Ausgehend vom transaktionalen Modell der Lehr-Lern-Interaktion von Nickel (1985), wurde der in der (Pädagogischen) Psychologie weitestgehend vernachlässigten Frage nachgegangen, wie Lernendenkompetenzerwartungen an Lehrpersonen wirken. Lehrendenerwartungen zeigen sich als ein interaktionaler Baustein, der das Angebot der Lehrpersonen an Lernende beeinflusst (Angebots-Nutzungs-Modell; u. a. Helmke, 2017; Reusser & Pauli, 2010). Besonders wenig ist über die Wirkung der Lernendenkompetenzerwartungen, insbesondere auf Lehrpersonen, bekannt. In anderen Worten: Es gibt kaum empirische Evidenz, die auf selbsterfüllende bzw. -erhaltende Prophezeiungen von Lernendenerwartungen in der Lehr-Lern-Interaktion hinweist. In Anlehnung an das Modell von Nickel (1985) wurden deswegen folgende drei Fragen fokussiert:

  1. 1.

    Wie stark werden Lernendenkompetenzerwartungen an Lehrpersonen durch (Geschlechts-)Stereotype bestimmt?

  2. 2.

    Wie wird das nonverbale Verhalten von Lernenden in Abhängigkeit von den Lernendenkompetenzerwartungen an Lehrpersonen beeinflusst?

  3. 3.

    Wie wirken initiale Lernendenkompetenzerwartungen an Lehrpersonen auf die Wahrnehmung der Lehr-Lern-Situation – sowohl bei Lernenden als auch bei Lehrpersonen?

Die erzielten Befunde der vier durchgeführten Studien sind in Abbildung 17.1 kurz und überblicksartig festgehalten.

Abbildung 17.1
figure 1

Überblick über die erzielten Ergebnisse mit Bezug auf die Lernendenkompetenzerwartungen

Hinweise auf Geschlechts-Professions-Assoziationen (Guimond & Roussel, 2001; Miller et al., 2018; Nosek et al. 2009; Plante et al., 2009; Smyth & Nosek, 2015; Su et al., 2009) zeigten sich bisher für Lehrkräfte im Unterrichtsfachvergleich Deutsch und Physik (Degner et al., 2019; Zander et al., 2015). Die Studien 1 und 2 fokussierten solche Geschlechts-Professions-Assoziationen, abweichend zu Degner et al. (2019) und Zander et al. (2015) wurden die Unterrichtsfächer Deutsch und Mathematik herangezogen. Beide Studien nutzten Fallvignetten, in denen eine Lehrperson beschrieben wurde. Die Hypothesen, dass weibliche Lehrkräfte im Deutschunterricht kompetenter und im Mathematikunterricht weniger kompetent beurteilt werden als männliche, fanden auf Basis der erzielten Ergebnisse unter Berücksichtigung von Kontrollvariablen weder in Studie 1 noch in Studie 2 Unterstützung. Weitergehend konnte Studie 2 auch nicht aufzeigen, dass weibliche Lehrkräfte in der Grundschule, in der Erziehung ein wesentlicher Aspekt der Tätigkeit ist (relativ zum Gymnasium), als kompetenter beurteilt werden als männliche Lehrkräfte in der Grundschule oder weibliche im Gymnasium. Weibliche Lehrkräfte wurden in Studie 1 – unter Kontrolle von Wärme- (stereotype content model; s. Kapitel 5) und Attraktivitätsbeurteilung („beauty is good“ stereotype; Dion et al., 1972; Eagly et al., 1991; Langlois et al., 2000) – unabhängig vom Fach kompetenter beurteilt. Der Effekt war jedoch klein (Cohen, 1988). Auch in Studie 2 konnte ein kleiner Effekt dafür ausgemacht werden, dass weibliche Lehrkräfte kompetenter beurteilt werden als männliche. Dieser Effekt verschwindet jedoch unter Berücksichtigung der Wärmebeurteilung. Somit müssen die Hypothesen zu den Geschlechts-Professions-Assoziationen verworfen werden. Dies kann an den ausgewählten Unterrichtsfächern liegen: Es kann vermutet werden, dass Physik (im Vergleich zu Mathematik) als besonders männliche Domäne wahrgenommen wird, Deutsch jedoch nicht als besonders weibliche. Es ist außerdem denkbar, dass männliche Lehrkräfte als Substereotyp (vgl. Machunsky, 2020) repräsentiert sind, also nicht dem Stereotyp eines („typischen“ bzw. „durchschnittlichen“) Mannes entsprechen, weil sie einen weiblich assoziierten Beruf ergriffen haben und somit allgemein wärmer und weniger kompetent beschrieben werden. Welche (Unterrichts-)Fächer mit welchem Geschlecht assoziiert sind, sollte in Folgestudien spezifisch für den schulischen bzw. den jeweiligen Kontext untersucht werden, sowohl mit expliziten – wie in Studie 1 und 2 sowie bei Zander et al. (2015) – als auch mit (eher) impliziten Maßen – wie der reverse correlation classification task bei Degner et al. (2019) oder mit Impliziten Assoziationstests (vgl. Eckes, 2020). Insgesamt spiegeln die Ergebnisse der Studien 1 und 2 die bisherigen unsystematischen Befunde wider (s. Kapitel 11).

