1.1 Gegenstand und Fragestellung

Menschen mit DemenzFootnote 1 in professionellen Sorgebeziehungen stellen unter älteren Menschen wohl den Personenkreis dar, der am häufigsten Maßnahmen des wohltätigen Zwangs ausgesetzt ist. Ein kontrovers diskutiertes Beispiel solcher Handlungen stellt die Anwendung freiheitseinschränkender Maßnahmen (FeM)Footnote 2 dar, die dabei nicht auf die stationäre Langzeitpflege beschränkt bleibt, sondern auch in der akutstationären und ambulanten Pflege weit verbreitete Praxis ist. FeM, wie z. B. mechanische Fixierungen, aufgestellte Bettgitter oder ruhigstellende Medikamente, werden in der Regel zum Wohl des BetroffenenFootnote 3 eingesetzt, bspw. um einem Sturzereignis vorzubeugen oder zu verhindern, dass sich Personen durch die Entfernung medizinischer Vorrichtungen selbst verletzen. Zu diesem Zweck halten FeM den betroffenen Menschen von der freien körperlichen Bewegung oder dem Zugriff auf den eigenen Körper ab und greifen somit massiv in dessen Freiheit und leibliche Souveränität ein.

Bei näherem Hinsehen werfen diese in vielen Pflegekontexten beinahe alltäglich wirkenden Handlungen somit fachliche, rechtliche und besonders ethische Fragen auf, die zunehmend nicht nur im wissenschaftlichen, sondern auch im gesellschaftlichen Diskurs thematisiert werden: Rechtfertigt der Schutz der körperlichen Integrität eines Menschen den Eingriff in dessen Handlungs- und Bewegungsfreiheit? Kann ein solcher Eingriff vor dem Hintergrund der pflegerischen Sorge um einen Menschen ethisch erlaubt oder gar geboten sein? Können Menschen auch mit einer weit fortgeschrittenen Demenz noch frei handeln und inwiefern darf in diese Freiheit eingegriffen werden? Wie ist zu verfahren, wenn keine eindeutige Willensbekundung des Menschen zu ermitteln ist und Dritte zu der Entscheidungsfindung herangezogen werden? Versuche, diese Fragen zu beantworten, berühren von sich aus eine Vielzahl ethischer Prinzipien sowie verschiedener handlungsleitender Motive der beteiligten Akteure. Nicht zuletzt wird der Fragende in diesem Kontext auch mit den eigenen Vorstellungen eines guten Alterns sowie noch existenzieller mit der Frage eines guten Lebens bei Demenz konfrontiert.

Als kritische Darstellung und ethisch-fachliche Reflexion des Phänomens beabsichtigt die vorliegende Untersuchung, der Frage nachzugehen, welche grundlegenden ethischen Prinzipien bei der Anwendung von FeM bei Menschen mit Demenz in professionellen Sorgebeziehungen berührt werden. Nach einer Darstellung zentraler Forschungsdiskurse sowie des theoretischen Rahmens der Arbeit soll dazu im Sinne der kritischen Darstellung der Seins-Zustand geschildert und darauf befragt werden, in welchen Situationen, aus welchen Gründen und innerhalb welcher strukturellen und rechtlichen Rahmenbedingungen FeM bei Menschen mit Demenz Anwendung finden (Kapitel 2). Daraufhin erfolgt eine Reflexion des Sollens-Zustands, für die ein zweischrittiges Vorgehen gewählt wurde: Zunächst wird eine Darstellung ethischer Grundlagen unternommen, die für die pflegerische Sorge um Menschen mit Demenz im Allgemeinen Orientierung bieten (Kapitel 3). Sodann sollen die Grundlagen eines ethisch-fachlich fundierten Umgangs mit FeM bei Menschen mit Demenz dargelegt werden (Kapitel 4). Die Arbeit schließt mit einem Gesamtfazit, das den Gedanken- und Argumentationsgang zusammenfasst (Kapitel 5).

