierten Psychopharmakatherapie schlugen Pantel, Haberstroh und Schröder darüber hinaus ein Handlungsstufenmodell vor, das die verschiedenen beteiligten Akteure – berücksichtigt werden Pflegepersonal, Hausärzte, Fachärzte und gesetzliche Betreuer – in einem stetigen 14-schrittigen Reflexionsprozess dazu anleitet, in einem individuellen Fall die bestmögliche Option der Medikation bzw. Medikationsanpassung oder -einstellung zu eruieren.Footnote 465 Im Zusammenhang von pharmakologischen FeM ist nicht zuletzt festzuhalten, dass die Überprüfung von deren Indikation maßgeblich zu einer Reduktion oder zumindest zu einem reflektierteren Umgang führen kann. Es gilt, dass hier

mit besonderer Kompetenz, aber auch mit moralischer Skrupelhaftigkeit das Handlungsziel in den Blick genommen werden und das hohe Schadenspotential bedacht werden [muss], das mit einer falsch oder gar missbräuchlich indizierten Psychopharmakagabe verbunden ist.Footnote 466

Zentral ist dabei das Gebot, dass sich aus der möglichen subjektiv wahrgenommenen Belastung von Pflegekräften angesichts von auffordernden oder gar unkooperativen Verhaltensweisen „jedoch keine pharmakologische und freiheitsentziehende Indikation ab[leitet]“Footnote 467.

2.10.2 Baulich-architektonische Alternativen

Mit baulich-architektonischen Alternativen sind solche Interventionen angesprochen, die durch die Gestaltung des Milieus und die Anpassung der Umgebung von Menschen mit Demenz dazu beitragen, ihnen ein möglichst weitgehend selbstständiges und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen und somit die Reduktion von FeM zu befördern.Footnote 468 Abermals sollen die bereits von Hoffmann und Klie angeführten Aspekte an dieser Stelle ergänzt bzw. vertieft werden. Eine evidenzbasierte Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2014, die sich mit dem Einfluss der Architektur bzw. umgebungsbezogener Faktoren auf Menschen mit Demenz in der stationären Langzeitpflege befasste, trug eine Vielzahl baulicher Merkmale zusammen, die sich positiv auf deren Pflege, Betreuung und Begleitung auswirken können. Dabei konnten die Ergebnisse in vier Kategorien gebündelt werden: Grundlegende Architekturmerkmale (1), die architektonische Raumgestaltung (2), die Atmosphäre (3) sowie Umweltinformationen (4).Footnote 469

1) Allgemein lässt sich in der Kategorie grundlegender Architekturmerkmale festhalten, dass sich sogenannte „special care units“, d. h. segregative Wohnbereiche, die im Idealfall spezifisch auf die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz ausgerichtet sind, positiv auf ihr Verhalten und Erleben bzw. ihr psychosoziales Befinden auswirken, jedoch kaum auf die kognitiven Fähigkeiten.Footnote 470 Aus dem Review geht diesbezüglich auch hervor, dass mehrere internationale Studien ermittelten, dass „special care units“ mit einer geringeren Anwendung nicht nur von mechanischen, sondern auch von pharmakologischen FeM einhergingen.Footnote 471 Auch für Wohneinheiten mit kleineren Gruppengrößen konnten positive Effekte hinsichtlich der sozialen Fähigkeiten sowie des Wohlbefindens nachgewiesen werden, weshalb „small-scale care environments […] should be implemented whenever possible“Footnote 472. Des Weiteren besteht Einigkeit darüber, dass sich eine klare und übersichtliche architektonische Grundriss- und Erschließungsstruktur mit deutlichen Referenzpunkten förderlich auf die räumliche Orientierungsfähigkeit von Menschen mit Demenz auswirkt.Footnote 473

