2.1 Definition und Merkmale politisch-extremistischer Ideologien

2.1.1 Definition politisch-extremistischer Ideologien

Im Fokus der vorliegenden Arbeit stehen Gewalthandlungen, die auf einer politisch-extremistischen Ideologieform, nämlich dem gewaltbereiten Islamismus, basieren.Footnote 1 Eine politische Ideologie ist ein kollektives System von mehr oder weniger konsistenten, miteinander zusammenhängenden Überzeugungen, die sich im Kern um den Entwurf und die Realisierung von erstrebenswerten politischen sowie allgemeinen gesellschaftlichen Zuständen drehen.

Das Merkmal kollektiv bezieht sich darauf, dass diese Vorstellungen nicht nur von einer einzigen Person vertreten werden, sondern alle Anhänger*innen, Gruppen und Organisationen der jeweiligen politischen Bewegung diese in einer mehr oder weniger ähnlichen Form miteinander teilen. Dieser kollektive Aspekt ist eine wichtige Grundlage für eine kollektive Identität sowie ein Solidaritätsgefühl innerhalb der Bewegung und er bildet zudem eine Basis für ein gemeinsames Handeln, da in diesem Fall Einigkeit über Feindbilder, Mittel, Ziele usw. herrscht (vgl. de Poot & Sonnenschein 2011, S. 64; Kühnel 2002, S. 1443).

Hinsichtlich der Konsistenz ist zu betonen, dass Ideologien nicht unbedingt komplett konsistent und vollständig ausformuliert sein müssen. Lücken und leichte Widersprüche und eine daraus resultierende Flexibilität können sogar vorteilhaft sein, denn so kann sich die Ideologie einerseits bei wandelnden Umweltbedingungen besser und schneller anpassen. Andererseits erlauben diese Inkonsistenzen ein breiteres Personenspektrum mit heterogenen Wünschen oder Defiziten anzusprechen. So lassen sich beispielsweise in der Ideologie des Islamischen Staates (IS) widersprüchliche Aussagen zur adäquaten Rolle der Frau finden (Saltman & Smith 2015, S. 17 f.). In einigen Aussagen wird ihnen eine aktive Rolle beim Aufbau des IS-Kalifats in Syrien und im Irak versprochen, was anziehend auf Frauen wirken mag, die sich selbst engagieren wollen. In anderen Aussagen wiederum wird von einer totalen Machtposition des Mannes gegenüber der Frau gesprochen, was eher anziehend auf einige Männer wirken mag.

Schließlich kann der Wunsch nach Veränderung im Rahmen einer politischen Ideologie unterschiedlich umfassend sein. Die meisten politischen Ideologien drehen sich um singuläre politische und gesellschaftliche Änderungen (z. B. ein stärkerer Schutz der ökologischen Umwelt). Im Gegensatz dazu werden bei der Kategorie der politisch-extremistischen Ideologien nicht nur einzelne Reformen angestrebt, sondern umfassende politische und gesellschaftliche Veränderungen, die nicht mit der demokratischen Verfassungsordnung vereinbar sind. Es geht beim Extremismus in Westeuropa folglich um politische Ideologien, die die bestehenden freiheitlich-demokratischen Ordnungen in den westeuropäischen Ländern umstürzen wollen. Besonders radikale Varianten politisch-extremistischer Ideologien zeichnen sich zudem dadurch aus, dass sie zusätzlich Gewalt gegen Menschen zur ideologischen Zielerreichung befürworten und die Ungleichwertigkeit von Menschen postulieren.

2.1.2 Islamismus als eine Form des politischen Extremismus

Der Islamismus im westeuropäischen Kontext umfasst Deutungsarten innerhalb des Islams, die sich von z. B. liberalen oder konservativen Interpretationen vor allem durch die Kombination dreier Merkmale unterscheiden:

– Erstens dem Bestreben, die freiheitlich-demokratischen Grundordnungen in Westeuropa abzuschaffen und durch einen Gottesstaat zu ersetzen. Islamistische Deutungsarten beziehen sich, genau wie die anderen Arten (z. B. liberale Interpretationen) auch, auf bestimmte religiöse Quellen (Koran, Hadithen usw.) (vgl. Goertz 2017, S. 49; Tibi 2002, S. 99). Diese Quellen können je nach Textstellenauswahl und Auslegung als Rechtfertigung für unterschiedliche Zwecke genutzt werden. Im Falle des Islamismus werden zum einen politische Zielsetzungen aus den religiösen Quellen abgeleitet. Im Gegensatz zu unpolitischen Auslegungsarten innerhalb des Islams beschränkt sich der islamistische Extremismus also nicht nur auf den Privatbereich, sondern beabsichtigt, das gesamte gesellschaftliche Leben und die politische Ordnung im Sinne der religiösen Vorgaben zu verändern und einen Gottesstaat zu errichten (vgl. Goertz 2017, S. 15). Nur vom Islamismus gehen somit staatsgefährdende Tendenzen aus.

