Ideologie-basierte Gewalttaten, etwa in Form terroristischer Anschläge oder gewaltsamer Hasskriminalität, und ihre Folgen stellen eine massive Bedrohung für ein friedliches Zusammenleben in Europa dar. Insbesondere der Anstieg des islamistischen Terrorismus in den letzten beiden Jahrzehnten, mit dem 11. September 2001 als Auftakt, hat deutlich vor Augen geführt, welche gravierenden Konsequenzen hieraus sowohl für das Sicherheitsempfinden innerhalb der Bevölkerung als auch die Beziehungen zwischen verschiedenen Gruppen in einer Gesellschaft erwachsen können. In Anbetracht ihres zerstörerischen Potentials verwundert es nicht, dass ideologie-basierte Gewalt ein nahezu ständiges Thema sowohl in Politik und Medien als auch in der Zivilbevölkerung ist.

Im wissenschaftlichen Kontext führte die Welle islamistischer Gewalttaten in Europa seit den 2000er Jahren einerseits zu einer Zunahme von Forschungen in diesem Themenbereich und andererseits zur Entwicklung neuer oder der Aufarbeitung älterer Theorien. Sie drehen sich in der Regel um eine Erklärung, warum Menschen islamistische Gewalthandlungen begehen, und versuchen Empfehlungen abzuleiten, wie Anschläge verhindert werden können. Problematischerweise fokussieren sich viele Erklärungsansätze ausschließlich auf Radikalisierungsprozesse, d. h., sie gehen nur der Frage nach, wie aus Menschen Personen werden, die bereit sind im Namen einer Ideologie zu töten (vgl. z. B. Agnew 2010; Wilner & Dubouloz 2010). Doch eine im Rahmen einer Radikalisierung entstandene Gewaltbereitschaft allein reicht als Erklärung für das Auftreten von Gewalt nicht aus.

So lag z. B. in Deutschland die Zahl islamistischer Gefährder, also Personen, von denen die Sicherheitsbehörden vermuten, sie könnten politisch-motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen, in den Jahren 2010 bis 2013 zwischen 127 und 139.Footnote 1 Die Zahl tatsächlich begangener oder versuchter lebensbedrohlicher Gewalttaten aus dem islamistischen Spektrum in Deutschland lag während dieses Zeitraums aber bei nur 5.Footnote 2 In Frankreich wiederum wurden z. B. im Jahr 2015 in der sog. Akte S (Fiche S) des Innenministeriums, welche Personen umfasst, die von den Behörden als Bedrohung für die innere Sicherheit eingestuft werden, 850 Islamisten vermerkt, die wahrscheinlich einen Anschlag begehen könnten.Footnote 3 Die Zahl begangener oder versuchter Gewalttaten lag in diesem Jahr aber bei nur 15.Footnote 4 In Großbritannien wurden im Jahr 2017, laut Angaben des Geheimdienstes MI5, 3.000 Islamisten als direkte Bedrohung eingestuft, 500 von ihnen standen sogar unter ständiger Überwachung.Footnote 5 Die Zahl begangener oder versuchter Gewalttaten lag in diesem Jahr aber bei nur 14.Footnote 6

Diese erheblichen Differenzen weisen darauf hin, dass selbst höchst gewaltbereite Personen nur unter bestimmten Bedingungen auch tatsächlich eine Gewalttat begehen. Ein adäquates Erklärungsmodell sollte aus diesem Grund nicht nur die Entstehung einer Gewaltbereitschaft behandeln, sondern auch der Frage nachgehen, unter welchen Bedingungen radikalisierte, gewaltbereite Personen tatsächlich eine ideologie-basierte Gewalthandlung verüben. Eine solche Perspektive ist auch deshalb sinnvoll, weil sie mögliche Ansatzpunkte aufzeigt, wie Anschläge verhindert werden können.

Das im Rahmen der vorliegenden Arbeit entwickelte Erklärungsmodell versucht diesen beiden Fragen gerecht zu werden, also zum einen zu erklären, wie eine ideologie-basierte Gewaltbereitschaft entsteht, und zum anderen spezifische Tatbedingungen zu formulieren, wann diese in einer konkreten lebensbedrohlichen islamistischen Gewalthandlung in Westeuropa gipfelt.

In Bezug auf die erste Frage, warum einige Personen eine hohe Bereitschaft haben, ideologie-basierte Gewalt zu nutzen, um bestimmte Ziele zu realisieren, ist, gemäß dieses Modells, ausschlaggebend, ob sich in Folge bestimmter Einflüsse eine spezielle Haltung gegenüber diesen Handlungen ausbildet. Diese Haltung ist durch eine spezifische moralische Bewertung dieser Gewaltformen, besonderen Erwartungen hinsichtlich der Folgen einer solchen Gewaltausübung für sich und andere sowie bestimmten Selbstwirksamkeitserwartungen gekennzeichnet. Grundlegend für die Entstehung dieses Bündels von gewaltbegünstigenden Überzeugungen ist die Akzeptanz und Übernahme einer islamistischen Ideologievariante, die die Gewaltanwendung als legitim und sinnvoll darstellt, in das eigene Überzeugungssystem. Ob es nach einem Kontakt mit einer solchen Ideologievariante zu einer Akzeptanz und Internalisierung ihrer Inhalte kommt, hängt, diesem Ansatz zufolge, von mehreren Bedingungen ab.

