Es können drei unterschiedliche Klassen von Erwartungseffekten unterschieden werden: (1.) selbstbezogene Erwartungseffekte, (2.) fremdbezogene Erwartungseffekte und (3.) Erwartungs-Erwartungseffekte (s. Tabelle 4.1). Für diese Klassifikation wurde die ursächliche Erwartung für eine selbsterfüllende Prophezeiung herangezogen, im Prozess können aber weitere Erwartungseffekte relevant sein (Beispiel Pygmalion-Effekt s. Kapitel 6). In „natürlichen“ Situationen, also außerhalb von experimentellen Untersuchungen, sind somit die Effekte nicht immer eindeutig zu unterscheiden und können je nach Interpunktion (vgl. Watzlawick et al., 2017) unterschiedlich interpretiert werden. Die drei Klassen sollen im Folgenden überblicksartig kurz mit den zugeordneten Effekten skizziert werden.

Tabelle 4.1 Klassifikation von Erwartungseffekten

1 Selbstbezogene Erwartungseffekte

Selbstbezogene Erwartungseffekte beziehen sich auf Erwartungen, die auf sich selbst und die eigenen Reaktionen gerichtet sind. Hierzu zählen der Placebo- und der Nocebo-Effekt, aber auch die Effekte von Selbstwirksamkeitserwartungen.

Ein Placebo ist ein Medikament ohne Wirkstoffe. Bei vielen Medikamentenstudien erreicht ein Placebo ähnliche Wirkungen wie ein Medikament mit Wirkstoffen, wenn den Patient*innen suggeriert wird, der Placebo habe eine Wirkung (vgl. Hansen et al., 2017; Hoefert, 2010). Durch die positiven Erwartungen an ein Medikament kann die heilende Wirkung verstärkt bzw. bei einem Placebo überhaupt erst angeregt werden. Dieses Phänomen wird als Placebo-Effekt bezeichnet und geht über Medikamente hinaus. So sind Placebo-Effekte auch bei u. a. psychotherapeutischen Maßnahmen beobachtbar (Lambert & Kleinstäuber, 2016; Locher et al., 2016). Der Nocebo-Effekt hingegen beschreibt die Zunahme von erwarteten Nebenwirkungen durch medizinische und therapeutische, insbesondere medikamentöse, Behandlungen (vgl. Hansen et al., 2017; Hoefert, 2010). Placebo-Effekte, aber auch Nocebo-Effekte in der Medizin finden sich empirisch abgesichert für verschiedene Bereiche (u. a. Fibromyalgie, Chen et al., 2017; neuropathischer Schmerz, Cragg et al., 2016; Morbus Menière, Dimitriadis & Panagiotis, 2017; chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, Ma et al., 2019; Osteoarthritis, Zhang et al., 2008). Auch die implizite Lernleistung kann durch Placebo- und Nocebo-Effekte beeinflusst sein. In einem Experiment von Colagiuri et al. (2011) sollten Proband*innen an einem Wattepad riechen. Eine Gruppe erhielt die Information, dass das Riechen die kognitive Leistung steigert (Placebo-Gruppe), bei der zweiten Gruppe wurde behauptet, das Riechen reduziert die kognitive Leistung (Nocebo-Gruppe), und einer dritten Gruppe wurde keine Information zum Riechen gegeben. Es zeigte sich, dass die Placebo-Gruppe am besten ein Muster in Aufgabenlösungen unbewusst lernte (implizites Lernen) und die Nocebo-Gruppe am schlechtesten. Kirsch (1985) beschreibt drei Prozesse für den Placebo- und den Nocebo-Effekt in seiner response expectancy theory. Bei den Effekten handelt es sich um Erwartungen an die eigene Reaktion. Diese Erwartungen führen direkt zu (1) einer erwartungskonformen Wahrnehmung der eigenen Reaktion, (2) teilweise zu einer Änderung physiologischer Korrelate und (3) zu einer erwartungskonformen Anpassung des Verhaltens.

