1 Warum schweigen Polizisten, wenn sie reden sollen (und wollen)?

Professionelle Beobachter von Polizeiarbeit in zahlreichen Regionen der modernen GesellschaftFootnote 1 – sozialwissenschaftliche Polizeiforscher ebenso wie Juristen, Journalisten oder die Mitglieder parlamentarischer Untersuchungsausschüsse – haben in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder den Befund geäußert, dass unter Polizisten ein so genannter ‚Korpsgeist‘ stark verbreitet sei (9.2). Dieser Korpsgeist in Polizeibehörden wird dann auch als zentrale Ursache dafür angeführt, dass Polizisten regelmäßig bereit sind, durch Falschaussagen in Ermittlungs- und Strafverfahren selbst Straftaten zu begehen, um die Strafverfolgung ihrer Kollegen etwa wegen Körperverletzung im Amt, Strafvereitelung im Amt, Verfolgung Unschuldiger oder Vorteilsnahme (Korruption) zu verhindern.Footnote 2

Die in den Sozialwissenschaften übliche Erklärung für die als ‚Korpsgeist‘ bezeichnete überdurchschnittlich stark ausgeprägte Berufsgruppensolidarität unter Polizisten wird mit dem Konzept der Gefahrengemeinschaft formuliert: Die Tatsache, dass Polizisten regelmäßig in Situationen geraten, in denen ihre physische Unversehrtheit bedroht ist, führt dieser Erklärung zufolge zu der Etablierung starker Solidaritätsnormen unter Polizisten (9.3). Mit dieser Fokussierung auf die physische Gefährdung des Polizisten – so eine zentrale These dieses Kapitels – übernimmt die sozialwissenschaftliche Literatur jedoch vorschnell und unkritisch die Selbstbeschreibung des Polizeiberufs als „nah am Tode“ (Weinhauer 2003, S. 111). Übersehen wird so ein für Polizeiarbeit unter den Bedingungen institutionalisierter Rechtsstaatlichkeit bedeutsameres Risiko, nämlich das Risiko, im Zuge polizeilicher Einsätze Rechtsfehler zu begehen, für die der einzelne Polizist zur Verantwortlichkeit gezogen werden kann. Auf dieses Risiko des Rechtssubjekts reagiert der in diesem Kapitel rekonstruierte Mechanismus der Berufsgruppe als einer informalen Versicherungsgemeinschaft: Polizisten schweigen und lügen zugunsten ihrer Kollegen, weil und insofern sie ihrerseits auf das Schweigen und Lügen ihrer Kollegen angewiesen sind, um etwa Anklagen wegen Körperverletzung oder Strafvereitelung im Amt zu verhindern.

Das Konzept der Berufsgruppe als einer informalen Versicherungsgemeinschaft gegen individuell zurechenbare Fehler bei der Arbeit expliziere ich in diesem Kapitel zunächst allgemein in Anschluss an eine vor allem auf Everett C. Hughes (1951) zurückgehende Thematisierung professioneller Arbeit (9.4). In Anschluss daran werden Merkmale polizeilicher Arbeit identifiziert, die erklären können, warum polizeiliche Berufsgruppen typisch stärkere Solidaritätsnormen hervorbringen als etwa Gruppen von Sekretären, Wissenschaftlerinnen oder Journalisten (9.59.7). Um das Phänomen des solidarischen Schweigens und Lügens unter Polizisten, dessen Beschreibung und Erklärung das Ziel dieses Kapitels ist, zu veranschaulichen, seien jedoch zunächst vier Fälle aus der jüngeren Vergangenheit der Bundesrepublik genannt.

Dessau (Sachsen-Anhalt), Januar 2005: Oury Jalloh, ein Asylbewerber aus Sierra Leone, wird von Polizisten in der Stadt aufgegriffen und zum Polizeirevier gebracht, weil er zwei Frauen belästigt haben soll und sich nicht ausweisen kann. Er ist stark alkoholisiert und wird über Nacht in Gewahrsam genommen. Im Laufe der Nacht bricht in Jallohs Zelle ein Feuer aus, die Matratze fängt Feuer und der auf ihr liegende, an Armen und Beinen gefesselte Mann ist laut Gutachtern spätestens zwei Minuten später verstorben.

Im Zuge mehrerer Ermittlungs- und Strafverfahren werden zwar zahlreiche Indizien angesammelt, die darauf hindeuten, dass Polizeibeamte den Tod von Jalloh sei es gezielt herbeigeführt, sei es nicht verhindert haben; eindeutig aufgeklärt werden konnte der Tathergang bislang jedoch nicht. Den zentralen Grund dafür sieht der zuständige Richter des Landgerichts Dessau-Roßlau Manfred Steinhoff ungewohnt deutlich in der „Schlamperei“ und den „Falschaussagen der Beamten“: „Wir hatten nicht die Chance auf ein rechtsstaatliches Verfahren, auf die Aufklärung des Sachverhalts“.Footnote 3

Schönfließ (Brandenburg), Dezember 2008: Berliner Zivilfahnder erhalten einen Hinweis zum Aufenthaltsort des 26-jährigen Dennis J., der zu 13-Monaten Haft verurteilt worden war, die Haft nicht angetreten ist und deshalb zur Fahndung ausgeschrieben war. Die Polizisten treffen den jungen Mann wie erwartet am Steuer seines Autos an, dann – so das vor Gericht später verwendete Gutachten in Übereinstimmung mit diversen Zeugenaussagen – schießt einer der Polizisten aus kurzer Distanz insgesamt achtmal auf den nicht bewaffneten Dennis J., der erste Schuss ist tödlich.

Die beiden Kollegen des Schützen, die sich zum Zeitpunkt der Schüsse in unmittelbarer Nähe befanden, sagen im Ermittlungsverfahren aus, aufgrund lauter Silvesterböller nichts von den Schüssen mitbekommen zu haben. Nicht nur für den zuständigen Richter ist auf Grundlage weiterer Zeugenaussagen offensichtlich, dass die Polizisten mit ihrer Aussage ihren Kollegen schützen wollen, weshalb sie wegen versuchter Strafvereitelung im Amt zu Geldstrafen verurteilt werden. Der Schütze erhielt eine zweijährige Haftstrafe auf Bewährung und musste deshalb den Polizeidienst verlassen.Footnote 4

Herford (Ostwestfalen), Juni 2014: Im Zuge einer Verkehrskontrolle kommt es zu einer Auseinandersetzung zwischen einem 39-jährigen Polizisten und einem gleichaltrigen Autofahrer. In einem auch auf YouTube einsehbaren Video des Einsatzes (gefilmt von der Kamera im Streifenwagen) ist zu sehen, dass einer der die Personenkontrolle durchführenden Polizeibeamten aus für den Betrachter nicht ersichtlichen Gründen dazu übergeht, auf den Autofahrer einzuschlagen und Pfefferspray gegen ihn einzusetzen.

Dieses Video aber taucht erst im Zuge der Hauptverhandlung gegen den Autofahrer auf, der von dem schlagenden Polizisten zuvor wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte angezeigt worden war. Zuvor hatten die mit dem Ermittlungsverfahren gegen den Autofahrer beauftragten Polizisten ebenso wie die in der Situation anwesenden Polizisten einiges Geschick investiert, um die Version ihres Kollegen zu unterstützen: Zwar legten sie der Staatsanwaltschaft mit der Ermittlungsakte ordnungsgemäß auch das Video vor, wählten die Standbilder (‚Screenshots‘) aus dem Video aber doch so aus, dass ein Fehlverhalten ihres Kollegen darauf nicht ersichtlich war und die vor Ort anwesenden Polizisten sehen keinen Anlass, das im späteren Gerichtsverfahren auf Grundlage des Videos eindeutig als Körperverletzung im Amt kategorisierte Handeln ihres Kollegen bei Vorgesetzten oder der Justiz zu melden. Der Polizist wurde zunächst vor dem Amtsgericht Herford zu 15 Monaten Haft verurteilt und aus dem Dienst entlassen, nach einem Geständnis im Zuge der Berufungsverhandlung vor dem Landgericht Bielefeld wurde die Strafe auf 11 Monate auf Bewährung reduziert.Footnote 5

Jever (Ostfriesland), Dezember 2016: Polizisten führen eine Personenkontrolle bei den Besuchern einer Kneipe durch. Der 63-jährige ehemalige Rechtsanwalt Willemsen verlässt die Kneipe und geht auf einen Polizeibeamten zu. Nach Aussagen zahlreicher Zeugen stößt der Polizist den Mann kräftig mit beiden Händen gegen die Brust, der Mann stürzt, verletzt sich schwer am Kopf und verstirbt noch am gleichen Tag an den Folgen des Sturzes. Von den befragten Polizisten bestätigt nur einer die Version der nicht polizeilichen Zeugen. Die übrigen Polizisten rekonstruieren das Geschehen als unglücklichen Unfall: Ihr Kollege habe den Bürger lediglich mit einem Arm auf Abstand halten wollen, dann sei der Mann ohne weitere Gewaltanwendung gestürzt. Die Staatsanwaltschaft stellt das Ermittlungsverfahren gegen den Polizisten ein.Footnote 6

Während der zuerst genannte Fall aus guten Gründen bis heute Thema massenmedialer Berichterstattung ist, erregen Fälle wie derjenige aus Herford oder Jever allenfalls kurzzeitig ein überregionales Interesse. Diese Fälle aber veranschaulichen sehr gut die Alltäglichkeit polizeilicher Rechtsfehler und es scheint mir gewinnbringender, das soziologisch Bedeutsame der Mistakes at WorkFootnote 7 im Polizeiberuf von diesen ganz normalen Einsatzsituationen her zu denken und zu analysieren, als auf den Effekt der spektakulären polizeilichen Fehlleistung zu setzen, wie es der Tendenz nach Sven Opitz (2015; Opitz 2012, S. 300–307) in seiner Analyse eines Einsatzes, bei dem Londoner Polizisten im Juli 2005 Jean-Charles De Menezes fälschlich als Terroristen kategorisiert und erschossen haben, getan hat – wobei natürlich wie immer nichts dagegen spricht, beides zu tun und am Ende dann im Idealfall Alltag und Ausnahme befriedigend beschreiben und erklären zu können.

