1 Historischer Rückblick

Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient ist und war auch immer ein Abbild der gesellschaftlichen Prozesse. Das Rollenverständnis des Arztes war im 19. und bis weit in das 20. Jahrhundert hinein von Überlegenheit in Wissen und Macht gegenüber dem Patienten geprägt [473].

In Zeiten ohne den breiten und einfachen Zugang zu medizinischem Wissen war der langjährig ausgebildete Mediziner sowohl der Behandler als auch die einzige, leicht verfügbare Informationsquelle für den Patienten [474]. In der Prä-Internet-Ära bestand nicht die Möglichkeit, medizinisches Fachwissen, redaktionell aufbereitet für den medizinischen Laien, einfach und schnell von zu Hause abrufen zu können [118]. Der Zugang zu wissenschaftlichem Fachwissen, Zeitschriften und Studien blieb den Akademikern und Medizinern vorbehalten [474]. Bei einer anstehenden Behandlung musste der Patient folglich auf die Professionalität und das Fachwissen des von ihm aufgesuchten Arztes vertrauen [474]. Der insbesondere in Deutschland weit verbreitete Obrigkeitsglauben trug mutmaßlich ebenfalls dazu bei, dass viele Patienten gar nicht wagten, die Fähigkeiten und Kenntnisse eines Arztes anzuzweifeln [473].

Therapeutische Entscheidungen und Behandlungsregimes wurden in diesem paternalistischen Rollenverständnis vom Patienten passiv getragen [474]. Einwände, die Frage nach Behandlungsalternativen oder Patientenwünsche waren in dieser Konstellation nicht vorgesehen [474]. Das Rollenverständnis des fürsorglichen, allwissenden Arztes als Rettungsanker in der Not des Patienten ist moralisch und ethisch nicht schlechter oder besser zu bewerten als ein kooperatives Interaktionsmodell [475].

So wie die Menschen im alltäglichen Leben die Autorität des Staates, der Beamten und Institutionen nicht in Frage stellten, verhielten sie sich auch gegenüber ihrem Arzt [473].

Ein weiterer Aspekt neben dem Wissensmonopol des Arztes war das damalige Gesundheitssystem, das primär auf den Arzt als zentralen Verteiler der Gesundheitsleistungen ausgerichtet war, weil entsprechende Kontrollinstanzen auf Seiten der Krankenversicherung bzw. der Krankenkassen noch nicht etabliert waren [476]. Jedenfalls war der Patient abhängig von den Verordnungen seines behandelnden Arztes [476]. Die Behandlung durch einen Facharzt, die Krankenhauseinweisung, jegliche pharmazeutische Verordnung konnten nur durch den Arzt erfolgen [476]. Es bestand also ein Abhängigkeitsverhältnis im ökonomischen Sinne, was allerdings nicht zwangsläufig in einer schlechteren Behandlung resultierte [476].

2 Arzt-Patienten-Beziehung: Die Modelle

Nach der Übersichtsarbeit von Emanuel und Emanuel aus dem Jahr 1992 werden aus der sozialwissenschaftlichen Perspektive vier Beziehungsmodelle unterschieden [485]. Nachfolgend sollen diese Modelle komprimiert vorgestellt werden. Es ist anzumerken, dass diese kategorisierte wissenschaftliche Abgrenzung und Profilierung der Einzelmodelle ein eher theoretisches Konstrukt darstellen. In der alltäglichen Praxis kommen Vermischungen und Abwandlungen vor.

2.1 Paternalistische Modell

Das paternalistische Beziehungsmodell beschreibt eines der ältesten und konsistentesten Beziehungsmodelle [477]. Dabei übernimmt der Arzt als fürsorglicher Experte die Entscheidungen für den Patienten [477]. Die Beziehung ist folglich von einer starken Inkongruenz bezüglich des Wissens und der Entscheidungskompetenzen geprägt [477]. Die Basis bildet das uneingeschränkte Vertrauen des Patienten gegenüber dem Arzt, mit der Grundannahme, dass der Arzt nur das Beste für seinen Patienten beabsichtigt [477]. Diese Grundannahme ist nach dem ärztlichen Berufsethos gerechtfertigt und stellt einen ethischen Grundpfeiler ärztlichen Handelns dar [477].

In diesem Modell übernimmt der Arzt auf Grund der ungleichen Verteilung des Wissens die Entscheidungen für den Patienten; der Patient wäre zudem gar nicht qualifiziert in der Lage, eine eigene Entscheidung zu treffen [477]. Diese heute bevormundend wirkende Beziehungskonstellation kommt jedoch in Teilen des täglichen Alltags durchaus zum Tragen [478]. Beispielhaft kann die Notfallfallmedizin genannt werden. Der etwa nach einem Verkehrsunfall schwer verletzte Patient in einem Krankenhaus wird vom Anästhesisten bzw. Notarzt nach den Regeln der ärztlichen Kunst sofort behandelt, um dessen Leben und Gesundheit aufrechtzuerhalten und wiederherzustellen.

Der Notarzt bzw. der Anästhesist als Experten leiten alle notwendigen Therapien und Interventionen ein, ohne mit dem Patienten Alternativen zu besprechen, wozu der Patient auch nicht in der Lage wäre [479]. Der Arzt trifft somit für den Patienten lebensnotwendige Entscheidungen in seinem mutmaßlichen Willen. Eine wesentliche Handlungsmaxime des Arztes stellt das auf dem Hippokratischen Eid beruhende Genfer Gelöbnis dar [479, 480].

Eine gewisse Form des selbstgewählten Paternalismus lässt sich häufig in der täglichen Praxis beobachten: der Odysseus-Paternalismus [481]. So gibt es Patienten, die sich von vornherein dafür entscheiden, nicht selbst zu entscheiden, sondern sich vertrauensvoll auf ihren Behandler zu verlassen [481]. Wie auch immer dieses Vorgehen des Patienten motiviert sein mag, kommen viele Ärzte diesem Wunsch in der Regel nach [481].

2.2 Informatives Modell

Beim informativen Beziehungsmodell (oder auch Konsumenten-Modell) versteht sich der Arzt vornehmlich als Dienstleister und medizinischer Experte [482]. Er erklärt allgemeinverständlich und patientenadaptiert die medizinische Diagnose und trägt wertungsfrei sinnvolle Behandlungsmöglichkeiten vor [482]. Der Patient entscheidet sich dann ohne wertendes Urteil des Arztes für eine Behandlungsoption [482].

In diesem Modell liegt die zentrale Ausrichtung auf der Autonomie des Patienten [482]. Eine Schwierigkeit dieses Modells besteht in der absoluten Werteneutralität des Arztes, die in der aktiven verbalen und nonverbalen Kommunikation so nicht immer einzuhalten ist [482]. Gewisse Behandlungspräferenzen kann dieser nicht immer verbergen, was für den Patienten jedoch nicht nachteilig sein muss.

