Zusammenfassung
Grenzen sind auch innerhalb der postmigrantischen, postkolonialen Gesellschaften Europas auf subtile Weise ganz alltäglich präsent: etwa in der normalisierten Präsenz von kolonialrassistischen, ethnisierenden, kulturalisierenden Bildern; in Sprachbildern, Denkbildern, mentalen Kartografien, die aus Migrant*innen und Minderheiten Andere machen, indem sie sie aus der Norm eines weiß markierten, eurozentrisch und national definierten Zentrums der Gesellschaft heraus definieren und nachordnen. Ganz ähnlich wie die „Perspektive der Migration“, die wir im Berliner Labor Migration für eine postmigrantische Stadt- und Gesellschaftsforschung vorgeschlagen haben (Bojadžijev und Römhild 2014), plädiert auch das Konzept des „Border Thinking“ von Walter Mignolo und Madina Tlostanova (2006, S. 206) für einen grundlegenden epistemischen Shift, der sich aus der Perspektive dieser Anderen auf die Wissensproduktion der Moderne richtet und von da aus dieses Wissen, seine Bilder und Kartierungen infrage stellt. Der Begriff wurde ursprünglich von Gloria Anzaldúa in ihrem Buch „Borderlands/La Frontera: The New Mestiza“ (1999) entwickelt; aus einer Perspektive des Border Thinking erweisen sich der gesellschaftliche Raum und der Wissensraum der Moderne durchweg von Grenzen durchzogen, die damit eben nicht nur deren Rand, sondern auch ihr Zentrum konstituieren.
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Notes
- 1.
Siehe dazu unseren im Juni 2020 verfassten offenen Brief „Kein Rassismus vor unserer Haustür!“, den in kürzester Zeit rund 250 Personen und Institutionen, auch aus der weiteren Berliner, der deutschen und internationalen Wissenschaftslandschaft, unterzeichnet haben, davon über 160 mit Sitz in der M-Straße. https://www.euroethno.hu-berlin.de/de/neuigkeiten/umbenennung_mstrasse. Zugegriffen: 2. Juni 2022. Letztere haben sich dann zur „Nachbarschaftsinitiative Anton-Wilhelm-Amo-Straße“ zusammengeschlossen, mit dem Ziel, die Umbenennung der Straße durchzusetzen und eine weiter gefasste kritische Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe der Stadt voranzutreiben. https://nachbarschaftsinitiativeamostrasse.wordpress.com/. Zugegriffen: 2. Juni 2022.
- 2.
Vgl. Fußnote 1.
- 3.
https://www.hu-berlin.de/de/pr/diversitaet/der-kampf-um-strassennamen-ist-ein-zeichen-von-lebendiger-geschichte. Zugegriffen: 3. Juni 2022.
- 4.
Siehe Fußnote 3.
- 5.
So mitgeteilt im Gespräch mit einer Staatssekretärin des Justizministeriums im August 2020.
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Römhild, R. (2023). Stadt als Borderland: Anti/rassistische Auseinandersetzungen in der postmigrantischen Gesellschaft. In: Bukow, WD., Rolshoven, J., Yildiz, E. (eds) (Re-) Konstruktion von lokaler Urbanität. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-39635-0_12
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-39635-0_12
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