In diesem Kapitel soll der theoretische Rahmen zur Erklärung ideologie-basierter Gewalttaten vorgestellt werden. Die Entwicklung dieses Erklärungsmodells soll anhand dreier Leitfragen erfolgen:

(1) Warum haben Personen eine hohe Bereitschaft, ideologie-basierte Gewalttaten in Westeuropa zu begehen?

Es geht in diesem Zusammenhang darum, die spezifischen Überzeugungen zu beschreiben, die dafür verantwortlich sind, dass die jeweiligen Personen dazu bereit sind, ideologie-basierte Gewalthandlungen zu nutzen, um eigene Ziele zu realisieren (Abschnitt 5.2).

(2) Wie und warum kommt es zu dieser hohen ideologie-basierten Gewaltbereitschaft?

In diesem Abschnitt (Abschnitt 5.3) soll erklärt werden werden, wie und warum es zu diesen gewaltbegünstigenden Überzeugungen, die die Grundlage für eine hohe ideologie-basierte Gewaltbereitschaft bilden, kommt. Diese Disposition zu Gewalt ist, gemäß dieses Ansatzes, die Folge eines Radikalisierungsprozesses, also einer Internalisierung von Inhalten einer islamistischen Ideologievariante einer Organisation, Gruppe oder anderen Person in das eigene Überzeugungssystem, sowie von eigenen Erfahrungen mit der Gewaltausübung und/oder sozialen Verstärkern.

Dabei ist zu bedenken, dass eine Radikalisierung nicht zwangsläufig in einer Gewaltakzeptanz münden muss, eine radikalisierte Person kann ebenso die ausschließliche Nutzung gewaltfreier Mittel zur Systemüberwindung befürworten und Gewalt ablehnen (vgl. Puschnerat 2006, S. 221 f.). Welche Haltung (gewaltablehnend oder –befürwortend) sich im Rahmen einer Radikalisierung herausbildet, hängt davon ab, mit was für einer Ideologievariante eine Person in Kontakt kommt und ob sie diese akzeptiert. In dem vorliegenden Modell richtet sich der Fokus primär auf die Frage, warum eine Person ausgerechnet eine gewaltbefürwortende Ideologievariante mit einer Ungleichwertigkeitsannahme übernimmt.

(3) Unter welchen Bedingungen gipfelt eine hohe ideologie-basierte Gewaltbereitschaft in einer islamistischen Gewalthandlung in Westeuropa?

Da stets nur einige wenige Personen mit einer hohen ideologie-basierten Gewaltbereitschaft tatsächlich gewalttätig werden, muss dargelegt werden, welche Bedingungen begünstigen, dass Personen dieser Risikogruppe überhaupt Gewalt ausüben (Abschnitt 5.4). Der vorliegende Erklärungsansatz verbindet somit ein Radikalisierungsmodell, das die Entstehung einer gewaltbegünstigenden Disposition erklärt, und ein Tatmodell, das die Begehung einer konkreten islamistischen Gewalthandlung in Westeuropa erklärt.

5.1 Grundannahmen des Erklärungsmodells

Am Anfang des Kapitels sollen zuerst die Grundannahmen des Modells, die als wesentliche Orientierungspunkte bei der Modellentwicklung dienten und sie maßgeblich beeinflussten, vorgestellt werden. Die Annahmen leiten sich einerseits aus den weiter oben formulierten Anforderungen an eine Theorie und andererseits aus Erkenntnissen neuerer Forschungen ab.

1) Nicht die Handlungsmotivationen, sondern die Mittel stehen im Fokus.

Im Rahmen dieses Erklärungsmodells wird davon ausgegangen, dass für die Beantwortung der Frage, warum eine Person eine ideologie-basierte Gewalthandlung begeht, vor allem geklärt werden muss, warum die jeweilige Person aus der breiten Palette an potentiellen Handlungsoptionen zur Zielrealisierung ausgerechnet Gewalt bevorzugt.

Die Frage des Warums der Tatbegehung führt oft zu einer Suche nach der ausschlaggebenden Motivation des Täters. Denn Grundlage für jedes Handeln sind immer bestimmte Ziele, die man durch eine Handlung realisieren will. Im Kontext islamistischer Gewalt weisen Studien auf eine Reihe relevanter Tatmotivationen hin: z. B. die Herbeiführung politischer Veränderungen, das Erleben von Nervenkitzel oder der Erwerb von Ansehen (vgl. z. B. Cottee & Hayward 2011; Nesser 2015; Venhaus 2010; Zick et al. 2016). Diese Ziele können potentiell durch unterschiedliche gewaltlose als auch gewalttätige Mittel erreicht werden, beispielsweise können politische Veränderungen erzielt werden, indem man sich z. B. parteipolitisch engagiert, Demonstrationen organisiert oder aber indem man mittels Gewalt Druck ausübt. Gewalt ist somit stets nur eine Möglichkeit neben vielen anderen (vgl. Albrecht 2002, S. 795). Zum Verständnis, warum eine Person eine ideologie-basierte Gewalttat begangen hat, reicht daher eine alleinige Fokussierung auf die zugrundeliegende Motivation nicht aus. Es muss zusätzlich begründet werden, warum die Person aus dem breiten Handlungsspielraum gerade Gewalt „ausgewählt“ hat, um ihr jeweiliges Ziel zu verwirklichen, und eben keine gewaltfreien Mittel bevorzugt hat (vgl. Waldmann 2004b, S. 17). Folglich sollte ebenfalls mitbetrachtet werden, ob legale oder gewaltfreie Verhaltensmöglichkeiten zur Zielerreichung überhaupt vom Akteur wahrgenommen wurden, und falls ja, warum diese Alternativen nicht „gewählt“ wurden und stattdessen eine Schädigung von Menschen in Kauf genommen wurde.

Aber auch innerhalb des Spektrums ideologie-basierter Gewalttaten gibt es unterschiedliche Formen. Neben der Verübung von Gewalttaten in Westeuropa besteht ebenso die Möglichkeit, in ein Kriegsgebiet (z. B. Afghanistan, Irak oder Syrien) zu reisen und dort gegen westliche Truppen zu kämpfen, um sich im Rahmen des Jihads zu engagieren. Empirische Untersuchungen demonstrieren, dass die meisten gewaltbereiten Islamisten in Westeuropa die letztere Alternative bevorzugen (vgl. z. B. Hegghammer 2013). Die Gründe, warum einige Personen eher den einen Weg wählen und wieder andere eher den anderen, sollen in den folgenden Kapiteln im Vordergrund stehen.

2) Die Haltung einer Person gegenüber einer Handlung ist entscheidend für die Bevorzugung oder Meidung dieser Verhaltensweise

Im Rahmen dieses Erklärungsmodells wird die These vertreten, dass die Haltung einer Person gegenüber der jeweiligen Handlung ausschlaggebend dafür ist, ob sie bereit ist, dieses Mittel anzuwenden und anderen vorzuziehen.

Verschiedene Studien in unterschiedlichen Kriminalitätsbereichen machen ersichtlich, dass die Bewertung einer Handlung durch die jeweilige Person die Wahrscheinlichkeit der Nutzung dieser Handlung erhöht bzw. senkt (vgl. z. B. Brockhaus & Kolshorn 2005; Bussmann 2004; Eckert et al. 2001; Möller 2001; Paternoster & Bachman 2013; Sutterlüty 2002). Besonders anschaulich zeigt sich dies in der Untersuchung von Michael-Sebastian Honig (1986) zur Erziehungsgewalt, in der viele der interviewten Eltern, die ihre Kinder körperlich züchtigen, diese Praktik nicht als Gewalt bewerten, sondern als eine legitime und effektive Erziehungsmethode. Sie sehen darin keine schädigende Handlung für das Kind, sondern sind fest davon überzeugt, es sei ein gutes Mittel, um die geistige und moralische Entwicklung zu fördern.

Im Kontext ideologie-basierter Gewalt tendieren die Täter ebenfalls dazu, ihre Gewalthandlungen nicht als Verbrechen zu bewerten. Aus ihrer Sicht tun sie vielmehr etwas Gutes, da sie sich für eine gerechte Sache engagieren (vgl. Hasenclever & Sändig 2011, S. 207). Diese Überzeugungen haben einen wichtigen Einfluss auf die Bereitschaft diese Handlungen zu begehen, weshalb sie ein bedeutsamer Schlüssel zum Verständnis der Begehung der jeweiligen Handlung sind (vgl. Arena & Arrigo 2005, S. 490 ff.; Neidhardt 1982a, S. 319; Sherman 2007, S. 9; Tibi 2002, S. 94; Waldmann 2006, S. 258). Die sich aus Bewertungen wie diesen ergebende Haltung gegenüber ideologie-basierter Gewalt wird im Rahmen dieses Ansatzes als ideologie-basierte Gewaltbereitschaft bezeichnet. Sie und ihre vier Komponenten, die sie bilden, sollen in den folgenden Kapiteln ausführlicher behandelt werden.

3) Die Höhe der Gewaltbereitschaft ist das Ergebnis des gemeinsamen Einflusses von Risiko- und Schutzfaktoren

Im Rahmen dieses Erklärungsmodells wird angenommen, dass die Höhe der Gewaltbereitschaft einer Person das Resultat ihrer Erfahrungen ist, die sie im Verlaufe der eigenen Biographie gemacht hat (vgl. Mansel 2000, S. 73). Erfahrungen und externe Einflüsse führen aber niemals per se zu einer hohen bzw. niedrigen Gewaltbereitschaft. Empirisch zeigt sich vielmehr, dass immer nur ein Teil, oft auch nur ein kleiner Teil, von Personen, die bestimmten negativen Erfahrungen oder sozialen Einflüssen ausgesetzt waren, problematische Verhaltensweisen zeigt. So führen etwa Gewalterfahrungen im Rahmen der familialen Sozialisation oder soziale Ungleichheitsstrukturen und die damit eventuell verbundenen Benachteiligungsgefühle nicht zwangsläufig zu eigener Gewalttätigkeit (vgl. z. B. Cierpka et al. 2007, S. 93). Ausschlaggebend für die Höhe der Gewaltbereitschaft ist, was für eine Haltung gegenüber Gewalt und anderen Menschen sich im Rahmen dieser Erfahrungen ausbildet, ob sich z. B. eine ablehnende Einstellung zu Gewalt entwickelt oder ob beispielsweise die Überzeugung entsteht, Gewalt sei ein effektives Mittel, um Probleme zu lösen. Die Wahrscheinlichkeit eigener Gewalttätigkeit steigt nur, sofern sich eine positive Einstellung zu Gewalt, d. h. eine hohe Gewaltbereitschaft, ausbildet.

Die entscheidende Frage ist nun, warum nur einige dieser Personen solch eine Bereitschaft zu Gewalt entwickeln und andere hingegen, die den gleichen belastenden Einflüssen ausgesetzt sind, keine gewaltbegünstigende Haltung entwickeln. Grundlegend hierfür ist, dass sich Personen aktiv mit gemachten Erfahrungen und der eigenen Umwelt auseinandersetzen (vgl. Hurrelmann & Bauer 2015, Kap. 4). Aus diesem Grund berücksichtigt dieser theoretische Ansatz das Zusammenspiel sowohl von individuellen als auch sozialen Risiko- bzw. Schutzfaktoren. Konkret wird angenommen, dass bestimmte individuelle oder soziale Faktoren die negative Wirkung von belastenden Erfahrungen abfedern können und so verhindern, dass sich eine hohe Gewaltbereitschaft trotz potentiell risikoerhöhenden Einflüssen ausbildet.

4) Es gibt unterschiedliche Beweggründe für und Wege in die Begehung islamistischer Gewalttaten in Westeuropa.

Es wird im Rahmen dieses Erklärungsmodells davon ausgegangen, dass sich die Faktoren, die für eine hohe ideologie-basierte Gewaltbereitschaft verantwortlich sind, von Person zu Person unterscheiden können. Die eine Person neigt vielleicht primär zu Gewalt, weil die Gewaltausübung aus ihrer Sicht mit dem Erleben von Nervenkitzel verbunden ist, eine andere Person wiederum präferiert Gewalt, weil sie glaubt, es sei ein effektives Mittel um ideologische Ziele zu erreichen (vgl. Köhler 2017, S. 26 f.; Nesser 2015; Zick et al. 2016). Es bedarf folglich eines Ansatzes, der in der Lage ist, diese unterschiedlichen bereitschaftserhöhenden Faktoren in einem gemeinsamen theoretischen Rahmen zu erfassen. Dies soll in diesem Modell mit Hilfe der vier Komponenten, die in den folgenden Kapiteln detaillierter vorgestellt werden, geschehen.

Darüber hinaus existieren auch unterschiedliche Entwicklungsverläufe hin zu einer hohen ideologie-basierten Gewaltbereitschaft (vgl. Borum 2017, S. 24 f.; Silke 2008, S. 105). Die eine Person hat z. B. im Rahmen der Sozialisation in einer Freundschaftsclique von Islamisten eine erhöhte Gewaltbereitschaft entwickelt, eine andere Person hat sich hingegen durch die Beschäftigung mit Propagandamaterial im Internet selbst radikalisiert. Marc Sageman (2006, S. 127 f.) identifiziert in seiner Studie zu Al Qaida-Terroristen insgesamt 7 verschiedene Pfade in den gewaltsamen Jihad. So zeigen sich etwa Unterschiede, je nachdem ob sich eine Person im außereuropäischen Ausland oder innerhalb eines europäischen Landes radikalisiert hat. Eine adäquate Theorie darf sich aus diesem Grund nicht bloß auf einen einzigen Radikalisierungspfad beschränken, sondern muss fähig sein, die unterschiedlichen Wege hin zu einer hohen Bereitschaft, ideologie-basierte Gewalttaten in Westeuropa zu verüben, integrieren zu können. Zusätzlich muss die Theorie darauf eingestellt sein, dass es im Zeitverlauf zu Veränderungen bei den typischen Radikalisierungswegen kommen kann, etwa aufgrund von staatlichem Verfolgungsdruck, oder neue Radikalisierungswege entstehen können (wie z. B. das Phänomen der Selbstradikalisierung über das Internet).

5) Die Interaktion zwischen Person & Kontext ist handlungsleitend.

Im Rahmen dieses Erklärungsmodells wird angenommen, dass wann und wie sich eine hohe Bereitschaft, ideologie-basierte Gewalthandlungen zu begehen, äußert, in besonderem Maße auch durch situative Faktoren sowie soziale Einflüsse bestimmt ist. Das bedeutet, externe Faktoren, wie etwa Befehle, Verhaltensmodelle oder auf welche Personen man im Laufe seiner Radikalisierung trifft, sind zum einen mit dafür verantwortlich, wann eine hohe Gewaltbereitschaft in tatsächliches Gewaltverhalten umschlägt, und zum anderen, in welcher ideologie-basierten Gewaltform (z. B. Hass-Kriminalität, Terrorakt oder der Beteiligung an Kampfhandlungen im Ausland) sich die Bereitschaft konkret ausdrückt (vgl. Borum 2014, S. 291).

Das Modell kombiniert somit einen dispositionalen und einen situativen Ansatz zur Erklärung. Rein dispositionale Ansätze sind nämlich begrenzt, da sie Gewalt nur mit Hilfe einer bestimmten Disposition (z. B. gewaltbefürwortenden Einstellungen) zu begründen versuchen. Weniger Beachtung wird hingegen der konkreten Situation und den mit ihr verbundenen sozialen Einflussfaktoren geschenkt, in der es zur Ausübung von Gewalt kommt oder eben nicht kommt. Dabei wäre gerade diese situative Perspektive sehr erkenntnisbringend, da eine Disposition zu Gewalt nicht in jeder gewaltaffinen Situation (z. B. nach einer Provokation) in Gewalt mündet (vgl. Birkbeck & LaFree 1993). Sie stellt lediglich einen begünstigenden Faktor dar. Rein situationsbezogene Ansätze wiederum, die Gewalt ausschließlich durch situative Umstände begründen wollen, sind aber ebenso ungeeignet, da es ihnen nicht gelingt zu erklären, warum einige Personen unter den gleichen Situationsbedingungen eher gewalttätig werden als andere. Beispielsweise lösten die Mohammed-Karikaturen bei vielen Muslim*innen weltweit Wut aus, aber nur eine Minderheit hat ihrem Ärger durch aktives Handeln (entweder in gewaltfreier oder aber gewalttätiger Form) Luft gemacht. Ohne die Einbeziehung von Merkmalen der jeweiligen Personen ist eine adäquate Erklärung hierfür nur schwer möglich.

5.2 Ideologie-basierte Gewaltbereitschaft

Forschungen zu Islamisten im Westen (Europa, Nordamerika und Australien/Neuseeland) demonstrieren, dass sie sich aus unterschiedlichen Gründen engagieren. Für einige ist der Wunsch, ideologische Ziele zu realisieren und gesellschaftliche Veränderungen für sich und/oder andere leidende Muslim*innen herbeizuführen, grundlegender Antrieb für ihr Engagement (vgl. z. B. de Poot & Sonnenschein 2011; Nesser 2015; Zick et al. 2016). Für einen anderen Teil wiederum sind nicht so sehr ideologische Ziele die primäre Motivation für ihr Handeln, sondern andere, nicht-ideologische Motivationen stehen für sie im Vordergrund. In diesbezüglichen Studien kristallisieren sich im Wesentlichen vier Antriebe, die auch in Kombination vorliegen können, heraus: der Wunsch nach Nervenkitzel, Ruhm, Rache oder religiösem Heil (vgl. z. B. Cottee & Hayward 2011; de Poot & Sonnenschein 2011; Helmus 2009; Lützinger 2010; Olsen 2009; Spaaij 2012; Venhaus 2010; Wiktorowicz 2005b; Zick et al. 2016). Die meisten Islamisten im Westen beschränken sich bei der Realisierung ihrer jeweiligen Ziele ausschließlich auf gewaltfreie Mittel, lediglich eine Minderheit schreckt nicht davor zurück, auch Gewalttaten im Westen zu verüben, um ihre Ziele zu erreichen. Es stellt sich daher die Frage, warum einige Islamisten ausgerechnet zum Mittel Gewalt zur jeweiligen Zielerreichung greifen und wieder andere Personen davon Abstand nehmen.

Im Rahmen des vorliegenden Erklärungsmodells wird davon ausgegangen, dass die Haltung gegenüber der Begehung ideologie-basierter Gewalttaten in Westeuropa von besonderer Bedeutung dafür ist, ob eine Person dieses Mittel anderen vorzieht oder nicht. Auf Grundlage von empirischen Studien aus der allgemeinen kriminologischen Forschung (vgl. z. B. Dodge 2003; Kroneberg et al. 2010; Mansel 2001; Slaby & Guerra 1988) wird angenommen, dass sich diese Haltung aus einem Bündel von gewaltbegünstigenden bzw. –hemmenden Überzeugungen zusammensetzt, die sich vier unterschiedlichen Kategorien zuordnen lassen: 1. der moralischen Bewertung der Handlung, 2. den positiven und negativen Folgen, die aus Sicht der jeweiligen Person mit einer Gewalthandlung für das eigene Wohl verbunden sind, 3. den erwarteten Folgen für das Wohl anderer Menschen sowie 4. Selbstwirksamkeitserwartungen. Je nach Inhalt der einzelnen Komponenten (z. B. moralisch legitimierende vs. moralisch ablehnende Einstellung gegenüber Gewalt) und ihrem Zusammenspiel können diese die Neigung, Gewalthandlungen in Westeuropa zu begehen, erhöhen bzw. senken (siehe Abbildung 5.1).

Diese Haltung wird als ideologie-basierte Gewaltbereitschaft bezeichnet. Diese Gewaltbereitschaft ist eine relativ stabile, personenspezifische Verhaltenstendenz, die auf einem Kontinuum von gering bis hoch reicht. Sie gibt Auskunft darüber, wie wahrscheinlich es ist, dass eine Person Gewalt nutzen wird, um bestimmte Ziele zu realisieren. Eine Person mit einer hohen Gewaltbereitschaft wird z. B. nach einem Angriff auf die Eigengruppe eher die Intention entwickeln, die Verantwortlichen mittels einer gewalttätigen Handlung zur Rechenschaft zu ziehen. Eine Person mit einer geringen Gewaltbereitschaft entwickelt dagegen mit hoher Wahrscheinlichkeit keine gewalttätige Verhaltensabsicht, sondern kommt eher auf die Idee, gewaltfreie Formen der Problemlösung anzuwenden. Der spezifische Inhalt der Komponenten im Falle einer hohen ideologie-basierten Gewaltbereitschaft soll in den folgenden Kapiteln ausführlicher dargestellt werden.

Zuvor muss aber noch einmal hervorgehoben werden, dass Gewaltbereitschaft und tatsächliche Gewalttätigkeit voneinander zu unterscheiden sind. Denn eine hohe Gewaltbereitschaft bedeutet nicht zwangsläufig auch, dass die Person in einer entsprechenden Situation gewalttätig wird. Ob z. B. nach einem Angriff die Intention, Gewalt auszuüben, tatsächlich in die Tat umgesetzt wird, hängt, wie in Abschnitt 5.4 ausführlicher erörtert wird, von bestimmten Tatbedingungen ab.

Abbildung 5.1
figure 1

Komponenten der ideologie-basierten Gewaltbereitschaft: Die verschiedenen Komponenten der Gewaltbereitschaft, die je nach Inhalt, die Bereitschaft, ideologie-basierte Gewalttaten in Westeuropa zu begehen, erhöhen (+) oder senken (−)

5.2.1 Moralische Bewertung

Der erste Faktor, der die ideologie-basierte Gewaltbereitschaft erhöht bzw. senkt, ist die moralische Bewertung von ideologie-basierten Gewalthandlungen im Westen. Dieser Bereich umfasst Überzeugungen, die sich um die wahrgenommene Legitimität bzw. Illegitimität einer Verhaltensweise oder sogar um die empfundene Pflicht zur Begehung der jeweiligen Handlung drehen. Die Bedeutung, die Überzeugungen dieser Art für die Verhaltensbereitschaft haben, wird durch eine Vielzahl von Studien im Bereich der allgemeinen Kriminalität demonstriert (vgl. z. B. Agnew 1994; Brezina et al. 2004; Doering 2013; Svensson et al. 2013). Auch im Kontext ideologie-basierter Gewalttaten weisen mehrere Studien auf deren Relevanz hin (vgl. z. B. Basic & Welzer 2000; Neidhardt 1982a; Schedler 2016; Zick & Küpper 2007).

Basierend auf diesen Erkenntnissen wird in diesem Erklärungsansatz daher erstens angenommen, dass die Überzeugung, ideologie-basierte Gewalttaten in Westeuropa zu verüben sei moralisch falsch, die Bereitschaft senkt, Gewalt hier auszuüben. Vertritt eine Person hingegen die Auffassung, die Begehung von Gewalttaten im Westen sei ein legitimes Mittel um z. B. politische Veränderungen herbeizuführen, so ist davon auszugehen, dass sie diese Handlungsstrategie bei entsprechenden Gelegenheiten zur politischen Einflussnahme eher anwenden wird. Moral markiert in diesem Sinne also Grenzlinien eigenen Handelns, d. h., sie bildet einen Rahmen bei der Mittelwahl einer Person.

Im Kontext des gewaltbereiten Islamismus machen mehrere Studie deutlich, dass zwei verschiedene Begründungsmuster verantwortlich dafür sind, dass die Anhänger dieser Ideologievarianten die Nutzung von Gewalt im Westen als legitim bewerten (vgl. z. B. Cottee 2010; Hegghammer 2013; Olsen 2009; Sirseloudi 2006): zum einen beurteilen sie Gewalt als moralisch akzeptabel, da sie sich und ihre ideologisch begründete Gemeinschaft, also die ummah, bedroht sehen und ihr Einsatz von Gewalt aus ihrer Sicht lediglich dazu dient, sich zu verteidigen (vgl. Cottee 2010, S. 338 f.; Malthaner 2004, S. 126 f.; Precht 2007, S. 30). Aus der eigenen Opferposition wird somit ein legitimes Recht zur gewaltsamen Verteidigung abgeleitet (vgl. Imbusch 2018, S. 209). Zum anderen wird die Gewaltanwendung alternativ oder zusätzlich durch den Verweis darauf legitimiert, dass sie ein notwendiges Mittel ist, da gewaltfreie Möglichkeiten, um ein gutes Ziel zu erreichen (z. B. um ein Unrechtsregime zu stoppen oder um gerechtere Verhältnisse zu schaffen), nicht zur Verfügung stehen (vgl. Baumeister 2001, S. 201; Cottee 2010, S. 339; Richardson 2006, S. 42 f).

Darüber hinaus machen Forschungen aber ebenfalls darauf aufmerksam, dass einige gewaltbereite Islamisten die Begehung von Gewalthandlungen in Westeuropa nicht nur als legitim beurteilen, sondern zusätzlich auch als moralische Pflicht auffassen, die Handlungsausführung also einen imperativen Charakter für sie hat (vgl. z. B. Farschid 2014, S. 92 f.; Puschnerat 2006, S. 221 f.). Es wird aus diesem Grund zweitens die Annahme vertreten, dass solch eine empfundene Handlungspflicht zusätzlich zur wahrgenommenen Legitimität die Gewaltbereitschaft steigert.

Dieses moralische Verpflichtungsgefühl zu Handeln kann auf unterschiedlichen Gründen fußen. Einerseits können Personen der Ansicht sein, dass nicht mehr nur geredet, sondern endlich etwas getan werden muss, da es z. B. sonst zu spät ist oder die Gefährdungslage nicht mehr hinnehmbar ist und niemand anderes etwas tut (vgl. Olsen 2009, S. 31 ff. & 41 ff.). Diese Personen verspüren angesichts dieser Dringlichkeit einen erhöhten Handlungsdruck (vgl. Borstel & Heitmeyer 2012, S. 359 f.; Olsen 2009, S. 58). So waren beispielsweise die Mitglieder der sog. Hofstad-Gruppe, die diverse Anschläge in den Niederlanden planten, der festen Ansicht, dass endlich etwas getan werden muss, damit sich die prekäre Situation der Muslim*innen in ihrem Land endlich verbessert (vgl. de Koning 2012, S. 218). Diese Überzeugung war ein grundlegender Antrieb für die Begehung ihrer Taten.

Andererseits kann im Bereich religiöser Gewalt alternativ oder zusätzlich zu der Vorstellung, es müsse endlich etwas getan werden, ebenso der Glaube, das Gewalthandeln sei von Gott gefordert und damit eine Pflicht für jeden Gläubigen, einen wahrgenommenen Handlungsdruck aufgrund der religiösen Verpflichtung erzeugen (vgl. Imbusch 2018, S. 201). Das Verletzen und Töten anderer Menschen ist dann nicht nur moralisch legitim, sondern wird sogar von Gott verlangt (vgl. Baumeister 2001, S. 170). In diesem Sinne verstand es beispielsweise der Islamist Mohammed Bouyeri als seine religiöse Pflicht, jeden zu ermorden, der den Islam beleidigt. Dies führte schließlich dazu, dass er den Islamkritiker Theo van Gogh tötete (vgl. Nesser 2015, S. 161).

5.2.2 Selbstbezogene Folgenerwartungen

Ein zweiter Grund, warum eine Person eine Handlung anderen gegenüber bevorzugt bzw. meidet, sind die Folgen, die eine Person von der jeweiligen Handlung für das eigene physische, psychische oder materielle Wohl erwartet. Die Relevanz solcher Erwartungen für die jeweilige Verhaltensbereitschaft wird im Rahmen mehrerer Studien zu verschiedenen Kriminalitätsformen belegt (vgl. z. B. Cleff et al. 2011; Eckert et al. 2001; Sitzer 2009; Wood et al. 1997). Gleiches gilt für den Bereich ideologie-basierter Gewalt in unterschiedlichen Extremismusbereichen (vgl. z. B. Borum 2017, S. 22; Helmus 2009, S. 91 ff.; Lützinger 2010)

Aus diesen Gründen wird in diesem Modell davon ausgegangen, dass der Glaube, die Anwendung von Gewalt in Westeuropa hätte vorwiegend negative Konsequenzen für das eigene Wohl, die jeweilige Person davon Abstand nehmen lässt dieses Mittel zu nutzen. Ist die Person hingegen davon überzeugt, die Begehung ideologie-basierter Gewalttaten in Westeuropa sei das beste Mittel, um bestimmte positive Folgen für sie selbst zu erreichen, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass sie in entsprechenden Situationen zu diesem Mittel greifen wird.

Was Personen durch ihr Engagement primär erreichen wollen, unterscheidet sich allerdings. Wie eingangs (Abschnitt 5.2.) dargelegt, können für gewaltbereite Islamisten unterschiedliche erwünschte selbstbezogene Folgen ausschlaggebend sein, einige streben etwa danach gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen, wieder andere hingegen möchten berühmt werden. Wie Forschungsergebnisse demonstrieren, werden diese verschiedenen Personengruppen durch den Glauben vereint, Gewalt sei das beste Mittel, um das zu erreichen, was sie wollen (vgl. z. B. Lützinger 2010; Nesser 2015; Olsen 2009; Zick et al. 2016).

So präferieren einige gewaltbereite Islamisten Gewalt gegenüber anderen Mitteln, da sie der Überzeugung sind mit Gewalt am besten ideologische Ziele erreichen zu können, etwa weil sich der Gegner hierdurch am besten beeinflussen lässt (vgl. Borum 2017, S. 22; Imbusch 2018, S. 207; Richardson 2006, S. 110 f.). Gleichzeitig bewerten sie gewaltfreie Mittel der politischen Einflussnahme (z. B. Verhandlungen, Demonstrationen) als ineffektiv um gewünschte Veränderungen herbeizuführen (vgl. Getos 2011, S. 446; Post et al. 2002, S. 96; Spaaij 2012, S. 60 f.). Beispielsweise waren die Mitglieder des sog. Hofstad-Netzwerks der Überzeugung, dass Gewalt einerseits eine göttliche Pflicht darstelle (Moral-Komponente) und andererseits das effektivste Mittel sei, um das weltweite Unrecht gegenüber Muslim*innen zu bekämpfen (vgl. de Koning 2012, S. 230 f.).

Bei dem anderen Teil gewaltbereiter Islamisten beruht die hohe Gewaltbereitschaft nicht auf der Erwartung, mit diesem Mittel ideologische Ziele gut realisieren zu können, sondern für sie sind diese gewalttätigen Handlungen in Westeuropa vielmehr deshalb attraktiv, da sie glauben, sie könnten mit diesen besonders gut bestimmte nicht-ideologische Konsequenzen erreichen. In Forschungen kristallisieren sich dabei vor allem drei Folgenerwartungen heraus (vgl. Lützinger 2010; Nesser 2015; Olsen 2009; Zick et al. 2016). Ein Teil bevorzugt Gewalt gegenüber anderen Mitteln, da sie aus ihrer Sicht ein effektives Mittel ist, um Nervenkitzel und Abenteuer zu erleben (vgl. Akins & Winfree 2017; S. 141; Cottee & Hayward 2011; van San 2015, S. 330 f.). Eine zweite Personengruppe ist wiederum davon überzeugt, die Begehung von Gewalttaten in Westeuropa sei ein besonders wirksames Mittel, um Ruhm und Status im Umfeld zu erwerben (vgl. Cottee & Hayward 2011; Neidhardt 1982b, S. 455). Bei der dritten Gruppe fußt die Gewaltpräferenz auf der Überzeugung, dass ein gewaltsames Engagement und ein möglicher Märtyrertod ein besonders vielversprechendes Mittel ist, um Eingang ins Paradies zu erhalten (vgl. de Poot & Sonnenschein 2011; Wiktorowicz 2005b).