Im Hinblick auf essenzielle medizinische Entscheidungen wäre es geradezu fahrlässig, würde der behandelnde Arzt nicht auch Stellung beziehen.

Das informative Modell findet Anwendung bei hochelektiven und kostspieligen Behandlungen an [482]. In der Zahnmedizin sollte die Frage des Zahnersatzes, da auch mit hohen Kosten verbunden, vom behandelnden Zahnmediziner neutral vorgetragen werden, ohne eigene Absichten und Präferenzen zur Wertung kommen zu lassen [482]. Ähnliches gilt auch für Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) [476].

2.3 Interpretatives Modell

Im Unterschied zum informativen Modell geht der Arzt beim interpretativen Model nicht notwendigerweise davon aus, dass der Patient genau weiß, was er will und welche Entscheidung zu seiner individuellen Lebenssituation passt [483]. Vielmehr weiß der Mediziner, dass es bei Krankheit, Schmerz und der Bewusstwerdung der Endlichkeit des Lebens zu pathologischen Prozessen der Krankheitswahrnehmung und des Copings kommen kann, die zu irrationalen Entscheidungen führen können, unabhängig vom Selbstbestimmungsgrad des Patienten und davon, wie gut dieser über medizinische Fakten informiert ist [483].

In diesem Modell vermittelt der Behandler zunächst sachlich und verständlich die medizinischen Details und Implikationen [483]. Für die Einordnung der Befunde und die Auswahl der Therapie bietet der Arzt dem Patienten jedoch nicht nur die notwendigen Sachinformationen, sondern versucht auch psychoedukativ, empathisch und interessiert die Lebensumstände (Alter, Vorerkrankungen, soziale Situation, Partnerschaft usw.) mit in die Entscheidung für den Patienten einzubeziehen [483]. Auch pathologische Prozesse der Krankheitsverarbeitung würde der Arzt aktiv angehen, um Patienten vor voreiligem Aktionismus oder auf der anderen Seite vor zu großer Zurückhaltung zu bewahren. [483] Die endgültige Entscheidung trifft aber auch in diesem Beziehungsmodell der Patient [483].

2.4 Deliberatives Modell

Die vierte von Emanuel und Emanuel beschriebene Beziehungskonstellation stellt das sogenannte deliberative oder auch partnerschaftliche Beziehungsmodell dar, das am ehesten dem später noch zu behandelnden Shared-Decision-Making-Modell entspricht [484, 485]. Ähnlich dem interpretativen Modell widmet sich der Arzt hierbei nicht nur den Sachthemen, sondern versucht außerdem, im Gespräch die Lebensumstände und die Gefühlswelt des Patienten zu ergründen, um diese in den medizinischen Entscheidungsprozess miteinfließen zu lassen [485]. Dabei begegnen sich zwei gleichberechtigte Partner, ohne jedoch zu verleugnen, dass signifikante Unterschiede in bestimmten Kompetenzfeldern vorhanden sind [485].

Trotz der Zugänglichkeit zu medizinischen Informationen für Patienten und Angehörige bleibt der Mediziner in seinem Fachwissen unerreicht [486]. Die Kombination aus jahrelanger wissenschaftlicher Ausbildung und Faktenwissen, der hinzukommenden Berufserfahrung und der Vielzahl an behandelten Patienten lassen den Mediziner zu einem hochspezialisierten Experten werden, der mit Wissen, klinischem Blick und Intuition pathologische Körperfunktionen selektiv diagnostizieren und behandeln kann [486].

In diesem partnerschaftlichen Modell einigen sich nun Patient und Arzt darauf, verschieden zu sein und trotz allem einen gleichberechtigten Dialog zu führen [485]. Vor allem im Bereich der Intensivmedizin können diese Phänomene veranschaulicht werden.

Die Entscheidung über die Invasivität, den Umfang oder auch das Unterlassen einer weiteren intensivmedizinischen Behandlung kann bei gleicher medizinischer Ausgangssituation je nach Patienten, seinem Leben, seinem Umfeld und seiner sozialen Situation unterschiedlich ausfallen. Hier gibt es kein Richtig oder Falsch, kein Muss oder Darf [487].

Trotzdem sieht dieses Modell auch vor, dass Patienten das Fürsorgebestreben des Arztes nachvollziehen und akzeptieren [487]. Der Mediziner besitzt bei schwierigen und kontroversen medizinischen Entscheidungen eine wesentlich größere Expertise als die meisten Patienten und Angehörigen, weil er Krankheitsverläufe, Prognosen und getroffene Entscheidungen bei seiner täglichen Arbeit immer wieder erlebt [486]. Diese Asymmetrien auf Arzt- und Patientenseite werden bewusst wahrgenommen und akzeptiert, bewirken aber keine Machtverschiebung im gemeinsamen Verhältnis [486].

Zentrale Anker dieses Modells, bei dem eine eigene Meinung und das bewusste Akzeptieren von Ungleichheiten erwünscht sind, stellen der Dialog auf Augenhöhe und die Autonomie des Patienten dar [485].

3 Patient

Wie schwierig die Verortung des Patienten und dessen Rolle bzw. Rollen im Gesundheitswesen ist, hängt auch davon ab, aus welcher Perspektive diese betrachtet wird. Die unterschiedlichen Rollen sollen nachfolgend pointiert werden.

3.1 Patientenrolle

Aus soziologischer Sicht lässt sich das Individuum im Gesundheitssystem nicht auf eine Rolle beschränken, sondern ist so komplex und differenziert wie die Umgebung, in der es sich bewegt [488].

Begriffe wie „Pluralisierung“ und „Multiple Identitäten“ fassen die dahinterliegende Thematik zusammen. Dass es verschiedene Rollen des Nutzers im Gesundheitswesen gibt, scheint unbestritten. Diskutiert wird hier nicht darüber, ob den Patienten auch eine Kundenrolle zuerkannt werden sollte, sondern welche (vielfältigen) anderen Rollen noch von Belang sein könnten [488].

Der Autor Ewert skizziert in seiner Analyse, dass in der Vergangenheit der Zugang und der Erhalt medizinischer Leistungen keine Selbstverständlichkeit gewesen seien [489]. Ganz im Gegenteil wies die Versorgungsrealität vor etwa 60 Jahren noch größere Lücken auf [489]. Der Zugang zu Spezialisten und den bis dato modernsten Behandlungs- und Therapiemöglichkeiten war strukturell eng begrenzt [489]. Dies führte dazu, dass diese Gesundheitsleistungen dankbar und sogar ‚demütig‘ entgegengenommen wurden [489].

