[The] real environment is altogether too big, too complex, and too fleeting, for direct acquaintance. We are not equipped to deal with so much subtlety, so much variety, so many permutations and combinations... We have to reconstruct it on a simpler model before we can manage with it. (Lippmann, 1922, nach Gilovich et al., 2006, S. 451)

Um die Komplexität der Welt zu reduzieren, greifen Menschen auf Schemata zurück. Ein Schema ist eine kognitive Repräsentation, die auf Kategorien aufbaut und vorverarbeitetes Wissen einer Person über Objekte, Personen oder Handlungen enthält (u. a. Fiske & Taylor, 2017; Gilovich et al., 2006; Pendry, 2014; Werth, Denzler & Mayer, 2020). Kategoriebasierte Verarbeitung ist im Vergleich zur individuierenden Verarbeitung weniger aufwendig, weniger anstrengend und schont kognitive Ressourcen (u. a. Fiske & Taylor, 2017; Klauer, 2020).

Stereotype sind Schemata, die sich auf soziale Gruppen und Mitglieder dieser Gruppen beziehen, und Resultat sozialer Kategorisierung (Fiske & Taylor, 2017; Greitemeyer, 2012; Klauer, 2020; Pendry, 2014; Werth, Denzler & Mayer, 2020). Grundlage für eine soziale Kategorisierung können verschiedene Merkmale wie Äußerliches (z. B. Hautfarbe, Geschlecht), Überzeugungen (z. B. Politik, Religion), Krankheiten oder Beeinträchtigungen (z. B. körperliche Behinderung, HIV) oder auch Verhalten (z. B. Kriminalität, Sexualität) sein (vgl. Klauer, 2020; Tröster & Pulz, 2020). Zu den bedeutsamsten Kategorien gehören die (zumeist sichtbaren) Merkmale Geschlecht, Ethnie und Alter, die auch als automatische bzw. primitive Kategorien bezeichnet werden (Fiske & Neuberg, 1990; Krings & Kluge, 2020).

Stangor (2009, S. 2) definiert Stereotype wie folgt und grenzt sie von Vorurteilen ab:

We now define prejudice as a negative attitude toward a group or toward members of the group. Defining stereotyping has been more problematic—there are tens, if not hundreds of definitions in the literature, although they are mostly based on the general idea of stereotypes as knowledge structures that serve as mental “pictures” of the groups in question (Lippmann, 1922). With some exceptions, I’d say that we generally agree that stereotypes represent the traits that we view as characteristic of social groups, or of individual members of those groups, and particularly those that differentiate groups from each other. In short, they are the traits that come to mind quickly when we think about the groups.

Stereotype gehen also über die bloße Kategorisierung hinaus und beinhalten die Eigenschaften und die Erwartungen, die mit bestimmten sozialen Gruppen verknüpft sind (u. a. Klauer, 2020; Pendry, 2014; Werth, Denzler & Mayer, 2020). Dabei wird die Zugehörigkeit zu einer Gruppe herangezogen, um über ein Individuum ein Gesamturteil auf Basis eines Stereotyps zu erstellen (vgl. Halo-Effekt; vgl. Werth, Seibt & Mayer, 2020; Wolfrath, 2020) – unabhängig von der Korrektheit der spezifischen Kategorisierung. Stereotype stehen in Verbindung mit Vorurteilen und Diskriminierung. Dabei bezeichnen Stereotype eine kognitive Struktur, Vorurteile eine affektive und evaluative Struktur (in Kombination mit der kognitiven Struktur; Werth, Seibt & Mayer, 2020) sowie Diskriminierung einen konativen und verhaltensbezogenen Prozess (Gilovich et al., 2006; Kessler & Mummendey, 2007; Zanna & Rempel, 1988, nach Haddock & Maio, 2014).