– Zweitens der Überzeugung, der Westen stelle eine Bedrohung für den Islam und die Muslim*innen dar. Die Realität wird so gedeutet, dass eine Notwendigkeit abgeleitet wird, sich zu verteidigen. Der Islamismus benennt also konkrete Feindbilder, die es zu bekämpfen gilt. Eine friedliche Koexistenz mit Nicht-Muslim*innen ist, dem islamistischen Extremismus zufolge, nicht möglich.

– Drittens umfasst der Islamismus die Annahme einer Ungleichwertigkeit zwischen Muslim*innen und Andersgläubigen. Anders als die meisten Deutungsarten innerhalb des Islams postuliert der islamistische Extremismus also keine Gleichwertigkeit aller Menschen, sondern geht davon aus, dass Muslim*innen aufgrund ihres „wahren“ Glaubens über Nicht-Muslim*innen stehen. Letztere werden etwa als unzivilisiert und unmoralisch abgewertet.

Einige besonders radikale Formen des Islamismus leiten zudem anhand von Passagen in den religiösen Quellen her, dass der Einsatz von Gewalt moralisch legitim sei. Andere Textstellen, die zu Frieden aufrufen, werden wiederum übergangen (vgl. Hafez & Mullins 2015, S. 968; Holbrook 2010, S. 23). Gleichzeitig werden nur bestimmte Gelehrte (z. B. Sayyid Qutb und Abdullah Azzam) als legitime religiöse Autoritäten akzeptiert, andere gemäßigte Gelehrte werden hingegen als unislamisch abgelehnt (vgl. Holtmann 2014, S. 255; Schneckener 2006, S. 28 f.).

2.1.3 Elemente einer Ideologie

Eine politische Ideologie, die eine Person, Gruppe oder Organisation vertritt, besteht aus Deutungen, Visionen sowie Vorgaben bzgl. verschiedener Bereiche (vgl. z. B. Dalgaard-Nielsen 2010, S. 802; Kruglanski & Weber 2014, S. 382). Im Rahmen dieses Erklärungsmodells wird angenommen, dass sich Ideologien aus fünf unterschiedlichen Elementen zusammensetzen:

1) Problembeschreibung und -erklärung

Erstens umfasst eine Ideologie eine Problemdefinition. Die Realität wird so gedeutet, dass eine konkrete Bedrohung für und/oder eine ungerechte Benachteiligung gegenüber der eigenen Gruppe vorliegt. Gleichzeitig liefert sie eine Erklärung für diese Gefährdung bzw. Ungerechtigkeit. Bestimmte andere Gruppen werden als verantwortlich für diese Lage dargestellt. Im Falle des Islamismus wird beispielsweise behauptet, der Westen führe einen Krieg gegen den Islam und würde die Muslim*innen systematisch unterdrücken (vgl. Scheffler 2004, S. 90 ff.; Schmid 2014a, S. 6). Die Ideologie entwirft somit eine bestimmte Definition der Situation und beeinflusst hierdurch, wie ihre Anhänger die Welt und damit bestimmte Handlungen, Ereignisse und Bedingungen interpretieren. Auch die eigenen alltäglichen Erfahrungen können mit Hilfe des ideologischen Rahmens sinnvoll gedeutet werden (vgl. Logvinov 2017, S. 98 f.). So können z. B. muslimische Jugendliche in Europa ihr eigenes Scheitern in gesellschaftlichen Institutionen, wie etwa Schule und Beruf, nun als Folge der gezielten Unterdrückung des Westens gegenüber Muslim*innen interpretieren.

Eine solche Rahmung, bei der einer anderen Gruppe die Schuld für die eigene Problemlage zugeschrieben wird, ist grundlegende Bedingung für die Entstehung von negativen Gefühlen (Wut, Rache) sowie für ein mögliches Agieren (egal ob gewaltfrei oder gewaltsam) gegen die als verantwortlich wahrgenommene Gruppe. Würde die Schlechterstellung als Produkt zufälliger Entwicklungen oder Folge eigenen Versagens gewertet werden, wäre ein Attackieren von Fremdgruppen unwahrscheinlich.