Zweifellos ist anzuerkennen, wie sich die Versorgungs- und Behandlungsqualität in den letzten Jahrzehnten verbessert hat [490]. Hinzu kommt die Struktur der Gesetzlichen Krankenversicherung als eine Pflichtversicherung [491]. Letzte Lücken unversicherter Personengruppen wurden sowohl mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz aus dem Jahr 2007 als auch mit dem 2009 aktualisierten Verwaltungsverfahrensgesetz, das im § 193 die ‚Allgemeine Krankenversicherungspflicht‘ auch verwaltungsrechtlich nochmals zementierte, geschlossen [492].

Allein diese Tatsache stellt weltweit eine große Ausnahme dar [490]. Hinzu kommt jedoch der umfangreiche Leistungskatalog für die Versicherten [490].

Aus diesen über Jahren nun konstanten gesetzlichen Leistungen ist ein Gewohnheitsrecht geworden, das bei jedweder Diskussion in der Gesundheitspolitik – insbesondere wenn es um Leistungsbegrenzungen geht – von den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes eingefordert wird [488]. Alle etablierten politischen Parteien, mit Ausnahme der Partei ‚Die Linke‘, waren seit den 1990er Jahren in Regierungsverantwortung und stellten u. a. den Bundesminister für Gesundheit [493].

Die Prämisse der Deutschen Gesundheitspolitik ist unisono die Aufrechterhaltung, Sicherung und Erweiterung des erreichten Leistungsstandards. Steigende Kosten werden mit Erhöhungen der Beitragssätze, Sonderabgaben und steuerfinanzierten Umverteilungen beantwortet [488]. Einen Ansatz zur Leistungsbegrenzung oder Rationierung ist nicht erkennbar und wäre politisch auch schwer durchsetzbar [488, 494].

Ewert stellt als Essenz aus dem Gesagten folgende These auf [13]:

„Die Emanzipation von Nutzern – als gleichermaßen gesundheitspolitisch interessierte Bürger sowie mündige Patienten, Koproduzenten von Gesundheitsleistungen und Gemeinschaftsmitglieder in informellen Unterstützungsnetzwerken – ist demnach auch als sozialpolitisch geförderter Emanzipations- und Entwicklungsprozess zu verstehen.“

Weiterhin erzeugten die seit Mitte der 1990er Jahre stattfindenden Modernisierungen und Reformen im deutschen Gesundheitssystem einen stärkeren Wettbewerb und auch einen erhöhten Kostendruck auf die Gesetzlichen Krankenkassen [495].

Dies hatte direkte Auswirkungen auf die ambulanten und stationären Leistungserbringer. Die Freiheiten und Wahlmöglichkeiten der Patienten wurden mehr und mehr gestärkt [496]. All dies führte zu den postulierten multiplen Nutzeridentitäten [488]. Soziologisch betrachtet bezeichnen die differenzierten und fraktionierten Rollen des ‚Nutzers im Gesundheitssystem‘ eine logische Folge des hochkomplexen Gesundheitssystems [488] (Abbildung 9.1).

Abbildung 9.1
figure 1

(Eigene Darstellung, modifiziert nach [497])

Verschiedene Rollen des Nutzers im Gesundheitssystem.

3.2 Kundenrolle

In diesem Abschnitt soll nun die Rolle des Patienten als Kunde in der Gesundheitswirtschaft näher beleuchtet werden.

Der Kundenbegriff ist ohne Zweifel ein ökonomisch orientierter Terminus [498]. Die Assoziation des autokaufenden Kunden und des Kunden, der eine Dienstleistung wie beispielsweise einen Haarschnitt erhält, soll nach Möglichkeit nicht auf die Beziehung zu Patienten übertragen werden [499].

Ärztinnen und Ärzte sehen sich nicht gerne als Geschäftstreibende und in der Tat wäre dies auch eine Verkennung des Ärztlichen Selbstverständnisses, wie es auch in der Bundesärzteordnung zum Ausdruck kommt: „Der Arztberuf ist ein freier Beruf und kein Gewerbe“ (§ 1 Bundesärzteordnung) [499, 500].

In Anbetracht dieser Sonderrolle des ärztlichen Berufes gestaltet es sich umso schwieriger, neue – wirtschaftliche – Aspekte in der Patientenrolle zu pointieren. Nichtsdestoweniger besitzt das deutsche Gesundheitswesen ein Finanzvolumen von 410 Milliarden Euro (Stand: 2019) und über fünf Millionen Beschäftigte (Stand: 2018) [501, 502]. In Deutschland existiert ein Krankenkassensystem mit gesetzlichen und privaten Krankenkassen, privaten Zusatzversicherungen und einem sich seit den 1990er Jahren stark entwickelnden Sektor von individuellen Gesundheitsleistungen [503]. Bei hinzukommender freier Arzt- und Krankenhauswahl ist in diesem Kontext die Rolle eines Kunden, der sich frei zwischen unterschiedlichen Anbietern – Ärzten und Krankenhäusern – entscheidet und unter Umständen die Leistungen vollständig als Privatversicherter bezahlt, auch wenn im Nachhinein eine Erstattung folgt, nicht falsch [504].

Die seit Mitte der 1990er Jahre durchgreifende Ökonomisierung der Medizin ist nicht zu übersehen [505].

Krankheit, körperliches und seelisches Leiden, Schmerz und Tod stellen existenzielle Bedrohungen für jeden einzelnen Menschen dar. Dieses Leid zu lindern, zu verbessern oder besten Falles zu heilen, ist der Kern des ärztlichen Handelns. Die Ehrfurcht und der Respekt vor dem menschlichen Leben bilden das Fundament jeden ärztlichen Handelns [480].

Das Argument, mit der Anerkennung des Patienten als Kunden nicht einen Dammbruch hin zu einer kompletten Vermarktwirtschaftlichung der Ärztlichen Kunst Vorschub leisten zu wollen, widerspricht jedoch der tatsächlich gelebten Realität [505, 506].

Die individuelle ärztliche Behandlung und das Arzt-Patienten-Verhältnis können aber nicht losgelöst vom Gesamtsystem Krankenhaus gesehen werden. Denn um eine ärztliche Leistung für den Patienten erbringen zu können, benötigt der Mediziner die Infrastruktur des Krankenhauses; er benötigt Sachmittel, Personal und Logistik. Arbeitet dieses System nicht nach betriebswirtschaftlichen Prinzipien, wird es mit der heutigen strafferen Finanzierungsstruktur im stationären Sektor über einen mangelnden wirtschaftlichen Erfolg klagen und mittelfristig insolvent werden [507, 508].