2) Zur näheren architektonischen Raumgestaltung kann im Wesentlichen festgehalten werden, dass sich der gezielte Einsatz von optischen Reizen (Licht, Farben, Muster) und akustischen Signalen (angenehme Klänge, Musik) positiv auf das Wohlbefinden von Menschen mit Demenz auswirkt. Im Zusammenhang mit der Beleuchtung deutet die Studienlage darauf hin, dass eine klare und helle Beleuchtung sowohl für die Kognition als auch für den Schlaf und die Sehfähigkeit positive Effekte zeitigt. Was akustische Merkmale betrifft, ist ein Zusammenhang von einem hohen Lärmpegel mit auffordernden Verhaltensweisen zu verzeichnen, weswegen eine ruhige Umgebungsgestaltung hier wesentlich ist.Footnote 474 Dass darin ein direkter Bezug zur Thematik von FeM besteht, belegt etwa eine in den Review eingeschlossene Studie, die ermittelte, dass „[r]educing stimulation by minimizing distractions from televisions and phones […] led to improved care outcomes, measured by […] fewer cases of physical restraint use“Footnote 475. Eine übersichtliche farbliche Gestaltung etwa durch Kontraste kann Menschen mit Demenz die Orientierung erleichtern, während für die Musterung von Böden Ergebnisse vorliegen, dass diese eine desorientierende Wirkung haben und dadurch Sturzereignisse begünstigen bzw. auslösen können.Footnote 476

3) Mit der Kategorie der Atmosphäre ist ein weiterer wichtiger, wenn auch schwerer greifbarer Aspekt der Umgebungsgestaltung benannt, der das Verhalten und Erleben von Menschen mit Demenz mitbestimmt. Vor diesem Hintergrund gilt es vor allem, eine möglichst wohnliche Umgebung zu schaffen, die durch personalisierte Gestaltung im Sinne einer multisensorischen Stimulation durch vertraute Reize zu einer Besserung der Lebensqualität beitragen kann:Footnote 477

Seit vielen Jahren orientiert sich die Gestaltung von Altenpflegeeinrichtungen am Vorbild der eigenen Häuslichkeit und vermeidet zunehmend das Entstehen eines institutionell geprägten Charakters. […] In den entsprechenden Studien wurden durch eine häusliche Gestaltung positive Effekte für das Verhalten, Wohlbefinden, die sozialen Fähigkeiten wie auch die pflegerischen Ergebnisse von Bewohnern mit Demenz in Altenpflegeeinrichtungen festgestellt. So zeigen sie u.a. weniger herausfordernde Verhaltensweisen, weisen eine höhere Lebensqualität auf und interagieren mehr miteinander sowie mit den Pflegekräften.Footnote 478

Es zeigt sich daher, dass die atmosphärische Gestaltung auch für die Frage um die Anwendung von FeM eine maßgebliche Rolle spielt, da sie durch die Berücksichtigung der spezifischen Bedürfnisse von Menschen mit Demenz dazu beitragen kann, dass auffordernden Verhaltensweisen reduziert werden.

4) Für die letzte Kategorie wählten die Autoren den Titel der „Umweltinformationen“, um eine Gruppe von Maßnahmen zu beschreiben, die Menschen mit Demenz dabei helfen können, sich im Wohnbereich der Pflegeeinrichtung besser orientieren zu können. Unter anderem sind positive Auswirkungen hier bei Maßnahmen wie gut sichtbaren Beschilderungen, klaren Farben sowie Personalisierungsmaßnahmen, die die Biografie des Menschen aufgreifen (wie z. B. Porträts vor den jeweiligen Bewohnerzimmern, die es erleichtern, diese wiederzufinden), belegt. Aus der Übersichtsarbeit geht ebenfalls hervor, dass visuelle Barrieren (wie z. B. überdeckte oder unauffällig gestrichene Türgriffe und Türen) in der langzeitstationären Pflege von Menschen mit Demenz eingesetzt werden und dies offenbar mit ‚positiven‘ Effekten (von denen bspw. das Verhindern eines Verlassens des Wohnbereichs angeführt wird) assoziiert ist.Footnote 479 An dieser Stelle ist jedoch kritisch anzumerken, dass es sich bei solchen Maßnahmen um eine Form von FeM handeln kann, wenn es sich hierbei um Ausgangstüren des Wohnbereichs handelt, die von den Betroffenen als solche nicht mehr eindeutig erkannt werden können. Dieses Beispiel illustriert daher den bereits angesprochenen Umstand, dass es auf die jeweilige Wirkung von Interventionen ankommt, ob diese einen freiheiteinschränkenden Charakter aufweisen (siehe Abschn. 2.3).