Hinsichtlich der Tatbedingungen gewalttätigen Verhaltens wird in diesem Erklärungsmodell angenommen, dass drei aufeinanderfolgende Stufen durchlaufen werden müssen, damit das Gewaltpotential in einer lebensbedrohlichen, ideologie-basierten Gewalthandlung in Westeuropa mündet: 1) die Entstehung einer Handlungsmotivation, 2) die Bildung einer gewalttätigen Verhaltensintention sowie 3) die Aufrechterhaltung dieses Tatentschlusses bis zur endgültigen Tatrealisierung. Ausgangspunkt dieses Verlaufs ist, dass bei einer Person erst einmal eine bestimmte Motivation, also der Wunsch ein spezifisches Ziel zu realisieren (z. B. politische Veränderungen herbeizuführen, unterdrückten Gruppen zu helfen oder Nervenkitzel zu erleben), entsteht. Diese Motivation kann durch bestimmte interne oder externe Faktoren ausgelöst werden. Zur Verwirklichung des jeweiligen Ziels kommen nun potentiell unterschiedliche legale wie illegale Handlungsoptionen in Frage. Damit es zu einer Gewalttat kommen kann, muss die Person nun auf die Idee kommen und den Entschluss fassen, das Ziel mit Hilfe einer Gewalthandlung in Westeuropa zu realisieren, sich also eine gewalttätige Verhaltensintention bilden. Zwischen der Entstehung einer solchen Handlungsabsicht und der letztendlichen Tatrealisierung kann ein langer Zeitraum liegen, etwa weil zuvor diverse Tatvorbereitungshandlungen erfüllt werden müssen. Damit es schließlich zu einer Tat kommt, muss daher drittens der ursprüngliche Tatentschluss bis zum Ende aufrechterhalten werden und die Person die Intention nicht vorher schon wieder aufgeben.

Neben der Modellentwicklung soll im Rahmen der Arbeit in einem zweiten Schritt eine teilweise Überprüfung des entwickelten Erklärungsansatzes erfolgen. Diese Untersuchung soll sich dabei vor allem auf die theoretisch formulierten Tatbedingungen fokussieren, die begünstigen bzw. verhindern, dass eine ideologie-basierte Gewaltbereitschaft in tatsächliches Gewaltverhalten umschlägt. Dies geschieht auch deshalb, weil zu diesen Bedingungen bislang nur wenige empirisch fundierte Befunde existieren (vgl. Frindte et al. 2016, S. 11 f.; Hummel & Logvinov 2014, S. 16 f.). Die Mehrheit der bisherigen Forschungen, richtet sich nämlich primär auf Radikalisierungsprozesse (d. h., die Übernahme einer islamistischen Ideologievariante).

Konkret soll in der Studie der Frage nachgegangen werden, ob die in diesem Ansatz formulierten Einflussfaktoren auf die Tatbegehung tatsächlich die theoretisch angenommenen Wirkungen entfalten. Dies soll am Beispiel lebensbedrohlicher, islamistischer Gewaltstraftaten erfolgen, die im Zeitraum zwischen 2000–2013 in Westeuropa begangen wurden bzw. realisiert werden sollten.

Die zugrundeliegende Arbeit ist wie folgt aufgebaut: zu Beginn soll der Gegenstandsbereich des Erklärungsmodells, also lebensbedrohliche, ideologie-basierte Gewalthandlungen, erläutert werden (Kapitel 2). Hierzu werden zum einen deren Grundlage, gewaltbefürwortende islamistische Ideologievarianten, und die Merkmale dieser Ideologien beleuchtet. Zum anderen werden die unterschiedlichen Deliktformen, die unter diese Kategorie fallen, beschrieben. Im folgenden Kapitel (Kapitel 3) werden Herausforderungen und Anforderungen diskutiert, welche eine Theorie, die die Begehung dieser Delikte erklären möchte, erfüllen muss. Darauf hin (Kapitel 4) wird überprüft, ob bisherige Theorien und Erklärungsmodelle in diesem Bereich diesen Ansprüchen gerecht werden können. Dabei offenbaren sich Defizite, insbesondere wenn es darum geht zu erklären, wann es zu einer konkreten Gewalttat kommt.

Es wird aus diesem Grund in dieser Arbeit der Versuch unternommen, einen neuen Erklärungsansatz zu entwickeln, der sich allen voran dieser letzten Thematik intensiv widmet. Im ersten Theoriekapitel (Abschnitt 5.1) werden die Grundannahmen des Modells dargelegt. Dann wird das zentrale Konstrukt des theoretischen Ansatzes, die ideologie-basierte Gewaltbereitschaft, vorgestellt (Abschnitt 5.2). Basierend auf Forschungsergebnissen wird angenommen, dass sie sich aus vier unterschiedlichen Komponenten zusammensetzt, welche die Bereitschaft, Gewalt zu nutzen, erhöhen bzw. senken. Im Anschluss soll erörtert werden, wie diese Gewaltbereitschaft entsteht (Abschnitt 5.3). Schließlich wird thematisiert, unter welchen Bedingungen sie in gewalttätigem Verhalten mündet (Abschnitt 5.4). Wie bereits angesprochen, müssen hierfür drei Stufen durchlaufen werden.

Im empirischen Teil der Arbeit werden das Vorgehen bei der durchgeführten Untersuchung beschrieben sowie die Ergebnisse der Analyse dargestellt und diskutiert (Kapitel 6). Um der o.g. Fragestellung nachzugehen, wurden zuerst Informationen zu den Tatbedingungen der verschiedenen islamistischen Gewalttaten in Westeuropa anhand von frei zugänglichen Quellen gesammelt. Dieses Datenmaterial wurde anschließend mit Hilfe der Qualitativen Inhaltsanalyse dahingehend analysiert, ob die theoretisch angenommenen Einflussfaktoren hier ausschlaggebend waren oder nicht.

In dem abschließenden Kapitel (Kapitel 7) sollen die wesentlichen Punkte des Erklärungsmodells und der Studie noch einmal kurz zusammengefasst sowie Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen der Untersuchung gezogen werden, insbesondere im Hinblick auf die Verhinderung von Anschlägen.