Darüber hinaus machen Studien ersichtlich, dass gewaltbereiten Islamisten zusätzlich zu den positiven Folgenerwartungen die negativen Folgen, die mit einer Gewaltausübung verbunden sind (Tod, Inhaftierung, Verlust des Berufs und der Familie), eher gleichgültig sind (vgl. z. B. Silke 2008; Wiktorowicz 2005b). Täterforschungen demonstrieren etwa, dass viele der im Westen gewalttätig gewordenen Islamisten beruflich gut eingebunden waren oder Familien mit Kindern hatten (vgl. Nesser 2015; Reinares 2016; siehe auch Abschnitt 5.3.2.1). Einer der Londoner Selbstmordattentäter vom 7. Juli 2005, Mohammed Siddique Khan, erwartete sogar zum Zeitpunkt der Tat ein Kind. Im Kontext der gewöhnlichen Kriminalität wirken solche Faktoren eher kriminalitätshemmend, bei Jihadisten dagegen scheint dies nicht so sehr der Fall zu sein (vgl. Silke 2008, S. 107). Sie sind vielmehr dazu bereit diese negativen Folgen für sich selbst in Kauf zu nehmen, da ihnen die jeweiligen Ziele (z. B. politische Veränderungen, religiöses Heil oder Rache) wichtiger sind.

5.2.3 Fremdbezogene Folgenerwartungen

Es wurde im vorherigen Abschnitt postuliert, dass die erwarteten positiven oder negativen Folgen einer Gewalthandlung für das eigene physische, psychische oder auch materielle Wohl die Bereitschaft, dieses Mittel in bestimmten Situationen zu nutzen, steigern bzw. senken können. Aber Menschen denken nicht nur an ihr eigenes Wohl. Belege hierfür kommen beispielsweise aus der Verhaltensökonomie. Die Ökonomen Ernst Fehr & Klaus Schmidt (2006) demonstrieren etwa anhand einer Übersicht verschiedener Verhaltensexperimente, dass Menschen sich nicht nur egoistisch, sondern in vielen Fällen auch altruistisch verhalten und dies unter Umständen auch zu Ungunsten ihres eigenen Vorteils. Hervorzuheben ist dabei, dass solch ein Verhalten auch unter Versuchsbedingungen gezeigt wird, wo ein persönlicher Nutzen oder eine Gegenleistung, wie z. B. Dank oder soziale Anerkennung, ausgeschlossen sind. Ebenfalls mehrere Kriminalitätsstudien demonstrieren, dass für die Bereitschaft zur Begehung verschiedenster krimineller Delikte nicht nur die erwarteten Folgen für die Person selbst relevant sind, sondern ebenso die antizipierten Konsequenzen für andere bedeutsam sein können (vgl. z. B. Agnew 2014; Baumeister & Campbell 1999; Hall et al. 1998; Sutterlüty 2002). Eine adäquate Theorie menschlichen Verhaltens darf daher nicht nur auf der Prämisse beruhen, Menschen würden ausschließlich an den eigenen Vorteil denken, sondern muss zusätzlich der Tatsache Rechnung tragen, dass sie ebenso an das Wohl anderer denken und das nicht nur bei Personen, zu denen sie eine positive Beziehung haben, sondern auch gegenüber ihnen Unbekannten (vgl. Agnew 2014, S. 2; Schwartz 2007; Staub 1992).

Dies spiegelt sich auch in Studien im Bereich des Islamismus wieder (vgl. vgl. z. B. Cottee 2010; Käsehage 2017; Richardson 2006). Nicht alle Islamisten sind durch selbstbezogene Folgen (z. B. ideologische Ziele, Ansehen oder Nervenkitzel) motiviert, für einige dreht sich der primäre Grund ihres Engagements um das Wohl von anderen. Im Rahmen dieses Erklärungsmodells wird daher davon ausgegangen, dass die Orientierung am Wohl anderer und an den erwarteten positiven oder negativen Auswirkungen einer ideologie-basierten Gewalthandlung für andere ebenfalls einen Einfluss auf die Bereitschaft, diese Taten zu verüben, haben kann. Es wird angenommen, dass Personen, die davon überzeugt sind mit Hilfe von Gewalttaten in Westeuropa besonders gut bestimmte fremdbezogene Folgen realisieren zu können, ein höheres Risiko für solche Gewalttaten haben.

Genau wie bei den selbstbezogenen Folgen können auch in diesem Zusammenhang unterschiedliche Konsequenzen für andere Menschen ausschlaggebend für das Engagement von Islamisten sein. So engagiert sich eine Reihe von Islamisten, weil sie anderen Muslim*innen helfen wollen. Einige von ihnen präferieren die Begehung von Gewalttaten im Westen gegenüber anderen Mitteln der Hilfe (z. B. karitative Aktivitäten), da sie davon überzeugt sind, hiermit am besten das Wohl anderer Muslim*innen zu verbessern (vgl. z. B. Ilyas 2013; Nesser 2015). Sie glauben beispielsweise, sie könnten auf diese Weise bedrohten Muslim*innen in anderen Teilen der Welt besonders wirkungsvoll helfen, etwa weil sie hierdurch vermeintliche Bedrohungen effektiv ausschalten können.

Es ist allerdings schwierig zu ermitteln, ob diese altruistischen Kämpfer eine große Personengruppe darstellen oder ob diese prosoziale Motivation von den meisten nur als Vorwand angegeben wird (vgl. Maleckova 2005, S. 36; Nesser 2004, S. 32). Dennoch stoßen diverse Studien im Kontext des Islamismus immer wieder auf den Befund, dass bei vielen Islamisten das Wohl anderer Muslim*innen tatsächlich den zentralen Antrieb für ihren gewaltfreien bzw. gewaltsamen Aktivismus darstellt. So zeigt etwa die Untersuchung von Nesser (2015, S. 13 f.) zu islamistischen Gewalttätern in Europa, dass insbesondere bei dem Tätertyp des Gruppenanführers das Wohl anderer Muslim*innen eine wichtige Handlungsmotivation für ihre Tat war. Die Relevanz einer solchen prosozialen Orientierung als Antriebsfaktor wird u. a. auch daran ersichtlich, dass eine Reihe von ihnen vor ihrer Gewalttat in karitative Aktivitäten eingebunden war, um auf diese Weise das Leid von anderen Muslim*innen zu lindern. Beispielsweise war eines der Zellenmitglieder des sog. Airline Bomb Plots in Großbritannien, Abdulla Ahmed Ali, in Hilfsaktionen zugunsten von afghanischen Kriegsflüchtlingen in Pakistan, die vor den Auswirkungen des Einmarsches westlicher Truppen in Afghanistan geflohen sind, involviert.Footnote 1 Die Attentäterin Roshonara Choudhry, die 2010 versuchte einen britischen Parlamentarier zu ermorden, half an Wochenenden muslimischen Schülerinnen und Schülern, die Probleme im britischen Schulsystem hatten.Footnote 2 Der Gewalttäter Mohammed Bouyeri wiederum war als Sozialarbeiter in Amsterdam tätig, und versuchte dort durch sein Engagement die problematische Situation der marokkanisch-niederländischen Jugendlichen zu verbessern (vgl. de Koning 2012, S. 226). Der Umstand, dass sich viele Terroristen ebenfalls karitativ engagiert haben, wird oftmals übersehen, man fokussiert sich fatalerweise nur auf ihre Gewalttat. Aber erst durch diese umfassendere Perspektive wird ersichtlich, dass für viele nicht so sehr selbstbezogene Folgen, wie z. B. das Erleben von Nervenkitzel, handlungsmotivierend wirken, sondern vielmehr das Wohl von anderen Muslim*innen im Vordergrund steht.

Ein anderer Teil der Islamisten will mit ihrem Engagement nicht anderen Menschen helfen, sondern für sie steht der Wunsch nach Rache, also das Verlangen das Wohl von anderen Menschen zu schädigen, im Vordergrund (vgl. z. B. Cottee 2010; Richardson 2006). Sie wollen die Fremdgruppe für das, was sie einem selbst oder Mitgliedern der Eigengruppe angetan hat (z. B. Demütigungen, Bedrohungen oder Misshandlungen), leiden sehen (vgl. Baumeister 2001, Kapitel 5; Huesmann 2010, S. 11 f.). Einen solchen Personentyp beschreibt etwa Nina Käsehage (2017, S. 78) in ihrer Studie, in der sie Interviews mit Islamisten aus verschiedenen Ländern führte. Sie findet heraus, dass dieser Typus in seinem Gewalthandeln gerade dadurch motiviert wird, den Gegner zu schädigen und ihn leiden zu sehen. Diese Personen präferieren körperliche Gewalt gegenüber anderen Mitteln der Schädigung, etwa wirtschaftlichen Mitteln wie einem Boykott, weil sie davon überzeugt sind, dass sie das effektivste Mittel ist, um das Wohl der als verantwortlich wahrgenommenen massiv zu schädigen.

Diese Schädigungen können dann mit bestimmten positiven Affekten, wie etwa Genugtuung, Freude oder Gerechtigkeitsgefühlen, auf Seiten des Täters verknüpft sein (vgl. Cottee 2010, S. 332; Huesmann & Huesmann 2012, S. 115). Beispielhaft für eine solche Orientierung ist Mohammed Merah, der mehrere französische Soldaten sowie Kinder und einen Lehrer an einer jüdischen Schule erschoss. Ihm kam es gerade darauf an, das Leiden seiner Opfer aus nächster Nähe zu sehen und er empfand, laut eigener Aussage, Freude während des Tötens.Footnote 3

5.2.4 Selbstwirksamkeitserwartungen

Der vierte Faktor, der einen erhöhenden bzw. senkenden Einfluss auf die Gewaltbereitschaft nimmt, ist die Einschätzung der eigenen Möglichkeiten bzgl. Ziel- und Handlungsrealisierung. Diese Selbstwirksamkeitserwartungen umfassen einerseits den Glauben, die ideologischen Ziele realisieren zu können, also ob z. B. gesellschaftliche Veränderungen überhaupt möglich sind (vgl. Bandura 1997, S. 477 f.), und andererseits die Überzeugung, dazu in der Lage zu sein, bestimmte Verhaltensweisen erfolgreich ausführen zu können bzw. nicht dazu fähig zu sein (vgl. Bandura 1997, S. 2 f.). Die Bedeutung, die solche Überzeugungen für die jeweilige Handlungsbereitschaft haben, wird in mehreren Studien aus unterschiedlichen Handlungsbereichen demonstriert (vgl. für Überblicke Bandura 1997, S. 173 f.; Cervone et al. 2004, S. 192). Ebenfalls im Kontext krimineller Handlungen (vgl. z. B. Anderson & Bushman 2002; Brezina & Topalli 2012; Crick & Dodge 1994) sowie ideologie-basierter Straftaten (vgl. z. B. de Ahna 1982; de Poot & Sonnenschein 2011; Jackson & Frelinger 2009; Reinares 2011) wird deren Relevanz in diversen Studien bestätigt.

Vor diesem Hintergrund wird in diesem Modell angenommen, dass für eine hohe ideologie-basierte Gewaltbereitschaft zwei Bedingungen hinsichtlich der Selbstwirksamkeitserwartungen erfüllt sein müssen. Auf der einen Seite muss eine Person davon überzeugt sein, dazu in der Lage zu sein, überhaupt etwas bewirken und eine Verbesserung der Umstände herbeiführen sowie das anvisierte Ziel der Bewegung, die Errichtung eines Gottesstaates, realisieren zu können (vgl. Bandura 1997, Kap. 11). Diese Selbstwirksamkeitserwartung bezogen auf die Zielerreichung ist eine notwendige Bedingung dafür, dass sich eine Person überhaupt an der Verfolgung der ideologischen Ziele beteiligt (egal, ob in gewalttätiger oder gewaltloser Form). Fehlen aus eigener Sicht entsprechende Möglichkeiten, dann wird die Bereitschaft, sich zu engagieren, eher gering ausfallen. Wenn also eine geringe Selbstwirksamkeitserwartung im Hinblick auf die Zielerreichung besteht, dann bleibt die jeweilige Person eher inaktiv. Existiert die Erwartung, nichts verändern zu können, sind vielmehr politische Apathie und Resignation die Folge (vgl. Klein & Heitmeyer 2010, S. 169; Klein & Hüpping 2008, S. 74 f.). Ein Zustand der Hoffnungslosigkeit kann demnach nicht Grundlage für politisches Engagement sein (vgl. Bandura 1997, S. 498 f.). Wie Daniel Köhler (2014, S. 336) in seiner Studie mit ehemaligen Führungspersonen innerhalb der deutschen rechtsextremen Bewegung herausfindet, ist die Einsicht, nichts bewirken und die angestrebten Ziele nicht erreichen zu können, sogar ein wichtiger Grund für die Befragten gewesen, aus der Szene auszusteigen. Auch Forschungsergebnisse im Bereich des gewaltbefürwortenden Islamismus weisen auf die Relevanz von hohen Selbstwirksamkeitserwartungen für die Bereitschaft zu eigenem Handeln hin (vgl. z. B. de Poot & Sonnenschein 2011; Olsen 2009). Es zeigt sich, dass gewaltbereite Islamisten davon überzeugt sind, sie könnten durch ihr Engagement, die Welt im Sinne der Ideologie verbessern.

Auf der anderen Seite bedarf es für eine hohe Bereitschaft zur Begehung ideologie-basierter Gewalttaten zusätzlich eines Vertrauens in die eigene Fähigkeit, Gewalthandlungen erfolgreich ausführen zu können (vgl. Brezina & Topalli 2012; Wright & Topalli 2013). Für viele kriminelle Handlungen sind bestimmte Fähigkeiten erforderlich, um die jeweilige Tat erfolgreich durchführen zu können. Wenn man aus eigener Sicht nicht über diese Fähigkeiten verfügt und sich in Folge dessen nicht dazu in der Lage sieht, diese Handlungen erfolgreich zu realisieren, so wird man eine eher geringe Bereitschaft zur Begehung dieser Taten aufweisen (vgl. Agnew 1990a, S. 545 f.). Das gleiche gilt auch für Gewalt. Zwar ist davon auszugehen, dass die Annahme der stetigen Verletzungsmächtigkeit des Menschen von Heinrich Popitz (1992, S. 50), wonach jeder Mensch potentiell dazu in der Lage ist, jederzeit Gewalt auszuüben, grundsätzlich richtig ist, doch im Hinblick auf die diesbezügliche Handlungsbereitschaft ist anzunehmen, dass die eigene Einschätzung der Fähigkeit zur erfolgreichen Gewaltanwendung ein wichtiger Faktor dafür ist, dieses Mittel zu nutzen. Wenn eine Person beispielsweise glaubt, sie sei nicht fähig, sich erfolgreich körperlich gegen andere Personen durchzusetzen, etwa weil sie physisch nicht stark genug ist, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sie diese Handlung anderen vorzieht. Eine Person hingegen, die davon überzeugt ist, sie sei in der Lage, erfolgreich Gewalt auszuüben, wird eine höhere Bereitschaft zu Gewalt haben.

Insbesondere für die Bereitschaft zur Durchführung von komplexen Terroranschlägen, für die besondere Kompetenzen und/oder Materialien erforderlich sind, werden Selbstwirksamkeitserwartungen eine bedeutsame Rolle spielen und viele Personen davon Abstand nehmen lassen, diese Verhaltensoption zu wählen, da sie aus ihrer Sicht die Bedingungen für eine erfolgreiche Realisierung dieser Taten nicht erfüllen. Ein besonderes Beispiel stellen die Anschläge vom 11. September 2001 dar, deren Vorbereitung mehrere Jahre dauerte und besondere Fähigkeiten zur Durchführung (z. B. Flugfähigkeiten) bedurfte. Islamisten, die eine Gewalttat begehen wollen und sich die Durchführung eines solch komplexen Unterfangens nicht zutrauen, müssen sich dann auf einfachere Formen der Gewalt beschränken.

5.2.5 Zusammenspiel der Komponenten

Bislang wurden die vier Komponenten einer ideologie-basierten Gewaltbereitschaft getrennt voneinander behandelt. In der Praxis werden die einzelnen Komponenten aber miteinander interagieren und in ihrer Gesamtheit die Höhe der Gewaltbereitschaft bestimmen. Für eine adäquate Analyse ist es daher notwendig, stets zu berücksichtigen, in welchem Verhältnis die Komponenten zueinander stehen. So kann die gewaltbegünstigende Wirkung einer Komponente (z. B. positiven Folgenerwartungen hinsichtlich der Gewaltausübung) durch eine andere (z. B. eine gewaltablehnende moralische Haltung) abgefedert werden und die Person dann insgesamt eine eher geringe Gewaltbereitschaft haben.

Für eine hohe ideologie-basierte Gewaltbereitschaft, also der Bereich, in dem eine Deliktbegehung wahrscheinlicher ist, muss eine bestimmte Kombination der Ausprägungen der Komponenten vorliegen (siehe Abbildung 5.2). Als Grundbedingung für eine hohe Bereitschaft zur Begehung von Gewalttaten in Westeuropa müssen sowohl in der Moral- als auch in der Selbstwirksamkeitserwartungs-Komponente eine gewaltbegünstigende Ausprägung vorliegen: erstens muss eine moralisch legitimierende Haltung in Bezug auf diese Art von Gewalt und zweitens eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung sowohl hinsichtlich Ziel- als auch Verhaltensrealisierung gegeben sein (vgl. Cottee 2010, S. 330 f.; Reddig 2007, S. 286). Denn, selbst wenn positive Folgenerwartungen hinsichtlich Gewalt vorhanden sind, sofern die Anwendung von Gewalt in Westeuropa moralisch abgelehnt wird und/oder man die eigenen Möglichkeiten zur erfolgreichen Realisierung einer solchen Tat als gering einschätzt, bleibt die eigene Gewaltbereitschaft eher gering. Beispielsweise bleibt sie auch dann gering, wenn man zwar glaubt, Gewalt im Westen sei ein gutes Mittel, um ideologische Ziele zu erreichen, aber man sich selbst nicht dazu in der Lage sieht, es erfolgreich ausführen zu können (vgl. Bandura 1997, S. 484). Erst durch die oben beschriebenen Ausprägungen der Moral- und Selbstwirksamkeitserwartungs-Komponente wird eine eigene gewaltsame Tatbegehung erwartbar. Diese Annahmen zu den bedingenden Wirkungen von moralischen Überzeugungen und Selbstwirksamkeitserwartungen werden auch in Studien zu gewöhnlichen Kriminalitätsformen bestätigt (vgl. z. B. Bandura 1997; Dollase & Koch 2007; Hirtenlehner et al. 2013; Kroneberg et al. 2010; Messerschmidt 1999; Paternoster & Simpson 1996).

Abbildung 5.2
figure 2

Bedingungen für eine hohe ideologie-basierte Gewaltbereitschaft: Für eine hohe Bereitschaft, ideologie-basierte Gewalttaten in Westeuropa zu verüben, müssen diese vier formulierten Bedingungen gemeinsam erfüllt sein

Für eine hohe Gewaltbereitschaft dürfen zweitens keine selbst- oder fremdbezogenen Folgenerwartungen in Bezug auf ideologie-basierte Gewalt existieren, die eine Person davon Abstand nehmen lassen würden, eine solche Tat zu begehen. Auf der einen Seite darf die Person also nicht durch erwartete negative Folgen für das eigene Wohl gehemmt werden. Beispielsweise kann die Erwartung negativer Reaktionen von nahestehenden Personen in Folge der eigenen Gewaltanwendung für eine insgesamt geringe ideologie-basierte Gewaltbereitschaft sorgen, obwohl ideologie-basierte Gewalt als legitim und ebenso realisierbar bewertet wird. In einer Studie mit gewaltbefürwortenden Islamisten aus den Niederlanden und Belgien geht Marion van San (2015) z. B. der Frage nach, warum die befragten Personen nicht selbst gewaltsam aktiv wurden, obwohl sie Gewalt für moralisch legitim hielten. Es zeigt sich, dass für einige der Befragten die erwarteten negativen Folgen eines eigenen gewaltsamen Engagements für sie selbst (z. B. familiäre Folgen, Angst vor Verletzungen/Tod) ausschlaggebend hierfür waren (vgl. van San 2015, S. 337 ff.). Die jeweiligen Personen beschränkten sich aus diesem Grund auf gewaltfreie Mittel (z. B. die Verbreitung von Internetpropaganda), um sich für die Ideologie zu engagieren. Der hemmende Effekt solcher Folgenerwartungen wird auch in Studien im Bereich nicht-ideologischer Kriminalität belegt (vgl. z. B. Mesko et al. 2015; Nagin & Pogarsky 2001; Paternoster & Bachman 2013). Es ist jedoch zu bedenken, dass wenn eine geringe Gewaltbereitschaft lediglich auf negativen Folgenerwartungen basiert, die gewalthemmenden Effekte äußerst fragil seien können (vgl. Neumann 2013, S. 9). Sobald nämlich diese bereitschaftssenkenden Erwartungen nicht mehr gegeben sind, etwa aufgrund des Wegfalls von nahestehenden Personen, die Gewalt ablehnen, oder aufgrund des Wechsels in ein gewaltbefürwortendes Umfeld, kann das Gewaltrisiko schnell ansteigen.

Auf der anderen Seite darf die Person nicht durch erwartete negative Folgen für das physische und psychische Wohl anderer gehemmt werden. Dies wäre der Fall, wenn einer Person das Wohl der Fremdgruppe wichtig wäre (prosoziale Orientierung), etwa aufgrund von freundschaftlichen Beziehungen zu einigen Mitgliedern der Fremdgruppe (vgl. Huesmann & Huesmann 2012, S. 117). Sie wird dann eher davor zurückschrecken, Handlungen zur Zielerreichung zu nutzen, die diesen Menschen schaden würden (vgl. Hoffman 2000, Kap. 5; Staub 1992, S. 392 f.). Eine hohe Gewaltbereitschaft ist nur möglich, wenn die jeweilige Person entweder indifferent gegenüber dem Wohlergehen der Fremdgruppe/Nicht-Muslim*innen ist und somit innere Barrieren zur Gewaltanwendung wegfallen, da ihr dann die negativen Konsequenzen für diese Menschen gleichgültig sind (vgl. Baumeister 2001, S. 167 f.; Popitz 1992, S. 68 f.), oder aber ein besonderer Wunsch besteht, das Wohl der Fremdgruppe zu schädigen und sie leiden zu sehen (antisoziale Orientierung).

Die dritte Bedingung ist das Vorhandensein wenigstens eines Faktors, der die Anwendung ideologie-basierter Gewalt in Westeuropa sinnvoll, notwendig oder attraktiv für eine Person erscheinen lässt und dadurch bewirkt, dass sie Gewalt gegenüber anderen Verhaltensoptionen zur jeweiligen Zielerreichung vorzieht. Denn, wie in den Grundannahmen dargelegt, kommt für die Realisierung von bestimmten Zielen, wie etwa der Herbeiführung von gesellschaftlichen Veränderungen oder dem Erleben von Nervenkitzel, immer eine breite Palette an Optionen in Frage. Erst durch das Hinzukommen dieser Art von Überzeugungen wird verständlich, warum aus diesem Angebotsspektrum ausgerechnet das Mittel Gewalt bevorzugt wird. Diese möglichen Anreize, die ideologie-basierte Gewalt gegenüber anderen Mitteln attraktiver machen, wurden in den vorherigen Kapiteln ausführlich dargestellt. Demzufolge kann der Anreiz erstens aus einem moralischen Pflichtgefühl bestehen oder zweitens bzw. drittens der Erwartung, ideologie-basierte Gewalthandlungen in Westeuropa seien das beste Mittel um bestimmte Wünsche zu erfüllen, die entweder selbstbezogen, sich also um das eigene Wohl drehen (ideologische Ziele, Nervenkitzel oder soziale Anerkennung), oder fremdbezogen, also sich am Wohl von anderen orientieren (das Wohl anderer Muslim*innen zu schützen/verbessern oder die Fremdgruppe massiv zu schädigen), sind. Welche dieser Überzeugungen nun im Einzelfall ausschlaggebend dafür ist, dass Gewalt als Mittel präferiert wird, kann von Person zu Person divergieren. Durch die unterschiedlichen Komponenten gelingt es diesem theoretischen Ansatz also einen Teil der Heterogenität der Täterpopulation abzubilden.

Natürlich können bei einigen Personen auch mehrere Anreize gleichzeitig bestehen. Darüber hinaus ist es möglich, dass im Laufe der Zeit in Folge gemachter Erfahrungen oder der Einbindung in neue soziale Kontexte weitere Anreize, Gewalt zu nutzen, bei einer Person hinzukommen oder aber ursprüngliche bereitschaftserhöhende Faktoren wegfallen und ggfs. ersetzt werden, sich die Faktoren, die für eine hohe ideologie-basierte Gewaltbereitschaft verantwortlich sind, also wandeln. So mag eine Person z. B. anfänglich nur zur Gewalt gegriffen haben, weil sie sich durch dieses Mittel erhoffte, besonders gut ideologische Ziele realisieren zu können, im Verlaufe des Engagements für die Ideologie mag Gewalt als Mittel aber auch zusätzlich attraktiv für die jeweilige Person geworden sein, weil sie die Erfahrung gemacht hat, dass man hierdurch Ansehen im Umfeld erwerben kann, oder weil sie in Folge der Tötung von nahestehenden Personen durch feindliche Gruppen zu einem effektiven Weg wurde, um Rache zu üben.

5.3 Entstehung einer hohen ideologie-basierten Gewaltbereitschaft

In dem vorherigen Kapitel wurden die Überzeugungen beschrieben, die einer hohen Bereitschaft zur Begehung ideologie-basierter Gewalttaten in Westeuropa zugrundeliegen. In einem zweiten Schritt soll es nun um die Frage gehen, wie und warum es zu diesen gewaltbegünstigenden Überzeugungen kommt.

In dem vorliegenden Erklärungsmodell wird angenommen, dass sich die Entwicklung hin zu einer hohen ideologie-basierten Gewaltbereitschaft in drei Schritten vollzieht: 1. dem Kontakt mit den Inhalten einer gewaltbefürwortenden Ideologievariante, 2. deren Akzeptanz und Internalisierung und schließlich 3. dem Einsetzen von Veränderungen in den vier oben beschriebenen Komponenten (Moral, selbst- und fremdbezogene Folgenerwartungen sowie Selbstwirksamkeitserwartungen). Diese Veränderungen sind das Ergebnis eines Radikalisierungsprozesses im Rahmen einer gewaltbefürwortenden islamistischen Ideologievariante auf der einen Seite sowie von eigenen Erfahrungen mit der Gewaltausübung und/oder sozialen Verstärkern auf der anderen Seite.

5.3.1 1. Stufe: Kontakt mit den ideologischen Inhalten

Zu Beginn muss eine Person erst einmal in Kontakt mit den Inhalten, also z. B. Erklärungen, Schuldzuschreibungen, Ungleichwertigkeitsannahmen, Feindbildern oder Zielvorstellungen, einer gewaltbefürwortenden Ideologievariante kommen, damit überhaupt eine Beeinflussung stattfinden kann. Eine Reihe von Faktoren erhöht das Risiko, dass eine Person mit einer solchen Variante in Berührung kommt.

Erstens können Suchbewegungen von Personen, die unzufrieden mit ihrem Leben sind, sich mit bestimmten Problemen konfrontiert sehen oder auf Antworten auf Sinnfragen hoffen und nach Verbesserungen oder Lösungen suchen, die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass die jeweiligen Personen in Kontakt mit einer gewaltbefürwortenden Ideologievariante kommen. Eine solche Ideologie kann für sie dann möglicherweise als attraktive Lösung erscheinen.

Insbesondere im Zuge der Recherche im Internet können Personen auf entsprechende ideologische Angebote stoßen (vgl. Conway 2012; Hafez & Mullins 2015, S. 969; Steinberg 2013; Strunk 2014). Denn hier können gewaltbereite Organisationen ihre ideologischen Positionen relativ einfach mittels verschiedener Online-Formate (z. B. soziale Netzwerke, Videokanäle, Messenger, Chats, Foren- oder Blogbeiträge) schnell verbreiten und damit ein weltweites Publikum auf niedrigschwellige Art und Weise erreichen. Suchende Personen können so relativ leicht auf islamistische Internetseiten stoßen. Beispielsweise können Personen, die Fragen zum Islam haben, im Netz leicht auf Erklärungsangebote von Salafisten stoßen. Islamistische Seiten erscheinen seit Anfang der 2000er Jahre zudem vermehrt in verschiedenen europäischen Sprachen, um gezielt nicht-arabisch sprechende Personen in Europa ansprechen zu können (vgl. Guadagno et al. 2010, S. 28; Steinberg 2013, S. 19). Zudem ermöglichen einige Internet-Plattformen (wie z. B. Internetforen oder Chats) mit Personen in Interaktion zu treten, d. h., man kann potentielle Interessenten direkt virtuell ansprechen und sie individuell von der ideologischen Botschaft überzeugen (vgl. Neo et al. 2017, S. 1120).

Das Internet bietet im Hinblick auf Kontaktmöglichkeiten außerdem mehrere Vorteile gegenüber der realen Welt. Zum einen sind den Kontrollmöglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden im Internet Grenzen gesetzt, sodass die Inhalte nur schwer kontrollier- und dauerhaft entfernbar sind und die Risiken der Aufdeckung bei einer Kontaktaufnahme im Vergleich zur realen Kommunikation wesentlich geringer sind (vgl. Katzer & Fetchenhauer 2007, S. 125 f.). Zum anderen ist die Zugangsschwelle für den Kontakt mit extremistischen Ideologien geringer als im realen Leben (vgl. de Bie 2016, S. 2016, S. 28; Wildfang 2010, S. 197 f.). Man kann sich relativ anonym und unverbindlich über ideologische Inhalte informieren. Das Internet erleichtert somit für viele Personen die Berührung mit extremistischen Ideologien, da der Kontakt nun z. B. nicht mehr von dem Vorhandensein von Personen mit entsprechenden ideologischen Haltungen im eigenen Umfeld abhängig ist. So ist es nun beispielsweise auch für Personen leichter auf islamistische Positionen zu stoßen und ggfs. einen islamistischen Radikalisierungspfad einzuschlagen, die ursprünglich keinerlei persönliche Bezüge zum Islamismus haben, also nicht aus einem islamistisch-orientierten Elternhaus stammen oder keinen anderweitigen Kontakt zu Islamisten haben. Es gilt jedoch zu bedenken, dass eine strikte Trennung zwischen realer und virtueller Welt bei Radikalisierungsprozessen eher unangebracht ist (vgl. Ducol et al. 2016; von Behr et al. 2013). Denn Online- und Offline-Welt können bei der Radikalisierung auch zusammenwirken, beispielsweise kann es nach einer Kontaktaufnahme im Internet ebenfalls zu realen Treffen kommen.

Zweitens nutzen islamistische Organisationen oder Gruppen bei der Kontaktaufnahme bestimmte Rekrutierungsstrategien, die dazu führen, dass einige Personengruppen mit höherer Wahrscheinlichkeit in Kontakt mit radikalen Ideologievarianten kommen. Auf der einen Seite sprechen Mitglieder islamistischer Gruppen oder Organisationen gezielt Personen in ihrem näheren Umfeld an, etwa Familienangehörige, Freunde oder Bekannte (vgl. Strunk 2014, S. 71 f.). Die Vorteile bei diesem Rekrutierungsmuster sind zum einen das geringere Risiko, da man sich bei nahestehenden Personen hinsichtlich ihrer Vertrauenswürdigkeit sicherer sein kann, und zum anderen, dass man sie leichter beeinflussen kann als fremde Personen, zu denen man keinerlei Beziehung hat (vgl. Nesser 2015, S. 105; Schneckener 2006, S. 71 f.; siehe auch Abschnitt 5.3.2.4).

