Bei der Entwicklung einer Theorie oder eines Modells zur Erklärung von Gewalt, insbesondere ideologie-basierter Gewalt, sind einige Aspekte zu beachten, wenn sie die Begehung der oben erwähnten Delikte adäquat begründen wollen (vgl. z. B. Albrecht 2002, S. 801; Krumwiede 2004, S. 34; Matt 2010, S. 464).

Zuallererst stellt sich die Frage, ob die Formulierung einer allgemeinen Gewalttheorie im Kontext des Islamismus in Westeuropa, welche die unterschiedlichen ideologie-basierten Gewaltformen erklären soll, sowohl möglich als auch sinnvoll ist. Denn einerseits machen die verschiedenen Studien im Bereich der islamistischen Radikalisierungs- und Täterforschung deutlich, dass diese Personengruppe kein homogenes Kollektiv darstellt (vgl. z. B. Bakker 2006; Borum 2017, S. 28; Nesser 2015; Sageman 2006). Es gibt Unterschiede etwa hinsichtlich des Bildungsgrades, der kriminellen Vorgeschichte oder des sozioökonomischen Status (siehe Abschnitt 5.3.2.1.). Es erscheint daher fraglich, ob das Verhalten und die Entwicklung eines so heterogenen Personenspektrums durch eine einzige Theorie adäquat erklärt werden kann?

Ebenso herrscht auf der Tatebene Diversität. Die o.g. Formen ideologie-basierter Gewalt (gewalttätige Hasskriminalität, Terrorismus und Vergeltungsgewalt) unterscheiden sich etwa in ihrer Komplexität, den Tatumständen und den Handlungsmotivationen. Auch dies wirft die Frage auf, ob eine allgemeine Theorie überhaupt sinnvoll ist, da bei den unterschiedlichen Delikttypen möglicherweise verschiedene Bedingungen ausschlaggebend für deren Umsetzung sind.

In der vorliegenden Arbeit wird die Meinung vertreten, dass eine allgemeine Theorie möglich und auch sinnvoll ist. Denn zum einen lassen sich, wie im Laufe der Arbeit demonstriert werden wird, trotz Unterschieden bei Hintergründen und Verläufen bei allen Personen die gleichen Faktoren (z. B. das Fehlen von Schutzfaktoren oder eine spezifische Unzufriedenheit, die anfällig für Ideologien macht) identifizieren, die eine Radikalisierung bedingen. Auf diese gemeinsamen Faktoren kann eine allgemeine Theorie aufbauen. Sie muss aber gleichzeitig auch in der Lage sein, die bedeutsamen Unterschiede zwischen Personen zu erfassen (z. B. das bei einer Personengruppe die radikalisierungsförderliche Unzufriedenheit auf politischen Missständen basiert und bei einer anderen hingegen auf eigenen Viktimisierungserfahrungen). Zum anderen lassen sich ebenfalls auf der Tatebene bei allen ideologie-basierten Deliktformen die gleichen Bedingungen (z. B. das Vorhandensein eines Motivationsauslösers) identifizieren, die erfüllt sein müssen, damit es zu einer Tat kommt. Aber auch hier sollte die Theorie bedeutsame Differenzen zwischen Deliktformen abbilden können (z. B. das bei einer Deliktart vorwiegend eine bestimmte Art von Auslösern relevant ist).

