Der Pygmalion-Effekt und der Prozess der selbsterfüllenden Prophezeiung sind Phänomene der Lehr-Lern-Interaktion, die Bestandteile des transaktionalen Modells von Nickel (1985; Original von 1976; s. Abbildung 7.1) sind. Das transaktionale Modell der Lehr-Lern-Beziehung von Nickel (1985) erweitert unidirektionale Modelle der pädagogischen Beziehung und postuliert, dass Lernende und Lehrpersonen gleichermaßen den Interaktionsverlauf beeinflussen. Lernende und Lehrpersonen stehen in einer echten „Wechselbeziehung […], an der beide Seiten aktiven Anteil haben und durch die sie ihr Verhalten gegenseitig beeinflussen“ (Nickel, 1985, S. 267), es finden also ständig Rückkopplungsprozesse statt. Nickel (1985) postuliert weiterhin, dass sowohl intrapsychische als auch soziokulturelle Phänomene die Lehr-Lern-Interaktion mitbestimmen.

Zu den intrapsychischen Bedingungsvariablen zählt Nickel (1985) Einstellungen, Erwartungshaltungen, darunter Rollenerwartungen, implizite Persönlichkeits- und Führungstheorien sowie verinnerlichte Werte, (Gruppen-)Normen und Gewohnheiten. Diese Variablen bilden ein „kognitives Modell“ (Nickel, 1985, bezieht sich hier auf Argyle, 1972; vgl. relationale Schemata bei Thies, 2010), das zwischen Reizen und Verhalten vermittelt. Dieses kognitive Modell lässt einerseits das Verhalten anderer Personen beurteilen und „filtern“, sodass es zu verzerrten Wahrnehmungen und Interpretationen des Verhaltens kommen kann, und andererseits bestimmt es das eigene Verhalten. So kann ein Selbstverständnis der Lehrperson als wissensvermittelnde und weniger als erziehende Person dazu führen, dass Verhaltensauffälligkeiten hauptsächlich in Misserfolgen (mangelnde Anstrengung und Begabung) begründet gesehen werden (vgl. Nickel, 1985). Außerdem sollte mit diesem Selbstverständnis das Unterrichtsverhalten der Lehrperson von einem eher an Erziehungsprozessen orientierten Verhalten der Lehrperson verschieden sein, was sich z. B. in einem eher fordernden und distanzierten Stil bemerkbar machen kann.

Die kognitiven Modelle bilden sich vor dem Hintergrund eines soziokulturellen Bezugsrahmens (vgl. sozialisationstheoretisches Modell des Unterrichts, Helmke, 2017). Dieser ist sowohl bei den Lehrpersonen als auch bei den Lernenden durch die soziale Lernvergangenheit (z. B. bisherige Erziehungserfahrungen), die gegenwärtigen sozialen Beziehungen (z. B. Familie, Mitschüler*innen bzw. Kolleg*innen) und durch objektivierte Einflüsse (z. B. Medien, Richtlinien) bestimmt (s. Abbildung 7.1). Zusätzlich entstehen Erwartungen und Einstellungen gegenüber einer spezifischen Person innerhalb der Interaktion (interaktionale Schemata bei Thies, 2010). So kann es sein, dass eine Professorin von einem Studenten antizipatorisch erwartet, er sei faul, weil sie diese Information über den Studenten von einem Kollegen erhalten hat. Allerdings zeigt sich der Student in der Lehrveranstaltung engagiert und bringt sich mit vielen qualitativ wertvollen Wortmeldungen ein. Dies kann die vorherige Erwartung umstrukturieren. Zusätzlich hat auch der Student Erwartungen an die Professorin, die parallel zu denen der Professorin in der Interaktion wirken. Mit der Zeit stellt sich dann ein bestimmtes Interaktionsmuster ein, das sich durch Rückkopplungsprozesse stabilisiert und durch Zirkularität (u. a. Haken & Schiepek, 2010; Hubrig & Herrmann, 2014; Strunk & Schiepek, 2006) gekennzeichnet ist, also durch eine gegenseitige Wechselwirkung.

Abbildung 7.1
figure 1

Transaktionales Modell der Lehr-Lern-Beziehung von Nickel (1985, S. 270)

Insbesondere der Pygmalion-Effekt (Rosenthal & Jacobson, 1966, 1971; s. Kapitel 6) wird von Nickel (1985) aufgegriffen, um sein Modell zu unterstützen und zu illustrieren. Die Information durch Forschende (also vom soziokulturellen Bezugsrahmen), dass eine*ein Schüler*in im kommenden Schuljahr eine besondere Kompetenzsteigerung zeigen wird (intellectual bloomer), induziert bei der Lehrperson eine Erwartung. Im realistischen Kontext können Kompetenzerwartungen beispielsweise durch Mitteilung bisheriger Noten entstehen oder durch Stereotype (s. Kapitel 5 und Kapitel 9). Die Erwartung führt bei der Lehrkraft zu einem positiveren, zugewandteren, wärmeren, unterstützenderen Verhalten gegenüber dieser*diesem Schüler*in im Vergleich zum Rest der Klasse (vgl. u. a. Brophy & Good, 1976). Im Sinne der 4-Faktoren-Theorie (Harris & Rosenthal, 1985; Rosenthal, 1994) sind die Atmosphäre (climate), das Feedback, die Input- und die Output-Möglichkeiten relevant, um die Kompetenzerwartungen (indirekt) auszudrücken. Die Lehrkraft macht folglich ein anderes Unterrichtsangebot (vgl. Angebots-Nutzungs-Modelle; u. a. Helmke, 2017; Reusser & Pauli, 2010). Dieses Verhalten wird von der lernenden Person wahrgenommen, führt zu einer konkreten Erwartung gegenüber der Lehrperson („Die Lehrkraft ist nett und hilfsbereit“) und somit zu einem Verhalten, das das Angebot der Lehrperson nutzt. Diese Angebotsnutzung wiederum führt zu einem Kompetenzaufbau, den die Lehrperson (z. B. in Leistungstests) wahrnimmt, sowie zu einer Bestätigung der Erwartung und setzt einen „Engelskreislauf“ (verstanden als positives Pendant zum Teufelskreislauf) in Gang. Im Laufe der Zeit entwickelt sich ein immer robusteres interaktionales (auf die dyadische Interaktion bezogenes) Schema (Thies, 2010), das im Sinne der selbsterhaltenden Prophezeiung wirken kann (Ludwig, 2018; s. Kapitel 3).