Die genannten und zahlreiche weitere Fälle verbindet jedenfalls eine sehr ähnliche Abfolge von Sequenzen miteinander: Polizisten beginnen mit der Durchführung einer rechtmäßigen Maßnahme (Festnahme, Personenkontrolle, Wohnungsdurchsuchung usw.), dann ‚entgleist‘ die Situation. Es kommt zu Handlungen, die spätere Beobachter eindeutig als unrechtmäßig einschätzen und in den meisten Fällen ist davon auszugehen, dass auch die beteiligten Polizisten bereits vor Ort die rechtliche Problematik des Handelns realisieren. Mir geht es in Hinblick auf Fälle dieser Art nicht um das polizeiliche Fehlverhalten an sich, sondern um die Bereitschaft der in der Situation als Zeugen anwesenden Polizisten, zugunsten ihrer Kollegen zu Schweigen und zu Lügen, und zwar auch dann, wenn beispielsweise aufgrund der Anwesenheit weiterer Augenzeugen das Risiko besteht, dafür selbst wegen Strafvereitelung im Amt verurteilt zu werden. Warum also sind Polizisten regelmäßig dazu bereit, selbst Straftaten zu begehen, um Ermittlungs- oder Strafverfahren gegen Kollegen zu be- oder verhindern?

Der Fokus (das ‚Explanandum‘) dieses Kapitels sind also nicht polizeiliche Rechtsfehler als solche, sondern das formal illegale Schweigen von Polizisten angesichts eines eindeutigen und folgenreichen Rechtsfehlers ihrer Kollegen. Wer deshalb enttäuscht ist und sachlich umfassender über illegale Handlungen von Polizistinnen und Polizisten in der heutigen Bundesrepublik informiert werden möchte – also nicht nur über illegales Schweigen und Lügen, sondern auch über illegales Schlagen, Schießen und Beweismittelvernichten – könnte einen Blick in die kürzlich unter dem Titel „Polizeiliche pro-organisationale Devianz. Eine Typologie“ erschienene Dissertationsschrift von Elena Isabel Zum-Bruch (2019) werfen. Auch diese Lektüre dürfe nicht frei von Enttäuschungen bleiben: Faktisch typologisiert die Autorin nicht polizeiliche Fehler, sondern Aussagen, mit denen Polizisten in Interviews mögliche Fehler legitimieren, „keine Handlungen“ also, sondern „Rechtfertigungen“ von (rechtlich fehlerhaften) Handlungen (so dann anders als im Titel im Text auch die Autorin selbst, hier S. 4).Footnote 8

Zum Gang der Argumentation dieses Kapitels

Die in diesem Kapitel aufgenommene Suche nach den sozialen Mechanismen, die polizeiliches Lügen und Schweigen zugunsten der Kollegen so zuverlässig produzieren, beginne ich mit einer Rekonstruktion der empirischen Forschungsarbeiten zum Thema (9.2). Diesen Arbeiten lassen sich zwar einige Hinweise darauf entnehmen, welche Arten von polizeilichen Straftaten – Fehlern bei der Arbeit im Sinne eines eindeutig unrechtmäßigen Handelns von Polizeibeamten im Dienst – durch andere Polizisten in welchem Umfang gedeckt werden. Zugleich teilen die vorliegenden empirischen Arbeiten einige methodische und theoretische, deskriptive und normative Schwächen miteinander, deren Explikation und Diskussion ein Nebenertrag der folgenden Analyse ist. In Anschluss daran befrage ich die soziologische Literatur auf Erklärungsangebote zum Phänomen starker (Berufs-)Gruppensolidarität (9.3). Oft wird die besonders starke Ausprägung von Berufsgruppensolidarität bzw. Kollegialität in der Form von Kameradschaft damit erklärt, dass Polizisten – und neben ihnen etwa Soldaten oder Bergmänner – als Mitglieder einer Gefahrengemeinschaft einer gemeinsamen physischen Bedrohung ausgesetzt sind, die sie nicht nur als Rollenträger, sondern als ganze Personen bedroht (vgl. aus der neueren Literatur etwa Kühl 2014, S. 152 ff.).

Ich ergänze und relativiere diese Erklärung im zweiten Teil dieses Kapitels mit der These, dass polizeiliche Berufsgemeinschaften nicht in erster Linie als Gefahrengemeinschaften, sondern als Versicherungsgemeinschaften integriert sind (9.49.7). In Anschluss an professionssoziologische Überlegungen von Everett Cherrington Hughes (1951) argumentiere ich, dass die Tatsache, dass Polizisten im Rahmen der Durchführung ganz normaler Polizeiarbeit mit hoher Wahrscheinlichkeit und Regelmäßigkeit vor den Augen ihrer Kollegen folgenreiche Rechtsfehler begehen, die zentrale Ursache dafür ist, dass Polizisten in der Regel nicht zu einer Aussage gegen ihre Kollegen, durchaus aber zu einer Falschaussage zugunsten ihrer Kollegen bereit sind. Polizisten schweigen und lügen zugunsten ihrer Kollegen nicht in erster Linie aufgrund ihrer Identifikation mit einem ideologisch bzw. normativ integrierten ‚Polizeikorps‘, sondern, weil sie ihrerseits auf das Schweigen und Lügen ihrer Kollegen angewiesen sind, um eine Anklage wegen Straftaten wie Körperverletzung oder Strafvereitelung im Amt zu vermeiden. Die berufsbezogene informale Versicherungsgemeinschaft ist damit ein besonderer Fall des allgemeinen Mechanismus der Versicherung: Versicherungen – unabhängig davon, ob sie diesen Namen tragen und ob sie ihre Funktion manifest oder latent erfüllen – kompensieren die Unsicherheit der zukünftigen Gegenwart (ein Polizist im Streifendienst könnte morgen bei einem Einsatz einen schwerwiegenden Fehler begehen) durch Sicherheit in der gegenwärtigen ZukunftFootnote 9 (er weiß, dass seine Kollegen für ihn da sein werden, sollte es so kommen). In Anschluss an diese Analyse der Genese und Stabilität starker Berufsgruppensolidarität unter Polizisten lassen sich auch einige normativ bedeutsame Schlussfolgerungen zu den Möglichkeiten und Grenzen der (Selbst-)Kontrolle von Polizeiarbeit ziehen, die ich im letzten Abschnitt des Kapitels skizziere (9.8).

Zur Funktionsweise von berufsbezogenen Versicherungsgemeinschaften

Versicherungsgemeinschaften sind nicht für jede Form von (beruflichen) Tätigkeiten gleichermaßen erforderlich. Aus Sicht der sich durch Handeln engagierenden Berufsrollenträger sind sie vor allem dort schwer verzichtbar, wo regelmäßig Situationen auftreten, in denen der Einzelne die Resultate seiner Handlungen nicht in der Hand hat, wo es ihm also an ‚Technologie‘ fehlt, um seine Handlungsprobleme auf eine auch aus Sicht seiner Umweltpartner brauchbare Weise – also insbesondere in (dargestellter) Konformität zu den formalen Regeln – zu lösen.

Der einzelne Berufsrollenträger versichert durch seine Mitgliedschaft in der Gemeinschaft die Gefahr des Entgleisens der Situation und transformiert diese im Fall einiger Berufe nicht zu beseitigende Gefahr so in ein für ihn schon leichter tragbares Risiko. Die Schwäche einer solchen informalen Versicherungsgemeinschaft besteht darin, dass sie – im Gegensatz zu formal legalen Formen der Fehlertoleranz – kaum in der Lage ist, aus ihrem Kreis solche Mitglieder auszuschließen, die ihre Mitgliedschaft dazu nutzen, Situationen gezielt zum Entgleisen zu bringen, etwa im Fall exzessiver Polizeigewalt. Die Chance „unbestrafter Unmenschlichkeit“ (Anders 1997, S. 185; vgl. Weißmann 2015a), die Polizisten und andere Mitglieder der staatlichen Verwaltung in politischen Systemen wie dem Nationalsozialismus für sich zu nutzen wussten, bietet sich in kleinerem Umfang und mit größeren Anforderungen an der Verschwiegenheit der kollegialen Nahgruppe deshalb prinzipiell auch Polizisten in gut funktionierenden Rechtsstaaten.