1.2 Zentrale Forschungsdiskurse und theoretischer Rahmen

Einen Meilenstein des wissenschaftlichen ForschungsdiskursesFootnote 4 und der zunehmenden gesellschaftlichen Debatte um die Legitimität freiheitseinschränkender Maßnahmen bildet die Stellungnahme des Deutschen Ethikrats Hilfe durch Zwang? Professionelle Sorgebeziehungen im Spannungsfeld von Wohl und Selbstbestimmung aus dem Jahr 2018, der das besondere Verdienst zukommt, die jeweiligen fachlichen Einzeldiskurse zu Zwangshandlungen in verschiedenen Sorgekontexten des Gesundheits- und Sozialwesens auf die umfassende ethische Kernfrage des wohltägigen Zwangs zurückgeführt zu haben.Footnote 5 Leitend war dabei die Erkenntnis, dass verschiedenste Sorgehandlungen in unterschiedlichen professionellenFootnote 6 Sorgebeziehungen – der Kinder- und Jugendhilfe, der Psychiatrie sowie der Altenpflege und Behindertenhilfe – dieselbe ethische Grundstruktur aufweisen, wenn sie sich zugunsten des Wohls der jeweils Betroffenen über deren Selbstbestimmung bzw. Freiheit hinwegsetzen.

Dabei kommen solche Maßnahmen in jenen Lebensphasen oder -situationen in Frage, in denen eine Einschränkung der Selbstbestimmungsfähigkeit des Betroffenen festzustellen ist – sei diese „entwicklungsbedingt (z. B. bei Kindern), vorübergehend (z. B. bei schwer psychisch Erkrankten), generell (z. B. bei Personen mit dauernden kognitiven Beeinträchtigungen) oder fortschreitend (z. B. bei Personen mit Demenz)“Footnote 7.

Der Ethikrat definiert Zwang als „die Überwindung des Willens der adressierten Person“Footnote 8 und führt sodann aus, dass dieser immer dann als wohltätig zu bezeichnen ist, „wenn er mit der Abwehr einer Selbstschädigung des Adressaten begründet wird“Footnote 9. Ausdrücklich nicht in diese Definition aufgenommen sind also Begründungsversuche, die Zwangsmaßnahmen allein zum Schutze Dritter oder etwa zur Erleichterung von Sorgeprozessen andenken – ein Umstand auf den im Falle von FeM noch häufig zurückzukommen sein wird.Footnote 10 Mit der bewusst gewählten terminologischen Verbindung der Begriffe „wohltätig“ und „Zwang“, die zunächst kontraintuitiv und euphemistisch erscheint, beabsichtigen die Autoren dabei, das spezifische ethische Spannungsverhältnis auszudrücken, das solchen Maßnahmen eignet: Einerseits zielt die Handlung auf die Wahrung und Förderung des körperlich-seelischen Wohl(ergehen)s des Betroffenen ab, das in Gefahr zu sein scheint, andererseits greift sie zum Schutz desselben in dessen ebenfalls zu schützende und zu wahrende Selbstbestimmung ein.Footnote 11 Besonders deutlich wird dies an FeM, wenn diese z. B. vor einem Sturzereignis durch selbstständiges Aufstehen aus dem Pflegebett schützen sollen, dabei je nach Maßnahme jedoch die selbstbestimmte Ausführung oder gar Entscheidung zu der Bewegung verunmöglichen. Aufgrund der Schwere des Eingriffs müssen Maßnahmen des wohltätigen Zwangs – so hält der Ethikrat übergeordnet fest – stets die ultima ratio, d. h. das letztmögliche Mittel, sein.Footnote 12

Zugunsten einer genaueren Differenzierung der verschiedenen Situationen, in denen wohltätiger Zwang als letztmögliches Mittel ethisch legitimiert sein kann, wird in der Stellungnahme die folgende Typologie von Fallkonstellationen eingeführt:

  1. a)

    Der Sorgeadressat äußert Wünsche und Bedürfnisse, ist aber in der konkreten Situation unzweifelhaft nicht zu einer freiverantwortlichen Entscheidung in der Lage. Für diese Personengruppe kann wohltätiger Zwang unter bestimmten Umständen gerechtfertigt sein.

