Erwartungen sind Antizipationen und können an verschiedene Ziele gerichtet werden (Kapitel 3), z. B. an Situationen, an Gegenstände, aber auch an Personen, sowohl auf andere als auch auf sich selbst (Kapitel 4). Personenbezogene Erwartungen können sich u. a. aus Stereotypen und Vorurteilen ergeben, da sich soziale Gruppen vermeintlich in bestimmten Eigenschaften unterscheiden. Das stereotype content model (u. a. Fiske & Taylor, 2017; Fiske et al., 1999; Fiske et al., 2002) stellt insbesondere die Wärme bzw. Sympathie und die Kompetenz als relevante Faktoren für die Beurteilung von Mitgliedern sozialer Gruppen heraus (Kapitel 5).

Der Pygmalion-Effekt wurde im Lehr-Lern-Kontext erstmalig im sogenannten Oak School-Experiment von Rosenthal und Jacobson (1966, 1971) untersucht und stieß die Forschung zu Kompetenzerwartungen von Lehrpersonen an (Kapitel 6). Rosenthal und Jacobson (1966, 1971) manipulierten nach dem Zufallsprinzip die Kompetenzerwartungen von Lehrkräften an ihre Schüler*innen, die sich selbst erfüllten: Schüler*innen, von denen die Lehrkräfte dachten, sie würden im Laufe des Schuljahres besonders viele Kompetenzen und Fähigkeiten aufbauen, schnitten in einem Test am Ende eines Schuljahres tatsächlich besser ab. Inzwischen ist der Pygmalion-Effekt mehrfach überprüft und bestätigt worden (u. a. Jussim & Harber, 2005; Ludwig, 2018). Damit der Pygmalion-Effekt wirksam werden kann, ist es notwendig, dass Lernende das Verhalten der Lehrperson hinnehmen und diesem keinen Widerstand entgegensetzen (Brophy & Good, 1976; Tauber, 1997). Erwartungen sind auch im Fokus von Theorien der Lehr-Lern-Interaktion, z. B. im transaktionalen Modell von Nickel (1985), das sich explizit auf den Pygmalion-Effekt beruft (Kapitel 7), sowie im Interaktionsregulationsmodell von Rosemann (1978), der insbesondere normative Erwartungen betrachtet (Kapitel 8). Viele Kompetenzerwartungen von Lehrpersonen sind in natürlichen Lehr-Lenr-Situationen aufgrund von verschiedenen Stereotypen verzerrt (Kapitel 9).

Weitergehend können auch Lernende Erwartungen an Lehrpersonen haben (Feldman & Prohaska, 1979; Kapitel 10). Diese speisen sich u. a. auch aus den Gruppenzugehörigkeiten der Lehrkräfte (z. B. Geschlechtsstereotype), durch Informationen von Geschwistern bzw. Freund*innen oder durch öffentliche Lehrbewertungen im Internet (z. B. in Deutschland spickmich.de im Zeitraum von 2007 bis 2014 oder in den USA RateMyTeachers.com und RateMyProfessors.com). Die Lernendenerwartungen (Kapitel 11) an Lehrpersonen beeinflussen das Erleben und Verhalten der Lernenden, darunter auch die Leistung. Die Frage nach der Wirkung von Lernendenkompetenzerwartungen auf Lehrpersonen steht jedoch selten im Fokus. Bis heute sind in der englisch- und deutschsprachigen Literatur nur zwei Studien zu finden, die die Auswirkungen auf die Lehrpersonen erfassten (Feldman & Prohaska, 1979; Feldman & Theiss, 1982), die auch zu unterschiedlichen Befunden kamen: Bei Feldman und Prohaska (1979) konnte sich ein Einfluss der Lernendenkompetenzerwartungen auf die Lehrpersonen mediiert über das Verhalten zeigen, bei Feldman und Theiss (1982) blieb ein Effekt aus.

Die vorliegende Arbeit widmet sich empirisch Lernendenkompetenzerwartungen an Lehrpersonen, einem vernachlässigten Aspekt in der Lehr-Lern-Interaktion (Kapitel 12). In zwei experimentellen Studien werden stereotypbasierte Erwartungsverzerrungen auf Basis von Geschlecht betrachtet (Kapitel 13 und Kapitel 14). Anschließend wird das Verhalten von Lernenden in Abhängigkeit ihrer Kompetenzerwartungen an Lehrpersonen experimentell untersucht (Kapitel 15). Eine vierte Studie fokussiert Korrelate von Lernendenkompetenzerwartungen im Erleben von Lehre bei sowohl Lernenden als auch Lehrpersonen in einer Felduntersuchung (Kapitel 16). Im Anschluss an die Präsentation der vier empirischen Untersuchungen werden die Ergebnisse im Gesamten in Bezug auf theoretische Verortung (Kapitel 17), Limitationen und Stärken (Kapitel 18) sowie praktische und theoretische Ableitungen diskutiert (Kapitel 19).