Das Bildungssystem, darunter insbesondere Schulen und Hochschulen, übernimmt nach Fend (2009) vier gesellschaftliche Funktionen:

  1. 1.

    Enkulturationsfunktion: „Reproduktion grundlegender kultureller Fertigkeiten und kultureller Verständnisformen“ (Fend, 2009, S. 49)

  2. 2.

    Qualifikationsfunktion: Vermittlung von Fertigkeiten und Kenntnissen, „die zur Ausübung ‚konkreter‘ Arbeit erforderlich sind“ (S. 50)

  3. 3.

    Allokationsfunktion: „Aufgabe, die Verteilungen auf zukünftige Berufslaufbahnen und Berufe vorzunehmen“ (S. 50)

  4. 4.

    Integrations- und Legitimationsfunktion: Schaffung einer Identität, „die die innere Kohäsion einer Gesellschaft mitbestimmt“ (S. 50), und „Schaffung von Zustimmung zum politischen Regelsystem“ (S. 50)

Diese und weitere Aufgaben (z. B. Hochschule und Schule als Arbeitgeberinnen) müssen in einem komplexen Zusammenspiel unterschiedlicher Systeme aus individuellen Bedürfnissen von Personen verschiedener Gruppen (u. a. Lehrpersonen, Lernende und Erziehungsberechtigte), institutionellen Rahmenbedingungen sowie gesellschaftlichen und kulturellen Vorstellungen geleistet werden. Eine Bildungseinrichtung ist ein komplexes, dynamisches System und „[…] umfaßt das Systemganze (die […] Schulklasse einschließlich Lehrer […]), die Systemelemente selbst (die Schüler, die Lehrer, ggfs. die Schulleiter, die Schulordnung, usw.) und die wechselseitigen Beziehungen zwischen diesen Elementen (z. B. Lehrer-Schüler-Beziehungen)“ (Brunner & Huber, 1991, S. 386).

Für die Aufgabenerfüllung des Bildungssystems ist die Lehr-Lern-Interaktion und -Beziehung wesentlich und wichtig. Sie kann angelehnt an Hofer und Haimerl (2008; s. a. Rosemann, 1978) wie folgt bestimmt werden: Die Lehr-Lern-Interaktion ist ein aufeinander bezogenes Handeln von mindestens einer lehrenden und mindestens einer lernenden PersonFootnote 1. Sie ist ein multidimensionales, komplexes und dynamisches Konstrukt (Knierim et al., 2017; Koopmans & Stamovlasis, 2016; Perrez et al., 2006; Thies, 2017) und steht in der Schule im Zusammenhang mit Leistung, Motivation, der sozial-emotionalen Kompetenz (vgl. Knierim et al., 2017; Quin, 2016) und trägt zur Persönlichkeitsentwicklung bei (Siebertz-Reckzeh & Hofmann, 2017). Auch im Hochschulbereich zeigten sich positive Effekte für eine gelungene, zugewandte Interaktionsgestaltung (u. a. Komarraju et al., 2010; Micari & Pazos, 2012).

In den Betrachtungen von Hattie (2015) rangiert die Lehr-Lern-Beziehung auf Platz 11 der bedeutsamsten Variablen für die Lernendenleistungen und -einstellungen im schulischen Kontext mit einer mittleren Effektstärke von d = 0.72. Bei Hattie (2015) wurde jedoch ausschließlich die Meta-Analyse von Cornelius-White (2007) zugrunde gelegt, die sich insbesondere den personenzentrierten Variablen nach Rogers (1957, 1981) aufseiten der Lehrpersonen widmete. Es zeigte sich, dass insbesondere Nondirektivität (r = .35), Empathie (r = .32), Warmherzigkeit (r = .32) sowie die Förderung abstrakten Denkens (r = .29) im Zusammenhang mit positiven Effekten auf der Lernendenseite stehen. Ein empathischer, wertschätzender Umgang mit Lernenden fördert also die kognitive Entwicklung, die Motivation und das Wohlbefinden. Allerdings wird hier nur eine unidirektionale und paradigmatisch eng gefasste Perspektive auf die Lehr-Lern-Interaktion betrachtet.