  2. b)

    Der Sorgeadressat entscheidet, wobei in der vorliegenden Situation aber begründete Zweifel an der Freiverantwortlichkeit seiner Entscheidung bestehen. Bereits in solchen Zweifelsfällen kann wohltätiger Zwang unter Umständen gerechtfertigt sein.

  3. c)

    Der Sorgeadressat entscheidet unzweifelhaft freiverantwortlich. In diesem Fall kann wohltätiger Zwang nicht gerechtfertigt sein – selbst in solchen Fällen nicht, wo dies aufseiten des Sorgeadressaten zu einer schweren Selbstschädigung und aufseiten der Sorgenden zu einer extremen Herausforderung ihrer professionellen Sorgeverbindlichkeiten führt.Footnote 13

Wie unschwer zu erkennen ist, besteht neben anderen im Laufe dieser Arbeit auszuführenden Kriterien des Ethikrates ein ausschlaggebendes Kriterium in der Fähigkeit zu freiverantwortlichem Handeln bzw. in der Erkennbarkeit derselben von außen. Die Überlegungen des Ethikrates, die ihre Inspiration aus den Einzeldiskursen verschiedener professioneller Sorgekontexte im Gesundheits- und Sozialwesen bezogen und diese auf eine allgemeingültige Ebene hoben, sollen im Rahmen dieser Arbeit wiederum auf die konkrete Situation um die Anwendung von FeM bei Menschen mit Demenz in professionellen (pflegerischen) Sorgebeziehungen angewandt und diesbezüglich weiterentfaltet werden. Es stellt sich also die Frage, wie Typologien wie die obige für eine Analyse des Untersuchungsgegenstandes fruchtbar gemacht werden können.

Freiverantwortliches Handeln im terminologisch strengen Sinn wird vom Deutschen Ethikrat in drei Elemente gefasst, zu denen der betroffene Mensch befähigt sein muss, um als freiverantwortlich zu gelten:

  • Wissen um die Folgen und Nebenfolgen der beabsichtigen Handlung/Unterlassung,

  • Wollen oder Inkaufnehmen dieser Folgen und Nebenfolgen auf dem Hintergrund der eigenen fundamentalen Lebensoptionen

  • Wählenkönnen zwischen realen Alternativen von Handlungsoptionen.Footnote 14

Selbstverständlich bedeutet dies nach Ansicht der Autoren nicht, dass nicht auch Handlungen, die nur einem Teil oder gar keinem dieser Kriterien entsprechen, auf ihre Art ein schützenswerter Ausdruck des Selbst sein können, jedoch stellt sich bei ihnen die Frage, wie frei und selbstverantwortlich sie jeweils vorgenommen werden.Footnote 15 Betrachtet man diese drei Kriterien und wendet sie auf Menschen mit einer Demenzerkrankung an, so erscheint es nicht zuletzt aufgrund der Individualität eines jeden Menschen sowie der Vielfältigkeit und Unvorhersehbarkeit ‚der‘ Demenz (die ohnehin zunächst als Sammelbegriff verschiedenste Erkrankungen bezeichnet) kaum möglich, eine allgemeingültige Zuordnung dieser Personengruppe zu Fallkonstellation a), b) oder c) vorzunehmen.

