Wie aufgezeigt, speisen sich die Lernendenkompetenzerwartungen (kognitives Schema nach Nickel, 1985) an Lehrpersonen aus unterschiedlichen Quellen (des soziokulturellen Bezugsrahmens, Nickel, 1985). Diese Erwartungen wirken sich nach dem transaktionalen Modell von Nickel (1985; s. Kapitel 7) sowohl auf das Erleben und Verhalten der Lernenden selbst aus als auch auf die Lehrpersonen (s. Abbildung 7.1).

1 Bewertung der Lehrpersonen

Ein Bereich, der augenscheinlich im Zusammenhang mit den Lernendenkompetenzerwartungen an Lehrpersonen stehen sollte, ist die Evaluation und die Bewertung der Lehrpersonen. Dies wird auch durch die empirische Befundlage gestützt.

So zeigten Terry und McIntosh (1988), dass der erste Eindruck eines Kurses inklusive des ersten Eindrucks von der Lehrperson mit der Evaluation sechs und zwölf Wochen später zusammenhängen. Für den angenommenen Lernerfolg (amount learned) zeigten sich keine Zusammenhänge zwischen dem ersten Eindruck und der späteren Evaluation, jedoch zwischen Evaluationen in der sechsten und zwölften Woche. Interessant ist, dass sich für die Lehr-Lern-Interaktion (teacher’s concern, methods of criticizing and correcting students, extent to which teacher motivates students) zu allen drei Messzeitpunkten signifikante Zusammenhänge fanden.

In experimentellen Studien, in denen die Lernendenkompetenzerwartungen durch Fallvignetten variiert wurden, zeigte sich, dass die spätere Bewertung der Lehrperson kompetenter, sympathischer und motivierter ausfällt, wenn die Proband*innen glaubten, sie hätten es mit einer vermeintlich kompetenten Lehrperson zu tun (Feldman & Prohaska, 1979; Feldman & Thiess, 1982; Lewandowski et al., 2012; Perry et al., 1979; Reavis, 1979; Reber et al., 2017; Towler & Dipboye, 2006). Die Effekte variieren allerdings je nach betrachteter Dimension. Haefele (1988) ließ Studierende videografierte Lehrkräfte (in einer 5. oder einer 11. Klasse) bewerten, von denen entweder behauptet wurde, sie wären kompetent (Galatea-Bedingung) oder nicht kompetent (Golem-Bedingung). Im Fokus stand dabei die Bewertung der Klarheit und Verständlichkeit. Haefele (1988) konnte jedoch keine signifikanten Unterschiede zwischen der Golem- und der Galatea-Bedingung berichten, wenngleich deskriptiv die Unterschiede in die erwartete Richtung gingen. Auch Towler und Dipboye (2006) fanden keine Unterschiede bezüglich der Klarheit, Feldman und Theiss (1982) hingegen konnten einen signifikanten Effekt ausmachen.

Leventhal et al. (1977) untersuchten Kompetenzerwartungen im Kontext der Qualität der Lehre. Sie zeigten Proband*innen entweder ein Video eines guten oder eines schlechten Vortrags. Vorher wurde die Kompetenzerwartung über die Beschreibung der Lehrperson als erfahren oder unerfahren manipuliert. Das Ergebnis zeigte einen Haupt- und einen Interaktionseffekt: Gute Vorträge erzielten insgesamt die positivsten Ergebnisse. Innerhalb der guten Vorträge wurden vermeintlich Unerfahrene schlechter in der allgemeinen Fähigkeit bewertet als Erfahrene. Kein Unterschied ergab sich zwischen den Bedingungen der schlechten Vorträge.

2 Erleben und Verhalten der Lernenden

Haben Lernende eine Erwartung an Lehrpersonen ausgebildet, dann beeinflusst diese auch sie selbst und dies in unterschiedlichster Weise. Feldman und Prohaska (1979, Studie 1) manipulierten die Kompetenzerwartung in einer dyadischen Lehr-Lern-Interaktion in einer Laborstudie, die auf Video aufgezeichnet wurde. In der einen Bedingung wurde behauptet, die Lehrperson (Konföderierte) sei kompetent und freundlich (Galatea-Bedingung), in der anderen, dass die Lehrperson inkompetent und uneffektiv sei (Golem-Bedingung). Dabei zeigten sich folgende Ergebnisse: Die Lernenden der Golem-Bedingung fanden (1.) den Unterricht schwieriger, (2.) den Unterricht weniger interessant und (3.) effektiv, (4.) die Lehrperson weniger kompetent, (5.) intelligent, (6.) enthusiastisch und (7.) sympathisch als die Lernenden der Galatea-Bedingung. Weiterhin zeigten sie (8.) keine signifikant schlechtere Leistung bei Merkaufgaben (paired associates), (9.) die Lernenden schnitten jedoch schlechter bei einem Multiple-Choice-Test ab. (10.) Im Gesamten zeigte sich ein statistischer Trend für das nonverbale Verhalten der Lernenden: In der Galatea-Bedingung waren die Lernenden der Lehrperson zugewandter (immediacy). Im Einzelnen gab es einen signifikanten Unterschied bezüglich des Vorbeugens und einen Trend beim prozentualen Blickkontakt (jeweils stärkere Ausprägung in der Galatea-Bedingung). Statistisch nicht signifikant waren die Distanz zur Lehrperson und die seitliche Orientierung (Linie zwischen Schultern der Versuchsperson im schrägen Winkel (somit nicht im rechten Winkel) zur Linie zwischen den Köpfen der Versuchsperson und konföderierten Lehrperson; s. Abbildung 11.1).