Auf der anderen Seite tendieren islamistische Gruppierungen und Organisationen dazu, insbesondere auf Personen zuzugehen, die als besonders empfänglich für die eigenen Positionen eingeschätzt werden, etwa Personen, die sich von der Gesellschaft ungerecht behandelt fühlen (vgl. Berger 2015, S. 19 f.; Körting et al. 2015, S. 43). Sie werben aus diesem Grund gezielt an Orten, an denen sich viele für den Islamismus anfällige Personen regelmäßig aufhalten (vgl. Böckler & Zick 2015, S. 105; Neumann & Rogers 2007, S. 44 f.; Waldmann 2009, S. 91). Diese Kontexte (sog. sentiment pools) können z. B. bestimmte Stadtteile oder Gefängnisse sein. Durch die zunehmende Anzahl an inhaftierten Islamisten in Europa in Folge des Kampfes gegen den islamistischen Terrorismus seit dem 11. September 2001 hat sich zudem die Wahrscheinlichkeit, im Gefängnis mit gewaltbefürwortenden Ideologien in Kontakt zu kommen, erhöht (vgl. Basra & Neumann 2016, S. 30). Aber auch an anderen Orten ist das Risiko, mit diesen Ideologievarianten in Kontakt zu kommen, erhöht (vgl. Argomaniz & Bermejo 2019; Neumann & Rogers 2007; Puschnerat 2006, S. 223). Im Kontext des Islamismus sind vor allem religiöse Orte von Bedeutung: u. a. salafistische Moscheen, Gemeindezentren oder diverse religiöse Veranstaltungen (z. B. Islamseminare oder Predigten auf öffentlichen Plätzen) (vgl. Abou-Taam 2014, S. 446). Das Vorhandensein solcher Örtlichkeiten und Veranstaltungen kann von Region zu Region divergieren. Alexander Heerlein (2014, S. 174 f.) spricht in diesem Zusammenhang von der dschihadistischen Infrastruktur einer Stadt, welche je nach Ausmaß einen Kontakt wahrscheinlicher macht. Allerdings kommen auch neutrale Orte, ohne einen religiösen Bezug, in Betracht: z. B. Universitäten, Schulen oder Orte, wo sportliche oder andere Freizeitaktivitäten stattfinden (vgl. Bouhana & Wikström 2011, S. 41 f.; Precht 2007, S. 66; Puschnerat 2006, S. 223). Diese religionsneutralen Orte haben für die Kontaktaufnahme zunehmend an Relevanz gewonnen, da religionsbezogene Ortschaften seit den Anschlägen vom 11. September 2001 unter verschärfter Beobachtung der staatlichen Behörden stehen (vgl. Bouhana & Wikström 2011, S. 36; EUROPOL 2009, S. 19). Zudem können, wie das Beispiel der salafistischen „Lies“-Kampagne in Deutschland und anderen europäischen Staaten demonstriert, Personen auch in städtischen Fußgängerzonen in Berührung mit islamistischem Gedankengut kommen (vgl. Strunk 2014, S. 72 f.). Im Rahmen dieser Missionierungsaktion wurde der Koran sowie Informationsmaterial zum Salafismus verteilt und an Informationsständen das Gespräch mit Passant*innen gesucht.

Darüber hinaus zeigt sich, dass islamistische Organisationen diverse Strategien nutzen, um gezielt mit Jugendlichen in Kontakt zu treten und sie anzusprechen (vgl. Abou-Taam 2014, S. 445 f.; Kaddor 2015, S. 59). Einerseits werden Freizeitveranstaltungen oder sportliche Aktivitäten, die für Jugendliche besonders attraktiv sind, organisiert und angeboten (vgl. Abou-Taam 2014, S. 446). Andererseits nutzen sie verschiedene Medienkanäle im Internet (Facebook, YouTube usw.), die häufig von Jugendlichen frequentiert werden, um die Wahrscheinlichkeit eines Kontakts mit islamistischem Gedankengut für diese Personengruppe zu erhöhen (vgl. Conway 2012, S. 281; Dantschke 2014, S. 185; Steinberg 2013, S. 20). Die Inhalte der Propaganda sind dabei so gestaltet, dass sie anziehend auf Jugendliche wirken, etwa indem sie Interessen und Probleme von jungen Menschen thematisieren (vgl. Dantschke 2015, S. 136; Farschid 2014, S. 97; Strunk 2014, S. 74).

Schließlich versuchen gewaltbefürwortende Gruppen und Organisationen gezielt im gewaltablehnenden Islamismus-Milieu neue Anhänger zu rekrutieren (vgl. Kleinmann 2012, S. 285; Nesser 2015, S. 35). Dabei richtet sich der Fokus vor allem auf Personen, die unzufrieden mit dem gewaltlosen Vorgehen sind. Diese sollen davon überzeugt werden, dass der gewalttätige Weg die bessere Alternative ist, um gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen.

Drittens können der Kontakt mit den ideologischen Inhalten und eine möglicherweise daraufhin einsetzende Radikalisierung bereits sehr früh erfolgen, nämlich im Rahmen der familialen Sozialisation. So kann in einigen Familien schon im Kindes- oder Jugendalter vermittelt werden, dass bestimmte Gruppen Feinde sind, sie zu hassen sind und dass Gewalt gegen sie legitim ist (vgl. Akins & Winfree 2017, S. 138; Huesmann & Huesmann 2012, S. 117; Maresch & Bliesener 2015, S. 28 f.). Im Falle der Islamisten in Europa scheint dieses Radikalisierungsmuster aber eher die Ausnahme darzustellen. Denn verschiedene Studien weisen beispielsweise darauf hin, dass die Mehrheit der jihadistischen Kämpfer aus Europa nicht aus einem religiös-extremistischen oder religiös-konservativen Elternhaus stammt (vgl. z. B. Heerlein 2014, S. 176; Sageman 2006, S. 126). Nichtsdestoweniger gibt es islamistische Gewalttäter, die ihre islamistischen Überzeugungen bereits im Kindes- oder frühen Jugendalter durch familiäre Einflüsse erworben haben und die dann ggfs. im weiteren Lebensverlauf durch zusätzliche Einflüsse (z. B. Freunde) noch verstärkt wurden. Der französische Attentäter Mohammed Merah wuchs etwa in einer islamistisch orientierten und antisemitisch eingestellten Familie auf (vgl. Nesser 2015, S. 278). Zudem können neben den Eltern auch ältere Geschwister, die sich bereits radikalisiert haben, eine Person in Berührung mit ideologischen Inhalten bringen (vgl. Slootman & Tillie 2006, S. 93).

Künftige Forschungen sollten sich stärker darauf fokussieren, welche Radikalisierungskontexte und welche Strategien momentan primäre Relevanz in einer Bewegung besitzen, um hierauf Präventions- und Interventionsmaßnahmen abzustimmen. Bekommen die meisten Personen z. B. vorwiegend Kontakt mit ideologischen Inhalten durch Personen im Umfeld oder radikalisieren sie sich eher selbst über das Internet. Im Kontext des Islamismus in Westeuropa weisen bisherige Studien darauf hin, dass Radikalisierung derzeit vorwiegend durch den Einfluss von Freunden bzw. Bekannten im Umfeld initiiert wird (vgl. z. B. Dalgaard-Nielsen 2010; Heerlein 2014; Vidino 2014). Dennoch spielt das Internet als Radikalisierungskontext bei einer nicht unerheblichen Anzahl von Personen die entscheidende Rolle für Kontakt und Aneignung der ideologischen Inhalte (vgl. z. B. Ducol et al. 2016; Spaaij 2012).

5.3.2 2. Stufe: Akzeptanz und Internalisierung der Inhalte

Der Kontakt mit ideologischen Inhalten ist eine notwendige Bedingung für einen Radikalisierungsprozess. Allerdings reicht ein solcher Kontakt allein für eine Beeinflussung nicht aus. Eine Vielzahl von Menschen kommt im Laufe ihres Lebens über die erwähnten Kontaktmöglichkeiten in Berührung mit radikalen Überzeugungen. So finden z. B. Maresch & Bliesener (2015, S. 95 f.) in ihrer repräsentativen Untersuchung zum Rechtsextremismus unter Schüler*innen in Schleswig-Holstein heraus, dass tendenziell jeder der Befragten schon einmal in Berührung mit rechtsextremen Inhalten kam. Doch nur eine Minderheit von ihnen nimmt diese extremistischen Denkmuster auch an, internalisiert sie und handelt unter Umständen sogar dementsprechend.

Es stellt sich daher die Frage, warum nur wenige Personen die dargebotenen ideologischen Inhalte akzeptieren und übernehmen? Damit es zu einer Beeinflussung durch die Ideologie kommt, müssen, diesem Modell zufolge, mehrere Bedingungen erfüllt sein (siehe Abbildung 5.3). Erstens bedarf es einer gewissen Empfänglichkeit für islamistische Ideologien. Diese ist durch die Unzufriedenheit mit der eigenen Lebenssituation oder der Situation einer nahestehenden Person oder bestimmten Personengruppe, mit der man sich solidarisch fühlt, begründet. Diese Anfälligkeitsfaktoren können dazu führen, dass eine gewaltbefürwortende Ideologievariante für die jeweilige Person attraktiv wird. Es kommt jedoch nur bei einer geringen Anzahl dieser grundsätzlich anfälligen Personen auch zu einer Hinwendung zum gewaltbefürwortenden Islamismus (vgl. Agnew 2010, S. 134; Bouhana & Wikström 2011, S. viii; Hafez & Mullins 2015, S. 963). Verantwortlich hierfür ist, gemäß diesem theoretischen Ansatz, dass es stets unterschiedliche (legale wie illegale) Optionen gibt, um mit den unzufriedenheitsauslösenden Problemen umzugehen. Die Radikalisierung im Rahmen einer islamistischen Ideologievariante ist dabei nur eine mögliche Reaktionsform. Ob der Islamismus als Lösungsmöglichkeit bevorzugt wird oder nicht, hängt einerseits von dem Vorhandensein von Schutzfaktoren sowie andererseits von sozialen Anziehungskräften und der Bewertung der Ideologie durch die jeweilige Person ab. Die einzelnen Bedingungen sollen im Folgenden ausführlicher vorgestellt werden.

Abbildung 5.3
figure 3

Radikalisierungsmodell: Die Abbildung zeigt die schematische Darstellung des entwickelten Radikalisierungsmodells. In den Kästen sind die verschiedenen Bedingungen für eine Radikalisierung angegeben. Ist die jeweilige Bedingung erfüllt, steigt die Wahrscheinlichkeit einer Radikalisierung. In den Kreisen sind die wahrscheinlichen Folgen aufgeführt

5.3.2.1 Anfälligkeit für islamistische Ideologien

Was kennzeichnet Personen, die besonders empfänglich für islamistische Ideologien sind? Forschungsergebnisse im Kontext des Islamismus identifizieren relativ übereinstimmend eine Reihe von Faktoren, die die Anfälligkeit dieser Risikogruppe begründen und die im Einzelfall auch gleichzeitig vorliegen können (vgl. z. B. Borum 2017, S. 27; Heitmeyer et al. 1997; Mullins 2015; Nesser 2015; Sagemann 2006; Slootman & Tillie 2006; Venhaus 2010). Diese Faktoren lassen sich in drei Kategorien zusammenfassen: 1. die Suche nach Anerkennung und Aufwertung, 2. die Suche nach Orientierung und Zugehörigkeit und 3. die Wut über eigene oder stellvertretende Viktimisierungserfahrungen. Gemeinsames Merkmal aller Faktoren ist, dass sie die Unzufriedenheit einer Person mit ihrer eigenen gegenwärtigen Lebenssituation oder der einer bestimmten Personengruppe widerspiegeln. Unzufriedenheit ist demzufolge der grundlegende Antriebsfaktor hinter einem Radikalisierungsprozess (vgl. Krumwiede 2004, S. 36; Matt 2010, S. 466; Precht 2007, S. 32; Richardson 2006, S. 105). Eine islamistische Ideologievariante kann in solch einem Fall besonders anziehend wirken, da sie eine Erklärung und Lösung von Problemen anbietet und eine Verbesserung der Lage in Aussicht stellt. Zufriedene und glückliche Menschen sind hingegen nur wenig anfällig für extremistische Ideologien, denn sie brauchen keine Änderung der Verhältnisse (vgl. Wildfang 2010, S. 202 f.).

5.3.2.1.1 Hintergründe radikalisierungsanfälliger Personen

Es muss allerdings hervorgehoben werden, dass diese Unzufriedenheit nicht auf bestimmte Personengruppen, etwa ökonomisch Benachteiligte oder gering Gebildete, beschränkt ist. Eine radikalisierungsbedingende Unzufriedenheit kann vielmehr bei Personen mit unterschiedlichen Hintergründen auftreten. In diesem Sinne verweisen mehrere empirische Studien darauf, dass es kein einheitliches Profil radikalisierter bzw. ideologisch gewalttätig gewordener Personen gibt. Es lassen sich eher unterschiedliche Hintergründe finden (vgl. Bakker 2006; Borum 2014, S. 286; Lyall 2017; Mullins 2015; Nesser 2015; Sageman 2006).

So zeigen sich erstens Unterschiede beim sozioökonomischen Status. Es gibt einerseits Personen, die finanziell gut gestellt sind oder sogar aus wohlhabenden Familien stammen, aber andererseits ebenso Personen, die ökonomisch benachteiligt sind (vgl. z. B. Bakker 2006; Mullins 2015). Eine Erhebung des britischen Geheimdienstes MI5 aus dem Jahr 2011 demonstriert beispielsweise, dass die Mehrheit der islamistischen Terroristen in Großbritannien aus der Mittelklasse oder sogar höheren sozialen Schichten stammte.Footnote 4 Wie Heinrich-W. Krumwiede (2004, S. 36) in diesem Kontext treffenderweise hervorhebt, gibt es keinen perfekten Zusammenhang zwischen „objektiven“ Zuständen und „subjektiven“ Befindlichkeiten. Das bedeutet, dass auch Personen, die „objektiv“ gut gestellt sind, aus den o.g. Gründen unzufrieden und damit empfänglich für extremistische Ideologien seien können.

Zweitens offenbaren sich Differenzen hinsichtlich der Einbindung in gesellschaftliche Kontexte. Es ist nicht so, dass ausschließlich Personen gewalttätig auffällig werden, die nichts mehr zu verlieren haben (vgl. Nesser 2015, S. 14 f.). Vielmehr gibt es auch Täter, die gut in diverse gesellschaftliche Kontexte eingebettet waren. So lassen sich etwa in Bezug auf die Integration in den Arbeitsmarkt sowohl arbeitslose Gewalttäter identifizieren als auch solche, die eine hohe berufliche Stellung inne hatten (z. B. als Arzt) (vgl. z. B. Heerlein 2014; Lyall 2017; Mullins 2015; Sageman 2006). Ebenfalls im Zusammenhang mit der familiären Einbindung offenbaren sich Unterschiede (vgl. z. B. Bakker 2006; BKA et al. 2016; Heerlein 2014; Leygraf 2014; Lyall 2017; Sageman 2006). Es gibt zum einen Personen, die bis zu ihrer Radikalisierung sozial isoliert waren, insbesondere die Gruppe von Personen, die zum Zwecke der Arbeit oder des Studiums in den Westen immigriert ist und aufgrund dessen von ihrem Freundes- und Familienkreis in ihren Heimatländern abgeschnitten war, und zum anderen jene, die bereits verheiratet waren und sogar eine eigene Familie gegründet haben. Einer der Londoner Selbstmordattentäter vom 7. Juli 2005, Mohammed Siddique Khan, erwartete zum Zeitpunkt der Tat sogar ein Kind. Familienvater zu sein, scheint demnach kein ausreichender Hemmfaktor zu sein, sich nicht als Jihadist zu engagieren und sein Leben zu riskieren (vgl. Nesser 2015, S. 122 f.).

Drittens zeigt sich die Diversität der Profile sowohl radikalisierter bzw. zusätzlich gewalttätig gewordener Personen ebenso im Bereich der Bildung. Es existieren einerseits Personen ohne Schulabschluss als auch solche mit einem erfolgreich abgeschlossenen Hochschulstudium (vgl. z. B. BKA et al. 2016; Bakker 2006; Lyall 2017; Sageman 2006). Die Studie von Alexander Heerlein (2014) zu deutschen Jihadisten, die sich entweder im In- oder Ausland an ideologie-basierten Gewalthandlungen beteiligt haben, demonstriert beispielsweise, dass unter diesen Personen ein hohes Bildungsniveau vorherrscht. Der Anteil an Personen mit einer Hochschulausbildung ist sogar fünf Mal so hoch wie der der deutschen Muslim*innen insgesamt (vgl. Heerlein 2014, S. 175). Allerdings zeigt sich auch, dass die Gruppe der Islamisten trotz des hohen Bildungsniveaus in besonderem Maße von Arbeitslosigkeit oder einer prekären Arbeitssituation betroffen war (vgl. Heerlein 2014, S. 175 f.).

Viertens unterscheiden sich die Personen in ihren religiösen Vorkenntnissen. Einige hatten vor ihrer Radikalisierung nur wenige oder keinerlei Kenntnisse vom Islam (wie z. B. Konvertiten), wieder andere hingegen sind in streng religiösen, z. T. auch islamistisch orientierten Familien aufgewachsen (vgl. z. B. Bakker 2006; Heerlein 2014; Nesser 2015; Sageman 2006). Mehrere Studien weisen aber darauf hin, dass der Großteil der islamistischen Gewalttäter in Europa aus nicht- oder nur wenig religiösen Familien stammt (vgl. z. B. Bakker 2006; Sageman 2006). Bezüglich des deutschen Kontextes demonstriert etwa die bereits erwähnte Untersuchung von Heerlein (2014, S. 176), dass die Mehrheit der deutschen Gewalttäter nicht aus einem konservativ-religiösen Elternhaus stammt. Hinsichtlich der Konvertiten ist sogar festzustellen, dass ihre Radikalisierung trotz fehlender islamischer Vorbildung häufig schneller verläuft als bei Nicht-Konvertiten (vgl. Nesser 2015, S. 11) und sie darüber hinaus bei den islamistischen Gewalttätern im Vergleich zur Gesamtgruppe der deutschen Muslim*innen überrepräsentiert sind (vgl. Hallensleben 2012, S. 25). Als Grund hierfür wird u. a. vermutet, dass sie einen größeren Anpassungsdruck verspüren, da sie glauben, sie müssten sich und ihre Gläubigkeit vor ihrer neuen Bezugsgruppe stärker beweisen, weshalb sie in besonderem Maße motiviert sind, sich zu engagieren (vgl. Nesser 2015, S. 11).

Fünftens divergieren die Personen im Hinblick auf ihre psychische Gesundheit. Verschiedene Studien machen ersichtlich, dass die Mehrheit der islamistischen Terroristen vor ihren Taten keinerlei Anzeichen für eine psychische Krankheit aufweist (vgl. z. B. Goertz 2017, S. 33; Leygraf 2014; Sageman 2008; Victoroff 2005). Wie die Untersuchung von Spaaij (2010, S. 862) zu Terroristen aus unterschiedlichen Ideologierichtungen demonstriert, scheinen aber insbesondere bei der Gruppe der sog. Lone Wolves in erhöhtem Maße psychische Erkrankungen vorzuliegen.

Schließlich liegen sechstens Unterschiede bei der kriminellen Vorbelastung der Personen vor. Ein Teil von ihnen weist keinerlei Vorstrafen auf, der andere Teil ist dagegen bereits vor ihrer Radikalisierung bzw. ihrer ideologie-basierten Gewalttat mehrfach kriminell auffällig geworden (vgl. z. B. Bakker 2006; BKA et al. 2016; Basra & Neumann 2016; Leygraf 2014; Nesser 2015). In der Studie von Heerlein (2014, S. 176) zeigt sich etwa, dass 1/4 der untersuchten deutschen Jihadisten im Vorfeld in kriminelle Aktivitäten involviert war. Neben Eigentums- und Drogendelikten haben einige zudem schon Erfahrungen mit der Ausübung von Gewalt gemacht, allerdings in Form von nicht-ideologischen Gewaltstraftaten. Diese Personengruppe hat demnach schon vor ihrer Radikalisierung eine Gewaltbereitschaft ausgebildet, die jedoch nicht durch ideologische Überzeugungen getragen ist. Im Rahmen der Radikalisierung wird sie dann zusätzlich durch islamistische Inhalte gestärkt. Bei nicht-vorbelasteten Personen hingegen entsteht die Gewaltbereitschaft erst im Zuge der Radikalisierung. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass islamistische Gruppierungen und Organisationen gezielt versuchen, gewaltbereite Personen anzuwerben, um von deren Gewaltkompetenzen für ihre jihadistischen Zwecke zu profitieren (vgl. Argomaniz & Bermejo 2019, S. 354; Basra & Neumann 2016, S. 33 f.). Durch ihre Vertrautheit mit der Gewaltanwendung ist es vermutlich leichter, sie zur Begehung von Gewalttaten zu motivieren. Denn Hemmungen, andere Menschen zu schädigen, müssen bei diesen Personen nicht erst aufwendig abgebaut werden.

Der zentrale Grund für diese Heterogenität der Hintergründe ist, dass islamistische Ideologien in der Lage sind, Personen mit unterschiedlichen Unzufriedenheitsmustern anzusprechen, d. h., sowohl Personen, die beispielsweise den Wunsch nach einer eigenen Aufwertung verspüren, als auch solche, die z. B. wütend über die Politik des Westens gegenüber Muslim*innen sind. Bestimmte Gründe für die Unzufriedenheit sind dabei bei einigen Merkmalsgruppen vermutlich häufiger vertreten.

Künftige Forschungen im Zusammenhang mit Vulnerabilitätsprofilen sollten daher ein differenzierteres Vorgehen annehmen und untersuchen, bei welchen Personengruppen welche Art von Vulnerabilitätsfaktor (Suche nach Anerkennung/Aufwertung, Suche nach Orientierung/Zugehörigkeit oder Wut über Viktimisierungen) primär relevant ist. So könnten dann Präventions- und Interventionsbemühungen spezifischer für die unterschiedlichen Zielgruppen gestaltet werden. Einige Studien geben bereits erste Hinweise auf bestimmte Zusammenhänge (vgl. z. B. Mullins 2015; Nesser 2015; Slootman & Tillie 2006). So scheint beispielsweise bei hoch gebildeten, muslimischen Migranten mit einer guten Integration in den Arbeitsmarkt die Unzufriedenheit und damit die Anfälligkeit für islamistische Ideologien nicht so sehr durch eine eigene Benachteiligung oder Ausgrenzung begründet zu sein, sondern in den meisten Fällen durch die Wut über stellvertretende Viktimisierungen, etwa vermeintlichen Ungerechtigkeiten oder Gewalttaten des Westens gegenüber Muslim*innen in anderen Weltregionen (vgl. Nesser 2015, S. 14 f.). Bei muslimischen Migranten, die in westlichen Gesellschaften gescheitert sind, sind hingegen Identitätskrisen, eigene Viktimisierungserfahrungen oder der Wunsch nach Aufwertung relevantere Gründe für ihre Empfänglichkeit (vgl. Mullins 2015, S. 76 f.; Nesser 2015, S. 12 ff.). Im Falle von europäischen Konvertiten wiederum gründet die Unzufriedenheit und die damit verbundene Vulnerabilität für islamistische Ideologien vermutlich nicht so sehr auf eigenen Diskriminierungserfahrungen, sondern steht eher mit mangelnder Anerkennung oder dem Wunsch nach Zugehörigkeit in Verbindung (vgl. z. B. Kleinmann 2012).

Die Diversität der Sozialprofile wird zusätzlich durch spezifische Rekrutierungsstrategien von Gruppen und Organisationen gefördert. Einerseits wirkt hier die thematische Vielseitigkeit der Propaganda von islamistischen Gruppen und Organisationen mit (vgl. Arnaboldi & Vidino 2015, S. 135 ff.). Es wird versucht die Propaganda thematisch möglichst breit zu fächern und unterschiedliche Themenbereiche (z. B. die Vision einer besseren Gesellschaft oder das actionreiche Leben eines Jihadisten) aufzugreifen, um so Personen mit unterschiedlichen Interessen, Problemen und Hintergründen anzusprechen. Andererseits können sich Gruppen und Organisationen bei der Rekrutierung auf bestimmte Milieus fokussieren. So berichtet Nesser (2015, S. 45) z. B. anhand zweier bedeutsamer islamistischer Prediger in London, dass sich der eine von ihnen, Abu Hamza al-Masri, auf die Rekrutierung von gering gebildeten und arbeitslosen Migranten aus Nordafrika spezialisiert hat, wohingegen sich der andere, Omar Bakri Mohammad, primär auf hoch gebildete Pakistaner der 2. Einwanderergeneration aus der Mittelschicht fokussiert hat.

Trotz aller Unterschiedlichkeiten der Personengruppen, die in diesem Abschnitt thematisiert wurden, bleibt aber festzuhalten, dass es dennoch etwas gibt, was sie gemein haben, nämlich einen Anfälligkeitsfaktor, der sie empfänglich für eine islamistische Ideologievariante gemacht hat, auch wenn der konkrete Inhalt des Faktors (Suche nach Anerkennung/Aufwertung, Suche nach Orientierung/Zugehörigkeit oder Wut über Viktimisierungen) divergieren mag (vgl. Borum 2014, S. 291 f.).

5.3.2.1.2 Suche nach Anerkennung und Aufwertung

Ein erster Grund für eine radikalisierungsbegünstigende Unzufriedenheit sind Faktoren, die sich um Anerkennungsdefizite und eine wahrgenommene eigene Benachteiligung drehen. Forschungsergebnisse machen deutlich, dass Personen, die diesem Muster zugeordnet werden können, Erfahrungen des Scheiterns in gesellschaftlichen Institutionen (Schule und Beruf) gemacht haben und/oder ihren eigenen sozialen Status (hinsichtlich materieller Ausstattung, Ansehen und auch Männlichkeit) als unbefriedigend oder als bedroht bewerten (vgl. Heitmeyer et al. 1997; Mullins 2015; Nesser 2015, S. 15 ff.; Sageman 2006; Wilner & Dubouloz 2010, S. 38 f.). Gleichzeitig besteht aus Sicht der Betroffenen eine geringe Chance diese Schlechterstellung durch legale Möglichkeiten zu beheben (vgl. Kaddor 2015, S. 47 f.; Nesser 2015, S. 24).

Eine islamistische Ideologievariante kann auf diese Personengruppe aus mehreren Gründen anziehend wirken. Zum einen weil sie eine Erklärung und Entlastung für eigene Misserfolgserfahrungen bietet, indem die Verantwortung für das eigene Versagen Fremdgruppen zugeschrieben wird. So wird im Rahmen des Islamismus etwa behauptet, dass der Westen Muslim*innen gegenüber feindlich gesonnen sei und sie aus diesem Grund systematisch benachteiligen und unterdrücken würde (vgl. Böckler & Zick 2015, S. 112; Dalgaard-Nielsen 2010, S. 800; Puschnerat 2006, S. 226). Das eigene Scheitern und die Schlechterstellung liegen folglich nicht in der eigenen Verantwortung, sondern resultieren aus einer kollektiven Benachteiligung der eigenen Gruppe durch den Westen.

Zum anderen wirkt die Ideologie attraktiv, weil sie diverse Möglichkeiten eröffnet, Wertschätzung zu erwerben, die die Betroffenen in der konventionellen Gesellschaft nicht erlangen können. Die Ideologie bietet ein eigenes System von Regeln für Anerkennung und Erhöhung. Der Erwerb von Ansehen fußt dabei auf anderen Kriterien als in der Mehrheitsgesellschaft: es geht hier nicht um Leistung, sondern Status basiert bei extremistischen Ideologien primär auf Kategorien wie der ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit (vgl. Abou Taam et al. 2016, S. 12). Als Teil der islamistischen Bewegung und als „wahrer“ Gläubiger kann man sich beispielsweise gegenüber der westlichen Bevölkerung, die gemäß Ideologie einen unmoralischen Lebensstil praktiziert, als moralisch überlegen fühlen (vgl. Malthaner & Hummel 2012, S. 251 f.; Puschnerat 2006, S. 224 f.).

Darüber hinaus offeriert sie die verlockende Perspektive durch das Engagement als Gotteskrieger bzw. Märtyrer, ein Held zu werden sowie Ansehen und Ruhm zu erwerben. Dies kann gerade für Männer, denen legale Quellen der Aufwertung nur wenig zugänglich oder vollkommen versperrt sind, eine attraktive Alternative ermöglichen, sich nicht als Verlierer zu fühlen, sondern das Gefühl des Auserwähltseins zu erleben sowie Männlichkeit und Stärke zu demonstrieren (vgl. Hafez & Mullins 2015, S. 966; Hess 2006, S. 129 f.).

Schließlich gibt sie drittens Personen, die keine Aussicht auf eine Verbesserung ihrer prekären Lebenssituation haben, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, sowohl im Diesseits als auch im Jenseits (vgl. Dantschke 2015, S. 136 f.; Hummel 2014, S. 72 f.; Sageman 2006, S. 129 f.). Sie zeigt Lösungen und Ziele auf, wie z. B. die Errichtung eines islamischen Gottesstaates, durch die eine Besserstellung ermöglicht wird und die eigene problematische Lebenslage überwunden werden kann.

5.3.2.1.3 Suche nach Sinn und Zugehörigkeit

Der zweite Grund für eine anfälligkeitserhöhende Unzufriedenheit dreht sich um Identitätsprobleme, die Suche nach Sinn und Orientierung sowie dem Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit. Studien demonstrieren, dass Personen dieses Musters von Identitäts- und Sinnkrisen betroffen sind (vgl. Heitmeyer et al. 1997; Lützinger 2010; Mullins 2015; Nesser 2015, S. 16 ff.; Sageman 2006). Diese können durch biographische Schicksalsschläge, Herausforderungen der Jugend-/Heranwachsendenphase, Migrationserfahrungen oder eine Inhaftierung ausgelöst werden. Gemeinsames Kennzeichen dieser verschiedenen Personengruppen, die alle dem zweiten Muster zuzuordnen sind, ist also, dass sie sich mit essentiellen Fragen, wie z. B., wer bin ich oder wo gehöre ich hin, konfrontiert sehen oder den Wunsch nach einer sinnvollen Existenz haben (vgl. Heitmeyer et al. 1997, S. 41).

Durch Lebenskrisen und Schicksalsschläge, wie etwa dem Tod einer nahestehenden Person oder der Scheidung der Eltern, können bisherige Gewohnheiten und Gewissheiten erschüttert werden (vgl. Nesser 2015, S. 156 f.). Es kann in Folge dessen zu Orientierungslosigkeit und Verunsicherung kommen, die die Betroffenen nach Halt suchen lassen. Diese Sinnsuche erhöht die Empfänglichkeit für extremistische Ideologien, da sie durch ihre strikten Vorgaben und Abgrenzungen in besonderem Maße dazu geeignet sind, Orientierung und Sicherheit zu geben (vgl. Abou-Taam 2012, S. 37 f.; Dantschke 2015, S. 136 f.; Walther 2014, S. 394). Hierzu zählt auch die Perspektive darauf, aus einem als langweilig und trostlos wahrgenommenen Lebensalltag zu entfliehen und Nervenkitzel und Abenteuer im Rahmen des Engagements als islamistischer Kämpfer zu erleben (vgl. Cottee & Hayward 2011; Venhaus 2010, S. 11). Zudem wirken islamistische Ideologien sinnstiftend, indem sie z. B. die Möglichkeit eröffnen, bei der Errichtung von etwas Gutem, nämlich dem Aufbau eines gerechten Gottesstaates, aktiv mitzuwirken (vgl. Precht 2007, S. 42).

Hinsichtlich des Jugend- bzw. Heranwachsendenalters ist zu konstatieren, dass diese Altersabschnitte in besonderem Maße von der Suche nach Sinn und Orientierung geprägt sind, da es sich hierbei um Übergangsphasen mit vielen Veränderungen handelt (vgl. Böckler & Zick 2015, S. 103 f.). Dies wird ein Grund dafür sein, warum Anhänger extremistischer Ideologien zu einem großen Teil Jugendliche und junge Menschen sind (vgl. BKA et al. 2016; El-Mafaalani 2014; Heerlein 2014). Besonderes Merkmal dieser Altersgruppen ist einerseits, dass sich die jeweiligen Personen bestimmten Entwicklungsaufgaben stellen müssen, beispielsweise der Ausbildung einer stabilen Identität oder eines Werte- und Normensystems (vgl. Hurrelmann & Quenzel 2016, Kap. 1). Andererseits zählt zu den Veränderungen im Jugend- bzw. Heranwachsendenalter die Abnahme der elterlichen Kontrolle sowie der Wechsel von Freundeskreisen und eine damit einhergehende Änderung des Aktivitätsfeldes und Freizeitverhaltens (vgl. Bouhana & Wikström 2011, S. 24 f.). Diese eröffnen neue Kontaktmöglichkeiten und erhöhen dadurch die Gefahr, dass man in Kontakt mit extremistischen Kreisen und Inhalten kommt.