Aufgrund des chronisch progredienten Verlaufs von Demenzerkrankungen kann jedoch – auch mit Blick auf die Forschungsliteratur und die Situation in der Praxis – vermutet werden, dass die Anwendung von FeM vornehmlich bei Menschen angedacht wird, die sich in einem eher fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung befinden und somit die oben genannten Kriterien der Selbstverantwortlichkeit aufgrund der krankheitsbedingten kognitiven Einbußen in ihrer Gänze kaum erfüllen können. Daraus folgt, dass im Rahmen dieser Arbeit überwiegend Situationen zur Diskussion stehen werden, die am ehesten den Konstellationen a) und b) zuzuordnen wären, d. h. Situationen, in denen die Freiverantwortlichkeit des Handelns sowie der Wille der Betroffenen nicht unzweifelhaft bestimmt werden können. Damit gewinnen all jene – vor allem auch leiblichen – Ausdrucks- und Interaktionsformen an Bedeutung, die zunächst zwar einen fragmentierten und partiellen Charakter aufweisen, jedoch zweifellos und eindeutig Manifestationen des Selbst sind und somit einen besonderen Schutzanspruch der Person mit Demenz bedeuten. Als solche sind auch die minimalsten Ausdrucks- und Interaktionsformen anzuerkennen. Im Falle von FeM bei Menschen mit einer Demenzerkrankung kann also die Auffassung vertreten werden, dass in solchen Situationen, wie sie in den Fallkonstellationen a) und b) geschildert sind, umso höhere ethische und pflegefachliche Maßstäbe der Sorgfalt anzulegen sind. Auch wird deutlich, dass im Falle nicht eindeutig ermittelbarer subjektiver Wünsche von Menschen mit Demenz die Frage umso relevanter wird, welche objektiven Maßstäbe für das Wohl eines Menschen und dessen Achtung bestehen. Diese Maßstäbe wären nicht nur für FeM als Maßnahmen des wohltätigen Zwangs leitend, sondern markieren zugleich eine nicht zu überschreitende normative Grenze. Damit führt die vorliegende Problematik noch vor jeder Einzelüberlegung zur Frage, nach welchen Kriterien eine ethisch-fachlich fundierte pflegerische Sorgebeziehung mit Menschen mit Demenz zu denken bzw. zu gestalten ist.

Dass eine gute Pflege von Menschen mit Demenz von der unhintergehbaren Anerkennung ihres Personseins auszugehen hat, ist die Grundeinsicht des Konzepts der person-zentrierten Pflege (engl. person-centred care) des britischen Psychogerontologen und Theologen Tom Kitwood.Footnote 16 Als Personen gebührt Menschen mit Demenz demnach dieselbe prinzipielle Achtung wie Menschen ohne kognitive Beeinträchtigung. Personen sind dabei nach Kitwood nicht als beziehungslose Subjekte gedacht, sondern werden angelehnt an die Dialogphilosophie Martin Bubers als wesentlich intersubjektiv auf einander bezogen verstanden. Mit einem kritischen Blick, der seit der Erstauflage seiner Monographie Dementia reconsidered im Jahr 1997 nicht an Aktualität eingebüßt hat, fordert Kitwood:

Wenn wir Demenz verstehen wollen, ist es […] entscheidend, Personsein im Sinne von Beziehung zu sehen. Selbst bei sehr schwerer kognitiver Beeinträchtigung ist oft eine Ich-Du-Form der Begegnung und des In-Beziehung-Tretens möglich. Es gibt indessen einen sehr dunklen Punkt, der in Bezug auf die aktuelle medizinische Praxis zu berücksichtigen ist. Es ist der, dass bei einem Mann oder einer Frau mit der größten Genauigkeit eine Diagnose gestellt, dass er bzw. sie mit höchster Gründlichkeit einem Assessment unterzogen, mit einem hochdetaillierten Pflegeplan versorgt werden und einen Platz in angenehmster Umgebung erhalten kann – ohne dass es jemals zu einer Ich-Du-Beziehung gekommen ist.Footnote 17