Abbildung 11.1
figure 1

Schematische Darstellung der seitlichen Orientierung

In einer Feldstudie von Jamieson et al. (1987) wurde in zwei Klassen eine positive Erwartung hinsichtlich Kompetenz und Motivation an eine Lehrkraft induziert, zwei weitere Klassen ohne Erwartungsmanipulation dienten als Kontrollgruppe. Es zeigte sich, dass die Schüler*innen in der Experimentalgruppe nach der dreiwöchigen Unterrichtseinheit höhere akademische Leistungen erzielten als die der Kontrollgruppe. Da einige Schüler*innen sieben Tage nach der Kompetenzmanipulation auf Video aufgenommen wurden, konnte auch das nonverbale Verhalten der Kinder ausgewertet werden. Dabei zeigte sich, dass die Schüler*innen in der Experimentalgruppe mehr positives, erwünschtes (z. B. Ausführen der Arbeitsaufträge) und weniger negatives, unerwünschtes Verhalten (z. B. Unterhaltungen mit Banknachbar*innen) zeigten als die Kinder der Kontrollgruppe.

In einigen Studien zeigte sich analog zum selbstgesteuerten Lernen mit Computerprogrammen (Fries et al., 2006; vgl. Haimerl & Fries, 2010) ein Lernvorteil, wenn eine kompetente Lehrperson erwartet wird (Adediwura & Tayo, 2007; Edwards et al., 2009; Jamieson et al., 1987; Reber et al., 2017). In anderen Studien ergab sich allerdings kein Unterschied zugunsten einer hohen Lernendenkompetenzerwartung an eine Lehrperson (Lewandowski et al., 2012; Perry et al., 1979; Towler & Dipboye, 2006) und in wieder anderen nur unter bestimmten Bedingungen (z. B. bei einzelnen Testverfahren; Feldman & Prohaska, 1979; nur bei schlechten Vorträgen, Leventhal et al., 1977) oder marginal signifikant (Feldman et al., 1983). Weitergehend fanden Lernende, die eine hohe Kompetenzerwartung an eine Lehrperson hatten, den Unterricht interessanter (Feldman & Prohaska, 1979; Feldman & Theiss, 1982), hatten einen positiveren Affekt (der den Zusammenhang zwischen Kompetenzerwartung und Leistung teilweise mediiert; Edwards et al., 2009) und waren eher bereit, an einer potenziellen Lehrveranstaltung teilzunehmen (Kowai-Bell et al., 2011, 2012). Zusammenfassend stehen Lernendenkompetenzerwartungen an Lehrpersonen mit zugewandtem Verhalten und einem positiven Erleben der Lehre im Zusammenhang.

3 Effekte von Lernendenkompetenzerwartungen an Lehrpersonen auf die Lehrpersonen

Das von den Lehrpersonen wahrgenommene Lernendenverhalten hängt mit dem Erleben der Lehrpersonen in der Lehr-Lern-Situation zusammen. So steht die Wahrnehmung von Engagement, Disziplin und einer guten Beziehung im Zusammenhang mit der Selbstwirksamkeit, der Freude, der Angst und Frustration bei Lehrpersonen (Hagenauer et al., 2015). Wie sich die Lernendenkompetenzerwartungen auf die Lehrpersonen auswirken, ist bisher kaum gezielt empirisch untersucht, dennoch konnten einige wenige Erkenntnisse gewonnen werden. Bei Kowai-Bell et al. (2012) sollten sich Dozierende in eine auf RateMyProfessors.com bewertete Person hineinversetzen. Dabei ergab sich, dass das Hineinversetzen in eine gut bewertete Person im Vergleich zu einer schlecht bewerteten Person dazu führte, dass die Dozierenden stärker daran glaubten, dass Studierende sie mochten, dass sie mehr Selbstvertrauen im Umgang mit Studierenden in der Zukunft berichteten und einen positiveren Affekt erlebten. Kein Einfluss hingegen zeigte sich bezüglich des Vertrauens in die eigenen Fähigkeiten.