Den zentralen Vorzug der in diesem Kapitel vorgeschlagenen Beschreibung und Erklärung polizeilicher Solidarität als einem besonderen Fall des allgemeinen Mechanismus der ‚Versicherung‘ sehe ich darin, sichtbar zu machen, dass die grundlegende Gefahr, gegen die sich Polizisten durch ihre informale (Zwangs-)Mitgliedschaft im Kreis ‚zuverlässiger‘ Kollegen absichern, prinzipiell auch in Hinblick auf viele andere Berufsgruppen beobachtet werden kann. Auf den zweiten Blick geraten dann zahlreiche Variablen in den Blick, in Bezug auf die sich der Polizeiberuf von anderen Berufen deutlich unterscheidet: Die Häufigkeit entsprechender Gefahrensituationen (die Chance, einen folgenreichen Fehler zu begehen) ist größer als in den meisten anderen Berufen, ebenso das Interesse Dritter an der Richtigkeit des beruflichen Handelns (hier also an der Rechtmäßigkeit polizeilicher Maßnahmen insbesondere dort, wo Polizisten als Teil der ‚eingreifenden Verwaltung‘ handeln), der Grad der Öffentlichkeit der Fehlleistung innerhalb des Kollegiums und die Schadenshöhe (die Folgen für den einer Straftat überführten Polizisten) sind höher – und deshalb ist es auch der Preis, den der einzelne Polizist für seine Mitgliedschaft in der Versicherungsgemeinschaft zu zahlen bereit ist. Dieser Preis umfasst im Fall der polizeilichen Berufsgruppe nicht lediglich die Bereitschaft, Kollegen in ihrem Handeln zu unterstützen und ihre Fehler gegenüber Dritten wohlwollend zu kommentieren, sondern die deutlich darüber hinausgehende Bereitschaft, zum Schutz von Kollegen selbst Straftaten insbesondere in Form von Falschaussagen gegenüber gemeinsamen Vorgesetzten, internen Ermittlern, Staatsanwälten oder Richtern zu begehen (Strafvereitelung im Amt).

Würde man die Worte „Gesellschaft“ und „Gemeinschaft“ als Begriffe in Anschluss an die klassische Unterscheidung von Ferdinand Tönnies verwenden, müsste man wohl sagen, dass polizeiliche Berufsgruppensolidarität eher ein Fall von „Gesellschaft“ als von „Gemeinschaft“ ist:Footnote 10 Der einzelne Polizist ist im Normalfall nicht geneigt, sich dem Kollektiv ‚Staat‘ oder ‚Polizei‘ oder ‚Dienstgruppe‘ als Mittel zur Verfügung zu stellen und sich persönlich und untrennbar mit der ‚Großfamilie‘ oder ‚Bruderschaft‘ Polizei zu identifizieren. Eher sieht der einzelne Polizist in dem fraglichen Kollektiv ein Mittel zu dem Ziel, seinen Beruf langfristig ohne persönlichen Schaden ausüben zu können.

Die immer wieder, etwa auch in dem in vielen Teilen sehr informativen, aber eben auch nah am Selbstverständnis der Polizisten bleibenden Bericht von David Simon (1991) über die Mordermittler aus Baltimore in den 1990er Jahren, lesbare Beschreibung der Polizei als sei es intakter, sei es sich in der Krise befindlicher ‚Familie‘ oder ‚Bruderschaft‘ führt deshalb in die Irre. Die Gesamtmenge der Polizeibeamten (der Welt, eines Staates, einer Stadt, einer Dienststelle) hat wenig Ähnlichkeiten mit einer Familie und die Polizei wäre – gemessen an den Funktionen, die sie für das Rechtssystem der Gesellschaft erfüllt – auch keine bessere Polizei, wenn die Polizisten sich zueinander wie Familienmitglieder verhalten würden. Die hier vorgeschlagene Deutung polizeilicher Solidarität als einer Versicherungsgemeinschaft trägt dann auch einem Befund der klassischen Polizeisoziologie besser Rechnung, demzufolge Polizisten gerade kein besonders großes Vertrauen in beliebige Kollegen haben. Diese Diagnose, die dem insbesondere in Polizeifilmen, -romanen und -serien, aber auch in der sozialwissenschaftlichen Literatur gepflegten Klischee widerspricht, ist beispielsweise auch von Egon Bittner formuliert, aber nicht systematisch erklärt worden. Bei Bittner (1970, S. 64) heißt es:

„[…] the overriding rule that no one tells anybody else more than he absolutely has to. In consequence, solidarity is based mainly on, and limited to the perception of, some external risk to a unit, regardless whether this risk is located outside or inside the institution. Beyond that, every man and every part of the force is on its own.”

Nicht die bloße Tatsache – so würde ich diesen nicht nur von Bittner diagnostizierten Sachverhalt deuten – dass Alter Ego auch ein Polizist ist, macht ihn zu einem als vertrauenswürdig und zuverlässig kategorisierten Kollegen, sondern – so das hier zu entwickelnde Argument – erst seine Angewiesenheit auf die kollegiale Versicherungsgemeinschaft. Kurz: Die zentrale Grundlage polizeilicher Solidarität ist (antizipierte) wechselseitige Erpressbarkeit. Weil wechselseitige Erpressbarkeit in auf Dauer gestellten Dienstgruppen als Normalfall unterstellt werden kann – und der Neuling, wenn er einigermaßen vorbereitet und lernbereit ist,Footnote 11 schnell bemerkt, dass auch er in seinem Arbeitsalltag dem ganz normalen Berufsrisiko der folgenreichen Rechtsfehler bei der Polizeiarbeit ausgesetzt ist –, transformiert sich die Beziehung zu irgendeinem Kollegen schnell in eine vertrauensvolle Beziehung. Aber dieses Vertrauen reicht eben nur so weit, wie die (erwartete) Abhängigkeit Alter Egos von Egos Netzwerken reicht. Es erklärt sich nicht in erster Linie durch geteilte Werte oder die Erfahrung einer geteilten Bedrohungslage der eigenen physischen Unversehrtheit, sondern durch geteilte Abhängigkeiten in der Rolle als Rechtssubjekt: Polizeiliche Binnensolidarität ist kein Fall von ‚Kameradschaft‘ als einer Integration durch geteilte Bedrohungslagen und normative Überzeugungen, sondern von ‚Komplizenschaft‘ durch wechselseitige Abhängigkeiten und Erpressbarkeiten.

Die Grundlage der Vergemeinschaftung polizeilicher Dienstgruppen ist – so meine These – mithin das geteilte persönliche, also nicht auf die Berufsrolle isolierte, Interesse jedes einzelnen Polizisten, am Ende des Arbeitstages keinen Schaden als Rechtssubjekt genommen zu haben. Die damit zurückgewiesene oder jedenfalls relativierte These und faktisch folgenreiche Erzählung, die polizeiliche Dienstgruppen als Selbstbeschreibung anfertigen und Sozialwissenschaftler unter dem Begriff der ‚Gefahrengemeinschaft‘ übernehmen, tendiert dazu – so meine Kritik – ein für die meisten polizeilichen Berufsgruppen nachrangiges Phänomen (die physische Gefährdung des Einzelnen) als integratives Strukturmoment polizeilicher Berufsgruppen zu behandeln. Natürlich gibt es auch im Polizeiberuf physische Gefährdungslagen und natürlich sind sie für bestimmte polizeiliche Dienstgruppen – zum Beispiel für Spezialeinsatzkommandos oder für Dienstgruppen in Regionen der Weltgesellschaft mit einen ‚schwachen Staat‘ – durchaus zentral; aber – so meine grundlegende Überlegung – diese physische Gefährdungslage sollte von Sozialwissenschaftlerinnen nicht vorschnell zum Wesen des Polizeiberufs erklärt, sondern als Variable behandelt werden.

Den polizeilichen Korpsgeist als besonderen Fall des allgemeineren Phänomens beruflicher Versicherungsgemeinschaften zu verstehen, ermöglicht in deskriptiver Hinsicht eine andersartige Erklärung des Phänomens, die etwa auf die Behauptung kollektiv geteilter normativer Überzeugungen und einer übermäßigen physischen Gefährdungslage von Polizisten verzichten kann. In normativer Hinsicht führt dies zu einer weniger aufgeregten Beschreibung des Phänomens und dazu, dass die üblicherweise vertretene Auffassung, dass jedes polizeiliche Schweigen und Lügen zugunsten der Kollegen ein Schweigen zu viel ist, nicht mehr vorbehaltlos geteilt werden kann. Der Versuch, totale Regeleinhaltung herbeizuführen, würde auch die funktional notwendigen Handlungsfreiheiten und Sicherheiten der Polizisten beeinträchtigen. Berufsgruppen im Allgemeinen und gerade Berufe mit Technologiedefizit und Handlungszwang (Typ Polizei) müssen, so das im Verlauf des Kapitels zu begründende Argument, immer auch als „Versicherungsgemeinschaften“ fungieren, wenn ihre Mitglieder die sich ihnen stellenden Problemlagen erfolgreich bewältigen können sollen.Footnote 12

2 Die sozialwissenschaftliche Beobachtung: Ubiquität und Ausprägung des ‚Code of Silence‘ als informale Norm in polizeilichen Dienstgruppen

„The only rule [a police officer] must observe scrupulously is not to go against his kind.” (Egon Bittner 1970, S. 69)

Schon in den 1950er Jahren hat William Westley (1956, S. 255) im Rahmen seiner ethnographischen Untersuchung auf Grundlage einer kleinen empirischen Erhebung einen „code of secrecy“ in Polizeibehörden festgestellt.Footnote 13 Die fünfzehn von Westley befragten Polizisten gaben zu über 70 % an, zu einer Falschaussage zugunsten eines Kollegen bereit zu sein, der im Einsatz einem Bürger bei einer Personenkontrolle Geld entwendet. Die meisten der von Westley befragten Polizisten waren also eher dazu bereit, durch die Falschaussage ihrerseits eine Straftat zu begehen, als gegen einen Kollegen auszusagen – und dies auch dann, wenn sie das unrechtmäßige Verhalten des Kollegen scharf verurteilten, den unrechtmäßig handelnden Kollegen also für einen schlechten Polizisten hielten.

