Wie aufgezeigt, ist die Lehr-Lern-Interaktion und -Beziehung komplex und dynamisch (Knierim et al., 2017; Koopmans & Stamovlasis, 2016; Perrez et al., 2006; Thies, 2017; s. Kapitel 1) sowie wesentlich für erfolgreiches Lehren und Lernen. Auch Hattie (2015) beschreibt die Lehr-Lern-Beziehung als eine der bedeutsamsten Variablen für die Lernendenleistungen und -einstellungen (Rang 11). Unterschiedliche theoretische Ansätze zeigen die Komplexität der Lehr-Lern-Interaktion auf (vgl. Thies, 2017). Ein relevanter Faktor, der die Lehr-Lern-Interaktion beeinflussen kann, sind Erwartungshaltungen (s. Kapitel 3).

Eine besondere Form von Erwartungshaltungen wurde als Pygmalion-Effekt von Rosenthal und Jacobson (1966, 1971) beschrieben, was zu einer Reihe von Untersuchungen von Erwartungseffekten in Lehr-Lern-Situationen führte (s. Kapitel 6). Dabei wurden insbesondere interpersonale, fremdbezogene Kompetenzerwartungen von Lehrpersonen an Lernende betrachtet – sowohl in positiver (Galatea-Effekt) als auch in negativer Richtung (Golem-Effekt). Nach dem stereotype content model (u. a. Fiske et al., 1999; s. Kapitel 5) ist die Kompetenzbeurteilung neben der Wärmebeurteilung eine zentrale Dimension bei der sozialen Wahrnehmung, die die Lehr-Lern-Interaktion beeinflussen kann. In vielen Studien wurden experimentelle Designs eingesetzt, um den Einfluss der Kompetenzerwartungen auszumachen. Außerhalb des Labors, in „natürlichen“ Lehr-Lern-Kontexten können Kompetenzerwartungen auf verschiedenen Informationen beruhen. So zeigen sich stereotypbasierte Verzerrungen der Lehrendenkompetenzerwartungen z. B. auf Basis von Geschlecht, ethnischem Hintergrund und sozioökonomischem Status der Lernenden (s. Kapitel 9).

Modelle der Lehr-Lern-Interaktion sehen allerdings nicht nur Lehrpersonen, sondern auch Lernende als aktive Gestaltende der Unterrichtssituation und der Beziehung zu den Lehrpersonen. Das transaktionale Modell von Nickel (1985; s. Kapitel 7) beschreibt eine zirkuläre Wechselwirkung der Lehrpersonen und Lernenden, die durch individuelle kognitive Schemata, darunter Erwartungshaltungen, geprägt ist. Allerdings sind Lernendenkompetenzerwartungen an Lehrpersonen in der pädagogisch-psychologischen Forschung kaum adressiert und fokussieren meist die Auswirkungen auf die Lernenden selbst. Lediglich zwei (englischsprachige) Studien beschreiben die Wirkung von Lernendenkompetenzerwartungen auf das Erleben und Verhalten von Lehrpersonen (Feldman & Prohaska, 1979; Feldman & Theiss, 1982), die jedoch zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen.

Das Anliegen dieser Arbeit ist es daher, die Lernendenkompetenzerwartungen an Lehrpersonen empirisch in den Mittelpunkt zu stellen. Dabei soll nicht nur die Entstehung von Kompetenzerwartungen, sondern auch die Wirkung der Erwartungen auf die Lernenden selbst sowie auf die Lehrpersonen fokussiert werden. Dieses Anliegen führt auf Basis des transaktionalen Modells von Nickel (1985) zu drei übergeordneten Fragestellungen:

  1. 1.

    Wie stark werden Lernendenkompetenzerwartungen an Lehrpersonen durch (Geschlechts-)Stereotype bestimmt?

  2. 2.

    Wie wird das nonverbale Verhalten von Lernenden in Abhängigkeit von den Lernendenkompetenzerwartungen an Lehrpersonen beeinflusst?

  3. 3.