Nachdem Feldman und Prohaska (1979, Studie 1) zeigten, dass sich Lernende in Abhängigkeit ihrer Kompetenzerwartungen an die Lehrpersonen unterschiedlich verhielten, betrachteten sie die Auswirkungen der ausgemachten Verhaltensmuster auf die Lehrpersonen (Studie 2). Das nonverbale Verhalten der Lernenden wurde von einer Konföderierten systematisch anhand der Ergebnisse der ersten Studie manipuliert. In der Galatea-Bedingung saßen die Konföderierten näher an den lehrenden Probandinnen (nur Frauen), beugten sich weiter nach vorn und hatten mehr Blickkontakt als Konföderierte der Golem-Bedingung. Außerdem saßen die Konföderierten der Galatea-Bedingung gerade ausgerichtet und die Konföderierten der Golem-Bedingung hatten eine eingedrehte Haltung (s. Abbildung 11.1). Die Effektstärken, die sich zwischen der Golem- und Galatea-Bedingung ergaben, sind in Abbildung 11.2 dargestellt. Die lehrenden Probandinnen fanden sich in der Galatea-Bedingung (1.) fröhlicher, (2.) wärmer und (3.) weniger unzufrieden mit sich selbst als die lehrenden Versuchspersonen der Golem-Bedingung. Die Lernenden wurden in der Golem-Bedingung (4.) weniger enthusiastisch und (5.) sympathisch durch die lehrenden Probandinnen eingeschätzt als in der Galatea-Bedingung. Beim nonverbalen Verhalten der Versuchspersonen gab es keine signifikanten Unterschiede. (6.) Zwei untrainierte Beobachtende, die jeweils nur 20 Sekunden einer Unterrichtseinheit auf einem Video sahen, bewerteten die lehrenden Probandinnen der Galatea-Bedingung in ihrem Verhalten signifikant adäquater als die Teilnehmenden der Golem-Bedingung. Ähnliches zeigte sich bei einer Manipulation der Erwartungen aufseiten der Lernenden hinsichtlich der Wärme (warm oder kalt; Herrell, 1971). In der Warm-Bedingung wurde die Lehrperson am Ende eines Vortrags allgemein positiver von unabhängigen Beurteiler*innen bewertet als in der Kalt-Bedingung, was auf einen Einfluss der Erwartungsmanipulation auf das Verhalten der Lehrpersonen schließen lässt.

Abbildung 11.2
figure 2

Effektstärken bei Feldman und Prohaska (1979)

Mottet et al. (2004) untersuchten auch die Wirkung des nonverbalen Verhaltens der Lernenden auf die Wahrnehmung von Lehrpersonen: Lehrpersonen als Studienteilnehmende sollten sich ein Video ansehen, das Lernende aus der Perspektive der Lehrperson zeigte. Anschließend sollten die Proband*innen angeben, wie sehr sie die Lernenden mochten und inwieweit sie gewillt waren, Wünschen der Lernenden nachzugeben (z. B. Fristverlängerungen). Die Videos unterschieden sich einerseits auf Basis der verbalen Aktivität der Lernenden (z. B. stellten sie viele Fragen) und im nonverbalen Verhalten der Lernenden. So zeigten die Lernenden entweder freundliches und zugewandtes (z. B. Lächeln, Blickkontakt, aufrechte Haltung) oder ein abgewendetes Verhalten (z. B. neutraler Gesichtsausdruck, wenig Blickkontakt). Es zeigte sich, dass nur das nonverbale Verhalten einen Einfluss auf die berichtete Sympathie (liking; 66 % erklärte Varianz) und Bereitschaft, Wünschen nachzugeben (31 % erklärte Varianz), hatte. Mottet et al. (2004) konnten also auch mit einem videobasierten Experiment die Bedeutsamkeit des nonverbalen Verhaltens von Lernenden in der Lehr-Lern-Interaktionsgestaltung aufzeigen.

Feldman und Theiss (1982) manipulierten ähnlich wie Feldman und Prohaska (1979) Erwartungen, aber parallel die Erwartungen der Lehrpersonen (an die Lernenden) und die der Lernenden (an die Lehrpersonen). Die Haupteffekte der Manipulation der Lehrendenkompetenzerwartung replizierte weitestgehend Ergebnisse zum Pygmalion-Effekt. Ein Effekt der Lernendenkompetenzerwartung auf die von drei Ratern durchgeführte Leistungsbewertung der Lehrperson wurde nicht signifikant. Außerdem äußerten die Proband*innen keine Unterschiede bezüglich der Einstellung der Lehrpersonen zum Unterricht oder zu den Lernenden: „Although the data reveal that teacher expectations about the student were communicated to the student, resulting in differential student performance, the results do not indicate that student expectations about the teacher were transmitted to the teacher“ (Feldman & Theiss, 1982, S. 222–223). Weitergehend konnten Feldman und Theiss (1982) bei paralleler Erwartungsinduktion bei Lehrpersonen und Lernenden keine signifikanten Interaktionseffekte ausmachen.