Festzuhalten ist, dass die ärztliche Behandlung und die Arzt-Patienten-Beziehung unverkäuflich sind und daher keine Dienstleistungen im klassisch betriebswirtschaftlichen Sinne darstellen [509]. Der Patient begegnet dem Arzt deshalb in erster Linie als Patient und nicht als Kunde [509].

Die Beziehung des Patienten zum Gesamtkrankenhaus hingegen hat sich in den letzten Jahren hin zu der eines Kunden entwickelt. Legitimieren und begründen lässt sich dieser vorgeschlagene Kundenbegriff mit einer systematischen Aufzählung der bloßen Marktrealität [510, 511].

Im Krankenhaus oder der Praxis angekommen, entscheidet häufig nicht mehr der behandelnde Arzt alleine, welche Behandlung oder Therapie angewendet wird [510]. Da oftmals mehrere gleichwertige Behandlungsoptionen bestehen, sucht der Patient diejenige Therapie aus, die er nach Beratung durch den Arzt für am besten geeignet hält [510]. Auch hier liegt eindeutig eine Kundenrolle vor.

Insbesondere bei hochelektiven Behandlungsverfahren wie z. B. dem Zahnersatz wird meist ein informatives Arzt-Patienten-Verhältnis gepflegt, bei dem der Behandler sachlich Informationen vorträgt und dem Patienten nach Darlegung von Vor- und Nachteilen der einzelnen Wahlmöglichkeiten eine freie Entscheidung lässt [482]. Folglich ist auch hier von einem Kunden zu sprechen.

Im Resümee der bisherigen Erkenntnisse wäre eine verkennende Sicht auf ein 410-Milliarden-System nicht richtig und konstruiert [501,512]. Dafür sind die Interessenslagen im Gesundheitswesen unverkennbar auch von rein ökonomischen Beweggründen geprägt [513]. Ehrlichkeit und Transparenz sind bessere Mittel, um die Abläufe und Intentionen im Gesundheitssystem aufzuzeigen, als eine verklärende Romantisierung.

Wie schwierig die Akzeptanz des Kundenbegriffes dennoch ist, zeigt eine Erhebung des ärztlichen Nachwuchses aus dem Jahr 2012 [514]. Über 80 % der befragten Studenten lehnten den solitären Kundenbegriff ab, wobei 31 % eine Kundenrolle durchaus einräumten, wenngleich nicht als alleiniges Beschreibungskriterium [514]. Daran wird deutlich, dass eine klare Festlegung schwierig vorzunehmen sein wird.

Am Ende bleibt doch die Frage, inwieweit es hier um krude Semantik und Begrifflichkeiten geht. Von größerer Bedeutung ist jedoch das Verständnis, das die Beteiligten – auch die Ärztinnen und Ärzte – von den Begriffen ‚Kunde‘ und ‚Patient‘ haben. Diesbezüglich lässt sich eine deutliche Veränderung hin zu der Sichtweise eines mündigen Patienten, der Rechte und Ansprüche hat, erkennen [511].

Ebenfalls sollte klar sein, dass gerade in der Akutversorgung der Kundenbegriff nicht vollends greifen kann [499]. In einer kritischen Situation hat der Patient keine Wahlfreiheit [499]. Dies ist eines unter mehreren anzuführenden Argumenten, die eine bloße Begriffsübernahme des Terminus ‚Kunde‘ aus der Betriebswirtschaft erschweren.

Stefan Etgeton beschreibt seine Sicht zu dieser Diskussion wie folgt [515]:

„Ohne ein entspanntes Verhältnis zur Kundenposition im Gesundheitswesen können die Belange und Interessen der Nutzerinnen und Nutzer auch in ihrer Rolle als Patienten, Versicherte oder Ratsuchende nicht angemessen wahrgenommen und zur Geltung gebracht werden.“

3.3 Patientenorientierung

Inhaltlich ist deutlich geworden, dass der Kundenbegriff auch im Gesundheitswesen angebracht ist. Ökonomisch argumentiert stellt die Kundenorientierung eines Unternehmens daher einen entscheidenden Schlüssel zum Erfolg dar [516].

Trotz der Ähnlichkeiten des Patienten in einem Krankenhaus zu einem Kunden in der freien Wirtschaft bestehen dezidierte Unterschiede, die von den Beteiligten im Gesundheitswesen betont werden [499]. Unterstützt wird diese Sichtweise durch diverse Nutzergruppen, die keinesfalls in der klassischen Kundenrolle zu fassen sind, z. B. Notfallpatienten, Kinder aber auch psychisch Erkrankte.

So scheint die Begrifflichkeit der Patientenorientierung im Bereich der Gesundheit umfassender und breiter zu sein, als sich auf die reine Kundenrolle zu beschränken [517, 518].

Dabei bedeutet Patientenorientierung (im Englischen patient centredness), dass sich jegliche therapeutischen und pflegerischen Maßnahmen an den individuellen Bedürfnissen des Patienten orientieren [519]. Relevante Teilaspekte dieser Sichtweise beinhalten sowohl die ‚Einbeziehung und Beteiligung‘ als auch die ‚Berücksichtigung der Selbstbestimmung‘ der Patienten [519].

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass hierbei sowohl die Mikro- als auch die Mesoebene adressiert werden [518]. Auf der Mikroebene wird unter dem Begriff Patientenorientierung eine individuell zugeschnittene Therapie und Pflege verstanden, die sich an den spezifischen Besonderheiten jedes einzelnen Patienten orientiert [518]. Eine Erkrankung, als Beispiel der Diabetes mellitus, hat zwar in Zeiten der Evidenzbasierten Medizin (EBM) eine leitliniengerechte Therapie zur Folge, die bei allen Patienten demnach gleich sein sollte, muss aber nicht zwangsläufig auch bei allen Patienten zu gleichen Ergebnissen führen.

Patientenorientierung auf der Mikroebene setzt nun genau dort an: In der Vergangenheit wurde die Therapie nach rein wissenschaftlichen und bedarfsorientierten Faktoren ausgewählt, um ein nach Evidenz optimales Ergebnis zu erzielen. Doch bringt das nach Studienlage beste pharmakologische Regime keinen Erfolg, wenn der Patient mit der Einnahme der Präparate, den Nebenwirkungen und einer notwendigerweise gleichbleibenden Adhärenz überfordert ist [520]. Patientenorientierung bedeutet in diesem Zusammenhang, dass, bevor eine Therapie geplant wird, die individuellen Patientencharakteristika wie Alter, Vorerkrankungen, soziale Situation, Beruf, finanzielle Ausstattung, Partnerschaftssituation uvm. in der Therapieplanung eine Berücksichtigung finden [518]. So kann nicht automatisch, nur weil in den Therapieleitlinien davon ausgegangen wird, die Gewichtsabnahme und Umstellung der Ernährung einfach vom Arzt angeordnet und antizipiert werden [521]. Es wird Patienten geben, die aus den vielfältigsten Gründen ihre Ernährungsgewohnheiten nur schwerlich ‚korrigieren‘ oder abändern werden [521].