Auch wenn im Jugend-/Heranwachsendenalter eine besondere Empfänglichkeit für extremistische Ideologien vorliegt, kann aber ebenso im Erwachsenenalter unter bestimmten Bedingungen die Vulnerabilität hierfür erhöht sein. Insgesamt gesehen, ist aber davon auszugehen, dass das Risiko für eine Radikalisierung bei Erwachsenen geringer ist, weil sie in der Regel fest in legale gesellschaftliche Kontexte (Familie und/oder Beruf) eingebunden sind (vgl. Bouhana & Wikström 2011, S. 52 f.). Dadurch sind Anreize, die extremistische Ideologien bieten, wie z. B. Sinn oder Zugehörigkeit, für diese Personen uninteressant. Erst im Falle von Lebenskrisen, etwa dem Wegfall dieser als befriedigend erlebten Einbindungen durch familiäre Probleme, Scheidung sowie Jobverlust oder einer ganz allgemeinen Unzufriedenheit mit der eigenen Lebenssituation, erhöht sich die Empfänglichkeit für solche Ideologien (vgl. Bouhana & Wikström 2011, S. 72). Beispielhaft hierfür ist etwa der Fall des Verfassungsschutz-Mitarbeiters Roque M., der sich mit knapp über 50 Jahren aufgrund von Langeweile vom gewaltbereiten Islamismus angezogen fühlte und mit einem Gesprächspartner im Internet Anschlagspläne auf den Verfassungsschutz in Köln diskutierte.Footnote 5

Bezüglich der Rolle von Migrationserfahrungen für die Anfälligkeit ist es z. T. sinnvoll zwischen Personen mit Migrationshintergrund, die im Westen geboren und/oder aufgewachsen sind, und Migranten, die erst im Heranwachsenden- oder Erwachsenenalter alleine in den Westen kamen (z. B. im Rahmen von Studienaufenthalten), zu differenzieren (vgl. Abdel-Samad 2004, S. 231). Gleichwohl gelten für beide Gruppen ähnliche Problematiken wie für Jugendliche/Heranwachsende. Durch das Gefühl der Nichtzugehörigkeit zur Heim- bzw. Aufnahmegesellschaft, etwa aufgrund von Ausgrenzungserfahrungen, können sich ebenfalls Identitätsprobleme ergeben und damit die Suche nach einer alternativen Identität und Zugehörigkeit ausgelöst werden. Islamistische Ideologien offerieren für solche Personen ein Gefühl der Geborgenheit und Zugehörigkeit zu einer exklusiven Gemeinschaft sowie einen Gruppenanschluss und gemeinsame Aktivitäten, etwa religiöse Praktiken, Demonstrationen oder sportliche Betätigungen (vgl. Borum 2014, S. 292 f.; Dantschke 2015, S. 137 f.). Darüber hinaus sind Migranten aber auch häufiger von sozialer Benachteiligung, Perspektivlosigkeit oder Erfahrungen des Scheiterns in gesellschaftlichen Institutionen betroffen als Personen ohne Migrationshintergrund (vgl. Hafez & Mullins 2015, S. 962). Bei ihnen liegt somit oft eine doppelte Anfälligkeit vor. Für Neu-Migranten kommen noch zusätzliche Herausforderungen hinzu. Sie müssen sich in einer neuen, fremden und von ihrer Herkunftsgesellschaft abweichenden Umgebung zurechtfinden. Gleichzeitig sind sie weitgehend auf sich allein gestellt, da sie von ihrer Familie und ihrem Freundeskreis und damit von einem potentiellen Unterstützungsumfeld getrennt sind (vgl. Bouhana & Wikström 2011, S. 29). Dies kann empfänglich für Angebote machen, die Halt, Orientierung und Zugehörigkeit versprechen. Es ist angesichts dieser Kumulation von Anfälligkeitsfaktoren nicht verwunderlich, dass viele Neu-Migranten, die schließlich islamistische Gewalttaten in Europa begangen haben, sich erst hier im Westen dieser extremistischen Ideologie zugewandt und radikalisiert haben und nicht schon als Islamisten zugewandert sind (vgl. z. B. Nesser 2015; Sageman 2006). Wie Louise Richardson (2006, S. 105 f.) anmerkt, stellen enttäuschte, unzufriedene Migranten eine besondere Risikogruppe für islamistische Ideologien dar. Allerdings kann bei einigen die Radikalisierung bereits im Heimatland begonnen haben und die Person sich dann im Aufnahmeland aufgrund der hier gemachten Erfahrungen weiter radikalisiert haben (vgl. Pargeter 2006, S. 737 f.)

Auch die Zeit im Gefängnis ist z. T. durch ähnliche Problemlagen gekennzeichnet, weshalb Haftanstalten in der Literatur oft als Ort besonderer Vulnerabilität sowie als Rekrutierungsstätte für den Islamismus bezeichnet werden (vgl. Matt 2010, S. 471; Waldmann 2009, S. 91). Auch hier sind die Betroffenen beispielsweise von ihren Familien und Freunden abgeschnitten. Der Anschluss an bestehende islamistische Gruppen im Gefängnis kann deshalb attraktiv sein, weil er Zugehörigkeit und Unterstützung aber auch Schutz im gefährlichen Gefängnisalltag bedeutet (vgl. Bouhana & Wikström 2011, S. 38; Neumann & Rogers 2007, S. 41). Zudem mögen viele Gefangene beginnen, den Sinn ihres bisherigen Lebens zu hinterfragen und sich eine bessere Perspektive für ihr künftiges Leben zu wünschen. Einige der Inhaftierten werden sich zusätzlich für ihre begangenen Straftaten oder ihr insgesamt sündhaftes Leben schämen. Der Islamismus stellt für diese Personen eine Aussicht auf Entlastung bereit, da er ihnen bei einer Umkehr und Orientierung an den ideologischen Regeln den Eingang ins Paradies verspricht (vgl. Argomaniz & Bermejo 2019, 358; Basra & Neumann 2016, S. 28; Strunk 2014, S. 77).

5.3.2.1.4 Viktimisierungserfahrungen

Ein dritter Grund für eine radikalisierungsförderliche Unzufriedenheit basiert auf eigenen bzw. stellvertretenden Viktimisierungserfahrungen. Wie Forschungen verdeutlichen, wird bei Personen dieses Musters die Empfänglichkeit für islamistische Ideologien durch die Opferwerdung durch physische Gewalt oder einzelne Unrechts-/Ungerechtigkeitserfahrungen, begangen durch Fremdgruppenmitglieder, erhöht (vgl. z. B. Heitmeyer et al. 1997; Ilyas 2014; Lützinger 2010; Nesser 2015; Precht 2007, S. 44; Richardson 2006, S. 73; Slootman & Tillie 2006).

Diese Viktimisierungserfahrungen können einerseits selbst erlebt oder nahen Angehörigen der jeweiligen Person (Familie oder Freunde) widerfahren sein. So werden beispielsweise viele Fälle berichtet, wo die Schädigung durch ein Hassverbrechen oder Diskriminierungs- bzw. Rassismuserfahrungen ausschlaggebend für die Radikalisierung waren (vgl. Kleinmann 2012; Mythen et al. 2009; Nesser 2015, S. 271; Slootman & Tillie 2006, S. 90 ff.). Wie Bakker (2011, S. 247) am Beispiel der Niederlande berichtet, machten sowohl der wachsende islamfeindliche Diskurs in dem Land nach dem 11. September als auch die Außenpolitik der Niederlande viele niederländische Muslim*innen anfällig für islamistische Ideologien. Ebenso kann eine als ungerecht wahrgenommene Inhaftierung oder die Tötung von nahen Angehörigen durch die Strafverfolgungsbehörden relevant sein (vgl. Slootman & Tillie 2006, S. 93; Veldhuis & Staun 2009, S. 49 f.). Insbesondere bei bereits ideologisierten Personen demonstrieren Studien, dass Viktimisierungserfahrungen in einer Verschärfung der Radikalisierung münden können, nämlich indem sie die Bereitschaft erhöhen, nun auch eine gewaltbefürwortende Ideologievariante zu akzeptieren (vgl. de Bie 2016, S. 34; Olsen 2009, S. 17 f.). Denn solche Angriffe können die Überzeugung entstehen lassen, man müsse sich nun mit Gewalt verteidigen. Beispielhaft hierfür ist der Radikalisierungsverlauf einiger Mitglieder der sog. Sauerland-Gruppe. In Folge zunehmender polizeilicher Maßnahmen gegen ihr salafistisches Milieu in Neu-Ulm entwickelten sie die Ansicht, dass ein gewaltsamer Jihad zur Verteidigung notwendig sei (vgl. Malthaner & Hummel 2012, S. 264 ff.). Verschiedene Wissenschaftler*innen warnen daher vor einem undifferenzierten Vorgehen im Rahmen der Terrorismusbekämpfung gegenüber der islamistischen Szene sowie den Muslim*innen insgesamt (vgl. Ganor 2008; Logvinov 2017; Moghaddam 2005). Nesser (2006, S. 337) spricht in diesem Zusammenhang von einer blow back-Wirkung staatlicher Maßnahmen, da sie im schlimmsten Fall zu einer Radikalisierung vieler Personen beitragen können, statt sie zu verhindern.

Andererseits kann die Viktimisierung auch Mitglieder der Eigengruppe betreffen, zu denen die jeweilige Person zwar keinen persönlichen Kontakt hat, aber mit denen sie sich verbunden fühlt. Eine solche stellvertretende Viktimisierung wird in der Literatur als humiliation by proxy (Khosrokhavar 2002, S. 152) bezeichnet. Dabei kann es sich beispielsweise um den Umgang des Westens und Israels mit den palästinensischen Glaubensbrüdern und -schwestern drehen oder um militärische Interventionen westlicher Staaten in Ländern mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung und damit verbundenen Opfern in der Zivilbevölkerung (vgl. Silke 2008, S. 114). Insbesondere der Afghanistan- und Irak-Krieg haben bei vielen Muslim*innen im Westen Radikalisierungsprozesse ausgelöst (vgl. Borum & Gelles 2005, S. 472; Hasenclever & Sändig 2011, S. 212; Sirseloudi 2006, S. 69 f.). Islamistische Organisationen greifen in ihrer Propaganda solche Viktimisierungen von Muslim*innen oft auch gezielt auf, etwa indem in Bildern und Videos leidende muslimische Kinder und Frauen gezeigt werden, die vermeintlich durch westliche Aggressionen geschädigt wurden, um Wut zu erzeugen und so die Rezipienten empfänglich für islamistische Angebote zu machen (vgl. Helmus 2009, S. 89; Ilyas 2013, S. 45).

Schließlich können sich die radikalisierungsauslösenden Angriffe auch gegen die Identität der Eigengruppe richten. Die Gruppenidentität umfasst Objekte und Werte, die definieren, wer die Gruppe ist, und die heilig für die Gruppe sind (vgl. Waldmann 2014, S. 340). Prominentes Beispiel für solche Angriffe sind Beleidigungen des Islams, etwa in Form der Mohammed-Karikaturen, die bei vielen Muslim*innen Empörung hervorriefen und bei einigen auch in einer Radikalisierung mündeten (vgl. Hafez & Mullins 2015, S. 963; Nesser 2015, S. 202).

Allen Viktimisierungserfahrungen gemein ist, dass sie Wut erzeugen. Dies erhöht die Empfänglichkeit für islamistische Ideologien, da sie für diese unzufriedene Personengruppe aus mehreren Gründen attraktiv sein können. Auf der einen Seite ermöglichen sie Gefühle der Demütigung und Erniedrigung zu kompensieren, indem sie eine Position der Überlegenheit anbieten (vgl. Heitmeyer et al. 1997, S. 57). Aus Ohnmacht wird somit Macht. Auf der anderen Seite versprechen sie eine Möglichkeit zur Rache an den Verantwortlichen des erfahrenen Unrechts sowie eine Bestrafung der Schuldigen und eine Wiederherstellung von Gerechtigkeit (vgl. Abdel-Samad 2004, S. 202 f.). Daneben zeigen sie ebenfalls einen Weg auf, wie man viktimisierten Gruppen, mit denen man sich solidarisch fühlt, effektiv helfen und ihr Leiden lindern kann.

5.3.2.2 Alternative Reaktionsmöglichkeiten

Die beschriebenen Anfälligkeitsfaktoren münden jedoch nicht zwangsläufig in einer Radikalisierung. Empirisch zeigt sich vielmehr, dass sich selbst von jenen Personen, die diese Risikofaktoren aufweisen und somit eine erhöhte Empfänglichkeit innehaben, nur eine Minderheit islamistischen Ideologien zuwendet (vgl. Bouhana & Wikström 2011, S. 24; Dalgaard-Nielsen 2010, S. 801; Hafez & Mullins 2015, S. 963). So machen z. B. viele Muslim*innen in Europa Diskriminierungserfahrungen, doch nur die wenigsten radikalisieren sich (vgl. Waldmann 2005, S. 38). Unzufriedenheit allein bietet folglich keine ausreichende Erklärung für einen Radikalisierungsprozess (vgl. Gupta 2012, S. 111 f.). Der zentrale Grund, warum die meisten dieser anfälligen Personen sich nicht radikalisieren, ist, dass immer eine Vielzahl von anderen, legalen wie illegalen Wegen existiert, um mit den jeweiligen Problemen umzugehen. Viele Radikalisierungsmodelle berücksichtigen nicht, dass die Hinwendung zum Islamismus nur eine Möglichkeit unter vielen darstellt (vgl. Borum 2011, S. 43). Alternativ können Faktoren wie Anerkennung oder Aufwertung, die die Ideologie verspricht und sie anziehend machen, auch in anderen sozialen Kontexten erworben werden (vgl. Foroutan 2012, S. 80 f.). Insgesamt gesehen, ist die Spannweite möglicher Optionen relativ groß.

Auf der einen Seite sind diverse legale Reaktionsweisen möglich. Dies können zum einen nach innen gerichtete Verarbeitungsmuster (z. B. Rückzug, Depression, selbstschädigendes Verhalten) sein (vgl. Foroutan 2012, S. 80 f.; Precht 2007, S. 44 f.). Diese sind insbesondere dann wahrscheinlich, wenn die Verantwortung für die jeweiligen Problemlagen auf sich selbst attribuiert wird, wenn etwa das Versagen im schulischen oder beruflichen Kontext durch eigene Defizite begründet wird (vgl. Albrecht 2002, S. 796 f.; Anhut & Heitmeyer 2009, S. 228 ff.). Nur wenn die Schuld für die eigenen Problemlagen einer anderen Gruppe zugeschrieben wird, sind nach außen gerichtete Reaktionsformen, wie etwa Gewalt, erwartbar (vgl. Agnew 2010, S. 138).

Zum anderen ist die Hinwendung zu liberalen oder konservativen Islaminterpretationen ein weiterer möglicher Weg (vgl. z. B. Khorchide 2014, S. 52 f.; The Change Institute 2008, S. 104 ff.). Auch in diesem Fall können Aspekte wie Sinn, Zugehörigkeit oder eine Perspektive erfahren werden. Allerdings darf nicht außer Acht gelassen werden, dass islamistische Varianten für einige Personen eine höhere Anziehungskraft ausüben mögen. Denn einerseits bieten diese, im Gegensatz zu liberalen oder konservativen Deutungen, die Möglichkeit die eigene Person aufzuwerten, da nur sie die Annahme einer Ungleichwertigkeit von Menschen vertreten. Auslegungen innerhalb des Islams, die die Gleichwertigkeit aller Menschen und die Gemeinsamkeiten mit anderen Weltreligionen betonen, sind hingegen weniger attraktiv für Personen, die sich minderwertig fühlen, denn sie suchen vermutlich eher nach einem Glaubensangebot, das ihnen erlaubt, sich gegenüber anderen zu erhöhen (vgl. Khorchide 2014, S. 54 f.). Andererseits präsentieren islamistische Gruppen sich und ihre Ideologie oft auf eine besonders poppige Art, um auf diese Weise insbesondere Jugendliche anzuziehen (vgl. Strunk 2014, S. 72). So bedienen sich islamistische Prediger und die Online-Propaganda in ihren Darstellungen und Erklärungen etwa einer jugendgerechten Sprache oder sie thematisieren aktuelle Problemlagen von Jugendlichen (vgl. Dantschke 2015, S. 136). Aufgrund dessen gelingt es ihnen u. U. besser Jugendliche anzusprechen als Islamvarianten, die weniger an der juvenilen Lebenswirklichkeit und ihren Bedürfnissen orientiert sind (vgl. Kaddor 2015, S. 180; Precht 2007, S. 63 f.).

Schließlich stellt auch legales politisches Engagement eine alternative Möglichkeit dar, um gegen die obigen Problemlagen, wie z. B. die wahrgenommene Schlechterstellung der eigenen Gruppe, vorzugehen (vgl. Reidy 2018). Beispielsweise haben die Außenpolitik Großbritanniens und insbesondere der Irak-Krieg bei vielen britischen Muslim*innen Empörung hervorgerufen. Wie Hammonds (2011, S. 244) anmerkt, konnten aber die vielen erfolgreichen gewaltfreien Protestbewegungen in Großbritannien wie die Stop the War Coalition oder die Respect Party die Anziehungskraft des islamistischen Lösungswegs reduzieren. Die Studie des Change Institute (2008, S. 82 f.) macht ebenfalls darauf aufmerksam, dass viele muslimische Jugendliche in Europa es vorgezogen haben friedliche Protestorganisationen zu gründen oder beizutreten, um etwas gegen die zunehmende Diskriminierung von Muslim*innen in Folge des 11. Septembers zu tun.

Neben diesen legalen Optionen können auf der anderen Seite auch illegale Strategien „gewählt“ werden, um mit den genannten Problemlagen umzugehen. Erstens kann die Mitgliedschaft in nicht-ideologischen Gewaltgruppen, wie etwa Jugendgangs oder Hooligan-/Ultra-Gruppen, eine mögliche Variante darstellen. In diesen Gruppen können sowohl Zugehörigkeit und Überlegenheitsgefühle erlebt als auch Anerkennung erworben werden, in erster Linie natürlich mittels Gewalt (vgl. Basra & Neumann 2016, S. 28 f.; Hess 2006, S. 130 f.; Silke 2008, 106 f.). Diese Zusammenschlüsse weisen somit ähnliche Merkmale wie extremistische Gruppen auf und sind aus diesem Grund in der Lage, ein ähnliches Personenspektrum anzuziehen. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass viele gewaltbereite Islamisten und islamistische Gewalttäter in Europa vor ihrer Radikalisierung Mitglieder in gewalttätigen Gangs waren.Footnote 6

Zweitens kann sich der Unmut über die erwähnten Probleme ebenfalls in kollektiven, nicht-ideologischen Gewaltprotesten ausdrücken (vgl. Imbusch & Heitmeyer 2012). Beispielhaft hierfür sind die immer wieder auftretenden émeutes von mehrheitlich Migrantenjugendlichen aus den sogenannten banlieues in Frankreich (vgl. Grünwald 2008). Diese reagieren auf die wahrgenommene Diskriminierung und Benachteiligung in der französischen Gesellschaft mit Aufständen und Gewalt gegen Menschen und Gegenstände. Auch auf diese Weise lässt sich Rache an der französischen Gesellschaft üben. Zudem können die Jugendlichen so auf sich aufmerksam machen und versuchen, ihre Lage zu verbessern. Im Gegensatz zur Gewalt von Islamisten steht hinter dem gewaltsamen Handeln dieser Jugendlichen aber keine extremistische Ideologie, denn sie wollen das Staatssystem nicht zerstören, sondern in dieses integriert werden (vgl. Waldmann 2014, S. 346).

Speziell für Migrantenjugendliche stellt auch der Rückzug auf die Kultur der Eltern/Großeltern eine mögliche Option dar, um mit einer empfundenen Ausgrenzung aus der Gesellschaft umzugehen. Die Studie von Enzmann et al. (2004) demonstriert z. B. anhand von deutschen Jugendlichen mit Migrationshintergrund, dass Benachteiligung und Ausgrenzung zu einer Hinwendung zur Ursprungskultur, die u. U. mit Gewaltlegitimationen verknüpft ist, führen können. Durch diese Gewalt kann dann die eigene Position wieder aufgewertet werden.

Angesichts dieser Vielzahl an denkbaren Optionen wird verständlich, weshalb sich nicht alle Personen, die die beschriebenen Anfälligkeitsfaktoren aufweisen, islamistischen Ideologien zuwenden. Können die Problemlagen durch andere Optionen gelöst werden, verliert der Islamismus seine Anziehungskraft. Nun stellt sich aber die Frage, warum einige Personen eben nicht die zahlreichen anderen Problemlösungen „wählen“, sondern anstelle dessen eine gewaltbefürwortende islamistische Ideologievariante als Lösungsweg akzeptieren. Im Rahmen dieses Modells wird angenommen, dass drei Faktoren hierbei richtungsweisend wirken.

5.3.2.3 Fehlende Schutzfaktoren

Hinsichtlich der Frage, warum sich Personen ausgerechnet einer islamistischen Ideologievariante zuwenden, ist, diesem Erklärungsansatz zufolge, erstens das Fehlen von Schutzfaktoren ausschlaggebend. Schutzfaktoren begünstigen nämlich, dass die jeweiligen Personen in der Lage sind mit ihren Problemen auf legale Art und Weise umzugehen (vgl. Bliesener 2008). Die Option, sich einer islamistischen Ideologievariante zuzuwenden, verliert dann an Attraktivität.

Es besteht bereits eine Vielzahl von Erkenntnissen zur Rolle von Schutzfaktoren im Bereich der herkömmlichen Jugendkriminalität. Hier zeigen verschiedene Forschungsergebnisse, dass Schutzfaktoren das Potential haben, dem Abgleiten von stark risikobelasteten Jugendlichen in eine kriminelle Karriere entgegenzuwirken (vgl. z. B. Baier 2013; Bliesener & Lösel 1992; Wright & Cullen 2001). Die Relevanz, die solche Faktoren bei der Verhinderung des Abrutschens in den Extremismus spielen können, blieb in bisherigen Erklärungsmodellen und Forschungen allerdings meist unberücksichtigt (vgl. Schmid 2016, S. 29 f.; Ausnahmen: z. B. Agnew 2010, S. 145; Bender et al. 2018; Dubow et al. 2009).

In dem vorliegenden Erklärungsmodell wird angenommen, dass sowohl personale als auch soziale Ressourcen als Schutzfaktoren fungieren können. Denn beide Arten können durch ihre abmildernde Wirkung von Problemen die Anfälligkeit für extremistische Ideologien senken (vgl. auch Maresch & Bliesener 2015, S. 80). Erstere umfassen individuelle Bewältigungsstrategien und Kompetenzen, um mit psychosozialen Belastungen angemessen umgehen zu können (vgl. Dubow & Reid 1994; Neo et al. 2017, S. 1127; Richter & Moor 2015, S. 100). In der Studie von Zick et al. (2016, S. 29) zu extremistischen Gewalttätern zeigt sich beispielsweise, dass einem Teil der Täter angemessene Coping-Strategien für den adäquaten Umgang mit Problemen fehlt.

Die sozialen Ressourcen wiederum beziehen sich auf ein unterstützendes Umfeld (Familie und Freunde), das einer Person bei aufkommenden Problemen zur Seite stehen kann (vgl. Makarios & Sams 2013; Yoshikawa 1994, S. 345). Hinweise für die Relevanz des sozialen Umfeldes kommen aus der Studie von Sagit Yehoshua (2010), in der u. a. eingewanderte Muslim*innen in Großbritannien untersucht wurden, die sich trotz einer defizitären Lebenssituation nicht radikalisiert haben. Es zeigt sich, dass die familiäre Unterstützung ein wichtiger Faktor dafür ist, um mit der prekären Situation adäquat umgehen zu können und keine gewaltlegitimierende Haltung auszubilden. In diesem Sinne argumentiert auch Abdel-Samad (2004, S. 199 f.), dass gerade für die Gruppe der im Erwachsenenalter eingewanderten Migranten, die in ihrem westlichen Aufnahmeland auf sich alleine gestellt sind, da sie hier über keinerlei familiären Rückhalt verfügen oder nur schlecht in anderweitige moderate Unterstützungsnetzwerke eingebunden sind, ein höheres Risiko für eine Radikalisierung haben. Ebenfalls Wilhelm Heitmeyer et al. (1997, S. 102 f.) finden in ihrer Studie heraus, dass bei türkischen Migrantenjugendlichen in Deutschland eine gute Integration in das private Umfeld zu einem hohen Maß an Lebenszufriedenheit trotz erlebter Diskriminierungs- und Benachteiligungserfahrungen führen kann, was dann insgesamt die Anfälligkeit für islamistische Ideologien reduziert.

5.3.2.4 Soziale Anziehungskräfte

Zweitens können soziale Anziehungskräfte dafür verantwortlich sein, dass eine Person den Islamismus anderen Lösungswegen vorzieht. Durch diese sozialen Faktoren wird nämlich dieser Weg attraktiver als andere Optionen und begünstigt auf diese Weise, dass die jeweilige Ideologievariante akzeptiert wird. Es wird in diesem Modell zwischen vier relevanten Faktoren unterschieden:

1) Positive Beziehung

Der erste soziale Faktor, der die Bereitschaft zur Annahme der ideologischen Inhalte erhöht, ist eine positive Beziehung der angesprochenen Person zu der ideologievermittelnden Person. Diese positive Beziehung kann auf einer engen Bindung zwischen beiden oder aber auf einer starken Bewunderung für den Vermittler basieren. Beim Vorliegen einer solchen Beziehungsqualität ist es vermutlich leichter die jeweilige Person von den oben genannten Aspekten (z. B. der Legitimität und Effektivität von Gewalt) zu überzeugen.

Aus der Familienforschung ist bekannt, dass die Qualität der Bindung zwischen Eltern und Kind zentral dafür ist, dass die elterlichen Normen und Werte übernommen werden (vgl. Eisenberg et al. 2006; Narvaez & Lapsley 2009). Maßgeblich für die Stärke der Bindung ist dabei, ob die Eltern ihrem Kind mit emotionaler Wärme und Achtung begegnen oder aber mit Ablehnung und Missachtung (vgl. Eisenberg et al. 2006, S. 666 f.; Smetana 1999, S. 314 f.). Der gleiche Mechanismus scheint ebenfalls bei der Internalisierung islamistischer Ideologien relevant zu sein. Auch hier erhöht eine positive Bindung zu der ideologievermittelnden Person die Akzeptanzwahrscheinlichkeit (vgl. Goertz 2017, S. 53 f.; Hafez & Mullins 2015, S. 964). D. h., kommt eine Person in Kontakt mit einer islamistischen Ideologievariante über eine Person, zu der sie Vertrauen hat und gegenüber der sie Sympathien empfindet, dann wird sie die Inhalte eher annehmen. Denn sie neigt dann vermutlich eher dazu, der vermittelnden Person und ihrer Botschaft Glauben zu schenken. Besteht hingegen eine negative Beziehung zum Vermittler oder Misstrauen ihm gegenüber, dann verringert sich die Wahrscheinlichkeit der Akzeptanz.

Verantwortlich für eine enge Bindung und eine Vertrauensbeziehung können Faktoren wie Verwandtschaft oder Freundschaft sein. Islamisten versuchen aus diesem Grund auch verstärkt, potentielle Anhänger im eigenen Familien- und Freundeskreis anzusprechen (vgl. Strunk 2014, S. 71 f.). In anderen Fällen nutzen islamistische Personen und Gruppen verschiedene Strategien, um eine positive Bindung überhaupt erst herzustellen. So wird erstens versucht, Bindungen durch gemeinsame Aktivitäten und positive Erlebnisse herzustellen (vgl. Kaddor 2015, S. 62; Precht 2007, S. 68). Dies kann etwa im Rahmen von religionsbezogenen Veranstaltungen oder angebotenen Freizeitaktivitäten, wie z. B. Sportveranstaltungen, geschehen. Zweitens kann eine Bindung durch Hilfeleistungen und den dadurch ausgelösten Verpflichtungsgefühlen auf Seiten des Geholfenen erzeugt werden (vgl. Bouhana & Wikström 2011, S. 37; de Poot & Sonnenschein 2011, S. 66 f.). Diese Hilfen können sich beispielsweise auf Unterstützungen bei der Lösung von individuellen Problemen beziehen. Extremistische Organisationen treten aus diesem Grund oft auch als Kümmerer auf und bieten wohltätige Dienste an, wie z. B. die Speisung von Hilfsbedürftigen oder eine Hausaufgabenhilfe für Jugendliche (vgl. Arena & Arrigo 2005, S. 503; Richardson 2006, S. 91).

Schließlich kann die positive Beziehung nicht nur auf einer engen persönlichen Bindung fußen, sondern ebenfalls darauf, dass die angesprochene Person ein hohes Maß an Bewunderung für die ideologievermittelnde Person empfindet (vgl. Hofmann 2015, S. 727 f.). Dieses Ansehen kann durch ein selbstbewusstes und wortgewandtes Auftreten sowie hohe zugeschriebene Fähigkeiten, etwa in Bezug auf religiöses Wissen oder Kampferfahrungen, begründet sein (vgl. de Poot & Sonnenschein 2011, S. 67; Pargeter 2006, S. 742 f.; Precht 2007, 54). Laut Wiktorowicz (2004, S. 167 f.), konstituieren diese Faktoren die Glaubwürdigkeit eines Botschafters. Seine Botschaft erscheint aufgrund dieser Kompetenzen überzeugender.

2) Vorbilder

Ein weiterer personaler Faktor, der die Annahmebereitschaft einer islamistischen Ideologie steigert, sind Vorbilder, die der jeweiligen Person illustrieren, dass die Ideologie einen erfolgsversprechenden Weg darstellt, um eigene Problemlagen zu lösen. Als Vorbild kommen allen voran Personen in Frage, mit denen sich die angesprochene Person besonders gut identifizieren kann. Grundlage für eine Identifikation sind u. a. Faktoren wie ähnliche biographische Hintergründe sowie gleiche Erfahrungen oder Problemlagen (vgl. Böckler & Seeger 2010, S. 202 ff.; Dantschke 2014, S. 183 f.). Die Lösung eigener Probleme durch die Hinwendung zum Islamismus erscheint aus Sicht der Person vermutlich realistischer, wenn eine ihr ähnliche Person in einer vergleichbaren Problemlage durch eben diesen Weg ihre Probleme erfolgreich bewältigen konnte.

Angesichts ihrer anziehenden Wirkung werden attraktive Vorbilder im Rahmen der islamistischen Propaganda gezielt genutzt und inszeniert, um anfällige Personen anzusprechen. So berichten z. B. berühmte Islamisten in Internetvideos im Rahmen von sog. Konversionsnarrativen darüber, wie leer und sinnlos ihr Leben vor ihrer religiösen Erweckung war (vgl. Abou Taam & Sarhan 2014, S. 393 f.; Böckler & Zick 2015, S. 105 f.). Nun aber sind sie, ihren Darstellungen zufolge, berühmte und respektierte Personen innerhalb der islamistischen Bewegung, die etwa als Gotteskrieger zu gefeierten Helden aufgestiegen sind. Beispielhaft hierfür ist die Entwicklung und Inszenierung des ehemaligen Rappers Denis Cuspert (vgl. Farschid 2014, S. 97) oder des in Afghanistan kämpfenden Deutschen Harrach Bekkay (vgl. Nesser 2015, S. 233).

Darüber hinaus können ebenso ältere Geschwister als nachahmenswerte Modelle dienen und ihre jüngeren Geschwister dazu inspirieren, den gleichen Weg einzuschlagen (vgl. Ilyas 2013, S. 44; Nesser 2015, S. 295 f.; Slootman & Tillie 2006, S. 93). Dieser Wirkmechanismus liefert zudem eine Erklärung für den Befund, warum sich oft so viele Personen aus einer einzigen Familie radikalisiert haben (vgl. Alonso & Reinares 2006, S. 192 f.; Bakker 2006, S. 42).