Die zweite Fragestellung zielte auf das nonverbale Verhalten. Es wurde davon ausgegangen, dass sich die Kompetenzerwartungen im nonverbalen Verhalten widerspiegeln. Deswegen sollten sich Lernende mit unterschiedlichen Kompetenzerwartungen an Lehrpersonen auch unterschiedlich verhalten. Einige bisherige Studien zeigten, dass Lernende, die eine kompetente Lehrkraft erwarteten, sich zugewandter und weniger störend verhielten (Feldman & Prohaska, 1979; Jamieson et al., 1987) sowie höhere Leistungen erzielten (Adediwura & Tayo, 2007; Edwards et al., 2009; Feldman & Prohaska, 1979; Jamieson et al., 1987). Diese Annahme kann auf Basis der Ergebnisse der Studie 3 verworfen werden. Nichtsdestotrotz zeigten sich kleine bis mittelgroße Effekte für den Blickkontakt sowie für das Abstützen des Kopfes: Proband*innen in der Galatea-Bedingung, also bei der Erwartung einer kompetenten Lehrperson, hielten weniger Blickkontakt und sahen häufiger weg als Proband*innen in der Golem-Bedingung. Außerdem zeigte sich ein statistischer Trend dafür, dass Proband*innen in der Galatea-Bedingung weniger lang ihren Kopf abstützten. Somit verhielten sie sich weniger zugewandt, was im Widerspruch zu bisherigen Studienbefunden steht. Der Stimulus, der in der dritten Studie Anwendung fand, war ein relativ monotoner Vortrag. Bei Feldman und Prohaska (1979) gab es dyadische Interaktionen, bei Jamieson et al. (1987) ein „natürliches“ Lehr-Lern-Setting im Feld. Somit kann argumentiert werden, dass Lernende sich nicht per se zugewandter verhalten, wenn sie eine kompetente Lehrperson erwarten, sondern mehr „Haltung bewahren“ (im Sinne von mehr Körperspannung). Bei wenig motivierenden und stimulierenden Reizen vonseiten der Lehrperson versuchen Lernende möglicherweise, sich Stimulation außerhalb des Lehr-Lern-Settings zu holen, sodass sie häufiger weggucken. Demgegenüber verlieren Lernende, die eine weniger kompetente Lehrperson erwarten, die Körperspannung: Sie stützen sich ab, z. B. ihren Kopf auf den Armen, was ihnen einen längeren Blickkontakt ermöglicht. Dies ist ein Verhalten, das bei Mehrabian (1969) als Entspanntheit (relaxation) beschrieben wird und mit Status und Macht assoziiert ist. Es kann also vermutet werden, dass geringe Kompetenzerwartungen über die Entspanntheit weniger Respekt vor der Lehrperson vermitteln. Somit müssen sowohl die Zugewandtheit (immediacy) und die Entspanntheit (relaxation) gemeinsam berücksichtigt werden und sind je unterschiedlich für verschiedene Lehr-Lern-Settings bedeutsam. Die erzielten Ergebnisse sprechen für zwei „Langeweileprofile“, die mit Entspanntheit in Beziehung stehen. Diese Interpretation bedarf jedoch künftiger Forschung.