Nicht nur bleibt die pflegerisch-medizinische Praxis aufgrund verschiedener durchaus auch struktureller Bedingungen häufig hinter den Ansprüchen eines solchen Ideals person-zentrierter Sorge zurück, es ist sogar der besorgniserregende Umstand zu beobachten, dass der Personstatus von Menschen mit Demenz aufgrund ihrer kognitiven Einbußen gar gänzlich in Frage gestellt wird. Auch in der Anwendung von FeM bei Menschen mit Demenz kann dies bei den verschiedenen Akteuren implizit oder explizit mitschwingen – besonders, wenn sie von einem Menschenbild geleitet werden, das Personalität vornehmlich an die aktual manifeste und ausgeübte Rationalität bindet. Fuchs, der in seinen Schriften für eine ganzheitliche Sicht eintritt, die auch und besonders die psychophysische Einheit der Leiblichkeit fokussiert, fasst die depersonalisierende Tendenz solcher Reduktionismen wie folgt zusammen:

Die Demenz wird zur Bedrohung der Person und wirkt mehr als alle anderen psychischen Erkrankungen stigmatisierend: Der Verlust der Rationalität und des autobiographischen Gedächtnisses scheint in den fortgeschrittenen Stadien der Krankheit nur noch einen fassadenartigen Körper zurückzulassen […]. Doch diese Identifizierung unseres Selbstseins mit Kognition, Rationalität und Gedächtnis beruht letztlich auf einem dualistischen Konzept der Person.Footnote 18

Eine solche Infragestellung der Personalität und Würde von Menschen mit Demenz ist schon lange nicht mehr ein bloßes Vorurteil in der Gesellschaft, sondern findet auch innerhalb der Ethik in Spielarten des Utilitarismus prominente Fürsprecher. Eine Hauptargumentation solcher Vertreter besteht, wie Spaemann in seiner einschlägigen Monographie zur Personalität herausarbeitete und kritisierte,Footnote 19 darin, ein allen zukommendes Menschsein von einem spezifischeren Personsein zu trennen. Letzteres kann laut dieser Position nur jenen Menschen zugesprochen werden, die über bestimmte aktuale Eigenschaften – allen voran die rationale Fähigkeit zur Selbsterkenntnis und interessengeleiteten Zukunftsplanung – verfügen. Nur letztere verfügen dabei nach dieser utilitaristischen Ansicht über den ethischen Achtungsanspruch einer Person, sodass in der Konsequenz neben anderen vulnerablen Gruppen auch Menschen mit einer fortgeschrittenen Demenzerkrankung keinen Personenstatus (mehr) aufwiesen. Für die Frage von FeM bei Menschen mit Demenz hätte die praktische Anwendung einer solchen ethischen Theorie denkbar fatale Folgen. Zum Zweck einer ethischen Grundlegung der pflegerischen Sorge um Menschen mit Demenz wird es daher notwendig sein, deren unveräußerliche Personalität in den Blick zu nehmen. Zugleich stellt sich mit den Grundeinsichten, die hier mit Rekurs auf Kitwood und Fuchs angedeutet wurden, die Aufgabe, diese Personalität wesentlich von der Intersubjektivität und der Leiblichkeit aus zu denken, da eine solche Perspektive von direkter Relevanz für die Gestaltung professioneller Sorge ist.

Die mit Kitwood bereits anklingende Intersubjektivitäts- bzw. Beziehungsdimension von professionellen Sorgebeziehungen wurde von dem Gerontologen und Pflegewissenschaftler Mike Nolan und seinem Arbeitskreis an der Universität Sheffield in dem Beziehungszentrierten Ansatz (engl. relationship-centred approach) ausformuliert und mit dem Senses Framework konkretisiert, das sechs konzeptionelle Zugänge beinhaltet, durch die ein ganzheitliches Sorge- bzw. Care-Verständnis zur Verbesserung der Pflege und Betreuung alter Menschen gekennzeichnet ist.Footnote 20 Leitend ist dabei die Prämisse, dass „good care is best understood in terms of the inter-relationships between those giving and receiving care“Footnote 21. Auch Remmers sieht in der Beziehungsgestaltung zwischen Sorgenden und Sorgeadressaten den Kern von Pflege, die er entsprechend als „eine an den Grundbedürfnissen hilfebedürftiger Menschen ansetzende Beziehungsarbeit“Footnote 22 charakterisiert.Footnote 23 Diese Beziehungsdimension von Care, hier verstanden als professionell-pflegerisches Sorgehandeln, ist auch für die vorliegende Arbeit maßgeblich. Sie kann dabei bei genauerem Hinsehen anhand dreier wesentlicher Strukturmerkmale systematisiert und verstanden werden.