Die Relevanz von Vorbildern für die Akzeptanzwahrscheinlichkeit zeigt sich ebenfalls im umgekehrten Fall. So empfiehlt Guido Steinberg (2013, S. 25) beispielsweise als Präventionsmaßnahme, Aussteiger aus der Szene als abschreckende Vorbilder zu nutzen, indem sie über ihre negativen Erfahrungen mit dem Islamismus berichten und auf diese Weise verdeutlichen, dass dies kein geeigneter Weg zur Problemlösung ist. Die Bereitschaft, die ideologischen Inhalte anzunehmen, kann sich so verringern.

3) Soziale Bestärkungen

Radikalisierungsprozesse finden oft kollektiv in einer Freundesclique statt (vgl. Sageman 2006, S. 128). Ein dritter begünstigender sozialer Faktor für die Akzeptanz ideologischer Inhalte können daher Bestärkungen durch andere Gruppenmitglieder sein.

Dies können auf der einen Seite gegenseitige Verstärkungen im Gruppenkontext und Vergewisserungen durch die anderen Mitglieder sein, dass die jeweiligen ideologischen Überzeugungen richtig sind. Sie können so dabei helfen mögliche Bedenken bei der Aneignung zu überwinden. Eine homogene Gruppe, bestehend aus Gleichgesinnten, ist aus diesem Grund eine bedeutsame Bedingung für eine Radikalisierung, denn Gruppenmitglieder mit abweichenden Meinungen könnten Zweifel bzgl. der Ideologievariante säen.

Auf der anderen Seite kann die Antizipation positiver oder negativer Reaktionen der anderen Gruppenmitglieder in Folge der Akzeptanz bzw. Ablehnung der Ideologie bestärkend wirken. Einerseits kann die Annahme der islamistischen Inhalte begünstigt werden, wenn die jeweilige Person hierfür Anerkennung und Ansehen von Seiten der anderen Gruppenmitglieder erhält (vgl. Zick & Küpper 2016, S. 102). Andererseits kann die Befürchtung, im Falle einer Ablehnung der Ideologie aus der Freundesclique ausgeschlossen zu werden, die jeweilige Person dazu bewegen, die islamistischen Überzeugungen zu internalisieren (vgl. Zimbardo 2007, S. 259). Die Wahl dieser Option, statt z. B. die Clique einfach zu verlassen, ist insbesondere dann erwartbar, wenn die Gruppenmitgliedschaft eine hohe Bedeutung für die Person hat. Diese Relevanz ist z. B. gegeben, wenn die Gruppe zu einer Art (Ersatz-)Familie geworden ist, wo man Rückhalt und emotionale Geborgenheit erfährt, oder sie die einzige Anerkennungsquelle für eine Person darstellt (vgl. Matt 2010, S. 468). Da Aspekte wie Ansehen, Aufwertung und die emotionale Akzeptanz einer Person in diesem Fall an die Gruppenmitgliedschaft gekoppelt sind, wäre ein Verlust der Zugehörigkeit für sie äußerst fatal. Sie mag sich daher anpassen und die Position der Gruppe übernehmen, um nicht ausgeschlossen zu werden und die erwähnten Vorteile zu verlieren. Sofern die Anpassung aber ausschließlich auf der Angst vor Konsequenzen basiert, besteht jedoch das Risiko, dass es lediglich zu einer oberflächlichen Übernahme kommt.

4) Wegfall von alternativen Einflüssen

Schließlich kann viertens der Wegfall von alternativen, ideologieablehnenden sozialen Einflüssen (z. B. von Seiten der Familie oder Freunden) die Annahme einer islamistischen Ideologievariante begünstigen. Denn diese konkurrierenden Einflüsse haben das Potential, Zweifel bei der jeweiligen Person auszulösen, und können dadurch verhindern, dass es zu einer Akzeptanz kommt (vgl. Elwert 2003, S. 59).

Im Kontext von kollektiven Radikalisierungsprozessen in einer Freundesclique werden die anderen Gruppenmitglieder angesichts dieser Störwirkung vermutlich gezielt versuchen, die jeweilige Person von ihrem bisherigen Umfeld abzuschotten, um sie von diesen kritischen Einflüssen zu isolieren (vgl. Bouhana & Wikström 2011, S. 38 f.). Funktionen wie emotionale Zuwendung und Unterstützung werden dann vollständig durch die Gruppe übernommen (vgl. de Bie 2016, S. 32 f.). Am Ende dieses Abkapselungsprozesses erfolgt dann eine ausschließliche Konzentration des gesamten Lebensvollzugs auf die Gruppe und es besteht schließlich nur noch der Einfluss durch die radikale Gruppe (vgl. Wildfang 2010, S. 202).

Gleichzeitig können in der Gruppe bestimmte Verbote etabliert werden, die eine Beeinflussung durch widersprechende Informationen verhindern sollen. Beispielsweise dürfen nur noch Quellen (z. B. Nachrichten oder Internetseiten) von den Gruppenmitgliedern rezipiert werden, die die ideologischen Inhalte stützen (vgl. Slootman & Tillie 2006, S. 92).

5.3.2.5 Positive Bewertung der Ideologie

Neben diesen personalen Anziehungskräften hängt die Akzeptanzwahrscheinlichkeit auch von der Bewertung der Ideologie durch die angesprochene Person selbst ab. Dies folgt aus der eingangs formulierten Grundannahme des realitätsverarbeitenden Subjekts, welches nicht bloß passiv Einflüsse aus der Umwelt aufnimmt, sondern sich aktiv mit diesen auseinandersetzt (vgl. auch Zick et al. 2016, S. 28). Im Rahmen dieses Modells wird davon ausgegangen, dass sich diese Bewertung der ideologischen Inhalte an drei Komponenten orientieren kann:

1) Wahrheitsgehalt

Ein erstes Bewertungskriterium ist, ob die Aussagen der Ideologie als zutreffend bewertet werden oder nicht. Hat die angesprochene Person Erfahrungen gemacht, die die Aussagen bestätigen, steigt die Annahmebereitschaft (vgl. Elwert 2003, S. 60; Sageman 2008, S. 83 f.). Islamistische Organisationen sind aus diesem Grund sehr darum bemüht, die Annahmen und Anschuldigungen ihrer Ideologie durch Beweismaterial, etwa in Form von Videos über vermeintliche Gewalttaten des Westens gegen Muslim*innen oder durch pseudo-wissenschaftliche Befunde, zu belegen, um so ihren Authentizitätsgrad zu steigern (vgl. Frindte et al. 2016, S. 28; Hafez & Mullins 2015, S. 969). Gleichzeitig wird versucht, andere Ideologievarianten als falsch zu entlarven (vgl. Slootman & Tillie 2006, S. 92).

Hat die Person wiederum diskrepante Erfahrungen gemacht, die die Aussagen der Ideologie als unwahr entlarven, sinkt die Wahrscheinlichkeit einer Akzeptanz. Letzteres kann beispielsweise im Falle eines positiven Kontakts mit Mitgliedern der Fremdgruppe gegeben sein (vgl. Glaeser 2005, S. 56 f.). Studien im Zusammenhang mit der Kontakthypothese belegen etwa, dass ein positiver Kontakt mit Fremdgruppenmitgliedern die Wahrscheinlichkeit der Ausbildung von Vorurteilen und negativen Einstellungen der Fremdgruppe gegenüber senkt (vgl. Eisenberg et al. 2010, S. 167 f.; Maresch & Bliesener 2015, S. 30 ff.; Zick & Küpper 2007, S. 99 f.). Denn im Rahmen dieser Beziehungen kann die jeweilige Person positive Erfahrungen mit Fremdgruppenmitgliedern gemacht haben, welche den Darstellungen der Ideologie über diese Gruppe (z. B. als grundsätzlich bösartig oder schädlich) zuwiderlaufen. Die Person wird dann die Ideologie eher ablehnen.

2) Erfolgsaussicht

Zweites Kriterium ist die Einschätzung, ob die Ideologie überhaupt einen erfolgsversprechenden Weg darstellt, um eigene Probleme zu lösen oder Bedürfnisse zu befriedigen. Eine positive Erwartung diesbezüglich erhöht die Akzeptanzbereitschaft (vgl. Krumwiede 2004, S. 56; Rucht 2002, S. 471). Werden jedoch von der Übernahme dieser Ideologievariante keine Vorteile oder sogar vorwiegend Gefahren und negative Folgen für sich selbst erwartet, sinkt die Bereitschaft zur Annahme.

Wie kommt eine Person zu der Überzeugung, dass gerade in diesem Weg eine effektive Lösung der eigenen Probleme liegt? Diese Einschätzung basiert u. a. auf dem Erfolg und der Stärke einer extremistischen Bewegung. Denn erfolgreiche Bewegungen sind eher dazu in der Lage die Hoffnung zu wecken, dass man durch sie eine Möglichkeit hat, die Ursachen der eigenen Unzufriedenheit zu beseitigen, etwa die eigene Position aufzuwerten oder politische Missstände zu bekämpfen. So hat z. B. der zeitweilige Erfolg des IS im Irak und Syrien zu einer enormen Steigerung der Anziehungskraft der Organisation geführt (vgl. Nesser 2015, S. 273 f.). Es kam zu massenhaften Ausreisen, auch aus Europa, zum IS, um an diesem Erfolg teilhaben zu können. Erfolglose Bewegungen sind hingegen nur wenig attraktiv, da die Beseitigung von eigenen Problemen durch sie nur wenig aussichtsreich erscheint.

Komplementär hierzu versuchen sich extremistische Organisationen im Rahmen ihrer Propaganda natürlich auch gezielt als einzige erfolgsbringende Möglichkeit darzustellen, um bestimmte Probleme zu überwinden (vgl. EUROPOL 2017, S. 31; Moghaddam 2005, S. 165). Um solche Erfolgserwartungen bei angesprochenen Personen zu wecken, nutzen Organisationen in ihrer Propaganda beispielsweise erfolgreiche Vorbilder aus der Szene, um zu verdeutlichen, dass dieser Weg Erfolg verspricht.

Schließlich kann es in diesem Zusammenhang zusätzlich begünstigend auf die Akzeptanzwahrscheinlichkeit wirken, wenn die jeweilige Person bereits eine oder mehrere der oben beschriebenen alternativen Reaktionsformen (siehe Abschnitt 5.3.2.2.) ausprobiert und dabei die Erfahrung gemacht hat, dass sie keinen Erfolg bringen. Solche Erfahrungen des Scheiterns machen anfällig für den Islamismus. Denn die Person mag dann in der islamistischen Ideologie den letztmöglichen Weg sehen, um die eigene Lage zu verbessern (vgl. Olsen 2009, S. 57; Vidino 2015, S. 9 f.). Al Qaida hat z. B. gezielt unter den enttäuschten Anhängern des gescheiterten arabischen Frühlings rekrutiert und versucht sie davon zu überzeugen, dass der Islamismus eine bessere Lösung als die Demokratie darstellt (vgl. Schmid 2014a, S. 8).

3) Moralität

Drittes Kriterium für die Annahmebereitschaft ist die moralische Bewertung der Ideologie und ihrer Inhalte. Widersprechen die Aussagen und Aufforderungen der Ideologie, wie z. B. der Aufruf, Fremdgruppenmitglieder zu töten, den moralischen Einstellungen der angesprochenen Person, dann ist es eher unwahrscheinlich, dass sie diese Ideologie akzeptieren und internalisieren wird (vgl. Aly et al. 2014).

Im Kontext gewöhnlicher Jugendkriminalität zeigt z. B. die Studie von Daniel P. Mears et al. (1998), dass die moralischen Überzeugungen einer Person gegenüber dem kriminalitätsbegünstigenden Einfluss von delinquenten Peers immunisieren können. Im Falle der islamistischen Rekrutierung deuten Forschungen darauf hin, dass eine feste Verankerung in liberalen, gewaltablehnenden Islamvarianten vor Anwerbungsversuchen von Islamisten schützen kann (vgl. z. B. Abdel-Samad 2004; Sageman 2006). Denn die Inhalte islamistischer Ideologien werden dann mit höherer Wahrscheinlichkeit als unvereinbar mit dem Islam wahrgenommen (vgl. Kaddor 2015, S. 53 f.; Khorchide 2014, S. 57 f.). Wenn religiöse Kenntnisse jedoch fehlen, dann wird die jeweilige Person kaum dazu in der Lage sein, einzuschätzen, ob die vermittelten Ideologieinhalte tatsächlich mit den religiösen Quellen vereinbar sind.

Bei Personen hingegen, deren moralische Überzeugungen den Inhalten einer gewaltbefürwortenden Ideologievariante mit einer Ungleichwertigkeitsannahme nicht widersprechen, bestehen solche Barrieren für die Akzeptanz nicht. Bouhana & Wikström (2011, S. ix f.) bezeichnen dies als moralische Vulnerabilität. So haben beispielsweise Personen, die bereits vor einer möglichen Radikalisierung eine hohe Gewaltbereitschaft aufweisen und schon mehrfach Gewalt ausgeübt haben, vermutlich weniger moralische Bedenken gegenüber Ideologien, die zur körperlichen Schädigung von anderen Menschen aufrufen (vgl. Basra & Neumann 2016, S. 33 f.).

5.3.3 3. Stufe: Entstehung von gewaltbegünstigenden Überzeugungen

Die Übernahme der ideologischen Inhalte (2. Stufe) allein ist allerdings noch kein Garant dafür, dass die jeweilige Person auch selbst aktiv wird und z. B. versucht, die ideologischen Ziele durch eigenes Handeln zu realisieren. Denn nicht alle Personen, die die extremistische Ideologie, ihre Ziele, Mittel, Feindbilder usw. internalisiert haben, sind auch gewillt, das Risiko einer Inhaftierung oder eigenen Verletzung einzugehen, um etwas im Sinne der Ideologie zu unternehmen, geschweige denn Gewalt auszuüben (vgl. Borum 2017, S. 18). Für die Erklärung der Begehung ideologie-basierter Gewalttaten muss demnach nicht nur dargelegt werden, warum eine Person eine gewaltlegitimierende Ideologie akzeptiert, sondern zusätzlich, weshalb sie darüber hinaus auch noch bereit ist, sich gewaltsam im Sinne der Ideologie zu engagieren.

Grundlegend hierfür ist, gemäß diesem theoretischen Ansatz, das Vorhandensein einer hohen ideologie-basierten Gewaltbereitschaft, welche sich aus einer spezifischen Ausprägung der vier o.g. Komponenten (Moral, selbst- und fremdbezogenen Folgenerwartungen sowie Selbstwirksamkeitserwartungen) ergibt. Eine Person muss also z. B. davon überzeugt sein, dass ihr persönlicher Einsatz notwendig ist und auch erfolgsversprechend sein wird. Diese handlungsförderlichen Überzeugungen wurden in Abschnitt 5.2 ausführlich thematisiert. In den folgenden Abschnitten soll es nun darum gehen, wie es zu diesen bereitschaftserhöhenden Überzeugungen im Bereich der eigenen Moral, der Folgenerwartungen und der Selbstwirksamkeitserwartungen kommt, mit anderen Worten also um die Entstehung einer hohen Gewaltbereitschaft.

Dieses Bündel von gewaltbegünstigenden Überzeugungen ist einerseits die Folge der Akzeptanz und Übernahme einer gewaltbefürwortenden islamistischen Ideologievariante, dessen Bedingungen für eine Internalisierung im Rahmen der ersten beiden Stufen dargelegt wurden. Die Ideologie bildet bei der Entstehung einer hohen ideologie-basierten Gewaltbereitschaft die Grundlage, da sie z. B. Rechtfertigungen bereitstellt, warum die Anwendung von Gewalt in Westeuropa moralisch legitim ist. Wird man hingegen von einer Variante geprägt, die zwar eine Systemüberwindung anstrebt und eine Ungleichwertigkeit von Menschen postuliert, aber Gewalt ablehnt, wird dies in anderen Überzeugungen und Ausprägungen der Bereitschafts-komponenten resultieren, als im Falle einer Beeinflussung durch eine Ideologievariante, die zusätzlich auch den Einsatz von Gewalt befürwortet (vgl. Böckler & Zick 2015, S. 114; Puschnerat 2006, S. 222 f.). Andererseits sind eigene Erfahrungen mit der Gewaltausübung sowie soziale Verstärker für die Ausbildung einer Gewaltbereitschaft relevant. Letztere können etwa Modelle oder Propagandadarstellungen sein, die eine Person von der Effektivität und Realisierbarkeit der Gewaltanwendung überzeugen sollen.

5.3.3.1 Entstehung von gewaltlegitimierenden moralischen Überzeugungen

Im Islam ist das Töten von Menschen im Allgemeinen moralisch verboten (vgl. Wiktorowicz 2005a, S. 86 f.). Dies stellt ein Problem für islamistische Organisationen oder Gruppen dar, die ihre Mitglieder zum Töten veranlassen und in der Bevölkerung um Unterstützung für ihr gewaltsames Vorgehen werben wollen. Um sie zu diesem Engagement zu bewegen, müssen sie sie von der Legitimität von Gewalt als Mittel zur Erreichung bestimmter Ziele überzeugen, sonst werden die Anhänger und die Bevölkerung kaum bereit sein, Gewalt auszuüben bzw. die Organisation/Gruppe zu unterstützen. Die entscheidende Frage ist daher, wie es islamistischen Organisationen oder Gruppen gelingt, Personen davon zu überzeugen, dass der Einsatz von Gewalt in ihrem Falle etwas Gutes und nichts Verwerfliches ist, was den religiösen Vorgaben widerspricht, um so eine Bereitschaft zur Gewaltanwendung sicherzustellen.

Dies geschieht, diesem Erklärungsmodell zufolge, in zwei Schritten. Grundlegend für die Überzeugung, die Anwendung von Gewalt sei legitim, ist erstens, dass islamistische Ideologien die Wirklichkeit in einer bestimmten Art und Weise deuten. Zum einen wird ein Opfer-Narrativ konstruiert, das dazu dient, die Überzeugung auszulösen, man müsse sich wehren (vgl. Cottee 2010, S. 338 f.; Puschnerat 2006, S. 226). Es wird behauptet, der Westen führe einen weltweiten Vernichtungskrieg gegen den Islam und die Muslim*innen. Gestützt wird diese Situationsdefinition einerseits durch die Propaganda islamistischer Organisationen, in der anhand von konkreten Beispielen über vermeintliche Verbrechen oder Ungerechtigkeiten des Westens gegenüber Muslim*innen (z. B. islamophobe Diskurse in westlichen Gesellschaften oder Hassverbrechen gegen Muslim*innen) die Wahrnehmung eines Bedrohungsszenarios für die Eigengruppe plausibilisiert wird (vgl. Ducol et al. 2016, S. 79; Farschid 2014, S. 93). Andererseits können auch eigene Viktimisierungserfahrungen durch den Westen (z. B. Diskriminierungs- oder Verfolgungserfahrungen in westlichen Gesellschaften) die Ansicht bestärken, dass der Westen die Muslim*innen systematisch unterdrückt (vgl. van San 2015, S. 333). Durch diese Inanspruchnahme einer Opferrolle erscheint die eigene Gewalt dann lediglich als Verteidigung gegen die Untaten des Westens. Dies ermöglicht gewaltbereiten Islamisten, Gewalt ohne Skrupel auszuüben, da sie sich selbst nicht als Aggressor sehen, sondern als Opfer, das sich bloß verteidigt.

Zum anderen wird zur moralischen Legitimierung der Gewaltanwendung die Notwendigkeit der Errichtung eines islamischen Staates nach Vorgaben des Korans betont, um ein wirklich gottgefälliges und sicheres Leben führen zu können und die islamische Gemeinschaft wieder in eine Position der Stärke zu führen (vgl. Precht 2007, S. 27 f.; Richardson 2006, S. 102 f.). Denn im Zuge der Säkularisierung und Verwestlichung habe sich, laut Ideologie, die muslimische Welt zu stark vom Islam abgewandt und ist dadurch unmoralisch und dem Westen gegenüber unterlegen geworden (vgl. Arena & Arrigo 2005, S. 494 f.). Es bedarf aus diesem Grund einer Re-Islamisierung der muslimischen Welt.

Neben der Skizzierung einer Situationslage, die eine Verteidigung aufgrund der akuten Bedrohung sowie die Errichtung eines Gottesstaates nötig erscheinen lässt, nutzen gewaltbejahende islamistische Ideologievarianten in einem zweiten Schritt verschiedene moralische Rechtfertigungsstrategien, um zu begründen, warum der Einsatz von Gewalt zur Verbesserung dieser prekären Situation legitim ist (vgl. Kruglanski & Webber 2014, S. 383). Auf der einen Seite wird Gewalt in der jetzigen Situation der Gruppe als einzig verfügbares Mittel zur Realisierung oder Lösung von ideologisch definierten Zielen bzw. Problemen, also der Verteidigung der bedrohten Gemeinschaft und der Errichtung eines Gottesstaates, dargestellt (vgl. Cottee 2010, S. 339; Richardson 2006, S. 42 f.). Andere gewaltfreie Mittel (z. B. Verhandlungen oder parteipolitisches Engagement) hätten, laut Ideologie, versagt und werden daher als ineffektiv abgewertet (vgl. Scheffler 2004, S. 92 f.). Zudem mache es insbesondere die Übermacht des Gegners quasi unumgänglich Gewalt zu nutzen, da dies die vermeintlich einzige Sprache ist, auf die der Gegner reagiert (vgl. Schmid 2014a, S. 8 f.; Schneckener 2006, S. 101 f.). W. William Minor (1981) hat ein solches Rechtfertigungsmuster als Verteidigung der Notwendigkeit („defense of necessity“) bezeichnet. Dabei wird der Einsatz von Gewalt in Situationen, in denen es aus eigener Sicht keine andere Möglichkeit gibt, um zu reagieren, als legitim gerechtfertigt.

Auf der anderen Seite wird die Anwendung von Gewalt moralisch legitimiert, indem sie mit Hilfe des Verweises auf Textstellen in religiösen Quellen (z. B. Koran, Hadithen) als vereinbar mit den Geboten Gottes interpretiert wird (vgl. Strunk 2014, S. 67 ff.; White 2009, S. 192 ff.). Diesen Interpretationen zufolge, erlaubt Gott Gewalt zu Verteidigungszwecken oder zur Durchsetzung religiöser Ziele. Gewalt und das Töten von Menschen werden in gewaltbefürwortenden Ideologievarianten folglich zum festen Bestandteil des Islams erhoben (vgl. Farschid 2014, S. 97).

Es wurde weiter oben argumentiert, dass einige Islamisten mit einer hohen ideologie-basierten Gewaltbereitschaft nicht nur von der Legitimität der Gewaltanwendung zur Erreichung/Lösung der erwähnten Ziele bzw. Probleme überzeugt sind, sondern darüber hinaus sogar eine besondere moralische Pflicht verspüren sich gewaltsam zu engagieren, die sie in besonderem Maße antreibt. Wie entsteht diese Überzeugung, man sei verpflichtet, Gewalt auszuüben? Verantwortlich hierfür kann auf der einen Seite die Wahrnehmung der Bedrohungslage als besonders akut und existentiell sein. Eigene oder stellvertretende Viktimisierungserfahrungen können dabei den Eindruck bestärken, dass die Bedrohung immer schlimmer wird. Vor diesem Hintergrund mag bei der jeweiligen Person die Einschätzung entstehen, ein aktives Handeln durch sie selbst sei nun dringend erforderlich, bevor es zu spät ist (vgl. Post et al. 2002, 94 f.).

Auf der anderen Seite kann ein solcher Handlungsdruck darauf basieren, dass islamistische Ideologien ein gewalttätiges Engagement anhand von religiösen Quellen zu einer von Gott geforderten religiösen Pflicht erheben (vgl. Goertz 2017, S. 42). Beispielsweise begründen Bin Laden und al-Zawahiri in ihrem Aufruf zur „Islamischen Weltfront für den Jihad gegen Juden und Kreuzzügler“ die Pflicht, westliche Zivilisten und Soldaten zu töten, mit dem Verweis auf Passagen aus dem Koran (vgl. Post 2005, S. 452 f.). Der gewaltsame Jihad wird in gewaltbefürwortenden Ideologievarianten auf diese Weise zum sechsten Pfeiler islamischer Glaubenspflichten erklärt, neben u. a. dem Gebet und der Almosensteuer (vgl. Farschid 2014, S. 91). Kommen Muslim*innen dieser Pflicht nicht nach, sind sie, diesen Auslegungsarten zufolge, keine wahren Gläubigen.

5.3.3.2 Entstehung von gewaltbegünstigenden selbstbezogenen Folgenerwartungen

Wie erwähnt, weisen verschiedene Forschungsergebnisse darauf hin, dass sich die primären Gründe für das Engagement gewaltbereiter Islamisten unterscheiden (vgl. z. B. Cottee & Hayward 2011; Nesser 2015; Venhaus 2010; Zick et al. 2016). Einige wollen z. B. primär gesellschaftliche Veränderungen im Sinne der Ideologie realisieren, bei wieder anderen hingegen steht das Ziel, berühmt zu werden, im Vordergrund. Damit diese unterschiedlich motivierten Islamisten die Begehung ideologie-basierter Gewalttaten in Westeuropa anderen Mitteln vorziehen, müssen sie davon überzeugt sein, dass Gewalt der beste Weg ist, um ihre jeweiligen Ziele zu erreichen. Es stellt sich daher die Frage, wie bei einer Person die Erwartung entsteht, ideologie-basierte Gewalt habe solche positiven Folgen.

Im Hinblick auf die Erwartung, Gewalt in Westeuropa sei das beste Mittel um ideologische Ziele zu erreichen, können erstens eigene Erfahrungen verantwortlich sein. Biographische Studien zu islamistischen Gewalttätern in Europa demonstrieren, dass eine Vielzahl von ihnen vor ihrem gewalttätigen Engagement versucht hat, Verbesserungen mit Hilfe gewaltfreier Mittel herbeizuführen (vgl. z. B. Nesser 2015; Vidino 2015). Beispielsweise haben einige Täter anfänglich versucht durch legales politisches Engagement, wie z. B. durch die Teilnahme an Demonstrationen, Einfluss auszuüben. Mit der Zeit gelangten sie jedoch zu der Erkenntnis, dass diese gewaltfreien Mittel keinerlei Wirkung erzielen. So hat etwa der Attentäter Michael Adebolajo, einer der Mörder des britischen Soldaten Lee Rigby, vor der Tat an mehreren Demonstrationen teilgenommen, um gegen die britische Außenpolitik zu protestieren. Er wurde jedoch während einer der Demonstrationen verhaftet, was ihn, laut seiner Aussage, zu der Einsicht brachte, dass dieses Mittel ineffektiv ist.Footnote 7 Auch Olsen (2009, S. 57) findet in seiner Untersuchung heraus, dass sich die von ihm interviewten extremistischen Gewalttäter gewalttätigen Mitteln zuwandten, nachdem sie die Erfahrung machten, dass Diskussionen und Debatten inadäquat sind, um eigene Ziele zu erreichen. Aus Sicht solcher gescheiterten Personen mag dann ideologie-basierte Gewalt die letzte Option zur Realisierung ersehnter Veränderungen sein (vgl. Baumeister 2001, S. 106 f.).

Ausschlaggebend dafür, dass einige dieser gescheiterten Personen dann, statt z. B. zu resignieren, ausgerechnet zu der Überzeugung gelangen, Gewalt sei die beste Option, sind ideologische Beeinflussungen, eigene Erfahrungen bzgl. Gewalt und soziale Verstärker. Natürlich hat eine Vielzahl gewaltbereiter Islamisten niemals versucht mit Hilfe gewaltloser Mittel ideologische Ziele zu verwirklichen, geschweige denn haben sie es überhaupt jemals in Erwägung gezogen, sie zu nutzen. Aber auch in Bezug auf diese Personengruppe wird in diesem Modell angenommen, dass für die Entstehung ihrer gewaltbegünstigenden Folgenerwartungen die drei erwähnten Einflüsse (Ideologie, eigene Gewalterfahrungen und soziale Verstärker) verantwortlich sind.

Ideologien geben vor, welche Mittel besonders effektiv sind (vgl. z. B. Pape 2005, S. 189 ff. am Beispiel der Ideologie der Hisbollah). Auf diese Weise entstehen bei den Anhängern bestimmte Folgenerwartungen bzgl. der jeweiligen Mittel. Im Falle gewaltbefürwortender Ideologievarianten wird Gewalt im Rahmen sog. success narratives glorifiziert, indem ihr übertrieben positive Wirkungen zugeschrieben werden (vgl. Kruglanski & Webber 2014, S. 383). So wird beispielsweise behauptet, man könne durch Gewalt effektiv Druck auf Regierungen ausüben, Öffentlichkeit herstellen, Unruhe stiften, Repression provozieren, Vergeltung üben und Zugeständnisse erzwingen.

Untermauert werden diese ideologischen Behauptungen in Propagandadarstellungen z. B. mit dem Verweis auf vorherige erfolgreiche Gewaltkampagnen, etwa der Vertreibung der Supermacht USA mittels Anschlägen aus dem Libanon und Somalia oder den Erfolgen der Hisbollah gegen Israel (vgl. Pape 2003, S. 355; Richardson 2006, S. 178). Gleichzeitig werden im Rahmen dieser sozialen Verstärker Misserfolge heruntergespielt (vgl. Schneckener 2006, S. 27 f.).

Die gleichen Mechanismen sind ebenfalls bei der Entstehung der Erwartung, mit Hilfe ideologie-basierter Gewalt besonders gut nicht-ideologische Ziele, wie etwa Nervenkitzel oder Ansehen, erreichen zu können, von Bedeutung. Demzufolge können auf der einen Seite eigene Gewalterfahrungen verantwortlich sein. Denn, wie erwähnt, haben einige gewaltbereite Islamisten bereits vor ihrer Radikalisierung als gewöhnliche Gewalt-/Intensivtäter eigene Erfahrungen bzgl. der Wirkungen von Gewalt sammeln können. Sie haben in diesem Rahmen möglicherweise erlebt, dass Gewalt mit Anerkennung und Nervenkitzel verbunden sein kann, und sind aus diesem Grund davon überzeugt, dies sei bei ideologie-basierter Gewalt in gleichem Maße der Fall.

Auf der anderen Seite kann eine solche Erwartungshaltung durch soziale Einflüsse bestärkt werden. Dies mag insbesondere bei Personen, die bislang noch keinerlei Erfahrungen mit Gewalt gemacht haben, relevant sein. Maßgeblich für den Glauben, man hätte durch die Anwendung von Gewalt eine hohe Chance zur Realisierung bestimmter Ziele, kann zum einen die Wirkung von Vorbildern sein (vgl. Venhaus 2010, S. 9 f.). Islamistische Gewalttäter werden in gewaltbefürwortenden, islamistischen Kreisen bewundert und im Kontext eines Märtyrerkults als Helden verehrt (vgl. Helmus 2009, S. 92; Merari 2005, S. 80 f.). Sie zeigen auf diese Weise anderen Anhängern in der Bewegung, dass man durch die Ausübung ideologie-basierter Gewalt viel Ansehen erwerben kann. Zum anderen kann die islamistische Propaganda bestimmte Folgenerwartungen hinsichtlich der Gewaltanwendung erzeugen (vgl. Venhaus 2010, S. 11). So wird z. B. in Internetvideos des IS das Leben als islamistischer Kämpfer im selbsternannten Kalifat als besonders actionreich dargestellt, etwa durch das Zeigen von Feuergefechten mit feindlichen Truppen oder von Trainingseinheiten mit Sprengstoff und Waffen, wodurch bei den Rezipienten der Eindruck erweckt werden kann, eine Ausreise und die Beteiligung an Kampfhandlungen seien in besonderem Maße mit Nervenkitzel verbunden (vgl. Abou Taam et al. 2016, S. 17 f.; Helmus 2009, S. 94; Silke 2008, S. 116 f.).