2) Definition von Zielen zur Lösung der Probleme

Zweitens umfasst die Ideologie den Entwurf einer besseren Zukunft, den es zu realisieren gilt. Es wird versprochen, dass die Erreichung dieser langfristigen Zielvorstellungen die Lösung der beschriebenen Probleme für die Eigengruppe bedeutet. Die Welt soll so zu einem besseren Ort für die Person selbst und ihre Gruppe werden. Gleichzeitig erklärt die Ideologie die Verwirklichung der Ziele als einzigen Weg, um die Probleme zu lösen.

Im Falle des Islamismus im westeuropäischen Kontext ist das oberste Ziel, die Errichtung einer gottgewollten Gesellschaftsordnung nach Vorgabe des Korans und der Scharia (vgl. Puschnerat 2006, S. 223 f.). Die politischen Systeme in den westeuropäischen Staaten und das gesellschaftliche Leben sollen dementsprechend umgestaltet werden. Die Errichtung eines solchen Gottesstaates wird dabei als einzige Möglichkeit dargestellt, um sich gegen die Überlegenheit und Unterdrückung des Westens durchzusetzen sowie Frieden und Gerechtigkeit für die eigene Gruppe sicherzustellen.

Wie weiter oben erwähnt, können die jeweiligen Zielvorstellungen allerdings mehr oder weniger konkret sein (vgl. Cottee 2010, S. 335). Beispielsweise können nur sehr vage Visionen darüber bestehen, wie die letztendliche gesellschaftliche Ordnung in dem zu errichtendem Gottesstaat konkret aussehen soll. So reichen die Vorstellungen etwa von einem weltweiten Kalifat bis hin zu einer islamischen Demokratie (vgl. Puschnerat 2006, S. 224 f.).

3) Festlegung von geeigneten Mitteln zur Zielerreichung

Drittens gibt die Ideologie adäquate Verhaltensweisen vor, mit denen die Ziele zu erreichen sind. Diese Vorgaben basieren auf der einen Seite auf der zugeschriebenen moralischen Legitimität bzw. Illegitimität von Handlungen, also welche Mittel überhaupt verwendet werden dürfen und welche nicht, beispielsweise ob der Einsatz von Selbstmordanschlägen legitim ist. Auf der anderen Seite gründen sie auf der erwarteten Effektivität von Handlungen, also mit welchen Mitteln die Ziele am wahrscheinlichsten zu realisieren sind und welche wiederum ineffizient sind.

Das Kennzeichen vieler extremistischer Ideologien ist, dass sie Gewalt gegen Menschen grundsätzlich als moralisch legitim bewerten. Das bedeutet, sie akzeptieren den Einsatz von Gewalt und die Tötung von Menschen, die eine Gefahr für die Eigengruppe darstellen, als verantwortlich für eigene Probleme angesehen werden oder aber der Zielerreichung im Wege stehen. Zugleich beurteilen viele Gewalt als effektives Mittel zur Zielerreichung. So werden etwa in der Ideologie Al Qaidas Selbstmordattentate als besonders erfolgsversprechende Waffe propagiert (vgl. Scheffler 2004, S. 88 f.).

Gemäßigtere Ideologievarianten können sich hingegen für einen (vorübergehenden) Gewaltverzicht aussprechen. Dieser kann durch eine moralische Ablehnung von Gewalt begründet sein oder aber auf taktischen Gründen fußen, entweder weil der Einsatz von Gewalt (momentan) als ineffektiv oder sogar als schädigend für die eigene Gruppe und ihre Zielrealisierung bewertet wird, etwa weil befürchtet wird, dass eine Gewaltanwendung Sympathisanten verschrecken und/oder die Unterstützungsbereitschaft in der Bevölkerung schmälern würde.

Neben der Haltung zu Gewalt umfasst ein ideologisches Überzeugungssystem aber ebenso eine Bewertung gewaltfreier und legaler Mittel, mit denen die Ziele potentiell auch erreicht werden könnten. Diese Verhaltensoptionen können z. B. als ineffizient abgelehnt oder aber als mögliche Alternative zur Gewalt beurteilt werden. Einer der Anführer der Organisation Al-Qaida auf der arabischen Halbinsel (AQAP) Anwar al-Awlaki führt in seinem Buch 44 Ways to Support Jihad sogar 44 unterschiedliche Optionen an, um sich an der ideologischen Ziel-verwirklichung zu beteiligen, etwa mittels finanzieller oder materieller Unterstützung, Mitgliederrekrutierung oder Propagandaproduktion und –verbreitung. Gemäß diesen ideologischen Vorgaben, muss man nicht selbst Gewalt ausüben, um seine Pflicht am Jihad zu erfüllen, sondern kann dies auch durch gewaltfreies Engagement tun.