Wenn die Loyalität zur Gruppe der Kollegen und die Loyalität zum Recht in Konflikt geraten, hatten die von Westley befragten Polizisten mithin eine klare Präferenz für die Loyalität zur Gruppe und waren bereit, dafür auch das persönliche Risiko der Falschaussage in Kauf zu nehmen. Auch in seiner auf der Ethnographie der 1950er Jahre beruhenden, aber erst 1970 publizierten Monographie bezeichnet Westley (1970, S. 118) die „rule of secrecy“ als „the most powerful rule that the police maintain”. Gegen den ersten Anschein kann gerade in der kleinen Fallzahl ein Argument für diese These Westleys gesehen werden: Das zuvor gute Verhältnis des Soziologen zu den Polizisten kühlte merklich ab, nachdem sich in der Behörde herumgesprochen hatte, das Westley sich mittlerweile auch für den ‚Code of Silence‘ interessiert, weshalb Westley vor der Alternative stand, die Forschung abzubrechen oder die entsprechenden Fragen wieder aus seinen Interviews zu entfernen.

Spätere Untersuchungen von sozialwissenschaftlichen Polizeiforschern und politischen Untersuchungsausschüssen haben die Einschätzung Westleys stets bestätigt und teilweise präzisiert, teilweise aber auch den soziologischen Gehalt von Westleys Beobachtung durch eine Verengung des methodischen Zugangs auf quantitative Umfragestudien eher unkenntlich gemacht. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang die breit angelegte Untersuchung von Carl B. Klockars (2003, S. 17), die eine „worldwide prevalence of the code of silence“ auf Grundlage einer in vierzehn Ländern durchgeführten Umfragestudie zu belegen versucht. Den befragten Polizisten wurden verschiedene Szenarien polizeilichen Fehlverhaltens vorgelegt und sie wurden gebeten, einerseits zu beurteilen, ob es sich aus ihrer Sicht um einen schwerwiegenden Fehler handelt und andererseits einzuschätzen, ob sie selbst und ob ihre Kollegen ein solches Verhalten zur Anzeige bringen würden. In fünf der vierzehn Länder gibt die Mehrzahl der Polizisten an, in keinem der Szenarien zu einer Anzeige gegen den Kollegen bereit zu sein und auch in den übrigen Ländern sind es nur Straftaten von Polizisten im Dienst, die sich systematisch selbst bereicherten (Korruption, Diebstahl während eines Einsatzes), bei der sich eine Mehrzahl der Polizisten eine Anzeige vorstellen kann. Die Annahme kleinerer Gefälligkeiten, der Einsatz unrechtmäßiger Gewalt oder das Absehen von einer Anzeige gegen einen Kollegen, der außerhalb des Dienstes mit Alkohol am Steuer erwischt wurde, zählen dagegen in allen Ländern zu den Straftaten, bei denen Polizisten davon ausgehen können, nicht von ihren Kollegen angezeigt zu werden (Klockars 2003, S. 17).

Der auch von der Mollen Kommission – einer Kommission zur Untersuchung polizeilicher Korruption in New York – im Jahr 1994 beobachtete Code of Silence, „the unwritten rule that an officer never incriminates a fellow officer“ (Mollen et al. 1994, S. 51), kann also auf Grundlage der sozialwissenschaftlichen Forschung der vergangenen 70 Jahre als zentraler Bestandteil der informalen Erwartungsstruktur in Polizeibehörden bezeichnet werden. Darüber hinaus lässt sich den jüngeren Umfragestudien entnehmen, dass die Frage, ob Polizisten das illegale Handeln ihrer Kollegen als legitim ansehen, stark mit der Art des Fehlverhaltens variiert. Die Befragungen auf Grundlage von Szenarien polizeilichen Fehlverhaltens zeigen etwa, dass Polizisten ein vergleichsweise großes Verständnis für einen Kollegen aufbringen, der bei der Festnahme eines fliehenden Tatverdächtigen unrechtmäßige Gewalt als Erziehungsmaßnahme einsetzt („punch for fleeing“ als Fall von „street justice“). Wenn Polizisten dagegen etwa bei der Aufnahme eines Einbruchs in ein Ladengeschäft eine wertvolle Uhr klauen, sich bestechen lassen oder von einer Kfz-Werkstatt eine Provision dafür erhalten, dass sie Unfallteilnehmern diese Werkstatt empfehlen, gilt dieses Verhalten bei ihren Kollegen als deutlich weniger legitim (Long et al. 2013, S. 263).

Generalisiert man diesen Befund der Umfrageforschung,Footnote 14 lässt sich festhalten, dass die Polizisten das Fehlerverhalten ihrer Kollegen in zwei Gruppen einteilen. Auf der einen Seite stehen dann solche unrechtmäßigen Maßnahmen, die im Zuge prinzipiell rechtmäßiger Polizeiarbeit eingesetzt worden sind bzw. von denen zumindest innerhalb des Kollegiums davon ausgegangen wird, dass sie der Durchsetzung legitimer polizeilicher Ziele dienen. In diese Gruppe fallen neben der Durchführung von ‚street justice‘ auch der Schutz der eigenen Kollegen vor Strafverfolgung (sei es wegen Fehlverhaltens im Dienst, sei es in der Freizeit, etwa im Fall von Trunkenheit am Steuer), der Einsatz unrechtmäßiger Vernehmungsmethoden oder die Fabrikation von Tatbeständen, um eine ansonsten unrechtmäßige polizeiliche Maßnahme zu legalisieren. Beispiele dafür sind die Behauptung, aus der ohne entsprechende Rechtsgrundlage durchsuchten Wohnung seien Schreie zu hören gewesen, weshalb die Beamten zur Abwendung von Gefahren die Wohnung hätten betreten müssen; oder die Behauptung, das stark verschwitzte Gesicht eines Bürgers in Kombination mit dessen nervöser Reaktion auf den Sichtkontakt mit den Beamten sei als Indiz für illegalen Drogenkonsum und –besitz angesehen worden, weshalb die Durchsuchung des Rucksacks des Bürgers rechtmäßig gewesen sei. Ob Indizien dieser Art tatsächlich vorlagen, ist im Nachhinein nicht überprüfbar und muss von Dritten, etwa von Verwaltungsgerichten, als gegeben angenommen werden, wenn es von mehreren Polizisten bestätigt wird (vgl. auch Barker und Carter 1990).

Dieser ersten Gruppe von Handlungen stehen auf der anderen Seite solche unrechtmäßigen Handlungen gegenüber, die lediglich dem einzelnen Polizisten einen Vorteil verschaffen, der Behörde insgesamt aber eher schaden (Korruption, Diebstahl, Verkauf konfiszierter Waren). Wie zu erwarten, genießen die Rechtsbrüche der ersten Gruppe unter Polizisten einen deutlich besseren Ruf, während die Rechtsbrüche der zweiten Gruppe von einer Mehrzahl der Polizisten abgelehnt werden.Footnote 15

Schwächen und blinde Flecken der quantitativen Umfrageforschung

Wenngleich die vorliegenden quantitativen Studien zum ‚Code of Silence‘ in Polizeibehörden einen gewissen Einblick in die informale Ordnung polizeilichen Handelns bieten, teilen sie miteinander doch auch gravierende Schwächen. Erstens behandeln fast alle Studien lediglich die Absichten von Polizisten, ein ihnen in Form von Szenarien vorgestelltes Fehlverhalten eines Kollegen zur Anzeige zu bringen. Aus der Tatsache, dass in einzelnen Befragungen bis zu 90 % der Polizisten angeben, Fälle von Diebstahl oder Korruption anzeigen zu wollen, wird dann zuweilen gar auf einen „weak code of silence“ geschlossen (Long et al. 2013, S. 263), ohne der Frage nachzugehen, warum die in Interviews dargestellte hohe Bereitschaft zu Anzeigen gegen Kollegen nicht zu einer entsprechend hohen Anzahl faktischer Anzeigen führt. Schließlich wird auch das lediglich der persönlichen Bereicherung dienende Fehlverhalten von Kollegen in der Regel nicht angezeigt und bei Bedarf durch Falschaussagen vor Gericht gedeckt (van Reenen 1997; Mollen et al. 1994, S. 51 ff.).