Zweites Hindernis bei der Theorieentwicklung ist die äußerst schwere Vorhersagbarkeit menschlichen Handelns. Dies bezieht sich sowohl auf Radikalisierungsprozesse, also ob sich eine anfällige Person tatsächlich bis hin zu einer Gewaltbereitschaft radikalisiert, als auch auf die Gewaltanwendung, also ob eine radikalisierte Person tatsächlich Gewalt ausüben wird. Denn einerseits kann eine Ursache unterschiedliche Folgen haben (Multifinalität). So muss eine potentielle Empfänglichkeit für islamistische Ideologien nicht zwangsläufig in einer Hinwendung zum Islamismus gipfeln, sondern kann auch andere Reaktionen auslösen, wie etwa den Anschluss an delinquente Jugendgruppen. Zudem kann ein Faktor, der für einige gewaltauslösend wirkt, andere Personen dazu veranlassen, sich karitativ zu engagieren. Andererseits können für eine Folge potentiell unterschiedliche Ursachen in Frage kommen (Equifinalität) oder sie sogar auf mehreren Ursachen gleichzeitig basieren (Multikausalität) (vgl. Albrecht 2002, S. 801; Sawyer & Hienz 2017, S. 47 f.). Beispielsweise können die Gründe für einen Radikalisierungsprozess vielfältig sein und sich von Person zu Person unterscheiden. Eine Theorie muss also zum einen den breiten Handlungsspielraum von Menschen und zum anderen die unterschiedlichen Bedingungsfaktoren für eine Radikalisierung berücksichtigen. Schließlich können auch Handlungsfreiheiten der handelnden Personen, Zufälle und Wechselwirkungen zu unvorhersagbaren Entwicklungen führen (vgl. Krumwiede 2004, S. 34; Waldmann 2006, S. 259).

Die dritte Herausforderung bei der Entwicklung einer Theorie im Bereich islamistischer Gewalt in Westeuropa stellt die prekäre Forschungslage in diesem Kontext dar, insbesondere im Zusammenhang mit den Bedingungen für das Umschlagen in konkretes Gewalthandeln. Zum einen gibt es zu vielen Aspekten in diesem Bereich nur wenige Studien. Zum anderen basiert ein Großteil der Studien nur auf einer kleinen Stichprobe und/oder nutzt keine Primärdaten, anstelle von Interviews mit Terroristen werden z. B. Personen aus dem nahen Umfeld der Täter oder aber nicht-gewalttätig gewordene Extremisten befragt (vgl. Dalgaard-Nielsen 2010, S. 805). Vor allem Studien mit einem Kontrollgruppendesign, etwa ein Vergleich von radikalisierten Islamisten mit Personen, die sich trotz Belastung durch die gleichen Risikofaktoren nicht radikalisiert haben, sind äußerst rar (vgl. Dalgaard-Nielsen 2010, S. 811). Eine adäquate Theorie ist aber darauf angewiesen, ihre Annahmen auf gut abgesicherte Befunde stützen zu können (vgl. Bliesener 2014, S. 38 f.).

Auch das Heranziehen von Forschungen aus dem außereuropäischen Raum zu diesen Themenbereichen (z. B. US-amerikanische Studien zur Radikalisierung) als Alternative oder Ergänzung ist nicht ohne weiteres möglich. Denn dabei schwingt stets die Frage der Übertragbarkeit der Befunde auf den europäischen Kontext mit, etwa aufgrund von Unterschieden in den sozialen Verhältnissen. So sind in einem Land möglicherweise andere Risikofaktoren für eine Radikalisierung relevant als in einem anderen.

Ebenso ist die Berücksichtigung von älteren Studien im Rahmen der Theorieentwicklung problematisch. Der Forschungsgegenstand unterliegt einem stetigen Wandel, etwa weil sich extremistische Organisationen an staatliche Bekämpfungsmaßnahmen anpassen, sodass ältere Erkenntnisse u. U. heutzutage nicht mehr zutreffen (vgl. Bakker 2006, S. 3; Hoffman 2009, S. 1100 f.). Borum & Gelles (2005, S. 478) bezeichnen diese Organisationen in Anbetracht dieser Anpassungsfähigkeit als learning organizations. Beispielsweise nutzen islamistische Organisationen in der heutigen Zeit auch vermehrt das Internet, um in Kontakt mit anfälligen Personen zu treten und Beeinflussungen vorzunehmen (vgl. Berger 2015).

Schließlich kann ebenso die Verwendung von Befunden aus anderen Extremismusbereichen (Links- und Rechtsextremismus) oder aus relevanten Bereichen der allgemeinen kriminologischen Forschung (z. B. zu Gruppenprozessen in delinquenten Jugendgruppen oder Gangs) problematisch sein. Auch hier stellt sich die Frage der Übertragbarkeit (vgl. Dalgaard-Nielsen 2010, S. 798 f.).