4) Bestimmung des Verhältnisses von Menschen

Viertens legt die Ideologie das Verhältnis von Menschen untereinander fest. D. h., sie bestimmt zum einen, wer zur Gemeinschaft/Eigengruppe gehört und wer nicht (z. B. wer ein wahrer Muslim ist und wer ein Ungläubiger) (vgl. Strunk 2014, S. 75). Durch diese Gemeinschaftsbildung können solidarische Verbindungen auch zwischen sich unbekannten und geographisch weit entfernt lebenden Personen entstehen. So können sich z. B. Muslim*innen in Westeuropa verpflichtet fühlen, ihren Glaubensbrüdern und –schwestern in Palästina zu helfen.

Zum anderen konstruiert die Ideologie bestimmte Bilder von den unterschiedlichen Gruppen, indem ihnen bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden. Die Eigengruppe kann z. B. als moralisch überlegen oder von Gott auserwählt charakterisiert werden, die Fremdgruppe wird hingegen als unrein und unzivilisiert beschrieben oder sogar mit Tieren gleichgesetzt. Je nach Inhalt der Bilder ergibt sich die Wertigkeit, die die Ideologie einer bestimmten Gruppe zuerkennt (vgl. Heitmeyer et al. 1997, S. 32). Menschen können entweder alle gleichwertig sein oder bestimmte Gruppen können, laut Ideologie, mehr bzw. weniger wert sein.

Diese Zuschreibung von Höher- und Minderwertigkeit regelt schließlich auch das Verhältnis zwischen Mann und Frau. Die Ideologie gibt vor, ob beide gleichgestellt sind oder aber der Mann grundsätzlich über der Frau steht, etwa weil er ihr vermeintlich überlegen ist.

5) Formulierung von Verhaltensvorschriften

Neben den Vorgaben zu adäquaten Mitteln bzgl. der Zielerreichung (siehe Punkt 3) stellt die Ideologie auch allgemeine Verhaltensregeln hinsichtlich verschiedener Bereiche sowie Grundsätze, wie Verstöße gegen sie zu ahnden sind, auf. Die Ideologie kann dadurch auf der einen Seite eine restriktive Wirkung entfalten, indem bestimmte Handlungen untersagt werden. Auf der anderen Seite kann sie auch eine auffordernde Wirkung innehaben, indem sie gebietet, bestimmte Verhaltensweisen auszuüben.

Das Regelwerk kann u. a. Vorschriften zum alltäglichen Lebensvollzug (z. B. fünfmaliges Gebet am Tag), zum adäquaten Verhalten für Frauen und Männer oder Regelungen zur Ehrerbietung gegenüber Gott umfassen. Einige islamistische Ideologievarianten erlauben beispielsweise die Begehung bestimmter krimineller Delikte (vgl. Basra & Neumann 2016, S. 35). So werden etwa der Diebstahl zum Nachteil von Ungläubigen oder diverse Betrugsarten zur Geldbeschaffung als legitim ausgewiesen. Manche Varianten erlauben sogar während der Vorbereitungsphase von terroristischen Anschlägen islamische Verhaltensregeln (z. B. das Verbot, Alkohol zu konsumieren) zu brechen, um nicht aufzufallen (vgl. Precht 2007, S. 29).

Zudem können ideologische Überzeugungssysteme Maßregeln zum Zusammenleben von Menschen umfassen, also zum einen, wie man sich gegenüber Eingruppenmitgliedern zu verhalten hat (z. B. die Pflicht, ihnen in Notsituationen zu helfen), und zum anderen, wie mit Fremdgruppenmitgliedern umzugehen ist (z. B. den Kontakt mit ihnen zu meiden). Islamistische Ideologien vertreten beispielsweise eine Brüderlichkeitsethik, die auferlegt, anderen Muslim*innen in Not zu helfen (vgl. Logvinov 2017, S. 34 f.).

Schließlich kann eine Ideologie ebenso Vorschriften machen, wie bei Abweichungen vom Regelkatalog zu verfahren ist, etwa die Verhängung der Todesstrafe bei Verrat oder Ausstieg oder z. B. die Aufforderung, Beleidigungen des Islams zu vergelten (vgl. de Bie 2016, S. 31; Koehler 2015, S. 43 f.). Der niederländische Attentäter Mohammed Bouyeri war z. B. der Überzeugung, dass Beleidigungen des Islams mit dem Tode zu bestrafen seien, was ihn dazu veranlasste den Islamkritiker Theo van Gogh zu ermorden (vgl. Nesser 2015, S. 161).