Zweitens verzichten fast alle empirischen Studien auf Anschlüsse an die allgemeinere sozialwissenschaftliche Untersuchung von Organisationen und Berufsgruppen und kommen auch deshalb nicht auf die Idee, die Verschwiegenheit unter Polizisten nicht lediglich festzustellen, sondern sie auch zu erklären und mit ähnlichen Phänomenen in anderen Berufsgruppen zu vergleichen.Footnote 16 Und drittens liegt den empirischen Studien zumindest implizit das normative Urteil zu Grunde, dass jedes Schweigen eines Polizisten über das Fehlverhalten eines Kollegen ein Schweigen zu viel ist. Typisch wird dabei auf die Explikation der diesem Werturteil zu Grunde liegenden normativen Maßstäbe verzichtet und typisch wird dabei die normative Ambivalenz des Phänomens polizeilicher Berufsgruppensolidarität übersehen. Ich versuche in diesem Kapitel die damit skizzierten deskriptiven und normativen Schwächen der vorliegenden Literatur zu vermeiden, indem ich die Beschreibung des polizeilichen ‚Code of Silence‘ um Darstellungen aus der qualitativen Polizeiforschung ergänze und die Erklärung und Bewertung des Phänomens mit den konzeptionellen Mitteln allgemeiner soziologischer Organisations- und Berufsgruppentheorien ausarbeite.

Qualitative Polizeiforschung mit Hinweisen zum ‚Code of Silence‘

Dass ein aus Sicht eines Polizisten nicht nur illegales, sondern auch illegitimes Handeln eines Kollegen im Einsatz im Normalfall keineswegs zu einer Anzeige gegen diesen Kollegen führt, ist auch in der qualitativ orientierten Polizeiforschung beobachtet worden. So berichtet der deutsche Polizeiforscher Rafael Behr (2000, S. 192 f., S. 198 f.) von Gesprächen mit Polizisten über Einsätze, bei denen die Polizisten mit dem Auftreten ihrer Kollegen gegenüber einem Bürger nicht einverstanden waren, etwa in Hinblick auf die Art des Gewalteinsatzes. Diese Polizisten geben an, dem Kollegen nach dem Einsatz im Streifenwagen deutlich ihre Meinung gesagt zu haben und ihn darauf hingewiesen zu haben, ein solches Verhalten nicht noch einmal miterleben zu wollen. Andere Polizisten berichten, bei einem aus ihrer Sicht falschen Verhalten eines Kollegen nach Möglichkeit die Situation zu verlassen (etwa auf der Wache durch Wechsel des Raumes) und so ihre Missbilligung auszudrücken. Kein Polizist aber berichtet davon, das Verhalten vor den Augen Dritter kritisiert oder später bei Vorgesetzten gemeldet zu haben. Wenn Polizisten ein illegales Verhalten ihres Kollegen als illegitim ansehen, kommt es zuweilen also durchaus zu einer Kritik dieses Verhaltens innerhalb der einzelnen Dienstgruppe, aber nicht zu einer Meldung des Fehlverhaltens an Dritte.Footnote 17

Behr ist bislang der einzige deutschsprachige Sozialwissenschaftler, der sich ausführlicher und mit Ambitionen auf eine sozialwissenschaftliche Erklärung zum Phänomen des polizeilichen ‚Code of Silence‘ geäußert hat. Behr behandelt in seinen Arbeiten einen Aspekt, der vor allem in der oben dargestellten quantitativen Umfrageforschung oft übersehen wird, nämlich die Frage, welchen Kollegen der einzelne Polizist gegenüber so solidarisch ist, dass er zu ihren Gunsten zu einer Falschaussage vor Dritten bereit ist, wie weit also der „Solidaritätsradius“ (Schnabel und Tranow 2020, S. 11) von Polizisten reicht. Behrs Antwort lautet, dass starke Solidaritätsverpflichtungen (in der deutschen Polizei) nicht zwischen beliebigen, einander unbekannten Polizisten existieren, sondern lediglich innerhalb der eigenen Dienstgruppe oder allenfalls innerhalb der eigenen Dienststelle, jedenfalls nur so weit, wie persönliche Bekanntschaften oder Netzwerke reichen: „Es ist nicht die Zugehörigkeit zu einem Polizei-Korps, die Polizisten schweigen oder reden lässt, sondern die Zugehörigkeit zu abgeschlossenen Sub-Gruppen“ (Behr 2009; vgl. auch Behr 2006, S. 73–99). Auch Maurice Punch (1985, S. 183 ff.) kommt auf Grundlage seiner Analysen von Korruptionsnetzwerken in der Amsterdamer Polizei zu dem Ergebnis, dass es falsch wäre, ‚die Polizei‘ pauschal als eine verschwiegene Gemeinschaft darzustellen. Starke Solidarität konnte auch Punch nur innerhalb einzelner Einheiten beobachten, während er zwischen diesen Einheiten und der Führungsebene eher eine Haltung wechselseitigen Misstrauens ausmacht und eine vergleichsweise hohe Bereitschaft, Informationen über Fehlverhalten von Polizisten auf anderen Hierarchieebenen an interne Ermittler oder die Presse weiterzuleiten.

Berufsgruppeninterne Definitionsarbeit bezüglich der Legitimität polizeilichen Fehlverhaltens hat William Waegel (1984) in Hinblick auf Fälle von ungerechtfertigtem Schusswaffeneinsatz in den USA in den 1980er Jahren untersucht. Während die formalen Normen den Gebrauch der Schusswaffe nur in sehr spezifischen Fällen erlauben (konkrete Gefährdung des eigenen Lebens oder des Lebens Anderer oder Verhinderung einiger schwerer Straftaten), gibt es in der informalen Organisationskultur eine anders gelagerte Präferenz: Im Zweifelsfall sollte ein Polizist schießen, wenn er eine Bedrohung vermutet, da der Tod eines zögernden Polizisten schlimmer sei als der Tod eines im Rückblick fälschlich als gefährlich eingeschätzten Bürgers: „In the police view, shootings are almost always justified, even though outsiders might disagree. Outsiders, police believe, do not fully understand the context of police work“ (Waegel 1984, S. 150). Waegel berichtet etwa von einem Fall, bei dem die Wohnung eines Verdächtigen durchsucht werden sollte. Der Mann war gerade dabei, mit seinen drei Kindern Gemüse zu schneiden, als er hörte, dass die Tür aufgebrochen wurde (von der Polizei, was er zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht wissen konnte). Er trat mit einem Messer in der einen und einer Zwiebel in der anderen Hand in den Hausflur – und wurde von einem Polizisten angeschossen, der ihn für gefährlich hielt. Der Kommentar des Schützen zu seiner Fehleinschätzung lautete: „What could I do? I thought it was either him or me. You know all cops make mistakes. There’s not a cop in here who hasn’t made a mistake. I’ve got a split second to decide what a jury can take all week to decide“ (Waegel 1984, S. 150).

Waegel beobachtet auch die Reaktion des Kollegiums auf das Ereignis und stellt fest, dass sich alle Polizisten einig sind, dass hier ein formales Fehlverhalten vorliegt – aber eines, das jedem guten Polizisten hätte unterlaufen können. Entsprechend läuft die kollegiale Interpretation des Ereignisses in den nächsten Tagen klar in die Richtung, den Kollegen für seinen Fehler zu entschuldigen und das Ereignis als unvermeidbar zu normalisieren. Diese Definitionsarbeit hat auch deshalb gute Aussichten auf Anschlussfähigkeit in externen Kontexten (Medien, Gerichte), weil die das Fehlverhalten rechtfertigenden Informationen zumeist nur in der Einsatzsituation selbst verfügbar und unabhängig von den Aussagen der anwesenden Polizisten kaum überprüfbar sind, in dem hier rekonstruierten Fall etwa die Frage, ob der Mann sich abrupt bewegt oder aggressiv verhalten hat.Footnote 18

Whistleblower bei der Polizei – informale Sanktionen

Eindrücklich belegen lässt sich die Institutionalisierung des ‚Code of Silence‘ als informale Norm in Polizeibehörden auch anhand der Sanktionen, die diejenigen treffen, die gegen diese Norm verstoßen haben. So berichten die von Martin Herrnkind (2004, 2006) interviewten Whistleblower aus deutschen Polizeibehörden (n = 60) durchgehend von informalen Sanktionen als Folge ihrer Meldungen polizeilichen Fehlverhaltens. Typisch ist etwa die Schilderung einer stellvertretenen Dienstgruppenleiterin, die ein Mitglied ihrer Dienstgruppe wegen Körperverletzung im Amt angezeigt hatte:

„Und da ging das natürlich dann noch los, dass mir keiner mehr Brötchen mitbrachte, im Frühdienst, dass, egal, welchen Raum ich betrat, dass alle den Raum verließen […] Der Kollege oder die Kollegin, die mit mir gefahren sind, haben kein Wort mit mir geredet, außer das Notwendige. Wenn ich dann die Wache gerufen habe, über Funk, dann hat erst mal drei-, vier-, fünfmal keiner geantwortet.“ (Herrnkind 2004, S. 186)

In einem von Herrnkind (2004, S. 187) untersuchten Fall wurde der informalen Norm, Polizisten, die Kollegen belastet haben, die kollegiale Unterstützung zu entziehen, sogar ganz offen auf der Formalebene der Polizeibehörde Rechnung getragen: Die Bewerbung des Polizisten wurde offiziell mit der Begründung abgelehnt, seine Anstellung würde die Zusammenarbeit mit anderen Dienststellen beeinträchtigen.Footnote 19 Weitere Belege für die informale Institutionalisierung des ‚Code of Silence‘ lassen sich auch Untersuchungen zur Stigmatisierung interner Ermittler in Polizeibehörden entnehmen. Internen Ermittlern wird typisch der Vorwurf gemacht, ‚Headhunter‘ im Auftrag der Dienststellenleitung zu sein und Polizisten, die ‚echte Polizeiarbeit‘ machen, von ihrer Arbeit abzuhalten (Mulcahy 1995, S. 106 ff.). Auch die zentrale Strategie der internen Ermittler, dieser Stigmatisierung zu begegnen, passt zu den oben dargestellten Ergebnissen: Sie bemühen sich gegenüber ihren Kollegen um den Nachweis, dass die überführten Polizisten ihre Strafe nicht nur rechtlich, sondern auch gemäß der kollegialen Normen verdient hätten und sie betonen zu diesem Zweck ihre Ermittlungserfolge gegen Polizisten, die sich im Dienst persönlich bereichert haben und nicht diejenigen gegen Polizisten, die etwa wegen eines unrechtmäßigen Gewalteinsatzes oder unrechtmäßiger Vernehmungsmethoden suspendiert worden sind.