Schließlich muss im Zusammenhang mit dieser Komponente begründet werden, warum gewaltbereite Islamisten die hohen negativen Folgen der Gewaltausübung für sich selbst (z. B. Tod, Inhaftierung) in Kauf nehmen. Grundlegend hierfür ist die Beeinflussung durch ideologische Vorgaben. Zum einen nimmt die Ideologie mögliche Ängste vor den Konsequenzen durch das Versprechen, in Folge des gewaltsamen Einsatzes Eintritt ins Paradies zu erhalten. Zum anderen verschiebt die Ideologie die Relevanzen ihrer Anhängerschaft (vgl. Hafez & Mullins 2015, S. 967; Wiktorowicz 2005b, S. 18). Weltliche Dinge, wie die eigene Familie oder der Beruf werden irrelevant. Im Vordergrund stehen nur noch die ideologische Zielerreichung und das Engagement für Gott.

5.3.3.3 Entstehung von gewaltbegünstigenden fremdbezogenen Folgenerwartungen

In Abschnitt 5.2.5. wurde dargelegt, dass eine wichtige Bedingung für eine hohe ideologie-basierte Gewaltbereitschaft ist, dass den jeweiligen Personen das Wohl von den Menschen, die sie schädigen wollen, gleichgültig ist. Aber insbesondere im Falle sog. Home Grown-Terroristen, also Personen, die im Westen geboren und/oder hier aufgewachsen sind, erscheint es erklärungsbedürftig, warum sie zur Ermordung ihrer eigenen Landsleute, mit denen sie aufgewachsen sind und zu denen sie möglicherweise auch positive Beziehungen unterhielten, bereit sind. Im Gegensatz dazu, schädigt die Gruppe der Täter, die erst im Erwachsenenalter in den Westen eingewandert sind, i. d. R. eine ihnen vollkommen fremde Personengruppe, zu der sie u. U. überhaupt keine persönlichen Bindungen haben.

Eine solche Gleichgültigkeit gegenüber Nicht-Muslim*innen ist, laut diesem theoretischen Ansatz, die Folge einer Distanzierung und Entwertung der Fremdgruppe (vgl. Moghaddam 2005, S. 166). Diese beiden Schritte zusammen führen dazu, dass die Mitglieder der Fremdgruppe aus dem Kreis von Personen, deren Wohl man achtet und mit denen man Mitgefühl sowie Solidarität empfindet, ausgeschlossen werden.

Erstens müssen sich die jeweiligen Personen von der anderen Gruppe distanzieren, d. h. evtl. noch vorhandene prosoziale Orientierungen abbauen. Im Falle sog. Home Grown-Terroristen bedeutet dies, sich von der Gesellschaft, in der sie aufgewachsen sind, und ihren Mitgliedern zu lösen, um in der Lage zu sein, Gewalt gegen sie auszuüben (vgl. Waldmann 2005, S. 38). Positive Beziehungen (Liebes- oder Freundschaftsbeziehungen) zu Personen der gegnerischen Gruppe müssen somit beendet werden (vgl. Post et al. 2002, S. 97). Gleichzeitig liegt es im Interesse von Organisationen und Gruppen, dass die eigenen Anhänger diese Arten von Beziehungen zu Fremdgruppenmitgliedern nicht aufbauen (vgl. Abou-Taam 2014, S. 445). Denn in Folge solcher Beziehungen kann sich eine prosoziale Orientierung gegenüber der anderen Gruppe ausbilden, welche die Bereitschaft zur Schädigung dieser Fremdgruppenmitglieder senken würde. Islamistische Ideologien vieler Organisationen und Gruppen untersagen ihren Anhängern aus diesem Grund einen Kontakt zu Nicht-Muslim*innen. Sie orientieren sich dabei beispielsweise am salafistischen Grundsatz der Loyalität und Abgrenzung (al-wala' wa-l-bara') (vgl. Heerlein 2014, S. 161). Dieser fordert auf der einen Seite Nicht-Muslim*innen zu hassen, ihnen gegenüber keinerlei Zuneigung zu zeigen und sie nicht zu Freunden zu nehmen. Auf der anderen Seite verlangt das Konzept, nur loyal zu Glaubensbrüdern und –schwestern zu sein und sich ausschließlich mit ihnen zu umgeben.

Zweitens muss für die Entstehung von Gleichgültigkeit der Fremdgruppe weniger Wert als der eigenen Gruppe beigemessen werden (vgl. Baumeister 2001, S. 167 f.; Cottee 2010, S. 341). Diese Ungleichwertigkeit kann durch die Ideologie z. B. dadurch begründet werden, dass der anderen Gruppe der Status als menschliche Wesen abgesprochen wird, ihre Angehörigen also entmenschlicht werden (vgl. Bandura 1990, S. 38 f.; Zimbardo 2007, S. 222 f.). Alternativ oder zusätzlich kann die Haltung, die anderen seien weniger wert, durch die Ansicht getragen sein, die Fremdgruppe sei unterlegen, etwa weil sie einen unmoralischen Lebensstil führt, unzivilisiert und/oder ungläubig ist (vgl. Huesmann & Huesmann 2012, S. 117; Imbusch 2018, S. 208 f.).

Ein anderer Teil gewaltbereiter Islamisten hat nicht nur fehlende Hemmungen, Gewalttaten in Westeuropa zu verüben, weil ihnen das Wohlergehen von Nicht-Muslim*innen gleichgültig ist, sondern für sie hat diese Form der Gewalt eine besondere Anziehungskraft, da sie davon überzeugt sind, dass diese Taten das beste Mittel darstellen, um auf das Wohl anderer Menschen einzuwirken: entweder anderen Muslim*innen zu helfen oder aber um Rache am Westen zu üben. Wie kommt es zu dem Antrieb, das Wohl anderer positiv oder negativ beeinflussen zu wollen, und warum erwarten diese Personen, Gewalt sei das beste Mittel hierzu?

In Bezug auf die Frage, warum Menschen gewillt sind, ihr Leben zu riskieren, um mitunter völlig fremden Menschen in anderen Teilen der Welt zu helfen, weist etwa Sageman (2006, S. 130) auf den Umstand hin, dass es im Rahmen der Radikalisierung zu einem Wandel der Relevanzen einer Person kommen kann: es stehen nicht mehr nur eigene Interessen im Vordergrund, sondern sie ist nun auch bereit für das Wohlergehen anderer zu kämpfen und zu sterben. Ausgangspunkt hierfür sind die Identifikation mit einer ideologisch definierten Gemeinschaft und ein daraus resultierendes Zusammengehörigkeitsgefühl. Im Falle islamistischer Ideologien wird etwa eine globale Gemeinschaft von „wahren“ Muslim*innen unter dem Begriff der ummah konstruiert (vgl. Dalgaard-Nielsen 2010, S. 800). Aufgrund des gemeinsamen Glaubens kann ein Gefühl der Verbundenheit untereinander entstehen, welches dazu führt, dass für eine Person das Wohl der anderen Gruppenmitglieder, auch von Muslim*innen in weit entfernten Regionen, wichtig wird. Wie Louise Richardson (2006, S. 104) in diesem Zusammenhang anmerkt, hat der islamistische Fundamentalismus die Macht, einen jungen, gebildeten Briten dazu zu bringen, sich nicht mit seinen Nachbarn, Sportskameraden oder Schulfreunden zu identifizieren, sondern mit Palästinensern in einem Land, das er nie zuvor gesehen hat.

Zudem fordern einige Ideologievarianten ihre Anhängerschaft dazu auf, nicht nur an das eigene Wohl zu denken und gleichgültig gegenüber anderen zu sein, sondern auch das Wohlergehen ihrer Glaubensbrüder und –schwestern zu berücksichtigen (vgl. Reddig 2007, S. 305). Beispielhaft hierfür ist etwa der bereits erwähnte Grundsatz der Loyalität und Abgrenzung. Dieser fordert nicht nur eine Distanzierung zu Fremdgruppenmitgliedern, sondern betont gleichzeitig auch besondere Fürsorgepflichten gegenüber anderen Muslim*innen (vgl. Logvinov 2014b, S. 116).

Wie entsteht nun die Überzeugung, eine Gewalttat im Westen sei das beste Mittel, um das Wohlergehen anderer Muslim*innen zu verbessern? Ausschlaggebend für diese Folgenerwartung hinsichtlich Gewalt sind eigene Erfahrungen und/oder soziale Verstärker. Der Wunsch, anderen Muslim*innen zu helfen, kann, genau wie andere Handlungsmotivationen auch, stets durch unterschiedliche Mittel verwirklicht werden. Biographische Studien zu islamistischen Gewalttätern in Europa demonstrieren, dass eine Reihe von ihnen vor ihrem gewalttätigen Engagement versucht hat, durch einen gewaltlosen Einsatz anderen Muslim*innen zu helfen (vgl. z. B. Nesser 2015). Der Attentäter Mohammed Bouyeri, der den niederländischen Filmemacher Theo van Gogh ermordete, hat sich z. B. als Sozialarbeiter für benachteiligte muslimische Jugendliche in Amsterdam engagiert (vgl. Nesser 2006, S. 334). Mehrere Täter des sog. Liquid Bomb Plots, bei dem Anschläge auf Transatlantikflüge geplant waren, halfen wiederum afghanischen Kriegsflüchtlingen in Pakistan, die vor den einmarschierenden westlichen Truppen geflohen waren.Footnote 8 Angesichts der prekären Umstände in den Flüchtlingslagern organisierte einer der Täter, Abdulla Ahmed Ali, Petitionen in Großbritannien und sandte Bittschriften an britische Parlamentsabgeordnete.Footnote 9 Alle erwähnten Personen haben mit diesen Mitteln jedoch diverse Erfahrungen des Scheiterns gemacht. Sie kamen in Folge dessen zu der Einsicht, dass man mit legalen Verhaltensoptionen nichts gegen die Missstände anderer Muslim*innen ausrichten kann. Bouyeri konnte z. B. aufgrund mangelnder Unterstützung von Seiten der Lokalpolitik seine Jugendarbeit nicht mehr fortsetzen, bei Ali wiederum blieben die Petitionen und Bittschriften wirkungslos, was zu einer Desillusionierung hinsichtlich der Effektivität dieses Mittels führte. Für sie erschien dann Gewalt als letzte Möglichkeit, um das Wohl von anderen Muslim*innen zu schützen. Bestärkt werden kann diese Überzeugung durch soziale Beeinflussungen wie etwa Modelle, die verdeutlichen, dass dieses gewaltsame Mittel besonders geeignet ist.

Grundlegend für die Motivation, die Fremdgruppe zu schädigen, sind die jeweiligen Darstellungen der Ideologie von der Fremdgruppe, die z.B. als existentielle Bedrohung für die Eigengruppe und als verantwortlich für eigene Problemlagen oder jene von nahestehenden Personen beschrieben wird (vgl. Zimbardo 2007, S. 10 f.). So unterstellt der Islamismus etwa, der Westen wolle die Muslim*innen vernichten (vgl. Puschnerat 2006, S. 225). Diese Behauptungen werden auch durch Propagandadarstellungen gestützt (vgl. Hafez & Mullins 2015, S. 963 f.; Waldmann 2009, S. 108). Im Zuge sog. narratives of blame wird beispielsweise über vermeintliche Gewalttaten des Westens gegenüber Muslim*innen berichtet, etwa über getötete Zivilisten durch militärische Aktionen des Westens oder über den Umgang Israels mit den Palästinensern, und ihr Leiden anhand von Bildern und Videos veranschaulicht (vgl. Holmes 2005, S. 145 f.). Diese Beschreibungen können zu Wut und Hass auf die Fremdgruppe führen. Eigene Opfer- und Demütigungserfahrungen durch Mitglieder der anderen Gruppe können diese Emotionen bestärken (vgl. Sageman 2006, S. 130; Waldmann 2009, S. 106). Die ausgelöste Wut und der Hass auf die andere Gruppe können in Rachegefühlen und einem Wunsch nach Vergeltung gipfeln (vgl. de Poot & Sonnenschein 2011, S. 51; Richardson 2006, S. 125 f.). Die Schädigung der anderen Gruppe wird in solch einem Falle erstrebenswert für die jeweilige Person, denn man will sie für eigene Viktimisierungen bzw. für das erfahrene Leid von nahestehenden Personen bestrafen und leiden sehen (vgl. Cottee 2010, S. 339 f.).

Die Realisierung dieses Schädigungswunsches kann potentiell durch unterschiedliche gewaltfreie oder gewaltsame Mittel erfolgen. Die Begehung ideologie-basierter Gewalthandlungen im Westen wird für diese wütenden Personen zur präferierten Option, wenn sie erwarten mit diesem Mittel besonders gut das Wohl der anderen Gruppe schädigen zu können. Diese Überzeugung kann, genau wie im Falle der selbstbezogenen Folgenerwartungen auch, durch eigene Erfahrungen und/oder soziale Verstärker entstehen.

5.3.3.4 Entstehung von gewaltbegünstigenden Selbstwirksamkeitserwartungen

Damit eine Person bereit ist, sich zu engagieren, muss sie davon überzeugt sein, dass eine Verbesserung der problematischen Lage der Eigengruppe durch ein eigenes Engagement überhaupt möglich ist. Diese Erwartung, man sei dazu in der Lage, die Situation zu verändern, wird von zwei Faktoren bestimmt: 1) der Bewertung der eigenen Fähigkeiten und Ressourcen und 2) der wahrgenommenen Beeinflussbarkeit des politischen Systems (vgl. Bandura 1997, S. 482 f.). So kann etwa ein scheinbar übermächtiger Gegner oder ein autoritäres Regime, das jede Art von Versuch, das System zu verändern, rigoros und ggfs. gewaltsam unterdrückt, dafür verantwortlich sein, dass eine Person nicht daran glaubt, überhaupt etwas verändern zu können, und in Folge dessen auch nicht bereit ist, sich zu engagieren (vgl. Krumwiede 2004, S. 38; Reddig 2007, S. 286). Wie Peter Waldmann (2004, S. 13 f.) anmerkt, brauchen extremistische Bewegungen einen gewissen gesellschaftlich-politischen Bewegungsspielraum, um überhaupt entstehen und agieren zu können.

Wie gelingt es islamistischen Organisationen oder Gruppen, eine Person aus einer möglicherweise vorhandenen resignativen Haltung herauszuholen und sie davon zu überzeugen, dass eine Veränderung trotz diverser Widerstände möglich ist? Grundlegend hierfür ist die Ideologie, die den Anhängern das Gefühl vermittelt, man könnte alles erreichen (vgl. Hafez & Mullins 2015, S. 967). Sie knüpft hierzu an den beiden obigen Faktoren an. Einerseits betont sie die Stärke der eigenen Bewegung. Das Gefühl, Teil einer breiten, weltweiten Bewegung zu sein, kann die eigenen Selbstwirksamkeitserwartungen erhöhen. Denn der Kollektivcharakter und das daraus resultierende Bewusstsein, nicht alleine zu kämpfen, sondern sich Seite an Seite mit anderen dafür zu engagieren, ideologische Ziele zu realisieren, stärken den Glauben daran, diese Ziele tatsächlich erreichen zu können. Wäre man hingegen auf sich allein gestellt, würde man es vermutlich als aussichtslos bewerten, die gesellschaftlichen Problemlagen verändern zu können. Gerade bei religiös-extremistischen Ideologien kommt die Besonderheit hinzu, dass die Anhänger fest daran glauben, Gott sei auf ihrer Seite und würde ihnen bei der Überwindung aller Hindernisse helfen. Diese Überzeugung spiegelt sich besonders anschaulich in der Aussage des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Muhammed Omar wider: ihm zufolge könne die Supermacht USA, auch wenn sie stärker ist, die Taliban niemals besiegen, da Gott auf Seiten der Taliban ist (vgl. Richardson 2006, S. 138 f.).

Andererseits macht die Ideologie auf die Schwäche und Beeinflussbarkeit des Gegners aufmerksam, um die Selbstwirksamkeitserwartung ihrer Anhänger zu steigern. Gestützt werden diese Behauptungen durch Propagandadarstellungen, in deren Rahmen Vorbilder präsentiert werden, die unter ähnlichen Bedingungen auch erfolgreich waren (vgl. Bandura 1997, S. 497 f.). Ihr Erfolg mag die jeweilige Person davon überzeugen, dass eine Veränderung möglich ist, und sie so dazu bewegen, sich ebenfalls zu engagieren. Osama Bin Laden verwies z. B. oft auf den Krieg in Afghanistan gegen die Sowjetunion, wo es den unterlegenen muslimischen Kämpfern gelang, die Supermacht zu besiegen (vgl. Richardson 2006, S. 100 f.; Scheffler 2004, S. 96 ff.). Des Weiteren behauptete er, die USA seien noch leichter zu besiegen als die Sowjetunion, und zog hierzu etwa die Beispiele des Libanons und Somalia heran, wo es Muslim*innen durch die Begehung von Anschlägen gelang, die dort stationierten US-Truppen aus dem Land zu vertreiben, um zu verdeutlichen, dass es durchaus möglich ist, auch die Supermacht USA zum Einlenken zu bewegen. Auch die Planer des 11. Septembers 2001 haben vermutlich einen solchen Mobilisierungseffekt mit ihrem Anschlag beabsichtigt (vgl. Holmes 2005, S. 160 f.). Sie wollten den Mythos der Übermacht der USA brechen und demonstrieren, dass man die USA schwer treffen kann, um so auch andere Islamisten zu ermutigen, Gewalttaten gegen die USA zu verüben. Und tatsächlich gelang es mit den Anschlägen des 11. Septembers 2001 eine globale Welle islamistischer Gewalt loszubrechen.

Neben dieser Selbstwirksamkeitserwartung im Hinblick auf die Zielerreichung bedarf es für eine hohe Gewaltbereitschaft, diesem Erklärungsansatz zufolge, darüber hinaus einer hohen Selbstwirksamkeitserwartung in Bezug auf die Ausübung von Gewalt. Bei den einfachen Formen ideologie-basierter Gewalt, wie z. B. einer einfachen Körperverletzung oder einem Messerangriff, liegt die Erwartung, dieses Verhalten kompetent umsetzen zu können, bei den meisten Menschen vermutlich bereits ohne größeres Zutun von Außen vor. Bei komplexen Formen, wie z. B. einem Bombenanschlag, für deren erfolgreiche Realisierung diverse Fertigkeiten und Materialien (z. B. Kompetenzen zur Herstellung von Sprengstoff, der Erwerb von Schusswaffen oder der Einsatz von Counter Surveillance-Techniken zur Geheimhaltung) erforderlich sind, ist hingegen anzunehmen, dass sich deutlich weniger Personen die Durchführung solcher Taten zutrauen (vgl. Jackson & Frelinger 2009, S. 12 ff.).

Die Überzeugung, man sei dazu in der Lage, solche komplexen Gewalthandlungen erfolgreich ausführen zu können, wird, laut diesem Modell, durch eigene Gewalterfahrungen und/oder Trainingseinflüsse gestärkt. Dabei kann es sich zum einen um Fronterfahrungen in Kriegsgebieten oder den Aufenthalt in Trainingscamps islamistischer Organisationen handeln (vgl. Nesser 2015, S. 28 ff. & S. 66; Pape 2005, S. 223 f.). In diesen Kontexten können Personen die notwendigen Fertigkeiten zur Durchführung solcher komplexen Taten erwerben. Dementsprechend weisen Untersuchungen darauf hin, dass eine Vielzahl von islamistischen Gewalttätern in Europa ihre Gewaltkompetenzen im Rahmen einer Ausbildung in einem Trainingslager erhalten hat oder sich im Ausland an Kampfhandlungen beteiligte (vgl. EUROPOL 2008, S. 22 f.; Nesser 2015, S. 65 f.). Beispielhaft hierfür sind etwa die sog. Sauerland-Gruppe sowie einige der Selbstmordattentäter der London-Anschläge am 7. Juli 2005. In der Studie von Heerlein (2014, S. 177 f.) stellt sich z. B. heraus, dass fast die Hälfte der deutschen Jihadisten, die an ideologie-basierten Gewalttaten beteiligt waren, ein Ausbildungslager im Ausland besucht hat. Die europäischen Sicherheitsbehörden bewerten solche Rückkehrer daher als ein erhöhtes Sicherheitsrisiko (vgl. z. B. Bundesministerium des Innern 2013, S. 197; EUROPOL 2016, S. 27). Denn aufgrund ihrer erlernten Fähigkeiten im Rahmen einer Ausbildung und/oder eigener Kampfpraxis sind sie nun in der Lage, Gewaltaktionen zu begehen, die sie möglicherweise vor ihrer Ausreise schon in moralischer Hinsicht als begehbar bewertet haben, deren Durchführung sie sich aber noch nicht zugetraut haben, sie also insgesamt noch eine geringe Gewaltbereitschaft hatten (vgl. Borum & Gelles 2005, S. 480 f.). Die Ausreise hat eine Tat in Europa für sie somit erst ermöglicht.

Zum anderen kann der Kompetenzerwerb über das Internet erfolgen (vgl. Ducol et al. 2016, S. 83 f.; Kirby 2007, S. 425; Schneckener 2006, S. 133 ff.; Stenersen 2013). Beispielsweise unterhalten sowohl Al Qaida als auch der IS Online-Magazine, in denen u. a. auch Anleitungen für die Durchführung von Anschlägen veröffentlicht sind. Das AQAP-Magazin Inspire umfasst etwa Artikel wie „How to make a bomb in the kitchen of your mom”, die den Rezipient*innen Bombenbauanleitungen an die Hand geben. So konnten z. B. die Attentäter des Boston Marathons 2013 ihre Fähigkeiten zum Bombenbau durch Darstellungen im Magazin Inspire erwerben (vgl. Steinberg 2013, S. 21). Ebenso haben sich die Düsseldorfer Kofferbomber ihre Kompetenzen zum Bau von Bomben mittels Internetrecherchen angeeignet (vgl. Pantucci 2011, S. 27 f.). Insbesondere seitdem die Ausreise zu und der Aufenthalt in Trainingslagern in Folge der Anti-Terrorismus-Bemühungen verschiedener Länder riskanter geworden sind, nutzen islamistische Organisationen wie Al Qaida verstärkt auch das Internet zur Vermittlung von Kompetenzen (vgl. Hafez & Mullins 2015, S. 969; Stenersen 2013, S. 25 f.).

Von verschiedenen Wissenschaftler*innen wird jedoch angezweifelt, ob Online-Inhalte, wie etwa Online-Magazine, tatsächlich so effektiv sind wie Trainingslager (vgl. z. B. Jordan et al. 2008, S. 25; Vidino 2011, S. 18 f.; Waldmann 2009, S. 128 f.). Marc Sageman (2009, S. 20) stellt in seiner Analyse etwa fest, dass Täter, die ein formales Training einer Organisation erhielten, ihre islamistische Gewalttat im Westen häufiger erfolgreich umsetzen konnten als Täter ohne formale Trainingserfahrungen. Zu bedenken ist aber, dass für eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung und eine sich u. U. daraus ergebende hohe Bereitschaft zur Begehung von Gewalttaten nicht die tatsächlichen Kompetenzen ausschlaggebend sind, sondern ausschließlich, was die Person glaubt zu können. Eine Person kann sich überschätzen und sich mehr zutrauen als sie wirklich kann. Dies kann den Befund erklären, warum so viele Plots aufgrund von mangelnden Kompetenzen und daraus resultierenden Fehlern auf Seiten der Täter fehlschlugen. So scheiterten beispielsweise die Anschläge der London-Attentäter des 21. Julis 2005, der Düsseldorfer Kofferbomber sowie des Flugzeugattentäters Umar Farouk Abdulmutallab durch fehlerhaft konstruierte Bomben. In allen Fällen fühlten sich die Täter offenbar kompetent genug zur Tatbegehung, obwohl sie es, wie sich herausstellte, gar nicht waren.

5.4 Erklärung der Tatbegehung

Bislang wurde die Frage behandelt, warum einige Personen eine höhere Bereitschaft haben, ideologie-basierte Gewalt zur Realisierung bestimmter Ziele (z. B. politische Änderungen herbeizuführen, Angriffe gegen die Eigengruppe zu vergelten oder aber Nervenkitzel zu erleben) zu nutzen. So wird ein Islamist, der Rache für einen Angriff auf die Eigengruppe üben will, wahrscheinlich Gewalt anderen Handlungsoptionen vorziehen, wenn er u. a. der Überzeugung ist, es sei ein besonders effektives Mittel, um die andere Gruppe massiv zu schädigen. Die Option Gewalt wird hingegen eher gemieden, wenn die Person sie moralisch ablehnt oder sich nicht zutraut, Gewalt erfolgreich ausüben zu können. In diesem Fall werden eher gewaltfreie Reaktionsformen bevorzugt.

Noch nicht erklärt werden kann damit allerdings, wann Personen mit einer hohen ideologie-basierten Gewaltbereitschaft tatsächlich Gewalthandlungen in Westeuropa begehen. Denn es ist zu bedenken, dass eine hohe Gewaltbereitschaft nur wahrscheinlicher macht, dass eine Person in einer bestimmten Situation eher Gewalt anwendet. Die Mehrheit der gewaltbereiten Islamisten verübt jedoch keine ideologie-basierten Gewaltdelikte, obwohl sie z. B. die Gewaltanwendung als moralisch legitim bewerten oder die nötigen Gewaltkompetenzen hierfür in einem Trainingslager erworben haben (vgl. Borum 2017, S. 18). Lediglich einige wenige der vielen gewaltbereiten Islamisten in Europa haben beispielsweise auf die Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen mit Gewalt reagiert. Deutlich verbreiteter waren gewaltfreie Protestformen, wie etwa öffentliche Demonstrationen. Die Ausübung von Gewalt scheint demnach auch bei Personen mit einer hohen Neigung zu Gewalt an bestimmte Bedingungen geknüpft zu sein.

Im Rahmen dieses Erklärungsmodells wird angenommen, dass das Umschlagen des Gewaltpotentials in eine ideologie-basierte Gewalthandlung in Westeuropa von drei aufeinanderfolgenden Bedingungen abhängt: erstens muss eine Handlungsmotivation (z. B. ein Wunsch nach Rache) entstehen, zweitens muss sich eine gewalttätige Verhaltensintention bilden, mit der das jeweilige Ziel realisiert werden soll, und drittens muss dieser Tatentschluss bis zu endgültigen Tatrealisierung aufrecht erhalten werden (siehe Abbildung 5.4).

Abbildung 5.4
figure 4

Tatmodell: Damit es zu einer ideologie-basierten Gewalttat in Westeuropa kommen kann, müssen die drei dargestellten Stufen erfolgreich durchlaufen werden

Damit es tatsächlich zu einer Gewalthandlung kommt, müssen alle drei Stufen durchlaufen werden. Es reicht z. B. nicht aus, wenn sich lediglich die Motivation bildet, den Westen für einen Angriff auf die Eigengruppe zu bestrafen. Denn dieses Ziel könnte potentiell ebenfalls durch gewaltfreie Mittel erreicht werden. Erst wenn sich zusätzlich zu der Bestrafungsmotivation auch eine gewalttätige Verhaltensintention bildet, also die Person auf die Idee kommt, den jeweiligen ausgelösten Wunsch mittels Gewalt zu erreichen, und sie sich dann schließlich auch für die Realisierung dieser Intention entscheidet (Entstehung eines Tatentschlusses), wird Gewalt möglich. Damit es schließlich zu einer vollendeten Gewalttat in Westeuropa kommt, muss die Person zu guter Letzt diesen Entschluss, diese intendierte Handlung umzusetzen, während der gesamten Tatvorbereitungsphase bis zur endgültigen Realisierung aufrechterhalten und nicht vorzeitig aufgeben, beispielsweise weil sie erkennt, doch nicht dazu in der Lage zu sein. Dass für das Auftreten von Gewalt alle drei Stufen erfüllt sein müssen, kann erklären, warum nur einige der vielen Islamisten mit einer hohen ideologie-basierten Gewaltbereitschaft tatsächlich auf einen Auslöser (z. B. einen Angriff auf die Gruppenidentität) mit Gewalt reagieren. Viele mögen vermutlich in Folge eines solchen Auslösers eine Handlungsmotivation und eine gewalttätige Verhaltensintention entwickeln, sich dann aber schließlich doch aufgrund von Bedenken gegen eine Realisierung der Tat entscheiden.

Auf jeder Stufe können sowohl interne/psychische als auch externe/soziale Faktoren begünstigen bzw. verhindern, dass die jeweilige Stufe durchlaufen wird. Das bedeutet, individuelle Dispositionen oder interne Zustände können ebenso wie andere Personen einen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit einer Tatrealisierung nehmen. So können etwa andere Gruppenmitglieder eine Person darin bestärken oder aber sie davon abbringen, ihre geplante Gewalttat zu begehen.

Die theoretisch angenommenen Stufen und ihre internen bzw. externen Einflussfaktoren wurden aus bisherigen empirischen Untersuchungen zu verschiedenen Fällen islamistischer Gewalt im Westen (Europa, Nordamerika und Australien/Neuseeland) (vgl. z. B. Crenshaw & LaFree 2017; Merari 2005; Nesser 2015) sowie aus Erkenntnissen aus Studien zu Gewaltbedingungen in anderen Extremismusbereichen (vgl. z. B. Lützinger 2010; Neidhart 1982a; Post et al. 2002; Willems et al. 1993) und der allgemeinen kriminologischen Gewaltforschung (insbesondere zur Gewalt durch Gruppen) (vgl. z. B. Anderson & Bushman 2000; Birkbeck & LaFree 1993; Crick & Dodge 1994; Warr 2002) abgeleitet.

5.4.1 Motivationsbildung

5.4.1.1 Handlungsmotivationen

Im Rahmen der ersten Stufe entsteht eine Handlungsmotivation, also der Wunsch ein bestimmtes Ziel zu realisieren. Grundsätzlich gibt es eine breite Palette an möglichen Zielen, die man mit Hilfe einer Handlung versuchen kann zu erreichen. Untersuchungen im Kontext islamistischer Gewalt im Westen verdeutlichen allerdings, dass für die Täter vor allem die folgenden Ziele von Relevanz sind: die Realisierung politischer Ziele, Hilfe für andere Muslim*innen, das Erleben von Nervenkitzel, das Erlangen von Berühmtheit oder Rache für erlittenes Unrecht (vgl. z. B. Cottee & Hayward 2011; de Poot & Sonnenschein 2011; Helmus 2009; Lützinger 2010; Nesser 2015; Olsen 2009; Spaaij 2012; Venhaus 2010; Wiktorowicz 2005b; Zick et al. 2016). Eine Person kann auch mehrere Ziele gleichzeitig mit ihrer Handlung verwirklichen wollen, die Handlung folglich auf mehreren Motivationen beruhen. Zudem können im Laufe der Tatvorbereitung noch weitere Motivationen hinzukommen. Wie Friedhelm Neidhardt (1982a, S. 375) in diesem Zusammenhang anmerkt, reicht bei einem so risikoreichen Unternehmen wie der Begehung von Terroranschlägen ein einziger Antrieb auf die Dauer nicht aus, das Engagement muss vielmehr durch mehrere Antriebsfaktoren gestützt werden.

Die Erforschung von Handlungsmotivationen ist jedoch aufgrund der Intransparenz des psychischen Systems von außen äußerst diffizil (vgl. Agnew 1990b, S. 268; Spaaij 2012, S. 20). Auch die Aussagen der Täter zu ihren Tatmotivationen sind mit Zurückhaltung zu interpretieren, da die kommunizierten Motivationen bloß vorgeschoben sein könnten und nicht den tatsächlichen Zielen der Person entsprechen müssen, etwa weil säkulare Motivationen mit Hilfe von ideologischen kaschiert werden (vgl. Goodwin 2012, S. 128; Holmes 2005, S. 132 f.).

5.4.1.2 Motivationsauslöser

Zugänglicher für sozialwissenschaftliche Analysen sind hingegen die Motivationsauslöser. Dabei kann es sich um interne Zustände oder soziale Einflüsse handeln. Sie sind dafür verantwortlich, dass überhaupt eine Handlungsmotivation entsteht (vgl. z. B. Birkbeck & LaFree 1993, S. 130; Köhnken & Bliesener 2002, S. 80). So kann beispielsweise ein Angriff auf die Eigengruppe die Motivation auslösen, Vergeltung für die erlittene Schädigung zu üben.