Die finale dritte Fragestellung, wie initiale Lernendenkompetenzerwartungen an Lehrpersonen auf die Wahrnehmung von Lehre wirken, wurde in der Studie 4 in einer Feldstudie untersucht. Dabei ist die Wirkung auf die Lernenden selbst von der Wirkung auf die Lehrperson zu unterscheiden. Die (retrospektiv erfassten) Lernendenkompetenzerwartungen (erster Eindruck) gingen auf Lernendenseite mit Motivation sowie mit der Störungswahrnehmung und der Wahrnehmung von Störungsmissmanagement einher, wenn für die Attraktivitätsbeurteilung und die (retrospektiv erfassten) Wärmeerwartungen (erster Eindruck) kontrolliert wird: Je höher die Lernendenkompetenzerwartungen waren, desto mehr Interesse und weniger Langeweile wurden berichtet, auch wurden weniger Störungen sowie ein besseres Störungsmanagement wahrgenommen. Die Wärmeerwartung war demgegenüber insbesondere im Zusammenhang mit den sozioemotionalen Variablen (Freude, Frustration und Beziehungswahrnehmung) innerhalb einer Lehrveranstaltung. Dieses Muster zeigt die Bedeutsamkeit von Erwartungen an unterschiedliche Bereiche resp. psychologische Wahrnehmungsdimensionen. Die Effekte von Kompetenzerwartungen sind nicht mit denen von Wärmeerwartungen vergleichbar. Die hier durchgeführte Differenzierung basiert auf dem stereotype content model (u. a. Fiske et al., 1999; s. Kapitel 5), alternative Unterscheidungen sind jedoch möglich (z. B. Koch et al., 2016). Nichtsdestotrotz ergänzen diese Ergebnisse bisherige Befunde, die ausschließlich die Lernendenkompetenzerwartungen berücksichtigen (Feldman & Prohaska, 1979; Feldman & Theiss, 1982; bei Jamieson et al., 1987, wird auch die Motivierungsfähigkeit unter Kompetenz subsumiert). Zu beachten ist, dass sich die Zusammenhänge der vierten Studie in den Mehrebenenanalysen fast ausschließlich auf der Gruppenebene (between) zeigten, die Individualebene (within) kann jedoch nur wenig Varianz aufklären. In der Forschung und auch in der Theorie zu (Kompetenz-)Erwartungen werden gruppendynamische Prozesse bei selbsterfüllenden Prophezeiungen nicht berücksichtigt. Die Befunde aus Studie 4 zeigen den Bedarf, solche Prozesse systematisch zu betrachten.

Die Wirkung der Lernendenkompetenzerwartungen auf die Lehrpersonen war im Vergleich zur Wirkung auf die Lernenden gering und zeigte keine eindeutige Systematik. Der Befund von Feldman und Prohaska (1979), dass sich vermeintlich kompetente Lehrpersonen aus Studierendensicht auch als kompetenter beschreiben, konnte repliziert werden. Unter Berücksichtigung der retrospektiv erfassten, initialen Wärmebeurteilung (erster Eindruck) und der Attraktivitätsbeurteilung zeigte sich der mittlere Kompetenzeindruck im positiven Zusammenhang mit dem Erleben positiver Emotionen, von Flow und mit der eigenen Kompetenz in einer Lehrveranstaltungssitzung sowie im negativen Zusammenhang mit dem Erleben von Störungsmissmanagement. Somit lässt sich aus den erzielten Ergebnissen schließen, dass auch Lehrpersonen von hohen Lernendenkompetenzerwartungen an sie profitieren. Die eher kleinen bis mittelgroßen Zusammenhänge (.366 ≤ |β| ≤ .401) sind in Anbetracht der Feldstudie und damit aufgrund vieler unterschiedlicher Beeinflussungen auf die Einschätzung einer spezifischen Lehrveranstaltungssitzung als bedeutsam einzuordnen. Außerdem ist es möglich, dass Lehrpersonen durch höhere Machtmittel in der asymmetrischen Lehr-Lern-Interaktion (u. a. Misamer, 2019; Steins, 2013; Thies, 2010) weniger in ihrem Erleben und Handeln durch die Lernenden beeinflusst werden als Lernende durch Lehrpersonen. Somit können also keine großen Effekte erwartet werden. Insgesamt kann resümiert werden, dass Lernendenkompetenzerwartungen die Lehr-Lern-Interaktion beeinflussen, und es braucht weitere Befunde, um die konkreten Auswirkungen auszumachen.