2.1.4 Ideologievarianten

Es gibt nicht die eine islamistische Ideologie, sondern es macht Sinn von islamistischen Ideologien bzw. Ideologievarianten zu sprechen. Denn Organisationen, Gruppen oder Einzeltäter, die zur islamistischen Bewegung zu zählen sind, können sich in ihren ideologischen Überzeugungen voneinander unterscheiden, also in einzelnen oder mehreren der o.g. Elemente voneinander abweichen (vgl. Malthaner & Hummel 2012, S. 245 f.). Das bedeutet, Ansichten darüber, welche Verhaltensweisen z. B. legitim sind, wer zur Bewegung gehört oder wer verantwortlich für die Probleme der Eigengruppe ist, können divergieren. Lediglich das Ziel, im Falle des Islamismus die Errichtung eines islamischen Gottesstaates, und der Versuch dieses zu realisieren, eint die Bewegung und kann für einen externen Beobachter als Entscheidungskriterium dafür dienen, ob eine Organisation, Gruppe oder Einzelperson als zugehörig zur Bewegung gelten kann. Allerdings können sie in der konkreten Ausgestaltung des Ziels wieder voneinander abweichen. Beispielsweise beschränken einige Varianten ihren Anspruch, der Realisierung einer Ordnung „göttlichen Willens“, auf Länder mit muslimischer Mehrheit, andere hingegen beabsichtigen ein weltumspannendes Kalifat zu errichten.

Erster Grund für diese ideologische Uneinheitlichkeit innerhalb des Islamismus ist die unterschiedliche Auslegung religiöser Quellen (Koran, Hadithen usw.) (vgl. Wiktorowicz 2005a, S. 76). Bei deren Interpretation spielen vor allem als legitim anerkannte religiöse Autoritäten (z. B. Prediger, Gelehrte) eine zentrale Rolle. Denn ihnen kommt eine besondere Definitions- und Geltungsmacht innerhalb der Bewegung zu (vgl. Waldmann 2004a, S. 166 f.). Aufgrund ihres Gelehrtenstatus wird ihnen zugeschrieben, den direkten Willen Gottes wiedergeben zu können (vgl. Post 2005, S. 453 f.). Je nach Auslegung der religiösen Quellen können die einzelnen Autoritäten allerdings zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen und so voneinander abweichende Ideologievarianten produzieren. Da es innerhalb der Bewegung keine von allen anerkannten und für alle verbindlichen Instanzen und Führer gibt, müssen Organisationen, Gruppen oder Einzelpersonen selbst wählen, welcher Auslegung sie sich anschließen wollen (vgl. Hofmann & Dawson 2014, S. 362).

Ein zweiter Grund für unterschiedliche Ideologievarianten innerhalb einer Bewegung ist die Ausbildung von sog. Self-Made-Ideologien (vgl. Baehr 2014, S. 247; Logvinov 2014a, S. 111 f.). So können sich zum einen innerhalb einer kleinen Gruppe in Folge von Aushandlungsprozessen oder persönlichen Erfahrungen der Gruppenmitglieder (z. B. Verfolgungserfahrungen) eigene ideologische Vorstellungen, etwa bzgl. richtig und falsch, ausbilden und sie eine eigene Gruppenideologie kreieren, die von den ideologischen Überzeugungen im Umfeld der Gruppe abweicht. Dziri & Kiefer (2018, S. 25 f.) sprechen in diesem Zusammenhang von einem Lego-Islam, bei dem sich die Beteiligten aus verschiedenen Einflüssen eine eigene Ideologie zusammenbasteln, die nur wenig mit traditionellen Formen des Islams gemein hat. So basierte beispielsweise die Ideologie der sog. Hofstad-Gruppe, einem niederländischen Freundschaftsnetzwerk von Islamisten, deren Mitglieder verschiedene Terrorakte planten, sowohl auf islamistischen als auch auf christlich-fundamentalistischen Grundlagen (vgl. de Koning 2012, S. 231). Zum anderen wird ebenfalls im Falle von sog. Lone Wolves berichtet, dass ihre ideologischen Vorstellungen oft mit persönlichen Problemlagen und Motiven vermischt sind und sie sich daraus eine eigene Ideologievariante erschaffen (vgl. Spaaij 2012, S. 38 f.).

In jedem Fall lassen sich die verschiedenen Ideologievarianten innerhalb des Islamismus in Westeuropa zwei unterschiedlichen Kategorien zuordnen: dem gewaltablehnenden oder dem gewaltbereiten Islamismus. Zentrales Zuordnungskriterium dabei ist, ob die Varianten Gewalt ablehnen oder befürworten, um ideologische Ziele zu realisieren.