Die wenigen Forschungen, die sich mit den Bedingungen ideologie-basierter Gewalt befassen, identifizieren eine Reihe von Motivationsauslösern, die im Bereich dieser Gewaltform von Bedeutung sind (vgl. z. B. Bartlett et al. 2010, Kap. 8; Nesser 2015, S. 9 f.; Olsen 2009; Willems et al. 1993). Diese Studien machen zudem deutlich, dass sich ideologie-basierte Gewalt nicht zufällig ereignet, sondern in Folge bestimmter Ereignisse auftritt. Auf Grundlage dieser Studien sowie aus Erkenntnissen der allgemeinen Gewaltforschung (vgl. z. B. Birkbeck & LaFree 1993, S. 117; Warr 2002; Wilkinson 2002) wird im Rahmen des vorliegenden theoretischen Ansatzes angenommen, dass die im Folgenden beschriebenen internen und externen Motivationsauslöser bei islamistischen Gewalttaten in Westeuropa relevant sind. In einem konkreten Fall kann entweder ein singulärer Auslöser ausschlaggebend sein oder aber mehrere Auslöser gleichzeitig, wie z. B. eine Serie von dicht aufeinanderfolgenden Ereignissen (vgl. Post et al. 2002, S. 97 f.).

a) Interne Zustände

Erstens können bestimmte interne Zustände/Bedürfnisse motivationsauslösend wirken (vgl. Baumeister & Campbell 1999; Farrington 1993, S. 238). Forschungsergebnisse im Kontext rechtsextremer Hasskriminalität demonstrieren beispielsweise, dass bei vielen Gewaltstraftaten Langeweile Anlass für das aktive Aufsuchen von Gelegenheiten zur Gewaltausübung war (vgl. z. B. Frindte & Neumann 2002; Lützinger 2010; McDevitt et al. 2002; Willems et al. 1993). Die Täter wollten auf diese Weise Nervenkitzel erleben. Fallbeispiele aus dem Bereich des Islamismus weisen darauf hin, dass auch hier ein Zustand der Langeweile grundlegend für das gewalttätige Engagement sein kann (vgl. Bartlett et al. 2010, S. 99 f.; Borum 2014, S. 299; Venhaus 2010, S. 11). So erwähnen Cottee & Hayward (2011, S. 971) etwa das Beispiel eines US-amerikanischen Islamisten, der sich entschied, im Ausland zu kämpfen, um der alltäglichen Langeweile im Vorort zu entfliehen.

b) Angriffe

Zweitens stellen wahrgenommene Angriffe auf die Person selbst, die eigene Gruppe oder ihre Identität einen Auslöser externer Art dar (vgl. Borum 2014, S. 299; Post et al. 2002, S. 94). Bei diesem Auslöser geht es nicht um ein abstraktes Bedrohungsgefühl, sondern konkrete schädigende Handlungen des Gegners. Da Personen mit einer hohen ideologie-basierten Gewaltbereitschaft in Folge der ideologischen Beeinflussung ohnehin eine akute Bedrohungslage für die Eigengruppe wahrnehmen und möglicherweise auch einen Handlungsdruck verspüren, endlich etwas zu unternehmen (siehe Abschnitt 5.2.1), mag dieses konkrete Ereignis dann der ausschlaggebende Tropfen sein, der das Fass schließlich zum Überlaufen bringt.

Bei den Angriffen kann es sich auf der einen Seite um konkrete Gewaltviktimisierungen oder als ungerecht wahrgenommene Behandlungen (z. B. eine Inhaftierung) gegen die Person selbst, nahe Angehörige oder andere Mitglieder der Eigengruppe, also Glaubensbrüder oder –schwestern, handeln (vgl. Bouhana & Wikström 2011, S. 31 f.; Ilyas 2013, S. 41 f.; Nesser 2015, S. 24). Die Studie von Speckhard & Ahkmedova (2006) zu sog. Schwarzen Witwen in Tschetschenien demonstriert beispielsweise, dass bei vielen von ihnen die Tötung des Ehemannes oder anderer naher Angehöriger durch russische Truppen der initiale Anlass für ihre Gewalttat war.

Auf der anderen Seite können militärische Angriffe auf Länder mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung Motivationsauslöser sein (vgl. Richardson 2006, S. 131 f.). Nesser (2015, S. 9 f.) zieht z. B. aus seiner Analyse islamistischer Gewaltstraftaten in Europa den Schluss, dass bei vielen Tätern Ereignisse wie der Einmarsch westlicher Truppen in den Irak oder Afghanistan die entscheidende motivationsauslösende Wirkung entfaltet haben. Ebenso finden Crenshaw & LaFree (2017, S. 98) in ihrer Untersuchung zu islamistischen Gewalttätern in den USA heraus, dass bei vielen die Motivation der Bestrafung oder Rache, ausgelöst durch das militärische Engagement der USA in muslimischen Ländern, primärer Beweggrund zum aktiven Handeln war.

Die dritte Kategorie stellen Attacken auf die Gruppenidentität dar. Diese Identität umfasst all das, was die Gruppe ausmacht, wer sie ist und was sie definiert (z. B. Werte, Symbole, Lebensstile). Bei Angriffen auf die Identität der Eigengruppe kann es sich beispielsweise um Verbote religiöser Symbole oder Praktiken handeln. So veranlasste etwa das angestrebte Burkaverbot in Frankreich im Jahr 2009 Al Qaida dazu, Anschlagsdrohungen gegen das Land auszusprechen.Footnote 10 Das bedeutendste Beispiel in diesem Kontext stellt jedoch die Entehrung von religiösen Symbolen dar (vgl. Hafez & Mullins 2015, S. 963; Ilyas 2013, S. 43). Dies verdeutlichen insbesondere die diversen gewalttätigen Reaktionen in Folge der Veröffentlichungen der Mohammed-Karikaturen in verschiedenen westlichen Medien. Wie mehrere Studien belegen, waren sie Auslöser für viele Terrorplots in Europa, da die Täter sie als Angriff auf den Islam werteten (vgl. z. B. Jordan 2012; Nesser 2015).

Nicht jeder gewaltbereite Islamist reagiert nach einem der erwähnten Angriffe mit Gewalt. Was für den einen motivationsauslösend wirkt, ist für den anderen irrelevant. Bestimmte zusätzliche Bedingungen begünstigen, dass nach einem konkreten Angriff überhaupt eine Handlungsmotivation, wie etwa der Wunsch nach Rache, entsteht. Im Falle von stellvertretenden Viktimisierungen müssen die geschädigten Opfer wichtig für die jeweilige Person sein. Denn beim Vorliegen einer prosozialen Orientierung, also wenn ihr das Wohl anderer Muslim*innen äußerst wichtig ist, fühlt sich die Person vermutlich besonders betroffen nach einer Schädigung anderer Muslim*innen (vgl. Veldhuis & Staun 2009, S. 42). Eine auslösende Wirkung von Angriffen auf die Identität ist insbesondere bei gewaltbereiten Islamisten zu erwarten, für die die Ideologie und die angegriffenen religiösen Symbole zentraler Bestandteil der Identität sind (vgl. Kessler et al. 2014, S. 432). Angriffe auf sie und ihre Symbole werden dann quasi als existenzbedrohend erlebt, da der eigene Selbstwert an ihren Wert gekoppelt ist. Diese Personen werden daher sehr gewillt sein, sie zu verteidigen und Angriffe zu vergelten.

c) günstige Gelegenheiten zur politischen Einflussnahme

Drittens können bestimmte Anreize motivationsauslösend wirken (vgl. Anderson & Bushman 2002, S. 38). Aus der allgemeinen kriminologischen Forschung ist bekannt, dass die Wahrnehmung günstiger Gelegenheiten, etwa weil das Entdeckungsrisiko gering ist, Anlass zur Begehung von Delikten, wie z. B. einem Raubüberfall, sein kann (vgl. z. B. Jacobs & Wright 1999; Wright & Topalli 2013). Im Kontext ideologie-basierter Gewalt stellen günstige Gelegenheiten Ereignisse oder Zeiträume dar, in denen aus Sicht einer Person die Erreichung ideologischer Ziele (z. B. der Truppenabzug aus islamischen Ländern) durch eine Tatbegehung besonders wahrscheinlich ist.

In Demokratien gibt es zwei Wege zur politischen Einflussnahme: entweder direkt mittels Einwirkung auf regierende Politiker*innen oder aber indirekt mittels Einwirkung auf das Wahlverhalten der Bevölkerung. Dementsprechend kann erstens der Zeitraum kurz vor politischen Wahlen oder Abstimmungen im Parlament als günstige Gelegenheit interpretiert werden und eine Person dazu bewegen, jetzt zur Tat zu schreiten. Verschiedene Studien zu unterschiedlichen Terrorismusformen demonstrieren z. B., dass die Anzahl terroristischer Anschläge kurz vor Wahlen zunimmt (vgl. z. B. Bali & Park 2014; Newman 2013).

Die Durchführung von letalen Angriffen auf Regierungsmitglieder ist ein äußerst diffiziles Unterfangen, da sie in der Regel gut geschützt sind. Aus diesem Grund können zweitens Ereignisse, in denen sie aus Sicht der Person vulnerabler sind, Auslöser für ein konkretes Anschlagsvorhaben sein.

d) Aufrufe oder Befehle

Eine weitere Kategorie von externen Auslösern sind konkrete Befehle oder Aufrufe zu Gewalt von Organisationsführern (vgl. EUROPOL 2010, S. 20; Hegghammer & Nesser 2015, S. 22; Steinberg 2013, S. 20 f.).

Im Falle eines Befehls erhält eine bestimmte Person den Auftrag zur Begehung einer Gewalttat von einem Anführer einer islamistischen Organisation. Nesser (2015, S. 36) berichtet z. B., dass viele islamistische Gewalttäter, die Anschläge in Europa begangen haben, bis zu ihrer Tat als sog. Schläfer unauffällig in Europa lebten. Sie waren in dieser Zeit mit diversen Unterstützungsleistungen (z. B. Spenden sammeln oder Mitgliederrekrutierung) für ihre Organisation (z. B. Al Qaida) betraut. Durch einen Befehl ihrer Organisation, einen Anschlag zu verüben, wurden diese Schläfer dann „aktiviert“ und begannen schließlich mit den Tatvorbereitungen.

Aufrufe zu indiskriminierten Anschlägen oder zur gezielten Tötung von bestimmten Personen sind wiederum nicht an eine konkrete einzelne Person adressiert, sondern richten sich an alle Anhänger der islamistischen Bewegung. Sie stammen von Organisationsführern oder islamistischen Predigern und können in Videobotschaften oder Online-Magazinen veröffentlicht sein (vgl. Struck et al. 2018, S. 179 f.). Ein Beispiel für einen solchen Auslöser stellt die im Internet veröffentlichte Aufforderung der Islamischen Bewegung Usbekistan (IBU) im Mai 2012 dar. In der Audiobotschaft mit dem Titel „Tod der Pro-NRW“ rief ein Organisationsmitglied alle Muslim*innen in Deutschland dazu auf, Mitglieder von Pro-NRW zu ermorden, weil die Partei im Wahlkampf Mohammed-Karikaturen zeigte.Footnote 11 Solche Aufrufe von Organisationen oder Einzelpersonen können auch bei Personen motivationsauslösend wirken und sie zu einer Gewalttat in Westeuropa bewegen, die bislang keinen direkten Kontakt zu der aufrufenden Organisation oder Person hatten, also z. B. sog. Lone Wolves (vgl. Crenshaw & LaFree 2017, S. 105 f.).

Befehle oder Aufrufe können mehr oder weniger konkret hinsichtlich Zielobjekt, Zeitpunkt und/oder modus operandi (z. B. Bombenanschlag, Messerangriff oder Angriff im Mumbai-Stil) formuliert sein (vgl. Hegghammer & Nesser 2015, S. 22). Das bedeutet, die jeweiligen Organisationen oder Personen können entweder genaue Vorgaben in Bezug auf die drei Aspekte machen und damit einen hohen Grad an Steuerung an den Tag legen oder aber den Ausführenden ein höheres Maß an Autonomie zugestehen und ihnen freie Wahl bei den drei Aspekten lassen. Im Zuge des Wechsels zur Strategie des individuellen Jihads zeigt sich, dass die Steuerung durch Organisationen abnimmt und den Ausführenden zunehmend mehr Autonomie gelassen wird (vgl. Steinberg 2013, S. 22).

Mehrere Fälle verdeutlichen aber, dass eine Vielzahl von Gewaltaufrufen von Organisationen oder Einzelpersonen keine motivationsauslösende Wirkung entfaltet und nicht dazu geführt haben, dass Personen Gewalttaten verüben. So hat beispielsweise Bin Laden die Anhänger von Al Qaida mehrfach dazu aufgerufen, die islamistischen Anschläge von Mumbai im November 2008, bei denen mehrere Hit-Teams über 150 Menschen töteten, in Europa zu wiederholen (vgl. Goertz 2017, S. 110). Diese Aufforderung blieb allerdings erfolglos. Erst der IS führte 2015 einen Anschlag nach diesem Vorbild in Paris durch.

Dies wirft die Frage auf, welche Faktoren begünstigen, dass Befehle oder Aufrufe befolgt werden? Grundlegende Bedingung ist, dass es gelingt, bei der angesprochenen Person sowohl eine wie auch immer gelagerte Handlungsmotivation als auch den Willen, eine konkrete Gewalttat zu begehen, hervorzurufen. Förderlich hierfür kann erstens der Verweis auf die positiven Auswirkungen der Tat oder aber auf Ereignisse, die Wut erzeugen, sein. In Aufrufen zu Gewalt wird daher oft auf konkrete Gewalttaten des Westens gegen Muslim*innen hingewiesen, um Personen zum aktiven Handeln zu bewegen (vgl. z. B. Goertz 2017, S. 71 f.). Zweitens ist die Haltung zu der auffordernden Person bzw. Organisation zentral für die Folgebereitschaft. Ansehen und zugeschriebene Kompetenz des Auftraggebers sowie Vertrauen ihm gegenüber erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass die angesprochene Person den Befehl/Aufruf befolgt (vgl. Steinberg 2013, S. 22). Denn vor dem Hintergrund einer solchen Einstellung lässt sich die Person vermutlich leichter von der Legitimität, Notwendigkeit und den Erfolgsaussichten des Auftrags überzeugen. Drittens wirkt es förderlich, wenn die Person die Möglichkeit sieht, durch die Befolgung des Befehls/Aufrufs eigene nicht-ideologische Ziele realisieren zu können. So findet z. B. Olsen (2009, S. 30) in seiner Untersuchung heraus, dass die Annahme eines Befehls durch die Aussicht, Ansehen zu erwerben oder Nervenkitzel zu erleben, begünstigt wird. In solch einem Fall fußt die Tatbegehung auf einer Handlungsmotivation, die sich nicht primär um die Realisierung von ideologischen Zielen dreht.

e) Anstiftungen

Eine fünfte Kategorie von relevanten Motivationsauslösern im Bereich islamistischer Gewalt in Westeuropa sind Anstiftungen durch nahestehende Personen im Umfeld. Eine anstiftende Person versucht hierbei eine Person in ihrem Familien- oder Freundes-/Bekanntenkreis zu überreden, mit ihr zusammen eine Tat zu begehen. Demzufolge geht bei Anstiftungen der motivierende Einfluss nicht, wie bei Befehlen und Aufrufen, von höhergestellten Personen, also den Anführern einer Organisation oder Predigern mit viel Status, aus, sondern von einer relativ gleichrangigen Person aus dem näheren Umfeld der angesprochenen Person.

Forschungen zur Jugendkriminalität und zu delinquenten Jugendgruppen/Gangs machen deutlich, dass Anstiftungen durch Freunde zur Teilnahme an Straftaten ein bedeutsamer Auslöser im Bereich jugendlicher Delinquenz sind (vgl. z. B. Hochstetler 2001; Warr 2002, S. 55 f.; Wilkinson 2002, S. 169 f.). Gleiches demonstrieren auch Untersuchungen im Kontext ideologie-basierter Gewalt (vgl. z. B. Atran 2008; Bakker 2006; McDevitt et al. 2002). Nesser (2015) berichtet z. B. in seiner Untersuchung zu islamistischen Gewalttaten in Europa von mehreren Fälle, in denen Täter einen Befehl, einen Anschlag in Europa zu verüben, von einer islamistischen Organisation erhielten und dann Bekannte in ihrem Umfeld ansprachen und diese versuchten dazu zu bewegen, sich an der geplanten Tat zu beteiligen.

Damit sich die angestiftete Person darauf einlässt an der Tat mitzuwirken, muss bei ihr sowohl eine Handlungsmotivation als auch der Wille, eine Gewalttat zu begehen, entstehen. Verschiedene Faktoren wirken hierfür förderlich. Erstens wird sich beim Vorliegen einer engen Bindung (z. B. einer freundschaftlichen Beziehung) zwischen ansprechender und angesprochener Person eher eine anstiftende Wirkung entfalten (vgl. Hafez & Mullins 2015, S. 964; Neidhardt 1982b, S. 455). Aufgrund der vorhandenen Vertrauensbeziehung ist es vermutlich leichter die andere Person zur Teilnahme zu überreden. Zudem verspürt die angestiftete Person in diesem Fall möglicherweise besondere Verpflichtungsgefühle, dem Anstifter zu helfen und ihn nicht im Stich zu lassen (vgl. Zick et al. 2016, S. 29). So beteiligten sich beispielsweise mehrere Täter der Madrid-Anschläge im März 2004 nicht so sehr aus einer ideologischen Motivation heraus an der Tatrealisierung, sondern aufgrund von Loyalität gegenüber dem Zellenführer und Anstifter Jamal Ahmidan (vgl. Reinares 2016, S. 65). Zweitens ist eine anstiftende Wirkung wahrscheinlicher, wenn der anstiftenden Person eine besondere Expertise zugesprochen wird, etwa aufgrund von Kampferfahrungen im Ausland. Nesser (2015, S. 13 f.) kommt z. B. in seiner Analyse einer Vielzahl islamistischer Gewalttaten in Europa zu dem Schluss, dass diese Anstifter häufig internationale Kampferfahrung besitzen, älter und gebildeter als die anderen Gruppenmitglieder sind und die Ideologie für sie oft die zentrale Handlungsmotivation darstellt. Angesichts dieser Kompetenzen des Anstifters glaubt die angesprochene Person dann möglicherweise eher, dass die beabsichtigte Tat gelingen wird, und ist in Folge dessen eher bereit, sich daran zu beteiligen. Drittens steigt die Wahrscheinlichkeit einer Annahme der Anstiftung, wenn die angestiftete Person glaubt, sie könnte durch die Tatbeteiligung auch eigene Ziele realisieren, etwa berühmt zu werden (vgl. Argomaniz & Bermejo 2019, S. 354). Der jeweilige Anstifter kann diese Hoffnungen auch gezielt wecken, indem er der angesprochenen Person diverse positive Folgen im Falle einer Tatbeteiligung verspricht (vgl. Nesser 2015, S. 15 f.).

5.4.2 Intentionsbildung: Entstehung eines Tatentschlusses

Damit es zu einer Gewalttat kommt, muss die Person dann, nachdem eine Handlungsmotivation ausgelöst wurde, ersteinmal auf die Idee kommen, das jeweilige Ziel mit Hilfe einer ideologie-basierten Gewalthandlung in Westeuropa zu erreichen, und im Anschluss den Entschluss fassen, diese Handlung tatsächlich zu realisieren, sich also eine gewalttätige Verhaltensintention bilden (Entstehung eines Tatentschlusses). Im Rahmen der 2. Stufe geht es daher um die Fragen, wie und warum es dazu kommt, dass sich eine Person ausgerechnet dazu entscheidet, eine Gewalttat zu verüben. Es muss betont werden, dass es hierbei nicht um die Entstehung einer abstrakten Vorstellung geht, u. U. in Zukunft eine Gewalttat begehen zu wollen, sondern um den Entschluss für ein konkretes gewaltsames Vorhaben in Westeuropa, für das auch spezifische Vorbereitungen zur Realisierung (z. B. die Beschaffung von Sprengstoff oder die Rekrutierung von Mittätern) unternommen werden.

5.4.2.1 Aktivierung der Handlungsoption Gewalt

Bei der Behandlung der Fragestellung, wie eine Person auf die Idee kommt, ausgerechnet Gewalt zu nutzen, gilt es zuallerst zu bedenken, dass die im vorherigen Abschnitt erwähnten motivationsauslösenden internen Zustände oder äußeren Ereignisse nicht nur im Zusammenhang mit ideologie-basierter Gewalt relevant sind. Sie können gleichermaßen auch gewaltfreie Verhaltensreaktionen zur Folge haben, um die jeweilige(n) Motivation(en) (ideologische Ziele, Rache, Nervenkitzel usw.) zu realisieren. So können etwa ein Angriff auf die Eigengruppe und der u. U. darauf folgende Wunsch nach Rache zu verschiedenen Verhaltensreaktionen führen. Gewaltbereite Islamisten haben z. B. auf die Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen in mehreren westlichen Medien unterschiedlich reagiert. Einige haben an friedlichen Protestkundgebungen teilgenommen, wieder andere haben Morddrohungen an die jeweiligen Redaktionen verfasst und eine Minderheit beabsichtigte sogar die Verantwortlichen zu töten (vgl. Veldhuis & Staun 2009, S. 20).

Bei einigen Motivationsauslösern, wie z. B. einem Befehl, Aufruf oder einer Anstiftung, ist das zu nutzende Mittel bereits durch andere vorgegeben. In wieder anderen Fällen hat sich die Person bereits für ein anderes Mittel (z. B. ein Kampf im Ausland) zur Zielerreichung entschieden, und muss dann davon überzeugt werden, anstelle dessen einen Anschlag im Westen zu begehen. Bei anderen Motivationsauslösern, wie etwa Angriffen oder günstigen Gelegenheiten zur politischen Einflussnahme, muss die Person hingegen eigenständig nach einer geeigneten Handlungsoption suchen, mit der sie das Ziel realisieren will. In dem vorliegenden Modell wird angenommen, dass die folgenden internen und externen Faktoren ausschlaggebend dafür sind, dass eine Person auf die Idee kommt, eine Gewalttat in Westeuropa zu verüben.

a) Ideologie-basierte Gewaltbereitschaft

Wie im Kapitel zur Gewaltbereitschaft (Abschnitt 5.2) dargelegt, begünstigt eine hohe ideologie-basierte Gewaltbereitschaft, dass die jeweilige Person Gewalt anderen Mittel zur Zielerreichung vorzieht und andere eher meidet. Es wird aus diesem Grund in diesem Erklärungsmodell davon ausgegangen, dass die Gewaltbereitschaft der bedeutsamste interne Einflussfaktor auf die Intentionsbildung ist. Bewertet eine Person Gewalt beispielsweise als besonders effektiv und gleichzeitig gewaltfreie Mittel als wirkungslos, wird sie vermutlich in entsprechenden Situationen eher auf die Idee kommen, die jeweilige Motivation mit Hilfe von Gewalt zu realisieren. Hat die Person hingegen eine geringe Gewaltbereitschaft, etwa weil sie Gewalt moralisch ablehnt oder sich nicht dazu in der Lage sieht, Gewalt erfolgreich auszuüben, dann wird ihr mit höherer Wahrscheinlichkeit nicht in den Sinn kommen, Gewalt zur Zielerreichung zu nutzen.

Die Gewaltbereitschaft beeinflusst ebenfalls, welche ideologie-basierte Gewaltform (z. B. Terrorismus, gewalttätige Hass-Kriminalität oder Vergeltungsgewalt) eine Person eher nutzen wird. So macht z. B. die Untersuchung von Thomas Hegghammer (2013) deutlich, dass die Mehrheit der gewaltbereiten Islamisten in Europa eine Ausreise in ein Kampfgebiet im Ausland gegenüber einem Anschlag in Europa bevorzugt, um sich im Rahmen des gewaltsamen Jihads zu engagieren. Laut Hegghammer (2013, S. 7) hängt diese Präferenz in erster Linie mit den moralischen Einstellungen der Personen zusammen, da sie die Option einer Ausreise als legitimer bewerten. Ebenfalls die Erwartung, eine Ausreise sei mit mehr Nervenkitzel verbunden, kann für das Vorziehen dieses Mittels verantwortlich sein (vgl. Hegghammer 2013, S. 6). Des Weiteren können Selbstwirksamkeitserwartungen hinsichtlich der jeweiligen Gewaltform maßgeblich sein (vgl. Wright & Topalli 2013, S. 470). Traut sich eine Person die Durchführung eines komplexen Anschlags nicht zu, dann nutzt sie vermutlich eher einfachere Formen, um z. B. einem Gewaltaufruf zu folgen.

Es ist allerdings hervorzuheben, dass eine hohe Gewaltbereitschaft die ausgewählte Reaktion nicht determiniert. Denn, wie mehrere Fälle demonstrieren, haben viele islamistische Gewalttäter, die eigentlich eine Ausreise präferiert haben, sich letztendlich nach der Beeinflussung durch diverse soziale Faktoren dazu entschieden, anstelle dessen eine Gewalttat im Westen zu begehen. Dies macht deutlich, dass nicht nur die eigene Disposition verhaltensbestimmend ist.

b) Beeinflussung durch gewaltsame Vorbilder

Einen potentiellen sozialen Einflussfaktor auf die Intentionsbildung stellen, diesem Ansatz zufolge, erfolgreiche gewalttätige Verhaltensmodelle, wie etwa vorherige Terroranschläge, dar. Diese Taten können eine bereits motivierte Person, also jemanden, der sich z. B. für einen wahrgenommenen Angriff rächen will, auf die Idee bringen, ebenfalls dieses Mittel zur jeweiligen Zielerreichung zu nutzen. Denn der Erfolg der vorherigen Tat mag die Verwendung dieses Mittels nahelegen, da er signalisiert, dass diese Option eine erfolgsversprechende Möglichkeit darstellt, um die eigene Motivation zu realisieren (vgl. Bandura 1979, S. 215). Dabei kann es auch um nicht-ideologische Ziele gehen. Die Darstellung des Täters bzw. der Täter in der Bewegung als Helden und die allgemeine mediale Aufmerksamkeit kann eine motivierte Person, die beispielsweise nach Ruhm strebt, davon überzeugen, dass dies ein effektives Mittel ist, um selbst Anerkennung und Ansehen zu erlangen.

Die Bedeutung solcher Modelleffekte auf die Intentionsbildung zeigt sich sowohl in nicht-ideologischen Kriminalitätsbereichen, wie etwa bei Schulamokläufen (vgl. Böckler & Seeger 2010), als auch bei ideologie-basierten Gewaltdelikten aus verschiedenen Extremismusbereichen (vgl. z. B. Farnham & Liem 2017; Nacos 2009; Willems et al. 1993). Im Kontext des Islamismus war beispielsweise der Schusswaffen-Anschlag des Amerikaners Carlos Bledsoe auf ein Rekrutierungszentrum der US-Armee in Arkansas im Juni 2009 Inspiration für den Islamisten Nidal Hassan ebenfalls einen Anschlag auf die US-Armee in Fort Hood zu verüben (vgl. Hamm & Spaaij 2017, S. 209 f.). Er tötete und verwundete dabei mehrere US-Soldaten. Hassans Tat wiederum wurde dann zum Vorbild für Naser Jason Abdo, der 2011 einen Bombenanschlag ebenfalls in Fort Hood plante.

Vorherige Gewalttaten können einen Nachahmungseffekt ausüben, sie können aber auch abschreckend wirken. Grundlegende Bedingung, dass eine Person sich dazu entschließt, eine Tat nachzuahmen, ist die Überzeugung, sie könne die Tat ebenfalls erfolgreich durchführen. Traut sich die jeweilige Person die Tat nicht zu, etwa weil sie aus ihrer Sicht zu komplex ist, dann wird sie eher davon Abstand nehmen. Andere Personen im Umfeld können sie aber in ihrer Selbstwirksamkeitserwartung bestärken und auf diese Weise eine Tatbegehung wahrscheinlicher machen. Weitere Bedingung ist, dass sie die Handlung als moralisch legitim bewertet (vgl. Böckler & Seeger 2010, S. 202 ff.).

c) Inspirationen durch Organisationen

Drittens können islamistische Organisationen als Einflussfaktor bei Intentionsbildungsprozessen wirken. Dies kann entweder direkt durch eine face-2-face Beeinflussung eines Täters durch eine Organisation geschehen oder aber indirekt über Darstellungen im Internet, die sich an alle Anhänger richten.

Im Falle einer direkten Beeinflussung überzeugt eine Organisation eine konkrete, bereits motivierte Person im Rahmen einer Interaktion (real oder online) davon, ein bereits intendiertes Gewaltvorhaben im außereuropäischen Kontext, wie z. B. im Ausland zu kämpfen, aufzugeben und anstelle dessen einen Anschlag in Westeuropa zu begehen (vgl. Silber & Bhatt 2007, S. 44; Hegghammer 2013, S. 10). James et al. (2015, S. 2) finden in ihrer Studie zu amerikanischen Jihadisten, die in Anschläge in den USA involviert waren, beispielsweise heraus, dass viele der Täter ursprünglich beabsichtigten ins Ausland zu reisen und dort zu kämpfen, um sich im Rahmen des Jihads zu engagieren. Ein Teil gab ihre ursprüngliche Intention aber auf und beging anstelle dessen einen Anschlag daheim, da eine islamistische Organisation sie überredete, eine Gewalttat in ihrer Heimat einem Kampf im Ausland vorzuziehen. Beispielhaft für diese Kategorie sind auch einige der Täter der Terroranschläge vom 11. September 2001. Eine Reihe von ihnen wollte nämlich ursprünglich in Tschetschenien kämpfen, wurde dann aber von Al Qaida in Richtung auf einen Anschlag in den USA gelenkt (vgl. Nesser 2015, S. 89 f.).

Bei einer indirekten Beeinflussung wird eine Person durch Darstellungen bestimmter gewalttätiger Mittel im Rahmen der Online-Propaganda islamistischer Organisationen inspiriert (vgl. Ducol et al. 2016, S. 83; Kirby 2007, S. 425 f.). Innerhalb dieser Beschreibungen von Gewaltmitteln werden ihre Vorzüge angepriesen, um den Rezipienten dazu zu bewegen, diese Option zu bevorzugen. Diese Beschreibungen können aus diesem Grund genau wie vorherige Gewalttaten, die demonstrieren, dass bestimmte ideologie-basierte Gewalthandlungen besonders wirkungsvoll sind, eine bereits motivierte Person (z. B. eine Person, die Rache üben oder berühmt werden will) dazu veranlassen, das vorgestellte Mittel in Westeuropa anzuwenden.

Die Darstellung solcher vermeintlich besonders geeigneten Mittel für den gewaltsamen Jihad durch die Online-Propaganda kann auf unterschiedlichen Kanälen (z. B. Videoportale oder Telegram-Kanäle) erfolgen. Von besonderer Bedeutung scheinen in diesem Zusammenhang aber Online-Magazine zu sein (vgl. Nesser 2015, S. 253). So heißt z. B. das Online-Magazin von Al-Qaida auf der arabischen Halbinsel (AQAP) bezeichnenderweise Inspire (vgl. Steinberg 2013, S. 21). Es umfasst neben ideologischen Texten und Aufrufen zu Gewalt auch die Vorstellung verschiedener Gewaltmittel. Ebenfalls im Online-Magazin des IS Rumiyah werden Inspirationen und Vorschläge für motivierte Personen unterbreitet (vgl. Goertz 2017, S. 81 f.). Konkretes Beispiel ist etwa die ausführliche Darstellung eines Anschlags mit einem Pickup-Truck in der Ausgabe vom November 2016 (vgl. Goertz 2017, S. 77 ff.). Darin werden auf der einen Seite die Vorzüge eines solchen Vorgehens beschrieben, wie z.B die leichte Umsetzbarkeit, das geringe Entdeckungsrisiko und das enorme Tötungspotential. Auf der anderen Seite werden explizit Hinweise für die Ausführung gegeben, u. a., wie man besonders großen personellen Schaden anrichtet.