Es kann davon ausgegangen werden, dass die dargelegten Erkenntnisse zur Bedeutung umgebungsbezogener Aspekte in den letzten Jahren zunehmend Eingang in die langzeitstationäre Versorgung von Menschen mit Demenz gefunden haben. Doch auch im akutstationären Bereich kommt der Aufgabe, ein förderliches Umfeld für Menschen mit Demenz zu schaffen, eine wachsende Bedeutung zu. Von daher ist es verständlich, dass sich zunehmend Bemühungen abzeichnen, diese Ergebnisse aus dem langzeitstationären Setting auf das Akutkrankenhaus anzuwenden, ohne dabei jedoch den Umstand auszublenden, dass sich diese nicht 1:1 auf den klinischen Bereich übertragen lassen.Footnote 480 Ruft man sich die Ergebnisse des Pflege-Thermometers 2014 bzw. der GhoSt Studie zum Umgang mit FeM bei Menschen mit Demenz in Krankenhäusern in Erinnerung, so ist anzunehmen, dass eine demenzsensible Umgebungsgestaltung, die den Bedürfnissen von Menschen mit Demenz adäquat begegnen kann, auch im akutstationären Bereich zu einer Reduktion oder Vermeidung von FeM beitragen kann.

2.10.3 Technische Alternativen

Mit technischen Alternativen bzw. Hilfsmitteln sind solche Maßnahmen adressiert, die nicht nur dazu beitragen können, die Selbstbestimmung und die Mobilität zu erhalten bzw. zu fördern, sondern auch die Betroffenen vor möglichen sturzbedingten Folgen und anderen Schäden zu schützen.Footnote 481 Tatsächlich belegt die empirische Studienlage, dass die Reduktion von FeM auch von dem Wissen um bzw. über konkrete Hilfsmittel begünstigt wird.Footnote 482 Hoffmann und Klie führen als Beispiele solcher Hilfsmittel u. a. Niedrigflurbetten, Antirutschauflagen und -socken, Hüftprotektoren(hosen), sturzsichere sog. „Gehfrei“-Hilfen bzw. „easy walker“ an und ergänzen diese um Signal-, Alarm- und Sensorensysteme.Footnote 483 Zu letzteren Systemen gehören z. B. Sensor- bzw. Signalmatten und Bewegungsmelder, die etwa bei Verlassen des Bettes über die Rufanlage der Pflegeeinrichtung ein Signal abgeben. Darüber hinaus verweisen die Autoren auf Technologien wie z. B. Monitoring-Systeme und – man denke an häusliche Sorge- bzw. Pflegearrangements – Hilfsmittel und Vorkehrungen aus dem „Smart-home“-Bereich.Footnote 484 Insgesamt können sich solche Hilfsmittel „als alltagsstrukturierende Angebote darstellen, die das eigensinnige und möglicherweise nicht rational gesteuerte Mobilitätsverhalten auffangen“Footnote 485 helfen. Im Folgenden soll keine umfassende Auflistung verschiedener Hilfsmittel erfolgen; vielmehr sollen ausgewählte Beispiele dazu dienen, hier das Spektrum des Möglichen anzudeuten.

Im Projekt ReduFix haben sich eine Reihe von diesen und weiteren Hilfsmitteln bewährt, um FeM sicher zu reduzieren. Dazu zu zählen sind etwa Hüftprotektoren(hosen), die durch Polsterung sturzbedingten Folgen wie z. B. hüftgelenksnahen Frakturen vorbeugen können. Hüftprotektoren illustrieren in besonderer Weise den bereits angesprochenen Grundsatz, dass „[t]he focus should be on preventing injurious falls, not on preventing falls at any costFootnote 486: Sie wahren die Bewegungsfreiheit der betroffenen Menschen und können zugleich vor negativen Folgen schützen, die im Falle eines Sturzes mit der Ausübung dieser Freiheit verbunden sein können. Was die Effektivität von Hüftprotektoren betrifft, ist festzuhalten, dass „die Studienlage nahe[legt], dass durch Hüftprotektoren hüftgelenksnahe Frakturen vermieden werden können, [sich] allerdings […] keine eindeutigen Angaben zum Ausmaß dieser Vermeidung machen [lassen]“Footnote 487. Des Weiteren nennt die Projektgruppe ReduFix die Verwendung von Sensormatten, die bei Menschen mit Demenz ein geeignetes Hilfsmittel sein können, um zu gewährleisten, dass Hilfe angefordert werden kann, auch wenn die betroffene Person z. B. nicht mehr eigenständig in der Lage ist, die Handhabung bzw. den Zweck der Rufanlage zu verstehen. Dabei werden solche Matten wie folgt eingesetzt:

Die Matte wird auf der Seite, auf der die Person gewöhnlich das Bett verlässt, am Fußboden befestigt und mit der Rufanlage gekoppelt. Sie ist so dünn, dass sie von der Person nicht bemerkt wird. Es besteht keine zusätzliche Sturzgefahr […]. Der Ruf wird ausgelöst, sobald die Person die Matte mit den Füßen belastet. Da sie sich häufig erst aufsetzt und nicht sofort beginnt sich fortzubewegen, besteht für die Pflegekräfte meist Zeit zu reagieren.Footnote 488

An dieser Stelle ist jedoch anzumerken, dass es auch bei Sensormatten (bzw. Sensorsystemen jeglicher Art), auf die Art und Weise der Verwendung sowie die Wirkung derselben ankommt: Wird die jeweils betroffene Person bspw. bei Alarmieren der Pflegekräfte durch die Sensormatte stets zurück in das Bett gebracht, obwohl sie dieses zu verlassen versuchte, so dient die Sensormatte in diesem Fall eindeutig als FeM. Anders verhält es sich in diesem Zusammenhang jedoch, wenn der Alarm zum Anlass genommen wird, die spezifischen Bedürfnisse der Person zu eruieren und diesen daraufhin etwa durch Unterstützung bei dem Toilettengang oder bei anderen Tätigkeiten zu begegnen.Footnote 489 Ein und dasselbe Hilfsmittel kann somit auf die eine Weise als Maßnahme der Überwachung und als FeM dienen, auf die andere Weise jedoch als Hilfsmittel für bedürfnisorientierte Pflege, das zudem dazu beitragen kann, auf FeM zu verzichten.

Als weitere Hilfsmittel, die sich z. B. im Projekt ReduFix bewährt haben, sind Niedrigflurbetten anzuführen. Die Verwendung von höhenverstellbaren Niedrigflurbetten kann ein effektives Hilfsmittel darstellen, um auf FeM wie Bettgitter oder körpernahe Fixierungen zu verzichten: Eine verstellbare, niedrige Liegehöhe von z. B. 30 cm kann das Verletzungsrisiko bei einem Sturz (bzw. in diesem Fall eher einem Herausrollen aus dem Bett) erheblich verringern.Footnote 490 In Kombination mit einer davor positionierten Matratze und/oder Matte kann die Verletzungsgefahr noch weiter minimiert werden. Darüber hinaus bietet es sich bei einer solchen Verwendung an, eine Sensormatte hinzuzunehmen und vor dem Niedrigflurbett zu platzieren. Im Einzelfall kann sich ein Niedrigflurbett jedoch ebenfalls als (genehmigungspflichtige) FeM darstellen, wenn es in einer solchen Art und Weise Verwendung findet, dass betroffenen Menschen aufgrund der niedrigen Liegehöhe verunmöglicht wird, das Bett zu verlassen.Footnote 491

An dieser exemplarischen Auswahl technischer Alternativen bzw. Hilfsmittel wird deutlich, dass bei der Vermeidung oder Reduktion von FeM vor allem Kreativität und die Ausrichtung am Einzelfall bestimmend sind: Je nach den spezifischen Gegebenheiten einer Situation bzw. der Verfassung der pflegebedürftigen Person können sich technische Mittel entweder als FeM oder als förderliches Hilfsmittel erweisen. Es bedarf hier spezialisierter pflegerischer Achtsamkeit, Sorgfalt und nicht zuletzt ethisch-fachlicher Expertise, um sicherzustellen, dass die verwendeten Mittel dazu dienen, der Freiheit einer Person möglichst großen Raum zu gewähren, ohne diese dabei erhöhten Risiken auszusetzen. Auch darin zeigt sich in gewisser Weise, wie entscheidend die Einstellung beteiligter Akteure sich auf die Anwendung von FeM bei Menschen mit Demenz in professionellen Sorgebeziehungen auswirkt, insofern es wesentlich von der Anerkennung alternativer Handlungskonzepte, Maßnahmen und Hilfsmittel abhängt, ob FeM tatsächlich als ultima ratio statt als erstes Mittel der Wahl gesehen werden. Gleichzeitig wird damit der Forschungsbedarf offenbar, der sich bezüglich der Effektivität solcher Alternativen vorbringen lässt.Footnote 492