Insgesamt zeigen sich also, sofern Unterschiede ausgemacht werden, ähnliche Phänomene wie bereits beim Pygmalion-Effekt (Rosenthal & Jacobson, 1966, 1971; vgl. Nickel, 1985), wenn die Erwartungen von Lernenden an Lehrpersonen variieren. Im Modell von Nickel (1985; s. Abbildung 7.1) lassen sich diese Befunde analog zu den Befunden der Lehrendenerwartungen einsortieren: Die Lernendenkompetenzerwartungen (als kognitive Schemata) entstehen auf Basis unterschiedlicher Informationen vor dem Hintergrund des soziokulturellen Bezugsrahmens, z. B. durch Stereotype, Bewertungen von anderen (u. a. Online-Portale) oder in Studien durch Versuchsleitungen. Die Kompetenzerwartungen führen dann zu einem angepassten Verhalten der lernenden Person, also bei hohen Kompetenzerwartungen zu einem zugewandteren und störungsärmeren Verhalten (Feldman & Prohaska, 1979; Jamieson et al., 1987). Dieses Verhalten wird von der Lehrperson wahrgenommen und in eigene Schemata in Bezug auf die lernende Person eingebaut (interaktionales Schema; Thies, 2010), die sich wiederum in eigenem Erleben und Verhalten widerspiegeln. Beispielsweise reagieren Lehrpersonen auf positive Lernendenkompetenzerwartungen mit mehr positiven und weniger negativen Emotionen, sie sind motivierter und werden effektiver im Verhalten eingeschätzt (Feldman & Prohaska, 1979). Somit können Lernendenerwartungen sowohl Ausgangspunkt für positive (Galatea-Effekt) als auch negative Lehr-Lern-Interaktionsmuster (Golem-Effekt) sein.

Die Ebene der Analysen ist bei den zitierten Studien zu den Lernendenerwartungen jedoch unterschiedlich: Einige fokussierten Erwartungen einzelner Lernender (u. a. Adediwura & Tayo, 2007; Feldman & Prohaska, 1979; Feldman & Theiss, 1982), darunter in medienbasierten Lernarrangements (u. a. Fries et al., 2006; Haimerl & Fries, 2010), andere Erwartungen von Lernendengruppen (Hagenauer et al., 2015; Herrell, 1971; Jamieson et al., 1987). Zumeist wird auf die unterschiedlichen Ebenen nicht eingegangen, aber bereits Leventhal et al. (1977) wiesen auf die Problematik der Analyse-Einheiten hin, also ob einzelne Lernende oder Gruppenwerte (session means) betrachtet werden sollten. Jamieson et al. (1987) diskutierten explizit, dass Lernendenerwartungen mehr Einfluss auf Lehrpersonen haben sollten, wenn die Erwartungen der Lernenden ähnlich sind – im Vergleich zu nicht geteilten, unterschiedlichen Lernendenerwartungen an Lehrpersonen. Statistisch wurde in keiner der Untersuchungen zwischen einem Einfluss auf Individual- und auf Gruppenebene unterschieden.

Im Modell von Nickel (1985) wird die Lehr-Lern-Interaktion zwischen einer lehrenden und einer lernenden Person beschrieben. Die Lernendengruppe, z. B. die Gesamtheit der Schüler*innen einer Klasse, wird nicht als Entität benannt, spielt aber im soziokulturellen Bezugsrahmen als gegenwärtige Beziehung hinein. Die Gruppendynamik innerhalb von Lehr-Lern-Gruppen ist hochkomplex und nicht-linear (Knierim et al., 2017; Koopmans & Stamovlasis, 2016; Perrez et al., 2006; Thies, 2017). So können sich Lernende an dem Verhalten von anderen Lernenden orientieren und sich anpassen, sich den Gruppennormen widersetzen, das Gruppenklima auf die Kompetenz der Lehrpersonen zurückführen usw. (vgl. Jamieson et al., 1987) – auch Gruppenpolarisationsprozesse (vgl. Myers & Lamm, 1976) in Bezug auf die Lernendeneinschätzungen der Lehrkompetenz sind denkbar. Deswegen sollten bei Untersuchungen in Lehr-Lern-Settings sowohl die Individual- als auch die Gruppenebene betrachtet werden.