Bestimmte Faktoren begünstigen, dass diese indirekten Inspirationen eine intentionsbeeinflussende Wirkung entfalten und sich die angesprochene Person zur Tatbegehung entscheidet. Wie Fischer & Pelzer (2015, S. 73 f.) anmerken, erfordert die Umsetzung solcher Darstellungen ein gewisses Maß an Eigenleistung der Nachahmer, sie müssen z. B. die Vorgaben der Organisation an die eigene Tatsituation anpassen. Dazu müssen sie sich in der Lage fühlen, also über hohe Selbstwirksamkeitserwartungen verfügen. Sonst werden sie von einer Befolgung eher Abstand nehmen. Islamistische Organisationen schlagen aufgrund dessen vorwiegend Anschlagsoptionen vor, die leicht und kostengünstig realisierbar sind, um möglichst viele gewaltbereite Islamisten im Westen zur Tatbegehung verleiten zu können (vgl. Basra & Neumann 2016, S. 34).

d) Einschränkung von alternativen Mitteln

Schließlich wird theoretisch angenommen, dass die Einschränkung von alternativen Verhaltensoptionen durch andere Personen die Intentionsbildung beeinflusst und eine Person u. U. hin zur Begehung einer Gewalttat in Westeuropa treiben kann. Wie in den Grundannahmen dargelegt, existieren stets unterschiedliche Optionen zur jeweiligen Zielerreichung. Ein gewaltbereiter Islamist kann ursprünglich beabsichtigen, die ausgelöste Handlungsmotivation mit einem anderen Mittel als einer ideologie-basierten Gewalttat in Westeuropa zu realisieren. Einflüsse durch andere Personen mögen sie jedoch an der Umsetzung dieses intendierten Verhaltens hindern. Durch den Wegfall dieses Weges zur Zielerreichung mag die bereits motivierte Person dann u. U. auf alternative Mittel, wie z. B. einen Anschlag in Westeuropa, zurückgreifen, um das jeweilige Ziel zu verwirklichen.

Wie erwähnt, weisen Studien darauf hin, dass für viele gewaltbereite Islamisten die Ausreise in ein Kampfgebiet im Ausland das bevorzugte Mittel ist, um sich im Rahmen des Jihads zu engagieren (vgl. z. B. Hegghammer 2013; Holman 2015, S. 616). Verschiedene soziale Einflussfaktoren können der Realisierung dieser Intention aber im Wege stehen.

Zum einen ist zu bedenken, dass eine Ausreise in ein Trainingslager oder ein Kampfgebiet mit diversen Herausforderungen verbunden ist. Grundlegende Bedingung ist es, überhaupt erst einmal Zugang zu einer islamistischen Organisation im Ausland, die ein Trainingslager betreibt oder mit einem Kampfverband gegen feindliche Truppen vorgeht, zu erhalten. Wie Sageman (2004, S. 109 f.) deutlich macht, wollen zwar viele Islamisten im Ausland (z. B. Afghanistan, Irak) kämpfen, sie wissen aber nicht, wie sie in Kontakt mit solchen Organisationen treten können. Hierfür sind Personen im eigenen Umfeld, die eine Verbindung zu diesen Organisationen im Ausland herstellen können, essentiell (vgl. Sageman 2004, S. 120 f.). So ist in mehreren Fällen, wo Islamisten aus Europa ausreisen wollten, die Ausreise daran gescheitert, dass ihnen solche helfenden Kontakte fehlten. Beispielhaft hierfür ist etwa die Sauerland-Gruppe, deren erste Ausreiseversuche aufgrund fehlender Kontakte misslangen (vgl. Malthaner 2014, S. 646).

Zum anderen stellen staatliche Interventionen eine bedeutsame Barriere für eine Ausreise dar. Dies können auf der einen Seite rechtliche Einschränkungen sein. Ab 2015 begannen etwa diverse westliche Staaten verschiedene Maßnahmen zu ergreifen, um eine Ausreise zum IS zu erschweren (vgl. Crenshaw & LaFree 2017, S. 95). So wurde z. B. durch die im April 2015 eingeführte Maßnahme der Bundesregierung den Personalausweis von islamistischen Gefährdern einzuziehen, die Möglichkeit einer Ausreise zum IS für diese Personen eingeschränkt. Auf der anderen Seite können Überwachungsmaßnahmen durch die Strafverfolgungsbehörden den Handlungsspielraum von bereits motivierten Personen einschränken. So zeigt z. B. die bereits erwähnte Untersuchung von James et al. (2015, S. 2), dass einige der Ausreisewilligen ihre Verhaltensabsicht, in Kampfgebiete zu gelangen, aufgaben, weil sie durch staatliche Behörden engmaschig überwacht wurden.

Zwar begehen nicht alle Personen, die an einer Ausreise gehindert werden, einen Anschlag in ihrer Heimat, dennoch kann diese Einschränkung der Verhaltensumsetzung das Risiko dafür erhöhen, dass eine Person dann anstelle dessen auf eine Gewalttat in Westeuropa zurückgreift, z. B. weil es aus ihrer Sicht das letzte verfügbare Mittel ist, um etwas zu erreichen. Dies veranschaulichen mehrere Fälle, wo die Täter nach einer gescheiterten Ausreise in ein Kampfgebiet einen Anschlag im Westen verübt haben (vgl. Hegghammer 2013, S. 12). Ob eine Person, deren Ausreise aufgrund mangelnder Kontakte oder wg. staatlicher Interventionen gescheitert ist, dann schließlich auf die Idee kommt, eine islamistische Gewalthandlung in Westeuropa zu begehen, wird durch die anderen beschriebenen Einflussfaktoren auf die Intentionsbildung (z. B. Darstellungen in Online-Magazinen) bestimmt.

5.4.2.2 Entscheidung für die Handlungsoption Gewalt

Hinsichtlich der zweiten Fragestellung wird auf Grundlage von Forschungen aus anderen Kriminalitätsbereichen (vgl. z. B. Crick & Dodge 1994; Kroneberg et al. 2010; Welzer 2005; Wright & Topalli 2013) in diesem Erklärungsmodell davon ausgegangen, dass sich der Entscheidungsprozess für oder gegen die Realisierung einer konkreten ideologie-basierten Gewalttat in Westeuropa an vier verschiedenen Kriterien orientieren kann: erstens an der moralischen Bewertung, also ob die intendierte Handlung moralisch legitim ist oder nicht, zweitens bzw. drittens an der Erwartung, ob die beabsichtigte Handlung vorwiegend positive oder negative Folgen für einen selbst bzw. andere Menschen haben wird und viertens kann der Entscheidungsprozess durch die Erwartung gelenkt werden, die Handlung erfolgreich oder eben nicht erfolgreich umsetzen zu können. Die Wahrscheinlichkeit, sich gegen eine Tatbegehung zu entscheiden, steigt, wenn die jeweilige Person an der moralischen Legitimität und/oder der Realisierbarkeit der beabsichtigten Handlung zweifelt und/oder vorwiegend negative Folgen von der Gewalttat erwartet. Ein Tatentschluss wird hingegen wahrscheinlicher, wenn die Person die intendierte Handlung als moralisch notwendig beurteilt und/oder primär positive Folgen erwartet.

Um einen Einfluss auf den Entscheidungsprozess nehmen zu können, müssen diese gewaltfördernden oder –hemmenden Bewertungen aber erst kognitiv aktiviert werden (vgl. Bandura 1990; Stroebe 2008; Verplanken & Holland 2002). D. h., nur wenn der Person bewusst wird, welche z. B. negativen Konsequenzen die Tat für sie selbst oder das Opfer hätte oder dass die intendierte Handlung eigenen moralischen Standards widerspricht, können diese Überlegungen die Entscheidung, die intendierte Handlung auszuführen oder nicht, lenken. Kommen einer Person diese Gedanken gar nicht erst in den Sinn, dann üben sie auch keinen Einfluss auf den Entscheidungsprozess aus. Dies wirft die Frage auf, welche Faktoren ausschlaggebend dafür sind, dass solche fördernden oder hemmenden Kognitionen entstehen/aktiviert werden. Eine Reihe von Faktoren, die eine entsprechende kognitive Aktivierung begünstigen, wurde bereits in den vorherigen Abschnitten zu den Motivationsauslösern und Intentionsbildungsfaktoren beschrieben. So begünstigt im Falle einer Anstiftung beispielsweise eine enge Bindung zum Anstifter, dass sich die angestiftete Person von der Legitimität oder den positiven Folgen der vorgeschlagenen Tat überzeugen lässt und sich schließlich daran beteiligt.

Die besondere Herausforderung für ein Erklärungsmodell ist nun, dass im Zuge eines Entscheidungsprozesses häufig gewaltbestärkende und -hemmende Einflüsse gleichzeitig auf die jeweilige Person einwirken. Es müssen aus diesem Grund spezifische Entscheidungsregeln formuliert werden, die angeben, wie sich eine Person vermutlich entscheiden wird, wenn sowohl gewaltfördernde als auch -hemmende Bewertungen vorhanden sind, also z. B. die Handlung als illegitim bewertet wird, aber zugleich auch besondere positive Folgen erwartet werden. Erst durch diese Spezifikation, welche Art von Einflussfaktor (hemmend oder bestärkend) sich wahrscheinlich durchsetzen wird, sind Vorhersagen aus einer Theorie ableitbar. In Rational-Choice Modellen ist beispielsweise die Orientierung an den selbstbezogenen Folgen ausschlaggebend für die Entscheidungsfindung (vgl. Diekmann & Voss 2004). In dem vorliegenden Erklärungsmodell wird hingegen davon ausgegangen, dass moralische Bewertungen und Selbstwirksamkeitserwartungen den Rahmen beim Entscheidungsprozess bilden. D. h., eine moralische Ablehnung der Handlungsoption und/oder die Erwartung, die intendierte Handlung nicht erfolgreich ausführen zu können, führen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Entscheidung gegen eine Handlungsausführung, egal wie attraktiv die Folgen sind. Wird die Gewalthandlung wiederum als legitim und als machbar bewertet, dann hängt die Bildung eines Tatentschlusses davon ab, ob die jeweilige Person vorwiegend positive oder negative Konsequenzen für sich oder andere erwartet.

5.4.3 Aufrechterhaltung des Tatentschlusses

Nachdem sich die Person für die Begehung einer konkreten Gewalttat in Westeuropa entschieden hat, muss sie erst einmal diverse Tatvorbereitungshandlungen, wie z. B. die Rekrutierung von Mittätern, die Beschaffung von Waffen oder die Herstellung von Sprengstoff, erfüllen. Aufgrund dessen kann die Zeitspanne zwischen der ursprünglichen Entscheidung, die intendierte Tat zu begehen, und der letztendlichen Tatausführung bei einer ideologie-basierten Gewalthandlung (insbesondere einem Terroranschlag) im Gegensatz zu vielen anderen kriminellen Delikten, die impulsiv begangen werden, relativ lang sein. Während dieses langen Zeitraums können Zweifel bzgl. der Tatausführung entstehen. Eine Person kann die Entscheidung zur Tatbegehung z. B. schnell wieder verwerfen, etwa weil sie schon nach den ersten Vorbereitungen erkennt, dass sie dazu nicht in der Lage ist, oder sie kann den Tatplan erst relativ spät aufgeben, nachdem schon einige Vorbereitungshandlungen getätigt wurden. Die dritte Bedingung für eine vollendete Tat ist daher, dass der ursprüngliche Entschluss bis zur endgültigen Tatrealisierung aufrechterhalten und eben nicht aufgegeben wird.

Dies wirft auf der einen Seite die Frage auf, wie die jeweiligen Personen es schaffen, ihre Entscheidung zur Tatbegehung über diesen langen Zeitraum aufrecht zu erhalten und ihr Vorhaben nicht vorzeitig abzubrechen, auch wenn sich beispielsweise Hindernisse oder Bedenken auftun. Insbesondere bei hochriskanten Taten, bei denen stets die Gefahr mitschwingt, von den Strafverfolgungsbehörden entdeckt und massiv sanktioniert zu werden, bzw. Aktionen, die mit dem sicheren Tod der handelnden Person enden werden, stellt sich die Frage, was die Täter darin bestärken kann, an ihrem Vorhaben festzuhalten und mögliche Ängste und Zweifel zu überwinden (vgl. Gambetta 2005, S. 274 f.; Holmes 2005, S. 149 f.). Beispielhaft hierfür sind die Selbstmordattentäter der Anschläge vom 11. September 2001, die über mehrere Jahre zusammen unauffällig mitten im Westen lebten, während sie auf ihren eigenen Tod warteten (vgl. Elwert 2003, S. 56). Wie gelingt es Tatgruppen wie diesen, ihre tödliche Mission bis zum Schluss durchzuhalten? Auf der anderen Seite stellt sich, insbesondere aus kriminalpräventiver Sicht, die Frage, welche Faktoren begünstigen, dass sich Zweifel bzgl. der intendierten Tatbegehung bilden, die dann u. U. zu einer Entscheidung gegen die Realisierung der Gewalttat führen.

Basierend auf Forschungsergebnissen aus dem Bereich ideologie-basierter Gewalt (vgl. z. B. Cottee 2010; de Ahna 1982; Jackson & Frelinger 2009; Lützinger 2010) aber auch aus anderen Kriminalitätsbereichen (vgl. z. B. Bandura 1997; Bruhns & Wittmann 2006; Crick & Dodge 1994; De Han & Vos 2004; Sutterlüty 2002) wird im Rahmen dieses Erklärungsmodells angenommen, dass der Tatentschluss durch die folgenden Arten von Zweifeln oder Bestärkungen revidiert bzw. aufrechterhalten werden kann:

Die Zweifel bzw. Bestärkungen können sich erstens um die moralische Legitimität der intendierten Handlung drehen. Aufkommende moralische Zweifel bzgl. der Legitimität des Vorhabens erhöhen die Wahrscheinlichkeit, sich gegen die Tatausführung zu entscheiden. Vergewisserungen, sie sei legitim, begünstigen wiederum, dass die Person die jeweilige Handlung realisiert. Denn diese moralischen Bestärkungen vergewissern eine Person davon, dass ihre geplante Gewalttat etwas Gutes ist.

Zweitens können sie sich auf die erwarteten Folgen der intendierten Handlung für sich selbst beziehen. Entstehende Bedenken, ob man sein Ziel mit dem intendierten Mittel tatsächlich realisieren kann, oder die plötzliche Befürchtung negativer Folgen für einen selbst können dazu führen, dass die Verhaltensintention nicht umgesetzt wird. Konsequenzbezogene Bestärkungen wiederum begünstigen entweder durch die Vergewisserung der Zielerreichung in Folge der geplanten Handlung oder durch das Denken an anderweitige positive Auswirkungen der Handlungen für das eigene Wohl die Aufrechterhaltung des Tatentschlusses.

Drittens kann es um die fremdbezogenen Folgen gehen. Das Denken an die negativen Konsequenzen, die die beabsichtigte Handlung für das Wohl des Opfers hätte, kann je nach der sozialen Orientierung der Person hemmend oder bestärkend wirken. Im Falle einer prosozialen Orientierung, also wenn das Wohl der anvisierten Opfer wichtig ist, erhöht der Gedanke an das Leiden der Opfer die Wahrscheinlichkeit, dass die Handlung nicht ausgeführt wird. Im Falle einer antisozialen Orientierung hingegen wirkt der Gedanke an das Leiden der Opfer bestärkend und begünstigt auf diese Weise die Tatausübung.

Viertens können sich die Zweifel und Bestärkungen auf die Einschätzung beziehen, dazu in der Lage zu sein, die geplante Handlung erfolgreich ausführen zu können. Zweifel daran, ob man es wirklich umsetzen kann, senken die Ausführungswahrscheinlichkeit. Beispielsweise wird man die Intention schnell wieder verwerfen, wenn man nach einigen Vorbereitungen feststellt, dass man nicht dazu in der Lage ist, die jeweilige Handlung auszuführen. Bestärkungen bzgl. der Machbarkeit erhöhen die Wahrscheinlichkeit dagegen.

Genau wie beim Entscheidungsprozess im Rahmen der 2. Stufe gilt auch bei der Aufrechterhaltung des Tatentschlusses, dass diese Zweifel oder Bestärkungen erst kognitiv aktiviert werden müssen, um einen Einfluss nehmen zu können (vgl. Bandura 1990; Stroebe 2008; Verplanken & Holland 2002). Auch in diesem Zusammenhang stellt sich daher die Frage, welche Faktoren ausschlaggebend dafür sind, dass solche bestärkenden oder zweifelnden Kognitionen entstehen/aktiviert werden. In dem vorliegenden theoretischen Ansatz wird davon ausgegangen, dass im Bereich ideologie-basierter Gewalt die folgenden internen und externen Faktoren von besonderer Relevanz für die kognitive Aktivierung der oben erwähnten Bestärkungen oder Zweifel sind.

a) Ideologie-basierte Gewaltbereitschaft

Befunde der Kognitionsforschung demonstrieren, dass Einstellungen, die eine zentrale Bedeutung für eine Person haben, eher aktiviert werden (vgl. Cooke & Sheeran 2004; Higgins & Brendl 1995; Sedikides & Skowronski 1991). So weisen Forschungsergebnisse beispielsweise darauf hin, dass wichtige moralische Überzeugungen kognitiv zugänglicher sind (vgl. Narvaez & Lapsley 2009; Reynolds 2008).

Die ideologie-basierte Gewaltbereitschaft umfasst, wie weiter oben beschrieben, eine Reihe von Einstellungen, die den Einsatz von Gewalt nahelegen oder unattraktiv erscheinen lassen. Es wird aus diesem Grund angenommen, dass die Gewaltbereitschaft ein relevanter interner Faktor ist, der die kognitive Aktivierung von Bestärkungen oder Zweifeln begünstigt. Bei Personen mit einer geringen Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt, etwa weil sie Gewalt im Allgemeinen moralisch ablehnen oder als ineffektiv bewerten, ist es wahrscheinlicher, dass zweifelnde Überlegungen kognitiv aktiviert werden. Das bedeutet, bei ihnen können eher Zweifel darüber entstehen, ob die intendierte Handlung z. B. überhaupt moralisch legitim ist oder die gewünschten Folgen haben wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Intention wieder verworfen wird, ist somit höher. Bei Personen mit einer hohen ideologie-basierten Gewaltbereitschaft wiederum ist es eher unwahrscheinlich, dass solche hemmenden Kognitionen aktiviert werden. Sie werden vermutlich nicht auf die Idee kommen, dass die beabsichtigte Tat illegitim ist, oder an die negativen Folgen für die Opfer denken. Im Falle einer hohen Gewaltbereitschaft werden vielmehr bestärkende Kognitionen mit höherer Wahrscheinlichkeit ausgelöst.

b) Eingreifen der Strafverfolgungsbehörden

Neben diesem internen Faktor sind im Bereich ideologie-basierter Gewalt, gemäß diesem Ansatz, zwei externe Faktoren für die Aktivierung von Zweifeln und Bestärkungen von Belang. Erster sozialer Einflussfaktor ist die Wahrnehmung einer drohenden Intervention der Strafverfolgungsbehörden. Einzeltäter oder Tatgruppen, die sich in der Vorbereitungsphase einer lebensbedrohlichen ideologie-basierten Gewalttat befinden, müssen im Falle einer Aufdeckung durch die Strafverfolgungsbehörden mit einer massiven Bestrafung rechnen, weshalb sie vermutlich sehr sensibel auf Reize reagieren werden, die auf ein mögliches Bevorstehen eines solchen Eingreifens hinweisen. Es wird daher davon ausgegangen, dass ein befürchtetes Eingreifen oder die Vermutung, überwacht zu werden, die Erwartung negativer selbstbezogener Konsequenzen auf Seiten der Täter auslösen können und sie auf diese Weise u. U. zum Aufgeben der Planungen veranlassen.

Hinsichtlich der Wirkung einer drohenden Verhaftung auf den Entscheidungsprozess wird in diesem Erklärungsansatz die Annahme vertreten, dass sich die Folgen der Erwartung einer bevorstehenden Entdeckung jeweils nach dem Fortschritt der Tatvorbereitungen unterscheiden: in einer frühen Phase wird die Intention, eine Gewalthandlung zu begehen, mit hoher Wahrscheinlichkeit aufgegeben und die Mitglieder tauchen z. B. unter. Sind die notwendigen Planungen und Vorbereitungen für die Tatausführung hingegen schon abgeschlossen, d. h., die beabsichtigte Tat könnte bereits ausgeführt werden, kommt es vermutlich zu einer Beschleunigung der Aktivitäten und die Tatausführung wird vorgezogen, auch wenn der ursprünglich geplante modus operandi ggfs. modifiziert wird. Aufgrund des fortgeschrittenen Planungsstandes sind die Täter möglicherweise davon überzeugt, sie seien in der Lage, die geplante Handlung trotz allem erfolgreich durchführen zu können. Oder ihre Entschlossenheit, eine ideologie-basierte Gewalttat zu begehen, ist bereits so gefestigt, dass sie zwar ihren geplanten modus operandi aufgeben, aber anstelle dessen auf eine leichter ausführbare Tat ausweichen. Beispielhaft hierfür sind die Geschehnisse um eine Terrorzelle in Spanien im August 2017.Footnote 12 Der ursprüngliche Plan der Gruppe war es, einen Bombenanschlag auf die Kirche Sagrada Família in Barcelona zu verüben. Bei einem Unfall wurden jedoch das Sprengstoffmaterial sowie das Versteck der Gruppe zerstört. Und obwohl die Gruppe nun drohte enttarnt und verhaftet zu werden, entschieden sich die Mitglieder nicht dazu unterzutauchen, sondern an dem Vorhaben, einen Anschlag zu verüben, festzuhalten. Einer der Täter fuhr z. B. einen Tag nach dem Unfall mit einem Lieferwagen in eine Menschenmenge in Barcelona, ein anderer Teil der Zellenmitglieder beabsichtigte hingegen eine Messerattacke auf Zivilisten.

c) Gruppeneinflüsse

Der zweite bedeutsame soziale Einflussfaktor auf die Aufrechterhaltung des Tatentschlusses im Kontext ideologie-basierter Gewalthandlungen dreht sich um interne Gruppeneinflüsse, also Einflüsse der Mittäter.Footnote 13 Mehrere Studien im Bereich des Terrorismus machen deutlich, dass die anderen Gruppenmitglieder einen entscheidenden Beitrag dazu liefern können, dass die Entscheidung zur Tatbegehung aufrechterhalten und die Tat so tatsächlich realisiert wird (vgl. z. B. Holmes 2005; Koehler 2015; Malthaner & Hummel 2012; Neidhardt 1982a; Olsen 2009). Beispielsweise zieht Ariel Merari (2005, S. 79 f.) aus seiner Untersuchung zu Selbstmordattentätern den Schluss, dass für den Erhalt des Tatentschlusses nicht so sehr individuelle Merkmale der Täter verantwortlich sind, sondern allen voran Gruppenprozesse.

Im Rahmen dieses Erklärungsmodells wird daher davon ausgegangen, dass bei Zweifeln eines Mitglieds hinsichtlich der Umsetzung der intendierten Handlung Bekräftigungen durch andere Gruppenmitglieder dafür sorgen können, dass diese neutralisiert werden und die zweifelnde Person sich weiter an der Tatrealisierung beteiligt und eben nicht abbricht. Denn diese Bekräftigungen können bei der zweifelnden Person die oben beschriebenen bestärkenden Kognitionen auslösen. Bei solchen Bekräftigungen kann es sich um Druckausübung, Beruhigung, Wuterzeugung oder um Rechtfertigungen handeln (vgl. z. B. Claessens & de Ahna 1982, S. 141; Elster 2005, S. 239 f.; Holmes 2005, S. 145; Neidhardt 1982a, S. 377).

Sozialer Druck bezieht sich auf die Signalisierung von negativen Konsequenzen (z. B. körperlichen Bestrafungen, Drohungen mit Höllenqualen oder einem Gruppenausschluss) durch die anderen Gruppenmitglieder im Falle eines Abbruchs der zweifelnden Person (vgl. z. B. Heitmeyer 1992, S. 119; de Poot & Sonnenschein 2011, S. 71 f.). Gruppendruck gründet aber nicht immer nur auf direkt ausgeübtem Zwang. Ebenfalls ohne direkte Einwirkung von außen kann ein wahrgenommener Druck entstehen. Auf der einen Seite kann eine Person lediglich antizipieren, wie die anderen Gruppenmitglieder reagieren würden, wenn man aus dem Tatprojekt aussteigen würde (vgl. Basic & Welzer 2000, S. 86 f.; Lützinger 2010, S. 27). Sie mag z. B. befürchten aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden, was sie dazu bewegen kann, sich weiter zu beteiligen. Auf der anderen Seite kann sich eine Person aufgrund empfundener Gruppenloyalitäten dazu verpflichtet fühlen, sich weiter am Tatvorhaben zu beteiligen, weil sie ihre Kameraden nicht im Stich lassen will (vgl. Holmes 2005, S. 150; Hopgood 2005, S. 67; Merari 2005, S. 79 f.). Wie Sageman (2004, S. 135) betont, ist es gerade diese in-group love, die die Täter zum Weitermachen ermuntert. Dieses Verpflichtungsgefühl kann externe Kontrollen oder Druck ersetzen (vgl. Holmes 2005, S. 150).

Beruhigungen spielen allen voran bei Zweifeln bzgl. der Selbstwirksamkeit oder der Folgen eine Rolle und beziehen sich entweder auf den kommunikativen Verweis darauf, dass man dazu in der Lage ist, die intendierte Handlung erfolgreich umzusetzen, oder aber darauf, dass die Tat die erwarteten positiven Folgen haben wird bzw. mögliche negative Folgen ausbleiben werden. Bedenken sowohl hinsichtlich der Umsetzbarkeit als auch der Konsequenzen können z. B. durch den Hinweis auf ähnliche, erfolgreiche Modelle ausgeräumt werden (vgl. Richardson 2006, S. 171). Dadurch, dass diese ebenfalls in der Lage waren, die Tat umzusetzen, und ihre Handlung positive Folgen hatte, kann es gelingen, die zweifelnde Person von der Machbarkeit und den Erfolgsaussichten zu überzeugen und ihr Ängste zu nehmen. Des Weiteren kann sie beruhigt werden, indem die anderen Gruppenmitglieder auf Anreize verweisen, die mit der intendierten Tat verknüpft sind, etwa den zu erwartenden Ruhm in der Bewegung oder die göttliche Belohnung und den bevorstehenden Eintritt ins Paradies (vgl. Gambetta 2005, S. 277). Schließlich spielen im Bereich religiöser Straftaten ebenfalls Beruhigungen mit Verweis auf die Unterstützung Gottes eine Rolle. So können die Mittäter bei Zweifeln im Hinblick auf die Umsetzung etwa auf die Hilfe Gottes verweisen und argumentieren, dass Gott ihnen beistehen und dafür sorgen wird, dass die Tat erfolgreich sein wird (vgl. Richardson 2006, S. 138 f.).

Bei der Erzeugung von Wutgefühlen erfolgt die Bestärkung durch die anderen Gruppenmitglieder, indem der Fokus der zweifelnden Person auf Viktimisierungen der Eigengruppe gelenkt wird. So wird etwa in Erinnerung gerufen, welche Gräueltaten die gegnerische Gruppe gegenüber der Eigengruppe begangen hat (vgl. Holmes 2005, S. 145; Richardson 2006, S. 171). Die so u. U. ausgelöste Wut gegenüber der Fremdgruppe und das Verlangen, den Feind leiden zu sehen, kann die Person dann dazu antreiben weiterhin an der Tatrealisierung mitzuwirken.

Rechtfertigungen umfassen schließlich Kommunikationen, mit denen die anderen Gruppenmitglieder versuchen, die zweifelnde Person von der Legitimität der intendierten Handlung zu überzeugen (vgl. z. B. Malthaner 2014, S. 647 f.). Solche moralischen Rechtfertigungen können z. B. die Betonung der Notwendigkeit der intendierten Gewalttat sein oder der Verweis darauf, dass die Tat von Gott gefordert und eine moralische Pflicht ist (vgl. Minor 1981, S. 298; Sykes & Matza 1957, S. 667 ff.).

Bestimmte Bedingungen begünstigen oder verhindern, dass diese Bekräftigungen des Tatentschlusses durch andere Gruppenmitglieder die gewünschte Wirkung entfalten. Auf der einen Seite ist anzunehmen, dass sie besonders dann wirksam sind, wenn die Gruppe eine herausragende Bedeutung für die jeweilige Person besitzt (vgl. Walther 2014, S. 399 f.). Ein solcher Stellenwert ist insbesondere dann gegeben, wenn die Gruppe die einzige Quelle für Geborgenheit und Anerkennung für eine Person darstellt oder das eigene Wohlergehen und die Identität eng an die Gruppe gekoppelt sind. Ein Verlust der Gruppenmitgliedschaft würde somit einen Entzug dieser positiven Aspekte, die mit der Gruppenmitgliedschaft verbunden sind, bedeuten. Sich gegen die Gruppe zu stellen, birgt zudem die Gefahr der persönlichen Isolierung und damit ganz allein in einer als feindlich wahrgenommenen Welt dazustehen.

Auf der anderen Seite begünstigt ein hohes Maß an Autonomie gegenüber der Gruppe, etwa weil die zweifelnde Person auch über andere Anerkennungs- und Unterstützungsquellen verfügt, dass sie sich Gruppeneinflüssen widersetzt. Die Widerstandsfähigkeit ist vermutlich ebenfalls höher, wenn die eigene moralische Identität oder die negativen Folgen eine höhere Relevanz als die Mitgliedschaft in der Gruppe haben (vgl. Detert et al. 2008, S. 377; McDevitt et al. 2002, S. 314; Welzer 2005, S. 260 f.).

Nicht außer Acht gelassen werden darf allerdings, dass andere Gruppenmitglieder nicht nur bestärkend wirken können, sondern die Tatrealisierung ebenso hemmen können, etwa indem sie Bedenken bzgl. der Legitimität oder Umsetzbarkeit äußern oder offen Widerstände kommunizieren. Saskia Lützinger (2010, S. 62 f.) berichtet in ihrer Studie beispielsweise über den Fall einer linksterroristischen Tatgruppe, die sich in der Vorbereitungsphase eines Anschlags befand. Die Gruppe entschied sich letztendlich aber gegen die Realisierung des Tatplans. Maßgeblich für diese Entwicklung war, laut Schilderungen eines in der Studie interviewten Gruppenmitglieds, das vorherrschende Gruppenklima, in dem Bedenken offen geäußert werden konnten. Mitentscheidend für die Realisierung einer Tat ist demzufolge, wer sich lauter in einer Tatgruppe zu Wort meldet und wer schweigt. Skeptiker in der Gruppe säen möglicherweise Zweifel bei anderen Gruppenmitgliedern hinsichtlich der Tatbegehung. Schweigen diese jedoch und dominieren die Befürworter und drängen die anderen zur Tatverwirklichung, wird eine Realisierung wahrscheinlicher. Denn aufgrund der fehlenden intragruppalen Kritik können Faktoren, die zu einer Entscheidung gegen die Umsetzung der intendierten Tat führen könnten, nicht aktiviert werden.

Zudem können moralische Vorgaben durch Prediger bewirken, dass sich die Täter gegen eine geplante Gewalttat entscheiden. In mehreren Fällen islamistischer Gewalt in Europa haben sich die Handelnden vor der Ausführung ihrer intendierten Tat z. B. bei Predigern erkundigt, ob ihr Vorhaben legitim wäre (vgl. z. B. Nesser 2015, S. 8 f. am Beispiel der Madrid-Attentäter; Silber & Bhatt 2007, S. 47 für den Fall der Hofstad-Gruppe). Erst nach einer Erlaubnis durch diese begingen sie ihre Taten bzw. bereiteten diese vor. Die Delegimitierung von Anschlägen in Europa durch einen Prediger kann hingegen dazu führen, dass ihre Anhänger die Verwendung dieses Mittels unterlassen. Wie Peter Waldmann (2004a, S. 170) anführt, gibt es mehrere Beispiele, die zeigen, dass Gewaltanschläge nicht zur Ausführung gelangten oder bestimmte Formen der Gewaltanwendung eingestellt wurden, weil sich geistliche Führer dagegen aussprachen. Manche Planer weichen dann ggfs. auf andere Optionen aus, wie z. B. eine Ausreise in ein Kampfgebiet, um sich zu engagieren.