Auch kann eine First-Line-Therapie nicht für jeden Patienten am besten geeignet sein, wenn er mit dieser überfordert ist und im schlimmsten Falle mit einer Malcompliance für ein Therapieversagen sorgt [520].

Insbesondere ärztliches Handeln ist klassischerweise stark an einer klinischen und wissenschaftlichen Evidenz ausgerichtet [522]. Multizentrische und großangelegte Studien mit tausenden von eingeschlossenen Patienten erforschen medizinische Therapien mit dem Ziel, diejenigen Therapien und Modalitäten zu finden, die die größte Heilungschance für die Erkrankten bringen [522]. Ein Beispiel hierfür ist die Onkologie [523].

Die klassische bedarfs- und krankheitsorientierte Sichtweise des behandelnden Arztes beinhaltet, die onkologische Erkrankung so effektiv wie möglich zu behandeln [523]. Der Erfolg sowohl für den Arzt als auch für den Patienten ist die Restitutio ad integrum. Dabei wählt der Arzt nach der aktuellen Studienlage die besten Therapien aus, die den größten Behandlungserfolg versprechen [523].

Im Gegensatz dazu analysiert eine patientenorientierte Therapie zuerst die spezifischen Bedürfnisse und Besonderheiten des Patienten und fragt nach dessen Wünschen [524, 525]. Hierbei steht demnach nicht der statistische Behandlungserfolg der Erkrankung im Mittelpunkt der Therapieentscheidung, sondern es werden die Wünsche und die individuelle Situation des Patienten in den Fokus gerückt [524].

Es hat auch handfeste und Outcome-relevante Folgen, den Patienten als Koproduzenten seiner Gesundheit, Mitentscheider und souveränen Partner in das Therapiekonzept miteinzubeziehen [519].

Die Meinung des Patienten über seine Therapie hat sogar zur Entwicklung eines eigenständigen Konzeptes – der sogenannten PROs (patient-reported outcomes) – geführt [519]. Nach einer Definition von Brandstetter und Kollegen sind „PROs Parameter zur Erfassung der Ergebnisqualität in Studien und Versorgungsroutine, die durch den Patienten selbst berichtet werden. Darunter fallen bspw. Instrumente zur Erfassung von Schmerzen, Symptomen, Zufriedenheit mit der Behandlung oder Adhärenz.“ [526].

Hierbei handelt es sich um gänzlich neue Sichtweisen auf die Güte einer medizinischen Behandlung. Therapieeffekte und -erfolge, die unter Studien- und Laborbedingungen erhoben werden, sind i. d. R. nicht mit den Ergebnissen in der täglichen Praxis gleichzusetzen [527].

Gibt es im Alltag kein enges Studienregime für Behandler und Patient, wird eine Behandlung häufig suboptimaler verlaufen als unter den strengen Kontrollen einer Studie [528]. Auch der Einzelfall, in dem eine Therapie aus den unterschiedlichsten Gründen erfolglos bleibt und in einer Studie nur eine minimale Zahlenwertänderung des statistischen Ergebnisses bewirkt, kann in der realen Situation existenziell sein, wenn der eigene Patient hiervon betroffen ist [512].

Der Gesetzgeber hat seit 2000 im Rahmen des Gesundheitsstrukturreformgesetzes damit begonnen, die Patientenbeteiligung und die Patientenorientierung auf der Mesoebene, insbesondere der Selbstverwaltung, mit GB-A und Krankenkassen zu stärken [529]. Das unter dem Begriff Patientenrechtegesetz bekannte „Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten“ aus dem Jahr 2013 hat die Ausrichtung des Deutschen Gesundheitssystems sogar im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) verankert [529, 530].

Die Autoren Nürnberg und Schneider fassen dies mit folgendem Statement zusammen [25]:

„Mehr Souveränität seitens des Patienten soll im Gesundheitssystem marktwirtschaftliche Mechanismen stärken, sodass aufgrund der erhöhten Selbstbestimmung des Patienten und seines flexibleren Nachfrageverhaltens von Krankenhausleistungen Leistung und Effizienz gesteigert und die Kosten reduziert werden können.“

Sibbel und Fischer (Bundesgesundheitsministerin a. D.) nehmen folgende Analyse vor [531]:

„Dieser forcierte Wandel basiert dabei auf der Annahme, dass die Förderung von Patientensouveränität eine wichtige Voraussetzung für die Verstärkung marktwirtschaftlicher Mechanismen im Gesundheitssystem darstellt. Erhöhte Selbstbestimmung des Patienten und Flexibilisierung des Nachfrageverhaltens entsprechend […] setzt Anreize zur Leistungs- und Effizienzsteigerung […] und soll somit Versorgungskosten reduzieren. In der Konsequenz soll hierdurch auch die ordnungspolitisch angestrebte Konsolidierung im Krankenhaussektor – als wesentlicher Kostenfaktor des Gesundheitssystems – weiter gefördert werden, wobei durch Patientensouveränität induzierte Auslastungs- und Profitabilitätsunterschiede zwischen einzelnen Leistungsanbietern Hinweise zur Zukunftsfähigkeit einzelner Kliniken geben sollen.“

Die patientenorientierte Ausrichtung der Akteure im Gesundheitswesen ist demnach eine klare Zielvorgabe des Gesetzgebers, der dadurch Veränderungen auf der Mesoebene durchsetzen möchte. Die Hinwendung zu den Bedürfnissen jedes einzelnen Patienten und die Anpassung der zu treffenden Maßnahmen von Ärzten und der Pflege ist dabei als ein Versuch hin zu einer individualisierten Medizin zu sehen.

4 Partizipative Entscheidungsfindung (PEF)

Aus den von Emanuel und Emanuel beschriebenen vier Beziehungsmodellen geht hervor, dass die Beantwortung der Frage, wer die letztendliche Entscheidung in einem medizinischen Behandlungsprozess trägt, auch unterschiedliche Rollenauffassungen widerspiegelt [484]. In zwei Veröffentlichungen aus den Jahren 1997 und 1999 beschreibt Charles et al. einen partnerschaftlichen, von beiden Interaktionsparteien – Arzt und Patient –gleichberechtigt ausgeübten Entscheidungsprozess, der in der wissenschaftlichen Literatur als Shared Decision Making Einzug gehalten hat [532, 533].