3 Etablierte Erklärungsangebote in der Soziologie: Kameradschaftsnormen in Gefahrengemeinschaften, insbesondere der Polizei

Offensichtlich ist die Möglichkeit, bei der Ausübung beruflicher Tätigkeiten einen Fehler zu begehen, keine exklusive Eigenschaft von Polizeiarbeit. Überall, wo gearbeitet wird, werden Fehler gemacht. Oft ist dabei natürlich die Frage, ob ein bestimmtes Handeln fehlerhaft war oder nicht, selbst umstritten. Ich interessiere mich im Folgenden allerdings lediglich für Handlungen, die von den Angehörigen einer Berufsgruppe eindeutig als Fehler – das heißt: als eindeutiger Verstoß gegen die manifesten, Umweltpartnern gegenüber nicht bestreitbaren, Regeln guter Arbeit, als Verstoß mithin gegen die formalisierten Rollenerwartungen, im Fall der Polizei also als Verstoß gegen Rechtstexte (Polizeirecht, Strafprozessordnung, Grundgesetz) oder Dienstvorschriften – erkannt werden und für die gilt, dass Kollegen ihrerseits einen formalen Fehler machen, wenn sie das fehlerhafte Handeln ihres Kollegen vor Anderen (Vorgesetzten, Kontrolleuren, einer breiteren Öffentlichkeit) verschweigen. Beispiele für ein eindeutig fehlerhaftes Handeln dieser Art sind der Krankenpfleger, der einem Patienten das falsche Medikament verabreicht, die Polizistin, die ohne akute Bedrohung von ihrer Schusswaffe Gebrauch macht, der Lehrer, der einem Schüler im Unterricht Gewalt androht oder die Hochschullehrerin, die gute Noten nicht nur für gute Prüfungsleistungen, sondern auch im Tausch gegen gute Bezahlung vergibt.Footnote 20

In diesen und ähnlichen Fällen liegt also eine Situation vor, in der ein Kollege im Zuge der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit einen eindeutigen und folgenreichen Fehler gemacht hat und ein anderer Kollege einen formalen Fehler machen würde, wenn er sein Wissen von dem Fehlverhalten seines Kollegen für sich behält. Die Frage ist: Was disponiert den Mitwisser, zu reden oder zu schweigen? Bislang fehlen empirische Studien, in denen verschiedene Berufsgruppen wie Ärzte, Ingenieure, Polizisten, Hochschuldozenten und Erzieher in ihrer Bereitschaft zur Deckung eines Fehlverhaltens von Kollegen miteinander verglichen werden. Allerdings gibt es neben empirischen Untersuchungen vor allem zu Ärzten (Bates 1980; Mizrahi 1984; Lipset et al. 1997; Bosk 2003) auch einige Ansätze zur Erklärung von Solidarität unter Mitgliedern sozialer Gebilde überhaupt. Diese Ansätze werde ich im folgenden Abschnitt rekonstruieren und anschließend auf ihre Erklärungskraft für das Phänomen starker Berufsgruppensolidarität im Allgemeinen und unter Polizisten im Besonderen befragen.

3.1 Klassische Deutungen zum Zusammenhang von äußerer Bedrohung und innerer Solidarität: Georg Simmel und Lewis Coser

Dass die Bedrohung eines sozialen Gebildes durch einen äußeren Feind den inneren Zusammenhalt unter seinen Mitgliedern steigert, ist eine alte Beobachtung, die insbesondere in Bezug auf Nationen im Krieg formuliert worden ist. Der klassische soziologische Text zum Thema ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Georg Simmel verfasst worden, der sich gegen Ende seines Kapitels zum ‚Streit‘ aus der ‚großen Soziologie‘ mit der Bedeutung beschäftigt, die ein Konflikt mit einem äußeren Gegner für „die innere Struktur jeder Partei besitzt“ (Simmel 1908b, S. 350). Sein zentrales Argument lautet, dass eine sich im Kampf befindliche Gruppe sich ‚nicht gehen lassen‘ darf, sondern „sich zusammennehmen“ muss: all ihre „Energien müssen gleichsam in einem Punkt konzentriert sein, damit sie in jedem Augenblick in der gerade erforderlichen Richtung verwendet werden können“ (Simmel 1908b, S. 350). Dieser „kollektivierenden Wirkung des Streites“ (Simmel 1908b, S. 363), der „synthetische[n] Kraft gemeinsamer Gegnerschaft“ (Simmel 1908b, S. 365) geht Simmel in Bezug auf verschiedenartige soziale Gebilde wie Nationalstaaten, Gewerkschaften, soziale Bewegungen, Stände oder politische Parteien nach.

Diese und andere soziale Gebilde können sich, so Simmels Überlegung, entweder in einem „Friedenszustand“ oder aber in einem „Streit“-, bzw. „Kriegszustand“ befinden (Simmel 1908b, S. 354 f.). Letzteres ist der Fall, wenn nicht nur einzelne Mitglieder der Gruppe einen Konflikt mit Umweltpartnern austragen, sondern die Gruppe „als ganze in ein antagonistisches Verhältnis zu einer außerhalb gelegenen Macht eintritt“. In einem solchen Kriegszustand komme es innerhalb der Gruppe zu einer „Steigerung ihrer Einheit, in Bewußtsein und Aktion“ (Simmel 1908b, S. 353). Die typische Folge einer solcher ‚Steigerung der Einheit‘ sieht Simmel darin, dass interne Kritik an den Strukturen und Werten der Gruppe delegitimiert wird, eine interne Opposition also nicht zugelassen wird, sondern Mitglieder, die Gruppennormen in Wort oder Tat kritisieren, verachtet und ausgeschlossen werden. Auch Lewis Coser sieht in seiner als Kommentar zu Simmels Text verfassten ‚Theorie sozialer Konflikte‘ den wichtigsten Effekt des Konflikts mit einem äußeren Gegner darin, dass er „die Defensivkräfte der Gruppe“ mobilisiert und „das Wertesystem … gegen den äußeren Feind neu bestätigt“ (Coser 2009, S. 107). „Kampfgruppen“, so Coser weiterhin in Übereinstimmung mit Simmel, können Zweifel und Ambivalenzen in Bezug auf Gruppennormen nicht gut akzeptieren und würden daher – wie sich insbesondere an politischen und religiösen Sekten zeige – jede Abweichung ihrer Mitglieder „als einen Angriff auf die Gruppe selbst“ behandeln.Footnote 21 Wiederum mit Simmel lässt sich hinzufügen, dass sich an der „Kampfsituation“ zeigt, wie gut eine Gruppe integriert ist und wie stark die Loyalität der einzelnen Mitglieder zur Gruppe ausgeprägt ist. Bei stark integrierten Gruppen führe der Konflikt zu einer inneren „Vereinheitlichung“, also dazu, dass sie alle „Elemente, die die Schärfe ihrer Grenze gegen den Feind verwischen könnten, radikal ausscheidet“ (Simmel 1908b, S. 360), während schwach integrierte Gruppen angesichts eines Konflikts typisch zerfallen: „Der Streitzustand aber zieht die Elemente so fest zusammen und stellt sie unter einen so einheitlichen Impuls, daß sie sich gegenseitig entweder vollkommen vertragen oder vollkommen repellieren müssen“ (Simmel 1908b, S. 354; vgl. kommentierend Coser 2009, S. 111 f.).