Eine weitere Form der selbstbezogenen Erwartungen ist die Selbstwirksamkeitserwartung. Diese wird bestimmt als die Überzeugung bzw. Erwartung, ein Verhalten mit Erfolg ausführen zu können, das benötigt wird, um ein Ziel oder ein gewünschtes Ergebnis zu erreichen (Bandura, 1977a, 1977b). Selbstwirksamkeitserwartungen werden seltener im Kontext von Erwartungseffekten diskutiert, können jedoch auch wie ein Placebo wirken (vgl. Eden & Zuk, 1995). So ist es möglich, dass Personen, die hohe Selbstwirksamkeitserwartungen haben, bei Aufgaben mehr Ressourcen investieren, um erfolgreich zu sein, als Personen mit vergleichbaren Leistungspotenzial, die aber geringe Selbstwirksamkeitserwartungen haben, und dadurch auch mehr Erfolge erzielen. Dies kann aus meta-analytischen Ergebnissen abgelesen werden: Selbstwirksamkeitserwartungen stehen im Zusammenhang mit Persistenz (als ein Marker für den Ressourceneinsatz; r = .38, Multon et al., 1991), akademischer Leistung (r = .38, Multon et al., 1991) und Arbeitsleistung (r = .38, Stajkovic & Luthans, 1998).

2 Fremdbezogene Erwartungseffekte

Fremdbezogene Erwartungseffekte beziehen sich auf Erwartungen gegenüber anderen Personen (interpersonale Erwartungen) oder Objekten (objektbezogene Erwartungen; z. B. Computer-Lernprogramme). Hierzu gehören der Pygmalion-Effekt, der Versuchsleitungs-Erwartungseffekt und der Jastrow-Effekt.

Mit dem Versuchsleitungs-Erwartungseffekt (experimenter expectancy bias) wird der Einfluss des Wissens über die Hypothesen – also die Erwartungen – der Versuchsleitung in experimentellen Studien beschrieben. Es handelt sich um eine (unbewusste) Beeinflussung der Proband*innen bzw. der Versuchsobjekte zur Unterstützung der Hypothesen (Rosenthal & Fode, 1973; vgl. Klein et al., 2012) bzw. eine zugunsten der Hypothesen verzerrte Beobachtung und Auswertung (Beobachtungseffekte). Für eine detaillierte Darstellung sei hier auf Rosenthal (1966, 2009) verwiesen.

Der Pygmalion-Effekt beschreibt die selbsterfüllende Prophezeiung von Lehrendenerwartungen an Lernende (Rosenthal & Jacobson, 1966, 1971), kann aber auch darüber hinaus auf andere Kontexte Anwendung finden. Hat beispielsweise eine Lehrperson eine hohe Kompetenzerwartung an eine lernende Person, wird die lernende Person mehr Wissen generieren bzw. Fähigkeiten aufbauen. Dies wird über das Verhalten der Lehrperson vermittelt, die sich aufgrund ihrer Erwartungen emotional unterstützender verhält und fordernderes Arbeitsmaterial zur Verfügung stellt (detaillierte Beschreibung des Pygmalion-Effekts s. Kapitel 6). Der Pygmalion-Effekt lässt sich unterteilen in den Galatea- und den Golem-Effekt (Babad et al., 1982). Der Galatea-Effekt beschreibt die selbsterfüllenden Auswirkungen einer positiven Erwartung (z. B. eine lernende Person ist fleißig), während der Golem-Effekt die selbsterfüllenden Auswirkungen einer negativen Erwartung (z. B. eine lernende Person ist unfähig) beschreibt.

Begrifflich geht der Galatea-Effekt auf die Pygmalion-Mythologie zurück: Der Künstler Pygmalion erschuf die Statue einer Frau, in der seine ästhetischen Erwartungen vollends aufgingen, und verliebte sich in sie. Er bat Venus/Aphrodite, die Göttin der Liebe, um eine Frau, die so ist wie seine Statue aus Elfenbein. Die Göttin antwortete, indem sie die Statue zum Leben erweckte. Dieser Mythos beschreibt, wie die (unbewussten) Erwartungen von Pygmalion die Statue einer für ihn perfekten Frau entstehen ließen. Der Name der Statue, an die die Erwartungen von Pygmalion gerichtet wurden, ist Galatea (Ovid, 2003, Original von −1/10). Dieser Mythos ist in seiner Grundlogik von Rosenthal und Jacobson (1971) auf die Lehr-Lern-Interaktion übertragen worden, um die Relevanz von Erwartungseffekten (vgl. Ludwig, 2018) zu beschreiben. Der Golem-Effekt hingegen bezieht sich auf jüdische Legenden eines Golems, eines aus Ton geformten Wesens (vgl. Grözinger, 2009). Der Golem wurde ursprünglich zum Schutz der jüdischen Bevölkerung erschaffen, der mit der Zeit jedoch immer gewalttätiger wurde und sich gegen Menschen wendete, sodass er zerstört werden musste. Die negativen Auswirkungen von selbsterfüllenden Prophezeiungen wurden deswegen von Babad et al. (1982) als Golem-Effekt beschrieben. Pygmalion ist also mythologisch eine Figur, die (unbewusst) eine Erwartung hat, während Galatea und der Golem Figuren sind, an die (mehr oder weniger) eine Erwartung gerichtet wird.