2.11 Zwischenfazit

Die Anwendung von FeM bei alten Menschen in professionellen Sorgebeziehungen und besonders bei Menschen mit Demenz hat sich in den vorangegangenen Ausführungen als vielschichtiges Phänomen erwiesen, das eine Reihe terminologischer, epistemischer und nicht zuletzt ethischer Probleme aufwirft. Ganz übergeordnet lassen sich FeM zunächst in Anlehnung an den Deutschen Ethikrat als Maßnahmen wohltätigen Zwangs klassifizieren und somit in eine Kategorie von Handlungen einordnen, die in verschiedenen Sorgekontexten des Gesundheits- und Sozialwesens – von der Kinder- bzw. Jugendhilfe, über die Psychiatrie bis zur Altenpflege und Behindertenhilfe – Anwendung finden. Dem Deutschen Ethikrat gelang es dabei, zu der ethischen Kernfrage dieser Handlungen vorzudringen: Demnach ist denselben gemein, dass sie als Zwangsmaßnahmen den Willen der betroffenen Person überwinden und dabei als wohltätige Maßnahmen aus fürsorglicher Absicht auf das Wohl bzw. den Schutz der Person abzielen.

Wendet man sich von dieser allgemeinen Bestimmung von wohltätigen Zwangsmaßnahmen den Spezifika von FeM in der Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz zu, so fällt schon auf terminologischer Ebene auf, dass FeM aufgrund ihrer mannigfaltigen Erscheinungsformen sich zunächst einer Wesensbestimmung zu entziehen scheinen – zumal sich in der internationalen und nationalen Forschungsliteratur noch keine einheitliche Terminologie durchgesetzt hat. Dies äußert sich konkret bspw. darin, dass in der empirischen Forschung zu diesem Sachverhalt immer wieder diverse Erscheinungsformen von FeM ausgeblendet bzw. nicht als solche gezählt werden. Nicht zuletzt kann im speziellen Fall pharmakologischer FeM festgestellt werden, dass diese in manchen Fällen in der Literatur bzw. auch im pflegerischen Alltag nicht als solche präsent sind bzw. reflektiert werden. Es lässt sich vermuten, dass vielerorts noch ein sozusagen ‚mechanistisches‘ Verständnis von FeM vertreten wird, das primär körpernahe und körperferne mechanische Vorrichtungen und Maßnahmen, nicht jedoch pharmakologische Interventionen in den Blick nimmt.

Auch aufgrund dieser Problematik besteht eine besondere Stärke des FeM-Verständnisses des Deutschen Ethikrats, dessen Ursprung in einer international konsentierten FeM-Definition liegt, in der allgemeinen Formulierung des Phänomens: Als FeM gilt demnach jedwede Maßnahme, die das Kriterium erfüllt, eine Person in einer Art und Weise von der freien körperlichen Bewegung und/oder dem Zugriff auf den eigenen Körper abzuhalten, dass sie von derselben nicht kontrolliert oder mühelos entfernt werden kann. Die Frage, auf welche Weise dies durch eine FeM erreicht wird, führt von sich aus zu ihrer näheren Bestimmung als spezielle Form von Gewalt: Gewalt sind FeM zunächst aufgrund ihrer verwirklichungshindernden Wirkung, d. h. aufgrund des Umstands, dass sie die betroffene Person von der Verwirklichung ihrer Bewegungsfreiheit und somit letztlich ihrer Autonomie abhalten. Eine spezielle Form von Gewalt stellen FeM wiederum dar, da sie erstens aus fürsorglicher Absicht vorgenommen werden (was für viele andere Gewalthandlungen nicht gilt), da sie zweitens als ultima ratio ethisch gerechtfertigt oder geboten sein können und da sie drittens als besonders facettenreiche Gewaltform den ganzen Menschen in seiner psychophysischen Verfasstheit und sozialen Eingebundenheit betreffen. Eigens betont sei dabei, dass auch solche FeM, für die sich nach kritischer pflegefachlicher und ethischer Prüfung ergibt, dass sie die unvermeidliche ultima ratio darstellen, ihren Gewaltcharakter dadurch nicht einbüßen. Auch gilt, dass eine durch eine richterliche Genehmigung legitimierte Gewalthandlung selbst trotz dieser Legitimierung eine Gewalthandlung bleibt.