Das 1) Ziel einer Sorgebeziehung besteht darin, dass der Sorgende dem Sorgeempfänger (d. h. dem pflegebedürftigen Menschen) hilft, dessen körperlich-seelische Integrität weitgehend zu erhalten oder wiederherzustellen – und dies im Sinne Kruses nicht nur in Form einer rein physiologischen restitutio ad integrum des Körpers, sondern vielmehr einer ganzheitlichen restitutio ad integritatem des Menschen in seiner körperlichen, seelisch-geistigen und existenziellen Dimension.Footnote 24

Die 2) Art und Weise der Sorgebeziehung lässt sich u. a. durch die Aspekte der Individualisierung, der Leiblichkeit und der Asymmetrie näher bestimmen. Sorge ist zunächst geprägt von einer ihr eigenen „Grammatik“, d. h. Handlungslogik, die sich potenziell der Standardisierung und Formalisierung entzieht, da für sie das „Prinzip der Individualisierung“Footnote 25 gilt: Den Bedürfnissen des Pflegeadressaten kann nur im je individuellen Fall adäquat begegnet werden.Footnote 26 Wie sich noch zeigen wird, ist dieses Prinzip in besonderer Weise bei der Anwendung von FeM bei Menschen mit Demenz relevant, insofern sich hier jede Standardisierung von vornherein aufgrund der Komplexität der Lebens- und Pflegesituation verbietet. Ein solches Kommunikations- und Beziehungshandeln ist des Weiteren stets durch leibliche Begegnung vermittelt.Footnote 27 Hinzu kommt eine charakteristische Asymmetrie der Sorgebeziehung, die durch die vulnerable Position des pflegebedürftigen Menschen begründet ist.Footnote 28

Diese Asymmetrie verweist bereits auf den 3) Ursprung der Sorgebeziehung, der letztlich in der conditio humana selbst zu verorten ist, wie etwa der Deutsche Ethikrat festhält: „Sorgebeziehungen gehören zum Kern menschlicher Existenz.“Footnote 29 Von Beginn seines Lebens an ist der Mensch ein Wesen, das sich nur in existenzieller Abhängigkeit von sorgenden Mitmenschen entwickelt und verwirklicht. Menschsein vollzieht sich nach dieser anthropologischen Einsicht als ein interpersonales inter esse in wechselseitigen (Sorge-)Beziehungen.Footnote 30 Pflege als Sorgebeziehung hat somit ihren Ursprung in der wesenhaften Bezogenheit des Menschen auf den Anderen und geht damit zurück auf eine ethische Grundstruktur aller personalen Begegnung, die der französisch-litauische Phänomenologe Emmanuel Lévinas zum Zentrum seiner Philosophie gemacht hat. Die Reflexion auf diesen Grundumstand der Bezogenheit auf den Anderen findet besonders in dem Konzept der Vulnerabilität bzw. Verletzlichkeit ihren Ausdruck: Die Komponente der Vulnerabilität hat in Sorgebeziehungen mit Menschen mit Demenz eine besondere Relevanz, da sie hilft zu erkennen, dass die Angewiesenheit auf Sorge nicht einen Verlust an Personalität bedeutet, sondern wesentlich zur conditio humana gehört.

