Rosemann (1978) stellt neben den Erwartungen von Interaktionspartner*innen an die jeweils andere Person auch explizit die Bestätigung bzw. Widerlegung dieser Erwartungen in den Vordergrund seiner Überlegungen. Er spricht von Erwartungskonkordanz und -diskordanz. Die individuelle Erwartungskonkordanz ist dann gegeben, wenn eine Person A „[…] die Person B als in Übereinstimmung mit ihren an diese Person gerichteten Erwartungen erlebt. Bei Diskrepanzerlebnissen sprechen wir von Erwartungsdiskordanz“ (Rosemann, 1978, S. 42). Für sein Modell bezieht sich Rosemann (1978) auf normative Erwartungen, d. h. auf Vorstellungen und Schemata, wie ein Mensch in einer bestimmten Situation sein sollte und welche Rolle ihm zukommt. Es handelt sich folglich um ein Idealbild. Die Erwartungen und der Stellenwert der Erwartungen können zwischen unterschiedlichen Personen variieren und somit unterschiedliche Reaktionen auf das gleiche Verhalten hervorrufen. Als weitere Gruppe von Erwartungen diskutiert Rosemann (1978) Verhaltensantizipationen (antizipatorische Erwartungen; interaktionale Schemata bei Thies, 2010), die er als „[…] (gedankliche) Vorwegnahme des zukünftigen Verhaltens des [Interaktions-]Partners“ (S. 40) bestimmt und auf den Pygmalion-Effekt, in dem die Beschreibung der zukünftigen intellektuellen Entwicklung eines Kindes als Erwartungsinduktion dient (Rosenthal & Jacobson, 1966, 1971), bezieht (vgl. Schweer, 2019).

Lernende, unabhängig ob in Schule oder Hochschule, erwarten von Lehrpersonen i. d. R. fachliche Kompetenz, Freundlichkeit und Unterstützung sowie motivierenden Unterricht (u. a. Apel & Sandfuchs, 2003; Beishuizen et al., 2001; Denner et al., 2003; Merzyn, 2017; Richey, 2016; Sánchez et al., 2011; Yermack & Forsyth, 2016). Diese Erwartungen lassen sich in zwei unterschiedliche Themen einsortieren: in ein love theme (soziale Kompetenz) und ein mastery theme (Fachkompetenz; Ditton, 2002; Schweer & Rosemann, 1995). Dabei beinhaltet das love theme Wärme, Zuwendung sowie die Berücksichtigung von Ängsten, Wünschen und Problemen der Lernenden. Fachwissen, qualitative Unterrichtsgestaltung, Disziplinierungs- und Durchsetzungsfähigkeit beschreiben das mastery theme. Lernende wünschen sich eher „demokratisch Führende“ als Lehrpersonen (Denner et al., 2013), wobei die Relevanz der beiden Dimensionen zwischen Alter und Geschlecht variiert (Denner et al., 2013; Ditton, 2002).

Lehrkräfte erwarten hingegen angepasste, ordentliche und ruhige Schüler*innen (vgl. Richey, 2016; Rosemann, 1978): „Die Wunschschüler sind folgsame, interessierte, kreative, zur Selbsttätigkeit bereite Schüler, welche sich dem erzieherischen Handeln unterordnen, oder besser: es einsichtig anerkennen als Wert für ihre eigene Entwicklung, Bildung und Sozialisation“ (Ntemiris, 2011, S. 92). Eigenschaften, die sich Dozierende von Studierenden wünschen, sind Teilnahme- und Durchhaltewille, Respekt und Anstand, Vorbereitung, Aufmerksamkeit, Reflexionsvermögen, Wissen und Kommunikationskompetenz (Voss & Eicher, 2015). Weitergehend zeigte sich, dass Dozierende als sehr wichtige Herausforderung für Studierende das Zeitmanagement, die Motivation für und die Fokussierung auf das Studium sowie die Aneignung einer wissenschaftlichen Arbeitshaltung benennen (Berthold et al., 2011), woraus sich auch Erwartungen an Studierende herausbilden. Im weiteren Sinne können auch hier das love theme (u. a. Respekt, Anstand, Angepasstheit im Sinne von Harmonieerhaltung) und das mastery theme (u. a. Motivation, Wille zum Aufbau von Wissen, Vorbereitung) wiedergefunden werden. Die normativen Erwartungen sowohl an Lernende als auch an Lehrpersonen lassen sich auch im Kontext des stereotype content model (s. Kapitel 5) betrachten: Das love theme entspricht weitestgehend der Wärme-Dimension und das mastery theme weitestgehend der Kompetenz-Dimension im stereotype content model.

Auf Basis dieser idealtypischen normativen Erwartungen wird nun das Verhalten einer konkret beobachteten Person wahrgenommen und bewertet. Dabei wird sich ein für die einzelne Person spezifisches Bild gemacht und dieses Bild führt dann zu gewissen Verhaltensantizipationen. Stimmen die Verhaltensantizipationen mit den normativen Erwartungen mehrheitlich überein, liegt also Erwartungskonkordanz vor, kommt es zu Zufriedenheit und folglich zu einem positiven Verhalten der wahrgenommenen Person gegenüber. Erwartungsdiskordanz hingegen führt nach Rosemann (1978) zu Unzufriedenheit und weniger positivem und/oder mehr negativem Interaktionsverhalten. Diese Prozesse laufen bei allen Interaktionspartner*innen ab und können über diverse Rückkopplungen zu positiven Engelskreisen oder negativen Teufelskreisen führen. Je nach normativen Erwartungen und erlebtem Verhalten wird ein anderes Angebot für die Lehr-Lern-Interaktion bereitgestellt (vgl. Angebots-Nutzungs-Modelle, z. B. Helmke, 2017; Reusser & Pauli, 2010).

Nimmt also beispielsweise eine Lehrperson eine Schülerin als ordentlich und ruhig wahr, baut sie ein interaktionales Schema und somit Verhaltensantizipationen auf („Diese Schülerin wird sich ordentlich und ruhig verhalten“). Sind diese mit den normativen Erwartungen konkordant, wird die Lehrperson wahrscheinlich zufrieden sein. Diese Zufriedenheit spiegelt sich dann im Verhalten wider, sodass sich die Lehrperson gegenüber der Schülerin positiver, d. h. unterstützender, wärmer und ermutigender verhält. Gleichzeitig nimmt die Schülerin die Lehrperson wahr, z. B. als kompetent und unterstützend. Dieses wahrgenommene Verhalten wird mit ihren normativen Erwartungen abgeglichen und bei Erwartungskonkordanz verhält sich die Schülerin leistungsbereiter, interessierter und weniger störend. Bei Erwartungskonkordanz von Studierenden wurden in einer Untersuchung von Schweer und Rosemann (1995) das Lehrverhalten, der Lernerfolg und das Vertrauen zur dozierenden Person signifikant günstiger eingeschätzt als bei Erwartungsdiskordanz.

Der wesentliche Unterschied zum transaktionalen Modell von Nickel (1985) liegt darin, dass sich das Verhalten einer Person nach Rosemann (1978) aus dem Abgleich von normativen Erwartungen (Idealvorstellungen) mit personenspezifischen Erwartungen (Verhaltensantizipation) einer*eines Interaktionspartner*in ergibt. Bei Nickel (1985) ergibt es sich direkt aus den (bereits vorweg bzw. mit dem ersten Eindruck entstandenen) positiven oder negativen Erwartungen gegenüber der*dem Interaktionspartner*in, die sich jedoch vergleichbar zu Rosemanns Ansatz durch personenspezifische Erfahrungen umstrukturieren können (vgl. Schweer, 2019).