In einigen wenigen Sätzen deutet Simmel in seinem klassischen Text auch bereits eine konstruktivistische Perspektive auf den Zusammenhang von äußerer Bedrohung und innerem Zusammenhalt an. Zum einen führe nicht lediglich der gegenwärtig und offen ausgetragene Kampf zu internem Zusammenhalt, es genüge „statt des aktuellen Kampfes die dauernde Bedrohung durch einen Feind“ (Simmel 1908b, S. 365). Auch die „Gefahr, die immer drohte, aber sich immer hinausschob“ kann also zu einer Vereinheitlichung der Gruppe führen (Simmel 1908b, S. 366). Zum anderen können Anführer von Gruppen sich die vereinheitlichende Wirkung des Kampfes auch bewusst zu Nutze machen: „Ja, es mag innerhalb mancher Gruppen geradezu eine politische Klugheit sein, für Feinde zu sorgen, damit die Einheit der Elemente als ihr vitales Interesse bewußt und wirksam bleibe“ (Simmel 1908b, S. 360). Stärker als Simmel selbst betont Coser in seinem Kommentar zu Simmels Text diese funktionale Äquivalenz von wirklichen und erfundenen Feinden für den inneren Zusammenhalt von Gruppen. Das Thomas-Theorem zitierend stellt er fest: „Wenn Menschen eine Bedrohung für real halten, obgleich in Wirklichkeit wenig oder nichts diese Auffassung rechtfertigt, ist die Bedrohung real in ihren Konsequenzen – und eine dieser Konsequenzen ist der verstärkte Gruppenzusammenhalt“ (Coser 2009, S. 128). Daher würden über den Kampf integrierte Gruppen dazu neigen, „innere und äußere Feinde zu ‚erfinden‘, um ihre innere Solidarität zu erhöhen“ (Coser 2009, S. 123). Coser spricht in diesem Zusammenhang von „Kampforganisationen“ (Coser 2009, S. 126) und wählt für seine Beispiele solche Gruppen oder Organisationen, die ihren zentralen Zweck in der Schädigung eines Gegners haben, etwa revolutionäre Gruppen oder militärische Kampfeinheiten.Footnote 22

3.2 Berufsgruppen als Gefahrengemeinschaften und Kameradschaft als Sonderform von Kollegialität

Die soeben anhand der klassischen Texte von Simmel und Coser rekonstruierte Beobachtung, dass die Mitglieder eines sozialen Gebildes angesichts einer (imaginierter oder realen) gemeinsamen Bedrohung häufig einen starken inneren Zusammenhalt ausbilden, lässt sich auf sehr verschiedenartige soziale Zusammenhänge beziehen, auf Nationalstaaten ebenso wie beispielsweise auf Dorfgemeinschaften, Anhänger soziologischer Theorieschulen, Erbgemeinschaften, Protestbewegungen, kriminelle Vereinigungen, Organisationsabteilungen oder informale Cliquen in formalen Organisationen. In Bezug auf Berufsgruppen ist diese Überlegung in der soziologischen Literatur bislang vor allem auf solche Berufe angewandt worden, die im Zuge der Ausführung ihrer Arbeit in überdurchschnittlichem Ausmaß physischen Bedrohungen ausgesetzt sind, also etwa Soldaten, Feuerwehrleute oder Bergmänner. Diese Berufsgruppen werden häufig als Gefahrengemeinschaften bezeichnet.

So findet sich in den klassischen Arbeiten der Militärsoziologie (Stouffer et al. 1949, S. 136 f.) die Beobachtung, dass in militärischen Kampfeinheiten ein „code of group loyality“ institutionalisiert ist, dessen zentraler Inhalt die Norm ist, einen Kameraden im Gefecht nicht im Stich zu lassen, sondern ihn auch bei Gefährdung des eigenen Lebens zu unterstützen. Einen Beleg für die stärke Ausprägung von Kameradschaftsnormen sehen die Forscher auch darin, dass kampfunfähige Soldaten angaben, starke Schuldgefühle zu haben, weil sie ihre Kameraden nicht mehr im Kampf unterstützen können (Stouffer et al. 1949, S. 136 f.). Das starke Zugehörigkeitsgefühl des einzelnen Soldaten zu seiner soldatischen Nahgruppe und die damit verbundene „security of belonging“ wird von den Militärsoziologen als Folge der gemeinsam erlebten Gefahr im Kampfeinsatz und als funktional für die Bewältigung zukünftiger Bedrohungslagen gedeutet (Stouffer et al. 1949, S. 142 f.; vgl. Coser 1954, S. 252). Diese Befunde passen auch zu den Thesen der vielzitierten Wehrmachtsstudie von Shils und Janowitz (1948), die die Kampfbereitschaft und –moral sowie den kameradschaftlichen Zusammenhalt ebenfalls durch die Eingebundenheit der Soldaten in eine ihnen vertraute „Primärgruppe“ erklären. Sofern Soldaten bereit waren, auch in wenig aussichtsreichen Situationen weiter zu kämpfen, so taten sie dies dieser These zufolge aufgrund der in gemeinsamen Kampfeinsätzen entstandenen Loyalität zu ihnen persönlich bekannten Kameraden, nicht aufgrund der Zustimmung zu einer Ideologie, um Kriegsziele zu erreichen oder aus bloßem Regelgehorsam (vgl. als Kommentar auch Vollmer 2010, S. 164–167).

Die sozialwissenschaftliche Literatur zu Polizeien hat diese Argumentation der Militärsoziologie häufig übernommen und auch Polizeidienstgruppen als Gefahrengemeinschaften beschrieben. Als frühes und prominentes Beispiel sei hier eine Passage zitiert, die Egon Bittner an den Anfang des Kapitels „Esprit De Corps and the Code of Secrecy“ seiner für die Polizeisoziologie einflussreichen Monographie „The Functions of the Police in Modern Society“ stellt:

„Policing is a dangerous occupation and the availability of unquestioned support and loyalty is not something officers could readily do without. In the heat of action it is not possible to arrange, from case to case, for the supply of support, nor can the supply of such support be made dependent whether the cooperating agents agree about abstract principles. The governing consideration must be that as long as "one of us" is in peril, right or wrong, he deserves help.” (Bittner 1970, S. 63)

Zu dieser Beschreibung polizeilicher Arbeit passt dann auch Bittners Rede vom „quasi-military character of the police“ und die Betonung der Ähnlichkeit von „soldierly discipline“ und polizeilicher Berufsgruppensolidarität (Bittner 1970, S. 63). Ganz in dieser semantischen Tradition steht auch die US-amerikanische Diagnose eines ‚War on Cops‘, die auch vom FBI im Rahmen eines 2018 aufgenommenen Forschungsprojektes („LEOKA“) aufgegriffen wird.Footnote 23 In der neueren deutschsprachigen Literatur findet sich bei Rafael Behr die These, dass „die Gefahr, durch Gewalt physisch verletzt zu werden“ (Behr 2012), polizeiliche Primärgruppen integriert und maßgeblich zur Ausbildung starker Solidaritätsverpflichtungen unter Polizisten beiträgt. Aktualisiert und vermittelt werden Solidaritätsnormen Behr zufolge dabei wesentlich über Geschichten, die Polizisten einander von ihren Einsätzen erzählen und die fast immer „die großen Ausnahmen im täglichen Dienst“ thematisieren: Schwere Unfälle, Schusswaffeneinsatz, die Konfrontation mit dem Tod (Behr 2000, S. 213 ff.). „In den Geschichten über gefährliche Einsätze werden diese Grundsätze der street cops“ – also insbesondere der Grundsatz, dass Polizisten im Dienst einander bedingungslos unterstützen sollten – „en passant vermittelt, in Storys und Berufsmythen verpackt. Sie sind so bedeutsam, dass man nicht darüber verhandeln oder sie umständlich darlegen muss, man muss die Neuen lediglich teilhaben lassen an der eigenen Alltagskultur“ (Behr 2003, S. 154). So sozialisierte Polizisten erleben ihr Kollegium Behr zufolge „als Solidar- und Gefahrengemeinschaft“ und dieses starke Bewusstsein, eine Gemeinschaft zu sein, wird vor allem dann handlungswirksam, wenn ein Kollege im Dienst (‚auf der Straße‘) in Gefahr gerät. Der Funkruf „wir brauchen dringend Unterstützung“ „verbindet alle street cops auf einzigartige Weise“, alle nur einigermaßen in der Nähe sich befindlichen Kollegen machen sich sofort auf den Weg. Das hat, wie auch Behr betont, immer auch eine symbolische Bedeutung, da so die wechselseitige Versicherung aktualisiert wird, dass man „sich in solchen Situationen (…) aufeinander verlassen“ kann (Behr 2003, S. 155).