In der Lehr-Lern-Interaktion zeigten sich sowohl Galatea- als auch Golem-Effekte. So schnitten beispielsweise bei Reynolds (2007) Studierende mit ähnlichen Ausgangsvoraussetzungen in einem Management-Kurs signifikant besser ab, wenn die dozierende Person dachte, die Gruppe hätte gute Leistungen (Galatea-Bedingung), im Vergleich zu einer Kontrollgruppe und zu Studierenden in einer Golem-Bedingung. Weitergehend schnitten die Studierenden der Golem-Bedingung schlechter ab als die Kontrollgruppe. Kritisch bei Reynolds (2007) anzumerken ist jedoch, dass es nur drei Dozierende gab (also eine dozierende Person je Bedingung), sodass der Effekt u. U. auch im Stil der Dozierenden unabhängig der Erwartungsinduktion begründet sein kann. (Kompetenz-)Erwartungen können aber auch bei Lernenden bestehen oder sich auf Objekte beziehen. Dies zeigte sich beispielsweise beim Lernen mit Computerprogrammen: Studierende, die ein qualitativ hochwertiges Lernprogramm erwarteten (Galatea-Bedingung), lernten mehr als Studierende, die ein Programm mit einer nicht eindeutigen Qualität (Golem-Bedingung) erwarteten. Studierende, die keine Erwartungen an das Lernprogramm hatten, schnitten mit einem Testwert zwischen den beiden anderen Gruppen ab (Fries et al., 2006; vgl. Haimerl & Fries, 2010).

Der Jastrow-Effekt beschreibt den Effekt, sich an aufgabenbezogenen Ergebnis-Erwartungen mit einem Werkzeug (im weiten Sinne) zu orientieren (Jastrow, 1901; vgl. Olshansky, 2007; Rosenthal & Jacobson, 1971). Wird eine maximale Obergrenze an Leistung mit einem bestimmten Werkzeug erwartet, wird sich an dieser Grenze orientiert. Dies beschrieb Jastrow (1901) am Beispiel der Hollorith-Tabelliermaschine: Im Jahr 1890 wurde die Maschine im Zensus-Amt der USA eingeführt. Es wurde einer ersten Gruppe von Arbeitenden beschrieben, dass mit der Maschine pro Tag etwa 550 Karten gelocht werden sollten. Nach zwei Wochen konnten einige Arbeitende 500 bis 550 Karten lochen, später mit öffentlichen Rekordlisten einige sogar bis zu 1500. Die höheren Leistungen gingen gleichzeitig mit hohem Anstrengungserleben einher. Einer zweiten Gruppe von Arbeitenden wurde keine Zahl von zu bearbeitenden Karten pro Tag genannt. Einige Arbeitende dieser zweiten Gruppen waren bereits nach drei Tagen in der Lage, 500 Karten zu bearbeiten – nach einer Woche konnten dies fast alle. Später waren Leistungen bis zu 2230 Karten möglich. Die Arbeitenden der zweiten Gruppe litten jedoch nicht so wie die Arbeitenden der ersten Gruppe an Überbelastung. Die Erwartung an die zu leistende Aufgabe hat das Verhalten und die Reaktion auf die Aufgabenerledigung bestimmt. Der Jastrow-Effekt wird hier den fremdbezogenen Erwartungseffekten zugeordnet, weil die Erwartungen sich auf die Möglichkeiten im Umgang mit einem Werkzeug bzw. einer Maschine (z. B. die Hollorith-Tabelliermaschine) beziehen. So schreibt Jastrow (1901), dass davon ausgegangen wurde, dass die Bedienung der Hollorith-Tabelliermaschinen ein hohes Maß an Intelligenz benötigt. Wird allerdings ein Leistungspotenzial von Mitarbeitenden erwartet, ist dies analog zum Pygmalion-Effekt. Sollten Mitarbeitende jedoch bestimmte Leistungen erbringen, weil sie glauben, diese erbringen zu müssen, liegen Erwartungs-Erwartungen vor.

