Erwartungen werden im allgemeinen Sprachgebrauch als eine vorausschauende Vermutung, Annahme oder Hoffnung beschrieben (Duden, o. J.). Unter Erwartungen in (motivations-)psychologischen Theorien wird „[…] die wahrgenommene Chance, dass sich aus einer Situation ein bestimmter Zielzustand ergibt“ (Heckhausen & Heckhausen, 2018, S. 122) verstanden. Allgemeiner formuliert es Rudolph (2009, S. 21): „Eine Erwartung ist die subjektive Vorwegnahme eines Ereignisses […].“

Der Begriff „Erwartung“ wird im Zusammenhang mit dem Erwartungseffekt im deskriptiven Sinne verstanden, d. h. als mentale Antizipation zukünftiger Ereignisse, von deren Eintreffen der Erwartende überzeugt ist. Neben dieser Wortbedeutung wird „Erwartung“ (expectancy) [...] auch im übertragenen, normativen Sinn gebraucht, d. h. zur Äußerung eines Wunsches, einer Forderung oder einer Norm. Wenn aus Perspektive des Erwartungseffekts hohe Leistungserwartungen als wünschenswert angesehen werden, sind also nicht hohe Leistungsforderungen gemeint [...]. (Ludwig, 2018, S. 142)

Erwartungen sind durch kognitive Prozesse determiniert (u. a. Thompson & Suñol, 1995) und sie sind eine subjektive Größe, die sich durch den soziokulturellen Bezugsrahmen und die Lerngeschichte der einzelnen Person ergeben (Heckhausen & Heckhausen, 2018; Nickel, 1985). Michael et al. (2012) beschreiben, dass, obwohl Erwartungen auf viele Arten entstehen können, sie oft das Ergebnis von Suggestionen sind, die von anderen Menschen oder von der Umwelt kommen. Wichtig ist, dass Erwartungen explizierbar sein können oder aber unbewusst das eigene Verhalten und Denken steuern (Michael et al., 2012).

Der Erwartungseffekt steht für „[…] einen hochspezifischen Einfluss von Antizipationen auf das Antizipierte“ (Ludwig, 2018, S. 141) und beschreibt das Eintreten der eigenen Erwartung. Neben dem Begriff des Erwartungseffekts, der in der vorliegenden Arbeit genutzt wird, wird auch die Bezeichnung „(sich) selbsterfüllende Prophezeiung“ (self-fulfilling prophecy) im Lehr-Lern-Kontext synonym genutzt (vgl. Ludwig, 2018; Tauber, 1997). Wenn ein bestimmtes Ereignis erwartet wird, setzt sich automatisch eine Kette aus Kognitionen und Verhalten in Gang, um dieses Ereignis auszulösen, und Ursachen dafür werden fehlattribuiert (vgl. Geis, 1993; Michael et al., 2012). Erwartungseffekte lassen sich demnach mit zwei unterschiedlichen Phänomenen beschreiben (vgl. u. a. Greitemeyer, 2020):

  1. 1.

    Fehlinterpretation der Wahrnehmung: Ankommende Informationen werden konform mit den eigenen Erwartungen aufgenommen, verarbeitet und behalten.

  2. 2.

    Ausrichtung des eigenen Verhaltens, was eine Beeinflussung des Verhaltens anderer in erwartungskongruente Richtung nach sich zieht.

Häufig wird der Erwartungseffekt ausschließlich für bisher nicht eingetroffene bzw. nicht zutreffende Erwartungen genutzt (z. B. Jussim & Harber, 2005; Lorenz, 2019), d. h., es liegen noch keine tatsächlichen (bzw. „objektiven“) Informationen zur erwarteten Eigenschaft vor. Jedoch können Erwartungseffekte auch weiter gefasst werden: Ein Kind, das bisher gute schulische Leistung erzielte, wird dadurch höhere Kompetenzerwartungen bei den Lehrkräften auslösen, die wiederum die Interaktion beeinflussen können. „Eine solche Variante der sich selbst erfüllenden Prophezeiung wird als self-maintaining prophecy [(sich) selbst erhaltende Prophezeiung] bezeichnet: Sie führt zur Beibehaltung eines Leistungsstandards bzw. vergrößert die ohnehin schon vorhandenen Leistungsunterschiede zwischen Schülern“ (Ludwig, 2018, S. 142).

Obwohl die Auswirkungen von Erwartungen sehr stark sein können, ergeben sie sich nicht immer. In einigen Fällen können sie sich sogar umkehren, beispielsweise wenn eine Erwartung im Konflikt mit der bisherigen Erfahrung steht (Michael et al., 2012). Erlebt eine Lehrkraft beispielsweise über Jahre hinweg eine bestimmte Schülerin im Unterricht als besonders engagiert und fähig, kann die Aussage und Erwartungsinduktion von vermeintlichen Expert*innen, dass diese Schülerin sich in der Zukunft verschlechtern wird, dazu führen, dass die Erwartung nicht selbsterfüllend wird, sondern dass die Lehrkraft diese Schülerin besonders unterstützt. Dies kann eine Erklärung dafür sein, dass die Erwartungsmanipulationen, die von Rosenthal und Jacobson (1966, 1971) durchgeführt wurden, nur in den Klassenstufen 1 und 2 einen Einfluss auf die Lehr-Lern-Interaktion und somit auf die Leistung der Lernenden hatten und in den höheren Klassenstufen nicht (s. Kapitel 6).

Für interpersonale Kompetenzerwartungseffekte innerhalb des Lehr-Lern-Kontexts hat sich die Bezeichnung Pygmalion-Effekt von Rosenthal und Jacobson (1971) durchgesetzt (Ludwig, 2018). Neben dem Pygmalion-Effekt (s. Kapitel 6) gibt es noch eine Reihe von weiteren Erwartungseffekten sowie Differenzierungen.