Im Falle nicht-gewaltbereiter Formen wird aufgrund von moralischen oder strategischen Bedenken auf die Gewaltanwendung zur Zielerreichung verzichtet (vgl. Schmid 2014b, S. 17 f.). Die Vertreter dieser Varianten versuchen einen Gottesstaat auf westeuropäischem Boden anstelle dessen durch Handlungen zu realisieren, die sich weitestgehend im Rahmen der Legalität bewegen (vgl. z. B. Nesser 2015, S. 222 f.). Sie beschränken sich zum einen auf missionarische Tätigkeiten, um die gesellschaftlichen Verhältnisse im Sinne des Islamismus zu verändern. So wird beispielsweise mittels Ansprachen im persönlichen Umfeld, im Rahmen von Aktionen im öffentlichen Raum (z. B. Fußgängerzonen) oder im Zuge von Propagandaaktivitäten im Internet versucht, möglichst viele Muslim*innen von der „einzig richtigen“ Islamauslegung zu überzeugen oder aber Nicht-Muslim*innen zu einem Übertritt zu einer extremistischen Auslegungsart zu bewegen (vgl. Dantschke 2015, S. 134). Zum anderen engagieren sich die Vertreter dieser Varianten politisch in Form von legalen oder illegalen, aber gewaltfreien Aktivitäten, wie etwa Demonstrationen oder Protestaktionen.

Im Fokus der vorliegenden Arbeit stehen allerdings die Ideologievarianten der zweiten Kategorie, dem gewaltbereiten Islamismus. Die Varianten, die unter diese Kategorie fallen, vereinen alle drei der in Abschnitt 2.1.1 vorgestellten Merkmale besonders radikaler Extremismusformen: sie streben eine Überwindung der demokratischen Grundordnung an, lehnen die Gleichwertigkeit von Menschen ab und legitimieren die physische Schädigung von Menschen, um das Ziel einer islamischen Ordnung zu erreichen. In den folgenden Kapiteln wird es nun darum gehen, warum Personen ausgerechnet eine solche gewaltbefürwortende Variante mit einer Ungleichwertigkeitsannahme akzeptieren und internalisieren.

2.1.5 Konflikte innerhalb der Bewegung

Aufgrund der Differenzen in den ideologischen Überzeugungen von Organisationen, Gruppen und Einzelpersonen kann es zu Streitigkeiten und u. U. sogar zu gewalttätigen Auseinandersetzungen innerhalb einer extremistischen Bewegung kommen (vgl. Dantschke 2014, S. 176 f.; Schneckener 2006, S. 103 f.). Dabei kann es u. a. um die verwendeten Mittel gehen (vgl. Wiktorowicz 2005a, S. 75 f.). Beispielsweise kritisierte Al Qaida das extrem gewalttätige Vorgehen von Musab al-Zarqawi’s Organisation Al-Qaida im Irak (AQI), das auch Opfer in der muslimischen Zivilbevölkerung in Kauf nahm (vgl. Crenshaw & LaFree 2017, S. 116). Ebenso gibt es in der islamistischen Bewegung Dissens darüber, ob Anschläge im Westen moralisch legitim sind (vgl. Hegghammer 2013, S. 8). Diese Uneinigkeiten können so weit führen, dass sich die Konfliktparteien z. B. die Berechtigung absprechen, Teil der Bewegung zu sein. Zudem können Differenzen über ideologische Vorstellungen (z. B. eine Unzufriedenheit mit den angewendeten Mitteln einer Organisation oder Gruppe) in der Abspaltung und Entstehung einer neuen Organisation/Gruppe oder dem Ausstieg einer Einzelperson resultieren. So verließen z. B. mehrere Mitglieder der britischen Islamistenorganisation Al-Muhajiroun den Verband, weil sie mit seinem moderaten, legalistischen Vorgehen unzufrieden waren, und gründeten wenig später eine Terrorzelle, um einen Anschlag in Großbritannien vorzubereiten (vgl. Nesser 2015, S. 176).