In der deutschsprachigen Literatur stellt die ‚Partizipative Entscheidungsfindung‘ (PEF) das entsprechende Pendant dar [534, 535]. In einem vereinfachten Kontinuum der Entscheidungsfindung und der Beziehungssituation bilden das paternalistische und das informative Modell die Extrempole, zwischen denen sich das Shared-Decision-Modell einfügt.

Nach Charles et. al sind vier Grundvoraussetzungen zu erfüllen, um von einem partizipativen Entscheidungsprozess sprechen zu können [532]:

  1. 1.

    Es gibt mindestens zwei Beteiligte, nämlich Arzt und Patient.

  2. 2.

    Arzt und Patient müssen gleichermaßen bereit sein zur PEF.

  3. 3.

    Arzt und Patient sind bereit, Informationen auszutauschen (Faktenwissen, biographische Daten etc.).

  4. 4.

    Es wird eine Entscheidung getroffen, die von Arzt und Patient getragen wird.

Diese Grundvoraussetzungen muten zunächst banal an. In Anbetracht des in den 1980er und 1990er Jahren gelebten Arzt-Patienten-Verhältnisses sind diese Einzelpunkte indes als eine echte Neuerung zu bewerten [485].

Der Wandel, der sich in diesem neuen Interaktionsmodell zwischen Arzt und Patient auf Mikroebene präsentierte, deutete sich im Vorfeld an [485]. Ausgehend von gesellschaftlichen Prozessen, einer sich entwickelnden Verbraucherbewegung, Selbsthilfegruppen und auch der gesetzgeberischen Neuformierung erstarkten die Patientenrechte [485, 534]. Die zunehmende Leistungsorientierung und das Mitspracherecht der Patienten in Form von Patientenvertretern auf Makroebene trugen dazu bei, dass sich auch im Kleinen die Verhältnisse anpassten [534]. Mit der Einführung des Patientenrechtegesetzes im Jahr 2013 wurden die Rechte und die Partizipation der Patientenschaft im Gesundheitssystem nochmals erweitert und konkretisiert [536].

Doch nicht nur diese gesellschaftlich-politischen Einflussfaktoren führten zu einer Veränderung in der Arzt-Patienten-Kommunikation. Auch die sich erweiternden operativen, interventionellen und pharmakologischen Therapiemöglichkeiten bei unterschiedlichen Erkrankungen ließen die Auswahl von medizinisch gleichwertigen Therapien größer werden [537].

Generell lässt sich bei unterschiedlichen Patienten- und Erkrankungskonstellationen ein Nutzen des angewandten SDM auf die Compliance sowie das Outcome und die Patientenzufriedenheit finden [538, 539]. Nebenwirkungen und Begleiterscheinungen von medizinischen Behandlungen werden oftmals als weniger schwer eingestuft bzw. besser hingenommen als ohne eine Mitbeteiligung bei der Therapieauswahl [540, 541].

Gleichwohl beinhaltet ein auf SDM ausgerichtete Interaktionsmodell auch häufigere Konsultationen und längere Gespräche [542].

Eine Grundvoraussetzung für die Teilnahme des Patienten am Entscheidungsprozess ist die Versorgung mit Informationen [543]. Angesichts der überwältigenden und einfachen Teilhabe an medizinischem Fachwissen durch Patienten entstehen neue Probleme [543]. Bestand in der Vor-Internet-Ära noch die Problematik, überhaupt an geeignete Informationen zu gelangen, sehen sich Patienten heute einer unüberschaubaren Informationsflut ausgesetzt [544].

Die angebotenen Informationen sind nicht selten frei von Fehlern und spezifischen Verfasserinteressen und Beeinflussungen [545]. Umso bedeutsamer ist es, dass der Arzt mit seiner wissenschaftlichen Grundausbildung verständliche, geeignete, seriöse und wertungsfreie Informationen an den Patienten weitergibt. Dennoch können durch ökonomische Zwänge bei einer durchschnittlichen ärztlichen Konsultation meist nicht alle Fragen beantwortet werden, weshalb Patienten oftmals ein ungestilltes Informationsbedürfnis zurückbehalten [546]. Es ist unwahrscheinlich, dass sich die strukturellen Gegebenheiten zu Gunsten einer längeren Arzt-Patienten-Konsultation verschieben. Vielmehr besteht hier die Möglichkeit, mit audiovisuellen, webbasierten und klassischen Broschüren Informationen an die Patienten weiterzugegeben, von deren Seriosität und Wertungsfreiheit der Arzt überzeugt ist [547, 548].

In einer Studie aus dem Jahr 1999 mussten Coulter et al. allerdings feststellen, dass die dort untersuchten Informationsbroschüren zu verschiedenen Erkrankungen oftmals ungenau, unzureichend und nicht wertungsfrei waren, obwohl sie von medizinischen Experten geprüft wurden [549]. Auch von Patientenseite wurden diese Informationsmaterialien als mangelhaft eingestuft [549].

Sogenannte Entscheidungshilfen dienen dazu bei gleichwertigen therapeutischen Optionen diese in einer Art Synopse für den Patienten besser vergleichbar zu machen [550, 551]. So werden sowohl die Häufigkeit und die Wahrscheinlichkeit von Risiken als auch der Therapieerfolg häufig grafisch herauskristallisiert, um es den Patienten zu erleichtern, die spezifischen Unterschiede bei ansonsten gleichwertigen Therapien zu erkennen [550]. An dieser Stelle wird deutlich, dass eine wissenschaftliche und neutrale Darstellung von Nöten ist, da diese Informationen dafür konzipiert sind, ein Für und Wider der einzelnen Therapieoptionen gegenüberzustellen und schlussendlich auch eine Entscheidung hervorzubringen [550, 552].

Eine regelmäßig aktualisierte Cochrane-Analyse mit mittlerweile über 33.000 eingeschlossenen Patienten und 115 Studien bestätigt, dass diese Entscheidungshilfen dazu führen, dass sich Patienten aktiver mit ihrer Erkrankung auseinandersetzen, das Wissen um die mögliche Therapie besser und konsistenter ist und sich ein besseres Arzt-Patienten-Verhältnis etabliert [553].

4.1 PEF in der Anästhesiologie

Im vorangegangenen Abschnitt wurde herausgestellt, dass ein auf Partizipation ausgerichtetes Kommunikationsverhalten Vorteile in der Qualität der Arzt-Patienten-Beziehung mit sich bringt, die Compliance verbessert, die Akzeptanz von Nebenwirkungen erhöht und einen Therapieerfolg sichern kann.

Es stellt sich nun die Frage, welchen Stellenwert das SDM in der Anästhesiologie haben könnte. Ein Charakteristikum des Fachgebietes ist schließlich die Behandlung des narkotisierten oder vital bedrohten Patienten, mit dem keine gewöhnliche Kommunikation möglich ist.