Ob die Nutzung von außereuropäischen, älteren oder gegenstandsfremden Befunden bei der Theoriebildung gerechtfertigt ist, muss erst empirisch überprüft werden. In dem vorliegenden Erklärungsmodell wurden insbesondere bei der theoretischen Beantwortung der Frage nach den Bedingungen für das Umschlagen einer ideologie-basierten Gewaltbereitschaft in reales Handeln vermehrt Befunde aus anderen kriminologischen Bereichen herangezogen, da hierzu nur wenige Studien im Bereich ideologie-basierter Gewalt existieren. Die nachfolgende Studie ist daher auch ein Versuch zu überprüfen, ob die Verwendung dieser externen Befunde im Rahmen dieses Modells überhaupt angemessen ist.

Neben diesen Herausforderungen muss eine adäquate Theorie zur Erklärung ideologie-basierter Gewalt auch bestimmte Anforderungen erfüllen. Zum einen muss sie der Komplexität des Gegenstands gerecht werden, d. h., sie muss in der Lage sein, u. a. sowohl die heterogenen Täterprofile (z. B. gibt es hoch- aber ebenfalls geringgebildete Täter) als auch unterschiedliche Radikalisierungsverläufe (z. B. wieso bevorzugen einige Personen eine gewaltbefürwortende Ideologievariante gegenüber einer gewaltablehnenden und warum akzeptieren einige eine solche Variante nicht) erfassen und erklären zu können. Denn Befunde im Kontext der Radikalisierungsforschung weisen übereinstimmend darauf hin, dass es weder ein typisches Täterprofil noch einen einzigen Radikalisierungsweg gibt (vgl. Borum 2017, S. 24 f.; Mullins 2007, S. 2; Neumann 2013, S. 7). Radikalisierung ist zudem als Prozess zu begreifen, weshalb statische Modelle ungeeignet sind (vgl. Logvinov 2017, S. 64; Lützinger 2010, S. 4 f.).

Die zweite Notwendigkeit besteht darin, dass die Theorie in der Lage ist, neue Entwicklungen aufnehmen zu können, etwa dass sich Radikalisierung heutzutage vielfach auch über das Internet vollzieht. Gerade im Bereich ideologie-basierter Gewalt, wo sich aufgrund des ständigen Anpassens extremistischer Organisationen an das Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden und umgekehrt regelmäßig Veränderungen ergeben, ist dies sinnvoll, da die Theorie sonst mit der Zeit Gefahr läuft, nicht mehr brauchbar zu sein (vgl. Bouhana & Wikström 2011, S. 77).

Die dritte Anforderung an eine Theorie ist es, die Bedingungen darzulegen, die ausschlaggebend dafür sind, dass eine radikalisierte Person mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Gewalttat verüben wird. Lediglich die Formulierung eines Radikalisierungsmodells reicht zur Erklärung der Begehung konkreter ideologie-basierter Gewalttaten nicht aus, weil die allermeisten Radikalisierten nicht zu Gewalttätern werden (vgl. Schuurman & Taylor 2018). Es gilt daher verständlich zu machen, welche Bedingungen dafür verantwortlich sind, dass eine Minderheit tatsächlich zu Gewalt greift. In diesem Zusammenhang muss die Theorie ebenfalls dazu fähig sein, die Interaktion zwischen Person und sozialen Einflüssen spezifizieren zu können. Denn das Zusammenspiel zwischen beidem bedingt, ob und in welcher Handlungsform sich die ideologie-basierte Gewaltbereitschaft äußert. Insbesondere bei einer allgemeinen Theorie besteht aber die Gefahr, dass sie im Vergleich zu speziellen Theorien so allgemein formuliert ist, dass sie kaum noch Erkenntnisse liefert oder ihre Aussagen in die Beliebigkeit abrutschen (vgl. Bliesener 2014, S. 59). Um konkrete und damit prüfbare Vorhersagen machen zu können, muss die Theorie stets die Wirkmechanismen spezifizieren, also genau angeben, z. B. unter welchen Bedingungen A zu B führt und unter welchen zu C oder wie zwei Faktoren miteinander interagieren. Auch wenn die theoretische Abbildung dieser Wirkungen und Wechselwirkungen ein komplexes Unterfangen darstellt, ist sie notwendig (vgl. Birkbeck & LaFree 1993, S. 114).