2.1.6 Wandel von ideologischen Überzeugungen

Die ideologischen Vorstellungen dürfen keinesfalls als unveränderlich verstanden werden. Die Ideologie einer Organisation, Gruppe oder Person kann sich in ihren Elementen verändern, etwa um sich an eine veränderte Situation anzupassen (vgl. Schedler 2016, S. 313 f.). Es können etwa Bedrohungen und Verantwortliche bei der Problembeschreibung hinzugefügt werden oder bestimmte Mittel nun für legitim erklärt werden. Diese Adaptionen können auch aus Mobilisierungsgesichtspunkten sinnvoll sein, denn durch solche Modifikationen können etwa veränderte Lebenssituationen und neue Ängste in der Bevölkerung aufgegriffen werden, um hierdurch neue Personenkreise anzusprechen und sie möglicherweise als Unterstützer zu gewinnen (vgl. Schedler 2016, S. 314 am Beispiel des Rechtsextremismus). So können Organisationen, Gruppen oder Einzelpersonen, die z. B. ursprünglich aus strategischen Gründen auf Gewalt verzichtet haben, angesichts veränderter Umstände dieses Mittel nun befürworten. Beispielsweise war die Hamas ursprünglich gegen die Beteiligung von Frauen am gewaltsamen Jihad, später erklärte sie den Einsatz von Selbstmordattentäterinnen aber für legitim, auch aus taktischen Erwägungen (vgl. Richardson 2006, S. 165 f.).

2.2 Definition und Formen ideologie-basierter Gewalt

2.2.1 Definition ideologie-basierter Gewalthandlungen

Gegenstandsbereich der vorliegenden Modellentwicklung sind lebensbedrohliche, ideologie-basierte Gewalthandlungen (d. h., Handlungen, die zu einer vom Opfer ungewollten letalen Schädigung führen sollen). Um eine Gewalttat als ideologie-basierte Handlung klassifizieren zu können, muss ihre Ausübung von ideologischen Überzeugungen, welche die jeweilige Person vertritt, beeinflusst sein.

Die Rolle, die die ideologischen Vorstellungen in einem konkreten Fall spielen, kann allerdings divergieren. Einerseits können sie bei der Ausübung der Handlung im Vordergrund stehen und die Erreichung ideologischer Ziele primäre Tatmotivation für den Handelnden sein. In diesem Fall soll von ideologischen Handlungen gesprochen werden. Andererseits kann bei ideologie-basierten Handlungen die primäre Motivation zur Tatbegehung auch auf nicht-ideologischen Zielen (z. B. Nervenkitzel oder Bindungsmotiven) beruhen. Diese Verhaltensweisen fallen ebenfalls in den Bereich ideologie-basierter Handlungen, sofern die ideologischen Überzeugungen einer Person die jeweilige Handlung rahmen, also im Hintergrund auf den Handelnden einwirken, etwa indem sie einen Einfluss auf die Opferwahl nehmen, da die Ideologie z. B. Gewalt gegen bestimmte Gruppen legitimiert und deren Viktimisierung damit nahegelegt wird. Die eigene Handlungsmotivation muss demnach nicht immer mit den Zielen der Ideologie übereinstimmen. Bei diesem Fall ideologie-basierter Handlungen, wo eine Person primär andere als die ideologischen Ziele mit der Handlung verfolgt, soll von ideologisierten Handlungen gesprochen werden. Beispielhaft für diese Kategorie von Handlungen ist der Fall des britischen Rechtsextremisten David Copeland, der Anschläge auf verschiedene Minderheitsgruppen in London verübte. Zwar waren seine Taten zweifellos durch ideologische Vorstellungen beeinflusst, also gerahmt, doch lassen viele seiner Aussagen darauf schließen, dass der primäre Antrieb seiner Taten der Wunsch war, berühmt zu werden (vgl. Spaaij 2012, S. 43 f.).

2.2.2 Deliktspektrum ideologie-basierter Gewalthandlungen

Die Fokussierung in diesem Ansatz auf letale physische Gewalttaten in Westeuropa schließt eine Reihe von ideologie-basierten Deliktkategorien aus. Zum einen sind gewaltlose Ideologiedelikte, wie z. B. Propagandadelikte und rein materielle Schädigungsakte, ausgeklammert. Ebenfalls aus der Betrachtung ausgeschlossen sind zum anderen ideologie-basierte Gewaltformen, deren Realisierung an Bedingungen geknüpft sind, die im angegebenen Anwendungsgebiet des Modells, also Westeuropa, nicht gegeben sind. So bedarf es etwa für die Durchführung eines Genozids u. a. der Herrschaft über ein Territorium. Dies ist in Europa nicht gegeben, in Syrien und im Irak, wo die Organisation Islamischer Staat (IS) zeitweise über ein größeres Territorium verfügte, hingegen schon. Tatsächlich kam es hier auch zu Genoziden, etwa an der Religionsgruppe der Jesiden.

Im Zentrum der Erklärung stehen die folgenden drei Formen ideologie-basierter Gewalt: Terrorismus, gewalttätige Hass-Kriminalität sowie ideologisch begründete Vergeltungsgewalt. Sie unterscheiden sich darin, gegen wen sich die Gewalt richtet.