Mithilfe dieser Bestimmung von FeM auf allgemeiner Ebene lassen sich konkrete Erscheinungsformen von FeM nun genauer als solche identifizieren. Wichtiger als Typologien wie diejenige nach körpernahen, körperfernen und pharmakologischen Interventionen ist dabei jedoch die Erkenntnis der Einzelfallabhängigkeit des freiheitseinschränkenden Charakters von den jeweils ergriffenen Maßnahmen: Mittel wie Bettgitter, Fixiergurte oder sedierende Medikamente sind nicht als solche bereits freiheitseinschränkend; vielmehr kommt es auf die je individuelle Art und Weise ihrer Verwendung und ihre jeweilige Wirkung auf den betroffenen Menschen in seiner spezifischen Verfasstheit an, ob sie als FeM zu qualifizieren sind.

Mit einem Überblick über die aktuelle empirische Datenlage konnte weiterhin gezeigt werden, dass FeM im Rahmen verschiedener Versorgungskontexte von Menschen mit Demenz in vielen Fällen nicht die Ausnahme, sondern vielmehr die Regel darstellen. Dies erweckt den Anschein, dass sie statt der ultima ratio häufig sozusagen die prima ratio darstellen. Zugleich muss jedoch festgehalten werden, dass je nach nationalem Kontext, Versorgungssetting, Einrichtung oder gar Station bzw. Wohnbereich erhebliche Schwankungen der Prävalenz von FeM zu verzeichnen sind, die nicht nur auf verschiedene Studiendesigns und Einschlusskriterien zurückzuführen sein dürften. Besonders Beispiele von Pflegeeinrichtungen, in denen die Prävalenz von FeM weit unter dem Durchschnitt liegt, illustrieren dabei, dass eine Pflegekultur, in der FeM wirklich die ultima ratio sind, prinzipiell möglich ist. Während für langzeitstationäre Versorgungsformen ein breites Datenmaterial vorliegt und sich ein solches auch immer mehr im akutstationären Kontext abzeichnet, entzieht sich der Bereich der häuslichen Pflege noch weitgehend dieser Erfassung, sodass der prinzipiell geltende Forschungsbedarf sich hier noch verstärkt. Allgemein ist davon auszugehen, dass die Dunkelziffer nicht erkannter bzw. erfasster FeM deutlich über den ermittelten Prävalenzzahlen liegt. Diese Problematik spitzt sich weiterhin im Falle pharmakologischer FeM, d. h. der Medikamentengabe mit dem Ziel der Ruhigstellung betroffener Menschen, zu, insofern diese weitaus seltener als mechanische FeM in ihrem freiheitseinschränkenden Charakter erkannt werden. Dementsprechend selten sind empirische Daten, die direkt als FeM angewandte pharmakologische Interventionen abbilden, sodass in Folge benachbarte Phänomene wie das der Polypharmazie und die Psychopharmaka-Gabe einbezogen werden müssen, um sich der Problematik zu nähern. Mit Rekurs auf die aktuelle Datenlage kann festgehalten werden, dass besonders bei Menschen mit Demenz hohe Prävalenzzahlen sowohl für Polymedikation als auch spezifisch für die regelmäßige bzw. dauerhafte Verabreichung von Psychopharmaka nachgewiesen sind. Dies ist in zweierlei Hinsicht von direkter Bedeutung für die Thematik um FeM: Erstens geht mit einer solchen Medikation häufig eine deutlich erhöhte Sturzgefahr einher; zweitens stellt eine solche Medikation selbst wiederum häufig eine FeM dar, die einer Sturzgefahr oder aufforderndem Verhalten vorbeugen soll. Dass die freiheitseinschränkend intendierte Gabe von Psychopharmaka häufig (bzw. wahrscheinlich auch häufiger als offiziell bekannt) erfolgt, wird trotz der disparaten Datenlage bereits deutlich.