3 Erwartungs-Erwartungseffekte

Erwartungs-Erwartungseffekte beziehen sich auf angenommene Erwartungen anderer bezüglich der eigenen Person (vgl. antizipierte Fremdwahrnehmung, Thies, 2010). Hierzu zählt der Andorra-Effekt. Der Andorra-Effekt „[…] bezeichnet die Erscheinung, dass sich Menschen jenem Vorstellungsbild anpassen, das ihre Mitmenschen von ihnen haben. Wer für vertrauenswürdig gehalten wird, versucht das in ihn gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen und ist selbst vertrauensfähig und vertrauensbereit“ (Nitsch 1975, zit. nach Lies et al., 2015, S. 171). Der Begriff Andorra-Effekt geht auf das Drama von Max Frisch (1999; uraufgeführt 1961) zurück, in dem der Protagonist als Jude ausgegeben und dadurch negativen Stereotypen ausgesetzt ist. Mit der Zeit übernimmt er die negativen Verhaltensweisen, die ihm als Jude unterstellt werden, und wird später ermordet. Der Andorra-Effekt kann so erklärt werden, dass das vermittelte „Bild“ von außen in ein inneres Selbstbild integriert wird, das als Schema das eigene Verhalten (situationsspezifisch) beeinflusst (u. a. Froming et al., 1998; Pawlik & Buse, 1979). Parallelen für den Einfluss des Selbstbilds finden sich bei Sternzeichen. Es wird häufig diskutiert, ob Sternzeichen die Persönlichkeit von Menschen determinieren (vgl. Burke, 2012; Laux, 2008). Zumeist werden keine Zusammenhänge festgestellt und Befunde, die Unterschiede ausmachen, als Artefakte beschrieben (Hartmann et al., 2006; Wunder, 2003). Bei Pawlik und Buse (1979; Laux, 2008) zeigten sich hingegen bei Proband*innen, die an den Einfluss von Sternzeichen glaubten, Zusammenhänge zwischen Sternzeichen und Persönlichkeitseigenschaften. Der Glaube an Sternzeichen und Astrologie scheint moderierend zu wirken: Pawlik und Buse (1979; vgl. Laux, 2008) erklärten ihren Befund dadurch, dass die glaubenden Proband*innen das Wissen über Sternzeichen internalisiert hatten und dadurch ein (implizites) Selbstkonzept aufbauten, an das sich die Proband*innen anpassten. Fraglich bleibt, ob sich tatsächlich die Persönlichkeit dadurch verändert oder lediglich das Antwortverhalten (Laux, 2008).

Im Kontext der Erwartungseffekte werden z. B. auch der Hawthorne- und der John-Henry-Effekt erwähnt. Der Hawthorne-Effekt beschreibt die Veränderung des Verhaltens auf Basis einer Beobachtung bzw. einer Teilnahme an einer Studie (u. a. Wickström & Bendix, 2000) und der John-Henry-Effekt die Veränderung des Verhaltens (z. B. besondere Anstrengung) aufgrund der Annahme, zu einer Kontrollgruppe in einer experimentellen Studie zu gehören (u. a. Saretsky, 1972; auch kompensatorischer Wettstreit genannt, Döring & Bortz, 2016). Beide Effekte sind jedoch keine Erwartungseffekte im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Wenn Versuchsteilnehmende jedoch die Hypothesen, die überprüft werden sollen, kennen oder erahnen und sich diesen (bewusst oder unbewusst) anpassen, liegt ein Erwartungs-Erwartungseffekt vor (vgl. Döring & Bortz, 2016).

In dieser Arbeit sollen fremdbezogene, interpersonale Erwartungseffekte, die sich auf die Kompetenz anderer Personen beziehen, fokussiert werden. Kompetenzerwartungen können aus unterschiedlichen Quellen stammen: Mitteilung durch Dritte, öffentliche Bewertungen und Gerüchte, aber auch wesentlich durch Stereotype.