Die Kategorie Terrorismus umfasst lebensgefährdende Gewalthandlungen, die darauf abzielen, politische Veränderungen im Sinne einer Ideologie herbeizuführen oder aber politische Veränderungen, die von der Ideologie abweichen, zu verhindern. In einer Demokratie kann die Einflussnahme auf das politische System entweder durch eine direkte Einwirkung auf politische Entscheidungsträger oder staatliche Repräsentanten/Institutionen (Polizei, Geheimdienste oder Militär) erfolgen (z. B. in Form von gezielten Hinrichtungen) oder aber in indirekter Form, nämlich indem mittels indiskriminierter Gewalt gegen die Zivilbevölkerung Angst und Schrecken in der Bevölkerung erzeugt wird und dadurch das Wahlverhalten beeinflusst werden soll. Die Täter sind stets nicht-staatliche Akteure, die aus dem Untergrund heraus agieren und überraschend zuschlagen.

Bei gewalttätiger Hass-Kriminalität richten sich die lebensbedrohlichen Gewalttaten nicht indiskriminiert gegen die gesamte Bevölkerung, sondern ausschließlich und gezielt gegen bestimmte Gruppen, die von der Ideologie als feindlich definiert werden (vgl. Schneider 2003, S. 498). Im Falle des Islamismus werden allen voran bestimmte religiöse (z. B. Christen, Juden, Schiiten) und politische (z. B. Rechtsextreme) Gruppen zu Feinden erklärt. Die Feindschaft kann aber ebenso auf der sexuellen Orientierung beruhen. Der Täter will hier eine oder mehrere Personen schädigen, gerade weil sie vermeintlich einer solchen Gruppe angehören.

Ideologische Ziele sollen hier nicht mittels politischer Einflussnahme erreicht werden, sondern durch die direkte Einwirkung auf die unerwünschte Gruppe, etwa indem Angst und Schrecken unter den Mitgliedern der jeweiligen Gruppe erzeugt wird, um sie z. B. zum Verlassen des beanspruchten Territoriums zu veranlassen, oder, im Falle der Gewalt gegen einen politischen Gegner, indem mögliche Konkurrenz geschwächt oder ausgeschaltet wird (vgl. Schneider 2003, S. 498). Andererseits können auch nicht-ideologische Motivationen im Vordergrund stehen, wie z. B. das Erleben von Nervenkitzel.

Bei ideologisch begründeter Vergeltungsgewalt handelt es sich um potentiell letale Bestrafungen für Verstöße gegen ideologische Regeln. Die Gewalt richtet sich folglich gegen vermeintliche Regelbrecher. Wie weiter oben beschrieben, umfassen Ideologien auch Verhaltensvorschriften sowie Vorgaben, wie mit möglichen Verfehlungen gegen diese Vorschriften umzugehen ist. Beispiele für solche Vergehen sind etwa der Ausstieg aus der Bewegung, also ein Abfall vom „wahren Glauben“, oder Verunglimpfungen des Islams, so wie etwa die Beleidigung des Religionsgründers Mohammed im Rahmen von Karikaturdarstellungen. Einige radikale Ideologievarianten im Islamismus fordern beispielsweise mit Verweis auf religiöse Quellen die Ermordung von Personen, die den Islam beleidigen (vgl. Nesser 2015, S. 6 & S. 50). Jedem Anhänger wird damit die moralische Pflicht auferlegt, diese Todesstrafe zu verhängen.

Des Weiteren verlangen viele extremistische Ideologien, auch im Bereich des Links- und Rechtsextremismus, die Todesstrafe für Aussteiger und Verräter (vgl. z. B. Koehler 2015). So hat der IS in Syrien z. B. eine Vielzahl von ausländischen Anhängern hingerichtet, die wieder zurück in ihre Heimatländer fliehen wollten (vgl. Kaddor 2015, S. 102 ff.). Zudem ruft der IS auch zu Gewalt gegen als abtrünnig gebrandmarkte muslimische und sogar islamistische Geistliche in Europa auf, die den IS offen kritisieren (vgl. EUROPOL 2017, S. 31).

In den folgenden Kapiteln wird es nun um die Erklärung gehen, warum eine Person eine dieser gerade beschriebenen islamistischen Gewalttaten in Westeuropa begeht. Diese Frage soll im Rahmen zweier Schritte beantwortet werden: erstens soll dargelegt werden, warum eine Person überhaupt bereit ist, ideologie-basierte Gewalthandlungen in Westeuropa auszuführen, und worauf diese Bereitschaft basiert. Zweitens werden die konkreten Tatbedingungen erörtert, die ausschlaggebend dafür sind, dass diese Gewaltbereitschaft in tatsächliches Gewaltverhalten umschlägt.