Die Komplexität der Lehr-Lern-Interaktion schlägt sich in unterschiedlichen theoretischen Ansätzen nieder. In der Forschung standen zunächst unidirektionale Modelle im Fokus. So gibt es auf der einen Seite Ansätze, die die lernende Person als Ausgangspunkt der Lehr-Lern-Interaktion annahmen (Neill, 1973, nach Thies, 2017; Nohl, 1933, nach Thies, 2017), andere fokussieren die Lehrperson (z. B. Erziehungsstile von Lewin et al., 1939; Erziehungsdimensionen von Tausch & Tausch, 1963, nach Thies, 2017). Später entstanden komplexere interaktionale und transaktionale Modelle, die reine Ursache-Wirkungs-Beziehungen infrage stellten (aptitude-treatment interaction von Cronbach & Snow, 1977, nach Münzer & Brünken, 2018; transaktionales Modell von Nickel, 1985). Außerdem wurden (weitere) Ansätze aus der Erziehungsstilforschung („Freiheit in Grenzen“ von Schneewind & Böhmert, 2009a, 2009b, 2009c, bei Kiel et al., 2013), der Bindungstheorie, der Selbstbestimmungstheorie (vgl. Knierim et al., 2017) und der Psychotherapie (u. a. humanistische Ansätze bei Cornelius-White, 2007; Tausch, 2017; psychoanalytische Ansätze bei Lühmann, 2019; Schaub, 2013) auf die Lehr-Lern-Interaktion übertragen.

Die Lehr-Lern-Interaktion kann auch aus der Perspektive von Angebots-Nutzungs-Modellen (z. B. Helmke, 2017; Reusser & Pauli, 2010), den derzeit prominentesten Wirkmodellen der Lehr-Lern-Forschung (Kohler & Wacker, 2013; Seidel, 2014), betrachtet werden. Kernaussage dieser Theorien ist, dass Lehre und Unterricht ein Angebot darstellen, das nur durch die entsprechende Nutzung zu positiven Wirkungen, d. h. zu Kompetenzaufbau und weiteren Entwicklungen (z. B. der Persönlichkeit), führen kann. Das Unterrichtsangebot ist kontextgebunden und wird sowohl von den Lehrpersonen als auch den Lernenden bereitgestellt. Wenngleich es zumeist nicht explizit in den Modellen Erwähnung findet, ist auch der Beziehungsaufbau in der Lehre bzw. im Unterricht als Angebot der beteiligten Interaktionspartner*innenFootnote 2 anzusehen, das genutzt werden muss.

Lehre und Unterricht – sowohl in der Schule, der Hochschule als auch in der Erwachsenenbildung – sind durch eine asymmetrische Dependenz (Thies, 2010) sowie höhere Machtmittel aufseiten der Lehrpersonen (Misamer, 2019; vgl. Steins, 2014) bestimmt. Dennoch sind Lernende nicht einfach als abhängige Variablen zu betrachten, die ausschließlich auf Lehrpersonen reagieren, sondern sie sind aktiver Bestandteil in der Gestaltung der Lehr-Lern-Interaktion (vgl. u. a. Nickel, 1985; Thies, 2010).

Die meisten Modelle und Theorien zur Lehr-Lern-Interaktion sind zumeist genuin für die schulische und/oder familiäre Interaktion formuliert, können aber weitestgehend auch auf den Hochschulbereich und die Erwachsenenbildung übertragen werden. Erwachsenenbildung lässt sich nur tendenziell vom Lernen in der Schule abgrenzen (Siebert, 1996, nach Klein, 2011; vgl. Helmke et al., 2008). „Unabhängig vom Alter kann man zur Beschreibung und Erklärung von Lernprozessen die gleichen wissenschaftlichen Konstrukte heranziehen“ (Stern, 2006, nach Klein, 2011, S. 120). Für einen Überblick zur Lehr-Lern-Interaktionsforschung sei hier auf die Herausgeberwerke von Schweer (2017; zum historischen Abriss s. Thies, 2017) und Herrmann (2019) verwiesen.