Nicht nur kann die Erkenntnis der prinzipiellen Vulnerabilität des Menschen helfen, die konkrete Verletzlichkeit von Menschen mit Demenz neu in den Blick zu nehmen, auch ist mit Kruse dieser Verletzlichkeitsperspektive stets die Potenzial- bzw. Ressourcenperspektive ergänzend gegenüberzustellen: Sogar im Falle weit fortgeschrittener Demenzerkrankungen weisen Menschen Potenziale bzw. Ressourcen der Selbstbestimmung und -mitteilung auf, die im Begriff der Inseln des Selbst zum Ausdruck gebracht werden können. Diese „Aspekte der Personalität, die in früheren Lebensaltern zentral für das Individuum waren [sowie] Daseinsthemen, die dessen Erleben früher bestimmt haben“Footnote 31, drücken sich besonders in dem Leibgedächtnis aus, das Fuchs einer phänomenologischen Analyse unterzogen hat. Dabei bezeichnet dieses die Form, in der sich das Selbst einer Person durch dessen Erfahrungen, Gefühle, Gewohnheiten und Erinnerungen im Leib manifestiert – etwa in Bewegungsroutinen, im prozeduralen Umgang mit Objekten, in der Körperhaltung, in Gestik und Mimik oder in Reaktionen auf vertraute Sinneseindrücke.Footnote 32 Bereits im Kontext der Fallkonstellationen des Deutschen Ethikrates ist deutlich geworden, dass bei der Anwendung von FeM bei Menschen mit Demenz, deren freiverantwortliche Willensbekundung nicht eindeutig ermittelt werden kann, besonders die minimalsten Kommunikationsformen in den Blick genommen werden müssen. Um das Konzept des Leibgedächtnisses ergänzt, bedeutet dies den Auftrag für professionell Sorgende, in solchen leiblichen Interaktionsformen den Ausdruck von Inseln des Selbst zu erkennen.

Das Beispiel des Leibgedächtnisses zeigt auf, dass der philosophischen Kategorie der Leiblichkeit in der Untersuchung und Bewertung der Anwendung von FeM bei Menschen mit Demenz eine besonders herausgehobene Stellung einzuräumen ist.Footnote 33 Der Leib, der im eminenten Sinn nicht mit dem physischen Körper zu verwechseln ist, bezeichnet die psychophysische Einheit des Menschen, in der sich das Seelische verkörpert manifestiert. Besonders für die menschliche Freiheit und Selbstbestimmung, die im Zentrum der Problematik von FeM steht, gilt, dass sich diese vornehmlich in leiblichen Vollzügen äußert, sodass im Umkehrschluss für FeM formuliert werden kann, dass sie – je nach Form der Freiheitseinschränkung unterschiedlich intensiv – direkt in die menschliche Leiblichkeit und leibliche Souveränität eingreifen.

Durch diese Betrachtung der Forschung zu professionellen Sorgebeziehungen im Allgemeinen und zu Maßnahmen des wohltätigen Zwangs im Besonderen ist der theoretische Rahmen der nachfolgenden Untersuchung in Grundzügen erfasst. Mit dem person-zentrierten Ansatz Kitwoods und dem beziehungszentrierten Ansatz Nolans sind zwei Orientierungspunkte identifiziert, die in der Kombination mit den ethischen Kategorien der Personalität, der Vulnerabilität und der Leiblichkeit (sowie den damit verbundenen Sinnfeldern) den ethisch wie fachlich fundierten Umgang mit FeM bei Menschen mit Demenz grundlegen und sicherstellen können. Bevor dies jedoch erfolgen kann, gilt es zunächst, bezüglich der Anwendung von FeM bei Menschen mit Demenz ein genaueres Verständnis des Untersuchungsgegenstandes, der derzeitigen Situation in der Praxis sowie der wesentlichen rechtlichen Rahmenbedingungen zu gewinnen.