    Wie wirken initiale Lernendenkompetenzerwartungen an Lehrpersonen auf die Wahrnehmung der Lehr-Lern-Situation – sowohl bei Lernenden als auch bei Lehrpersonen?

Um diese Fragestellungen zu untersuchen, werden vier empirische Studien durchgeführt (s. Abbildung 12.1). Die Studien 1 und 2 fokussieren die erste Fragestellung. In diesen werden mithilfe von Fallvignetten die kognitiven Repräsentationen hinsichtlich der Kompetenz von schulischen Lehrkräften in Abhängigkeit von Geschlecht (Studie 1 und 2), Unterrichtsfach (Studie 1 und 2) und Schulform (Studie 2) fokussiert. Es wird davon ausgegangen, dass sich Geschlechtsstereotype, die durch den soziokulturellen Bezugsrahmen geprägt werden, in den Kompetenzbeurteilungen widerspiegeln: Basierend auf bisherigen Befunden zu Geschlechts-Professions-Assoziationen (Guimond & Roussel, 2001; Miller et al., 2018; Nosek et al., 2009; Plante et al., 2009; Smyth & Nosek, 2015; Su et al., 2009), sollten Frauen als Lehrkraft in für die Schule relativ „feminin“ angesehenen Bereichen des Unterrichts (Unterrichtsfach Deutsch; Schulform Grundschule) und Männer in relativ „maskulin“ angesehenen Bereichen (Unterrichtsfach Mathematik; Schulform Gymnasium) kompetenter beurteilt werden.

Abbildung 12.1
figure 1

Überblick über die Studien in Anlehnung an das transaktionale Modell von Nickel (1985)

Studie 3 zielt auf die zweite Fragestellung. Der Pygmalion-Effekt bei Lehrendenkompetenzerwartungen wurde bereits bei Rosenthal und Jacobson (1966, 1971) dadurch erklärt, dass sich die Erwartungen im Verhalten der Lehrkräfte widerspiegeln. Diese Erklärung kann mit zahlreichen empirischen Studien (vgl. u. a. Harris & Rosenthal, 1985) Bestätigung finden. Die Befundlage zu den Auswirkungen von Lernendenkompetenzerwartungen auf das Lernendenverhalten sind rar und bereits über 30 Jahre alt (Feldman & Prohaska, 1979; Jamieson et al., 1987). In der Studie 3 werden deswegen im experimentellen Laborsetting die Kompetenzerwartungen an eine Lehrperson manipuliert. Auf Basis von videografierten Situationen werden ausgewählte Aspekte des nonverbalen Verhaltens in Abhängigkeit einer Kompetenzmanipulation überprüft.

Verschiedene weitere Zusammenhänge mit den Kompetenzerwartungen Lernender werden in der Studie 4 (zur dritten Fragestellung) in einer Feldstudie fokussiert. Dabei wird von den Lernenden der erste Eindruck, den sie von der Lehrperson hatten, erfasst und dieser mit der Wahrnehmung des eigenen Erlebens und Verhaltens (a, Abbildung 12.1) sowie der Bewertung der Lehrperson innerhalb einer Lehrveranstaltung in Verbindung gebracht (b, Abbildung 12.1). Diese Betrachtungen sollen bisherige Befunde zur Auswirkung der Lernendenkompetenzerwartungen auf die Lernenden selbst replizieren, jedoch unter Berücksichtigung sowohl der Individual- als auch der Gruppenebene (s. Kapitel 11). Zusätzlich wird der in der bisherigen Forschung vernachlässigte Aspekt der Wirkung auf die Lehrpersonen, die bisher nur von Feldman und Prohaska (1979) sowie Feldman und Theiss (1982) untersucht wurde, empirisch überprüft (c, Abbildung 12.1). Da Feldman und Prohaska (1979) sowie Feldman und Theiss (1982) die Wirkung mit experimentellen Laborsettings sowie dyadischen Lehr-Lern-Interaktionen untersuchten, soll erweiternd und ergänzend eine Feldstudie mit Gruppen durchgeführt werden.