Ein Blick auf den rechtlichen Rahmen der Thematik um FeM in professionellen Sorgebeziehungen verdeutlicht, dass diese sich stets innerhalb gewisser grund-, zivil- und strafrechtlicher Vorgaben bewegen. Ganz zentral ist dabei die juristische Bestimmung, dass solche Maßnahmen ab einer gewissen Dauer oder Regelmäßigkeit settingübergreifend einer richterlichen Genehmigungspflicht unterliegen. Die Versorgungspraxis zeigt jedoch, dass davon ausgegangen werden kann, dass der Großteil der angewandten FeM bei genauerem Hinsehen diese Kriterien erfüllt, zugleich jedoch nicht immer eine entsprechende richterliche Genehmigung eingeholt wird. Dies kann besonders im Falle von Medikamenten gelten, die mit der Intention der Ruhigstellung verabreicht werden. Damit steht letztlich zur Diskussion, wie hoch die Dunkelziffer nicht genehmigter und somit rechtswidriger FeM in Deutschland ist. Aufgrund der besonderen Schwere des Eingriffs in die grundrechtlich geschützten Freiheitsrechte der Person gilt darüber hinaus, dass FeM auch rechtlich ausdrücklich nur als ultima ratio zum ausdrücklichen Wohl des Betroffenen in Erwägung gezogen werden dürfen.

Das Wohl des Betroffenen stellt – so ist auch mit Blick auf die empirische Datenlage eindeutig festzuhalten – eine übergeordnete und immer wieder von den Akteuren in professionellen Sorgebeziehungen vorgebrachte Begründung von FeM dar. Konkreter differenziert sich dies in patientenorientierte und behandlungsorientierte Gründe aus, denen zufolge FeM Betroffene vor der Selbstschädigung schützen sollen, während mit sozialorientierten und personal- bzw. organisationsorientierten Gründen der Fremdschutz anderer Pflegeempfänger oder der Eigenschutz der Pflegenden ins Zentrum rückt. Inwieweit diese Maßnahmen jedoch ihrer fürsorglichen Intention gerecht werden können, lässt sich mit einem Blick auf die ernstzunehmenden Folgen von FeM in Frage stellen: Gegenüber einer der häufigsten Begründungen von FeM, die diese als Maßnahme der Sturzprophylaxe sieht, ist auf die empirische Studienlage zu verweisen, aus der sich keine Empfehlung von FeM zu diesem Zweck ableiten lässt. Vielmehr besteht sogar die empirisch informierte und begründete Annahme, dass FeM die Sturzgefahr bzw. das Auftreten sturzbedingter Verletzungen erhöhen können. Sind Menschen mit Demenz schon aufgrund ihrer psychophysischen Verfasstheit sowie oft durch Polypharmazie und häufige Psychopharmaka-Verordnungen einem grundsätzlichen Sturzrisiko ausgesetzt, so stellt sich die Frage, wie FeM, die im fachwissenschaftlichen Kontext als eindeutige Risikofaktoren für Stürze identifiziert wurden, hier zum Wohl des Betroffenen beitragen können.