Stereotype sind aufgrund unterschiedlicher Sozialisationsziele sowie -einflüsse (z. B. Medien) kulturspezifisch (Asbrock, 2010; Cuddy et al., 2009) und die Weitergabe von Stereotypen vollzieht sich durch Sozialisations- und Erziehungsprozesse (u. a. Cuddy et al., 2008). So zeigten sich Zusammenhänge in den Einstellungen von Kindern und ihren Eltern gegenüber Immigrant*innen und ethnischen Minderheiten (Rodrígez-García & Wagner, 2009) sowie für geschlechtsbezogene Stereotype (Tenenbaum & Leaper, 2002). Meta-analytisch ergab sich bei Degner und Dalege (2013) ein positiver Zusammenhang von Einstellungen gegenüber Fremdgruppen bei über 45000 Eltern-Kind-Paaren (r = .29). Die Entwicklung und der Aufbau von Stereotypen sind multikausal und können sowohl mit lerntheoretischen, (sozial-)kognitiven als auch motivationalen Ansätzen erklärt werden (Beelmann & Neudecker, 2020; Raabe & Beelmann, 2009). Stereotype werden aufgrund einer Reihe kognitiver Verzerrungen aufrechterhalten, die durch die limitierte Informationsverarbeitungskapazität entstehen (vgl. u. a. Fiske & Taylor, 2017; Gilovich et al., 2006; Petersen & Six, 2020; Spears & Tausch, 2014; Werth, Seibt & Mayer, 2020).

Das stereotype content model (u. a. Fiske & Taylor, 2017; Fiske et al., 1999; Fiske et al., 2002) macht Aussagen darüber, anhand welcher Kriterien soziale Gruppen kategorisiert werden – und damit auch, welche Erwartungen an sie bestehen. Das Modell besagt, dass zwei Dimensionen von Bedeutung bei der Beurteilung von Stereotypen sind: Die Kompetenzwahrnehmung und die Wärmewahrnehmung, wobei die Wärmewahrnehmung der Kompetenzwahrnehmung im Modell theoretisch vorgelagert ist: Zuerst werden Menschen bzw. soziale Gruppen danach kategorisiert, ob sie kompetitiv und feindselig (= kalt) oder kooperierend und wohlwollend (= warm; Wärme in Anlehnung an den englischen Begriff warmth für Herzlichkeit/Freundlichkeit) sind. In einem zweiten Schritt wird der Status (= Kompetenz) beurteilt, d. h., ob sie in der Lage sind, kompetitiv zu handeln, oder potenziell eine Bedrohung sind. Dabei bewirkt die Kategorisierung, auf welche Weise gegenüber Personen bestimmter sozialer Gruppen reagiert wird (s. Tabelle 5.1). Sozial angesehene Menschen und Gruppen werden als warm (u. a. tolerant, warmherzig, ehrlich) und kompetent (u. a. unabhängig, intelligent, fähig) wahrgenommen.

Tabelle 5.1 Gruppenkategorien nach dem stereotype content model (nach Fiske et al., 2002)

Das zum stereotype content model analoge ABC-Modell der Stereotype (Koch et al., 2016) geht von drei Dimensionen aus: agency, belief system und communion. Das Modell postuliert ein zweidimensionales Muster, in das sich soziale Gruppen einordnen lassen. Diese beiden Dimensionen sind agency (sozioökonomischer Erfolg) und belief system (Konservativität vs. Progressivität). Personengruppen, die durchschnittlich auf den beiden genannten Dimensionen abschneiden, bekommen hohe Werte bei communion (Gemeinschaftssinn). Dabei gibt es Parallelen zwischen agency im ABC-Modell und Kompetenz im stereotype content model sowie zwischen communion und Wärme.

Es bleibt festzuhalten, dass Stereotype neben den Eigenschaftszuschreibungen immer zeitgleich auch Erwartungen an Mitglieder von sozialen Gruppen bereitstellen. Diese sind in der Lehr-Lern-Interaktion besonders bedeutsam, wenn sich das Halten von Stereotypen in ungleichen Chancen und Lerngelegenheiten für Lernende auswirkt.