Bei genauerer Betrachtung ergibt sich dahingehend ein anderes Bild. Die Anästhesiologie als ein weites klinisches Fachgebiet ist nahezu prädestiniert für die Implementierung partizipativer Entscheidungsstrukturen für Patienten [15].

In allen vier Teilbereichen der Anästhesiologie – der Klinischen Anästhesie, der Intensivmedizin, der Notfallmedizin und der Schmerztherapie – findet das SDM einen Platz, wie nachfolgend verdeutlicht werden soll.

4.2 PEF in der Prämedikationsambulanz

Die Frage, inwieweit Patientinnen und Patienten in der Prämedikationsambulanz eine partizipative Entscheidungsstruktur wünschen, ist bisher zumindest im Hinblick auf klinische Daten auf breiter Basis spezifisch noch nicht erforscht worden. In einer Arbeit von Spies und Kollegen aus dem Jahr 2006 wurden insgesamt 241 Patienten, verteilt in zwei Gruppen, untersucht [554]. Die eine Gruppe beinhaltete chronische Schmerzpatienten und die andere Gruppe Patienten der Prämedikationsambulanz [554]. Es wurden das Informations- und Autonomiebedürfnis und die erhaltene Beteiligung am Behandlungsprozess untersucht [554].

Der klassische Patient der Prämedikationsambulanz ist in der Regel einer von vielen Patienten, die eng getaktet möglichst rationell in der Prämedikationsambulanz versorgt werden müssen.

In der Studie von Spies et al. wurde herausgefunden, dass das Informationsbedürfnis und das Bedürfnis nach Beteiligung bei den Patienten der Prämedikationsambulanz vergleichbar waren mit den Bedürfnissen von chronischen Schmerzpatienten, denen generell ein hohes Informationsbedürfnis zugesprochen wird [554].

Bei den präoperativen Patienten waren es besonders weibliche Patienten mit einem höheren Bildungsniveau, die ein hohes Bedürfnis nach Information und Beteiligung am medizinischen Prozess wünschten [554]. Bei der Auswertung der von den Patienten wahrgenommenen Beteiligung zeigten sich Patienten der Prämedikationsambulanz deutlich unzufriedener als Patienten der Schmerzambulanz [554].

Eine weitere Studie aus dem Jahre 2013 zum Thema der Patientenbeteiligung im Prämedikationsprozess, in einem Matched-Pair Design (Anästhesist und Patient) [555]. Als Ergebnis wünschten 94 %, der insgesamt 197 eingeschlossenen Patientinnen und Patienten, einen partizipativen Entscheidungsprozess bezüglich des Narkoseverfahrens [555]. Die Autoren stellten zudem einen evidenten Einfluss von partizipativen Entscheidungsstrukturen auf Patientenzufriedenheit mit der Anästhesie fest [555].

4.3 PEF in der Klinischen Anästhesie

Die Klinische Anästhesie scheint auf den ersten Blick nicht der Ort zu sein, an dem Patienten realistisch und vernünftigerweise mitentscheiden können, da viele dort zu treffende Entscheidungen eher auf medizinischen Implikationen beruhen. Bei genauerer Betrachtung ist es jedoch auch hier möglich und notwendig, den Patienten gleichberechtigt einzubeziehen [556, 557].

Nichtsdestoweniger ist zu konstatieren, dass die Wahlmöglichkeiten aus medizinisch-fachlichen Gründen vom Anästhesisten oftmals schon vorausgewählt sein müssen. Doch hat der Patientenwunsch auch im klassischen Arbeitsfeld des Anästhesisten Einzug gehalten [555, 556]. Eine der häufigsten Wahlmöglichkeiten in diesem Bereich betrifft die Auswahl zwischen der Vollnarkose und der Regionalanästhesie [558].

Insbesondere viele orthopädisch-unfallchirurgische, ophthalmologische, dermatologische, gefäß- und visceralchirurgische Eingriffe sind mit den modernen Techniken der Regionalanästhesie und der neuroaxialen Blockaden möglich [559]. Darüber hinaus sind diese Anästhesieformen häufig besser verträglich, risikoärmer und komfortabler für den Patienten [560]. Bei Hochrisikopatienten mit relevanten Vorerkrankungen stellen regionale Anästhesieverfahren häufig die einzig sichere Narkoseform dar und sind unter Umständen sogar obligat, da andernfalls ein zu großes Narkoserisiko durch eine Allgemeinanästhesie nicht zu vertreten wäre [561].

Ein Beispiel für ein solches Szenario ist die Augenheilkunde: Dort sind häufig hoch betagte und multimorbide Patienten mit einem ungünstigen Risikoprofil und einem damit verbundenen hohen Anästhesierisiko anzutreffen [562]. In diesen Fällen bietet sich die lokale Retrobulbär- und Tropfanästhesie des Auges an, die praktisch ohne relevante systemische Nebenwirkungen bleibt [562].

Überall dort, wo anästhesiologisch sowohl die Allgemeinanästhesie als auch ein regionales Verfahren möglich sind ist Raum für eine partizipative Entscheidungskultur [555].

Anders als bei einem rein informativen Arzt-Patienten-Modell beinhaltet das SDM die klassischen Elemente des interpretativen und deliberativen Arzt-Patienten-Verhältnisses, bei dem neben der fachlichen Beratung und einer gemeinsamen Entscheidung auch die Präferenz und Empfehlung des Arztes Teil dieser Entscheidung sind (siehe Abschnitt 9.2). Der erfahrene Anästhesist kann im Gespräch einschätzen, ob der Wunsch des Patienten nach einer Regionalanästhesie und damit der Wachheit während des operativen Eingriffs zu diesem Patienten auch tatsächlich passt. Am Ende sollte eine von beiden Seiten vertretene Entscheidung stehen, in der die Wünsche des Patienten angemessen berücksichtigt sind (siehe Abschnitt 9.2).

Ein anderer Bereich der Klinischen Anästhesie charakterisiert sich jedoch seit jeher durch eine hohen Partizipationsrate der Patienten [557]. Das sensible Feld der Kinderanästhesie bedarf einer hohen Empathie und hervorragender Kommunikationsfähigkeiten seitens des Anästhesisten [557, 563].

Unabhängig davon, ob es sich um eine lebensbedrohliche oder um eine banale Erkrankung handelt, stellt die Notwendigkeit einer Operation mit einer erforderlichen Vollnarkose des eigenen Kindes für viele Eltern eine ungewohnte und beängstigende Situation dar. Dementsprechend war es schon in den Anfängen der Kinderanästhesie üblich, Eltern in den anästhesiologischen Behandlungsprozess miteinzubeziehen [557]. Die Begleitung des Kindes bis zur OP-Schleuse und das zügige Wiedersehen des Kindes im Aufwachraum sind Maßnahmen, um die Trennung des Kindes von den Bezugspersonen so kurz wie möglich zu halten [557, 564].