Ein ähnlicher ‚Teufelskreis‘ ist für eine weitere patientenorientierte Begründung nachzuzeichnen, derzufolge FeM als Antwort auf auffordernde Verhaltensweisen dienen. Auch hier gibt es jedoch einschlägige Belege dafür, dass FeM aufforderndes Verhalten maßgeblich auslösen bzw. befördern können. Es bedarf eines geschärften Blickes für den Umstand, dass FeM nicht nur körperliche, sondern auch psychische Folgen wie etwa Stress, Angst, Unruhezustände und Gefühle des Ausgeliefertseins auslösen können, die sich wiederum in aufforderndem Verhalten ausdrücken können. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, welche sozialen Folgen – etwa Ausgrenzung und Demütigung – mit FeM einhergehen können. Insofern FeM in diesen beiden Fällen – der Sturzprophylaxe sowie der Antwort auf aufforderndes Verhalten – jeweils zugleich die (Mit-) Ursache von und die Reaktion auf ein und dasselbe Problem darstellen, ist ihre Effektivität prinzipiell in Frage zu stellen sowie zu reflektieren: Weder auf die (tatsächliche oder vermeintliche) Sturzgefahr noch auf auffordernde Verhaltensweisen von Menschen mit Demenz stellen FeM pauschal eine angemessene Antwort dar. Vielmehr bedarf es hier eines grundlegenden ‚Paradigmenwechsels‘, der statt einer ausschließlichen Fokussierung etwa auf das Sturzrisiko bei Menschen mit Demenz das hohe Risikopotenzial, das sich in FeM selbst verbirgt, anerkennt.

Damit ist nicht gesagt, dass es keinerlei Situationen geben kann, in denen FeM nach sorgfältiger pflegefachlicher und ethischer Prüfung als letztmögliches Mittel zum Schutz des Betroffenen erforderlich und angemessen sein können. Exemplarisch sei insbesondere auf Situationen verwiesen, in denen z. B. Menschen mit Demenz drohen, sich durch Manipulation lebensnotwendiger medizinischer Vorrichtungen in erhebliche (Lebens-)Gefahr zu bringen – wobei selbstverständlich auch hier eine Prüfung des Einzelfalls notwendig ist. Dennoch sind auch in solchen scheinbar eindeutigen Fällen zunächst alle Alternativen abzuwägen, insofern das Konzept der ultima ratio eindeutig impliziert, dass zuvor alle in Frage kommenden milderen Mittel bzw. alternativen Handlungskonzepte und Interventionen erwogen, abgewogen und im Idealfall erprobt sowie reflektiert wurden.

Bezüglich der Analyse geeigneter Interventionen zur Vermeidung von FeM ist festzuhalten, dass diese sich geradezu als ein Negativbild von Begründungsansätzen und Einflussfaktoren von FeM darstellen: In ganz besonderem Maße wird dies im Falle der Einstellung der Pflegenden gegenüber der Anwendung von FeM deutlich, die als ein wesentlicher Einflussfaktor maßgeblich dazu beiträgt, dass FeM nach wie vor den Alltag in pflegerischen Sorgebeziehungen begleiten. Auch gibt es Hinweise darauf, dass der strukturelle und institutionelle Rahmen dieser Sorgebeziehungen eine Pflegekultur befördern kann, in der FeM als ‚normale‘ und notwendige pflegerische Intervention angesehen werden. Auf dieser Ebene setzen entsprechend verschiedene konzeptuelle bzw. organisatorische Maßnahmen, Leitlinien und Standards an, die darauf abzielen, eine ethisch und fachlich fundierte, weitgehend FeM-freie Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz sicherzustellen. Oft sehen diese Leitlinien und Standards neben Schulungsangeboten auch eine Bandbreite an baulich-architektonischen und technischen Alternativen bzw. Hilfsmitteln vor, die – selbstverständlich ebenfalls einzelfallabhängig – dazu dienen können, den angezielten Schutz der Betroffenen sicherzustellen, ohne dabei ihre Freiheit im selben Maße einzuschränken wie FeM. Damit solche Alternativen überhaupt erwogen werden bzw. damit auf vermeidbare FeM verzichtet wird, bedarf es jedoch einer grundlegenden Achtsamkeit der beteiligten Akteure.

Um von der Beschreibung des Seins-Zustands, die an manchen Stellen bereits ethische Konflikte aufgezeigt hat, zu der Frage nach dem Gesollten überzugehen, ist in einem nächsten Schritt in Betracht zu ziehen, woraus sich der Schutzanspruch von Menschen mit Demenz begründet, der sowohl die Orientierung als auch die unüberschreitbare Grenze der Anwendung von FeM bildet. Die Analyse der Situation um FeM bei Menschen mit Demenz in professionellen Sorgebeziehungen führt somit zu tiefergreifenden ethischen Fragen, deren Beantwortung von dem individuellen Menschen mit Demenz selbst auszugehen hat.