Heute mehr denn je wollen Eltern in alle Belange der Anästhesie des Kindes integriert werden. Dabei steht die Frage im Vordergrund, wann sie ihr Kind nach der Operation wiedersehen können. Aus hygienischen, versicherungstechnischen aber auch ablauftechnischen Gründen war die Präsenz der Eltern in der Anästhesieeinleitung in der Vergangenheit unvorstellbar. Diese Situation hat sich in vielen Anästhesieabteilungen jedoch bereits geändert und wird in Zukunft eher zu einer Normalität werden [565, 566].

4.4 PEF in der Anästhesiologischen Intensivmedizin

Im Bereich der Intensivmedizin fallen zuerst schwer kranke Patienten auf, die häufig nur durch technische und pharmakologische Maßnahmen am Leben gehalten werden [567]. Mit der rapiden Entwicklung in Medizin, Technik und Pharmazie sind immer mehr Grenzsituationen zwischen Leben und Tod entstanden, die eine aktive Entscheidung verlangen [568].

Es ist der sprichwörtlich schmale Grat von medizinisch und technisch Machbarem und dem, was als sinnvoll und ethisch richtig betrachtet wird, der hauptsächlich durch das medizinisch und technisch Machbare immer breiter geworden ist Ärztinnen und Ärzte, Patientinnen und Patienten treten immer öfter einer Gesamtkonstellation gegenüber, in der eine Restitutio ad integrum nicht möglich ist, der natürlich Tod aber durch die einmal begonnene intensivmedizinische Therapie auch nicht mehr eintreten kann [569]. Der Arzt mit seinem Berufsethos, Leben zu erhalten und zu schützen, gerät hierbei in ein Dilemma. End-of-Life-Entscheidungen gehören zu den schwierigsten und fundamentalsten Entscheidungen, die Ehepartner, Eltern, Kinder oder Geschwister für ihre Angehörigen treffen können [570].

Eine aktive Sterbehilfe existiert in Deutschland nicht; der Graubereich, der als ‚passive Sterbehilfe‘ bezeichnet wird und im klinischen Alltag gebräuchlich ist, beinhaltet Unterlassungen von neuen Therapien, Therapiezieländerungen, Therapiebegrenzungen und Therapiereduktionen [571].

So einfach es heutzutage mit dem Wissen über Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht oder dem gerichtlichen Betreuungsverfahren scheint, diese Frage zu beantworten, so kritisch müssen sich Ärztinnen und Ärzte vor Augen führen, wie sie oder ihre Kollegen dies beispielsweise noch in den 1990er Jahren entschieden haben, wo es diese gesetzlichen Patienten- und Angehörigenrechte noch nicht gab [572, 573]. Die Intensivmedizin in ihrer hohen fachlichen und technischen Spezialisierung gehört zu den fortschrittlichen und anspruchsvollen Bereichen der Anästhesiologie [574]. In keinem anderen Teilbereich ist ein derartiger Wissenszuwachs und Fortschritt in den Therapiemöglichkeiten zu verzeichnen [574]. Für medizinische Laien ist das Verständnis dieses Fachbereichs jedoch auch besonders schwierig, zum einen, weil in der Intensivmedizin ein ganzheitliches physiologisches Verständnis des menschlichen Organismus in Kombination mit den neuesten technischen und pharmakologischen Therapiealgorithmen gefragt ist, und zum anderen angesichts der Tatsache, dass die intensivmedizinische Therapie nicht regelmäßig benötigt wird, sondern nur bei schwerer Krankheit obligat wird [575, 576].

Der medizinische Laie kommt deshalb nur selten mit der Intensivstation und mit Intensivmedizinern in Kontakt. Das Wissen um künstliches Koma, künstliche Ernährung, Nieren- und Leberersatzverfahren, maschinelle Beatmung sowie Transfusions- und Gerinnungstherapie ist nur gering vorhanden [576].

Während früher der Mediziner eine Therapiefortführung oder -unterbrechung nach seinen eigenen ethischen, moralischen und teilweise auch religiösen Wertvorstellungen entschieden hat, vertreten heute immer stärker die Angehörigen stellvertretend die Wünsche und den Willen des betroffenen Patienten [577, 578]. Dies führt zu Konstellationen, in denen rein wissenschaftlich und sachlich betrachtet eine Therapiefortführung bzw. Therapieausweitung sinnvoll wäre, die Angehörigen aber aus persönlichen Gründen keine weitere Therapie mehr wünschen, was das Ableben des Patienten zur Folge hätte [569]. In dieser Konstellation stehen auf der einen Seite die Interessen des Intensivmediziners, der heilen und Leben verlängern möchte, und auf der anderen Seite die privaten und persönlichen Interessen der Angehörigen [569, 571].

In diesem Kontext kann das SDM eine Brücke schlagen und Zufriedenheit mit der getroffenen Entscheidung sowohl bei den Angehörigen als auch bei den behandelnden Ärzten hervorrufen. Die Entscheidung, einen geliebten Menschen bzw. einen eigenen Patienten zu verlieren, ist eine der schwersten, die Ärzte bzw. nahe Angehörige treffen müssen [579, 580].

Wird eine solche Entscheidung nach ausgiebiger Diskussion von beiden Seiten einvernehmlich getroffen, tragen auch beide Seiten die Verantwortung hierfür. Eine solche Entscheidung wird für den engagierten Intensivmediziner jedoch besser tragbar, wenn er weiß, dass sie auf dem Wunsch des Patienten und dessen Angehöriger beruht. Umgekehrt können Angehörige die Entscheidung, eine Therapie nicht mehr fortzuführen, mit weniger Schuldgefühlen und Zweifeln ob der Richtigkeit akzeptieren, wenn sie vom Experten auch fachlich gesehen als eine richtige betrachtet wird [580]. Eine besondere Intensität und Dramatik bedeutet die End-of-Life-Entscheidung bei pädiatrischen Patienten [581].

Bei allen Entscheidungen am Lebensende ist eine Begegnung auf Augenhöhe zwischen Arzt und Patient bzw. dessen Angehörigen elementar [575]. Dies ist geradezu ein Paradebeispiel für partizipative Entscheidungen in der gesamten Medizin. Die Fähigkeit zu solch einer Betreuung der Angehörigen wird zunehmend auch als ein Qualitätsmerkmal für einen guten Intensivmediziner gesehen [582].