Diese Beschreibung polizeilicher Dienstgruppen als durch eine gemeinsame physische Gefährdung integriert passt auch zu der Erklärung, die die New Yorker Mollen Kommission in den 1990er Jahren für die Verbreitung des ‚Code of Silence‘ anzubieten hatte: „Faced with this resentment, the dangers of their work, and their dependence on other officers for their mutual safety, police officers naturally band together” (Mollen et al. 1994, S. 52). Besonders stark ausgeprägt sei die polizeiliche Solidarität deshalb in denjenigen Vierteln, in denen die Polizisten häufig mit Gewalt konfrontiert und deshalb in besonderem Maße auf die schnelle und wirkungsvolle Unterstützung ihrer Kollegen angewiesen sind (Mollen et al. 1994, S. 53). Diese besondere Anforderung an einen Polizisten, so kann man auch in der deutschsprachigen Literatur lesen, „im Notfall auch mit seinem Leben für die Ziele der Organisation einzutreten“, führe zu einem ansonsten nur noch in wenigen anderen Berufsgruppen wie dem Militär oder der Feuerwehr ebenso stark ausgeprägten „Bewusstsein, eine Gefahrengemeinschaft zu sein, in der man sich auf den anderen verlassen können muss und in der jeder in die Lage kommen kann, dass ihm der andere das Leben rettet“ (Christe-Zeyse 2006, S. 100, S. 97; vgl. auch Derin und Singelnstein 2022, S. 139 ff.).Footnote 24

Systematische Überlegungen zum Zusammenhang von physischen Bedrohungslagen und Kollegialitätsnormen hat Stefan Kühl im Rahmen seiner Studie zur Beteiligung deutscher Ordnungspolizisten am Holocaust angestellt. In Anschluss an Luhmann geht Kühl davon aus, dass es in allen Organisationen informal eingelebte Erwartungen unter Kollegen gibt, „dass man sich als Kollege gegenüber anderen Mitgliedern loyal verhält, dass man sie in öffentlichen Situationen nicht bloßstellt und dass der organisationsinterne Konkurrenzkampf um organisationsinterne Karrieren einigermaßen kontrolliert geführt wird. Man hilft sich gegenseitig, wenn ein Kollege mit einer Aufgabe überfordert ist, ein Fehler kaschiert werden muss oder kurzfristiges Einspringen erforderlich ist“ (Kühl 2014, S. 152). In einigen wenigen Organisationen, namentlich in Armeen, Feuerwehren, Technischen Hilfswerken und Polizeieinheiten bildet sich Kollegialität Kühl zufolge in der besonderen Form von Kameradschaft aus. Der Grund dafür sei, dass die Mitglieder dieser Organisationen anders als etwa in Stadtverwaltungen oder Kaufhäusern zuweilen Situationen besonderer physischer Gefährdung ausgesetzt sind, in denen nicht lediglich ihre Zukunft in der besonderen Rolle als Organisationsmitglied bedroht ist, sondern in denen das Mitglied als Person gefährdet ist, „weil man im Dienst schwer verletzt oder gar getötet werden kann. Und genau wegen dieser Bedrohung für die ganze Person bilden sich eben sehr weitgehende Kollegialitätserwartungen in Form von Kameradschaft aus“ (Kühl 2014, S. 153).

Mitglieder von Organisationseinheiten, die gemeinsam der „Bedrohungslage einer Kampfsituation“ (Kühl 2014, S. 161) ausgesetzt und insofern eine Gefahrengemeinschaft bilden, würden deshalb voneinander intensivere Formen wechselseitiger Unterstützung erwarten. Anders als von einem Kollegen in einer ‚normalen‘ Organisation werde von einem Kameraden als Teil einer gemeinsamen Gefahrengemeinschaft nicht lediglich die für den Helfenden mehr oder weniger risikofreie Unterstützung bei der Arbeit erwartet, sondern auch die Bereitschaft, aus Loyalität zu den Kameraden größere persönliche Risiken einzugehen, etwa, um einen „verletzten oder toten Kameraden aus der Gefahrenzone zu bergen“ (Kühl 2014, S. 154).Footnote 25 Diese anspruchsvollen Erwartungen richten Kameraden in Armeen, Feuerwehren und Polizeien aneinander – so die These Kühls – weil die „Möglichkeit, in eine lebensbedrohliche Situation zu geraten“ ihren „Erwartungshorizont“ auch dann dominiert, wenn diese Situationen faktisch selten auftreten (Kühl 2014, S. 154; vgl. auch Kühl 2017b).

3.3 Wie gefährlich ist der Polizeiberuf?

Das in der vorliegenden Literatur vorherrschende Argument dürfte deutlich geworden sein: Organisationsmitglieder, die bei der Arbeit systematisch mit lebensbedrohlichen Gefahren rechnen (müssen), bilden untereinander starke Solidaritätsnormen aus. Sie wollen sich darauf verlassen können, in der Gefahrensituation schnelle und bedingungslose Hilfe ihrer Kollegen zu erhalten und schließen deshalb solche Organisationsmitglieder aus dem Kreis der Kameraden aus, die gegen institutionalisierte Gruppennormen verstoßen. Zuweilen werden in der Literatur jedoch Zweifel an der Behauptung geäußert, dass es sich bei dem Polizeiberuf um einen besonders gefährlichen Beruf handelt. Kritiker dieser Beschreibung bemängeln, dass belastbare Daten fehlen, um die verschiedene Berufsgruppen in Hinblick auf physische Gefährdung im Dienst miteinander zu vergleichen und vermuten, dass die Betonung der Gefährlichkeit des eigenen Berufs vor allem Teil einer berufspolitischen Strategie von Polizeigewerkschaften ist, etwa, um eine bessere Bezahlung von Polizeibeamten oder härtere Strafen gegen Bürger durchzusetzen, die sich polizeilichen Situationsdefinitionen physisch oder verbal widersetzen.

Es ist es nicht leicht, zu beurteilen, wie hoch das faktische Risiko eines deutschen Polizeibeamten im 21. Jahrhundert ist, im Dienst verletzt oder getötet zu werden, da „keines der 17 deutschen Innenressorts eine Statistik über verletzte, krankgeschriebene oder getötete PolizistInnen veröffentlicht“ und die Herausgabe entsprechender Zahlen auch auf Nachfrage verweigert wird (vgl. Pütter und Neubert 2010). Sofern Zahlen veröffentlicht werden, sind diese oft wenig aussagekräftig, da die Kategorie ‚Angriffe auf PolizistInnen‘ in der Regel nicht zwischen physischen Angriffen, Beleidigungen und passivem Widerstand etwa gegen eine Festnahme unterscheidet. Neubert und Pütter konnten in ihrer Untersuchung über einige Umwege dennoch Zahlen für im Dienst getötete deutsche Polizeibeamte zwischen 1972 und 2008 präsentieren, wobei ihre Liste sowohl „im Dienst durch Rechtsbrecher getötete PolizistInnen“, als auch „im Dienst tödlich verunglückte PolizistInnen“ umfasst. Für ausgewählte Zeiträume haben die Autoren dabei auf Grundlage von Zahlen der Berufsgenossenschaften das Tötungsrisiko im Polizeiberuf mit anderen Berufen verglichen. Für den Zeitraum 1999 bis 2008 errechnen sie ein Tötungsrisiko von 0,043 % (105 Todesfälle auf ca. 240.000 Beamte innerhalb des Zeitraums von 10 Jahren).

Die Gefahr, als Polizistin oder Polizist bei der Arbeit zu sterben, ist damit deutlich geringer als für Beschäftigte im Verkehrswesen (0,095 %) oder in der Bauwirtschaft (0,064 %) und nur geringfügig größer als in holz- und metallverarbeitenden Berufen (0,029 %). Diese Ergebnisse bestätigen die Einschätzung einer früheren Untersuchung, bei der das Tötungsrisiko verschiedener Berufe in sieben Jahren zwischen 1965 und 1982 miteinander verglichen wurde. In sechs der sieben untersuchten Jahre lag das Tötungsrisiko im Polizeiberuf unter dem durchschnittlichen Wert aller bei den Berufsgenossenschaften versicherten Personen. Das Tötungsrisiko beispielsweise in der Binnenschifffahrt und im Tiefbau war etwa dreimal so hoch wie im Polizeiberuf, der in dieser Hinsicht auf einer Stufe mit Kellnern, Köchen und Lagerarbeitern angesiedelt war (vgl. Herrnkind 2014, S. 160 f.). Für die USA im Jahr 1996 kommt Steven M. Cox (1996, S. 166) in seiner Auswertung von Todesfällen bei der Arbeit ebenfalls zu dem Ergebnis, dass der Polizeiberuf deutlich hinter Berufen im Baugewerbe, Transportwesen, in der Land- und Forstwirtschaft und auch hinter Verkäufern zurückliegt.

Die in der öffentlichen und sozialwissenschaftlichen Diskussion oft übernommene Selbstbeschreibung des Polizeiberufs als „nah am Tode“ ist durch die faktischen Todesfälle von Polizisten im Dienst also nicht gedeckt (so auch in historischer Perspektive auf die Schutzpolizei in der Bundesrepublik der 1960er Jahre Weinhauer 2003, 111). In Anschluss an Cosers (2009, S. 128) Überlegungen kann jedoch auch für die Polizei davon ausgegangen werden, dass eine für real gehaltene Bedrohung auch dann zu verstärktem Gruppenzusammenhalt führt, wenn diese Bedrohung faktisch nicht (in dem angenommenen Ausmaß) existiert. Und diese Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung des Polizeiberufs als ‚nah am Tode‘ wird kontinuierlich reproduziert, etwa durch Mitteilungen der Polizeigewerkschaften über stetig steigende Gewalt gegen Polizeibeamte (wobei in den entsprechenden Statistiken dann etwa auch Beleidigungen als Gewalt gezählt werden), durch die Geschichten gefährlicher Einsätze, die Polizisten einander auch dann erzählen, wenn diese Einsätze selten sind und natürlich durch die Darstellung des Polizeiberufs in Romanen, Filmen und Fernsehserien. Auch die geschlossene Beteiligung von Polizisten eines Bundeslandes an der Trauer über einen im Dienst gestorbenen Kollegen, etwa durch die Befestigung von Trauerflor an den Streifenwagen (vgl. Weinhauer 2003, S. 86), zeigt, dass die Betonung der Gefährlichkeit des eigenen Berufs fester Bestandteil der polizeilichen Organisationskultur ist.

Die Beschreibung der Polizei als Gefahrengemeinschaft mag also zwar ein „Mythos“ sein (so Jasch 2017, S. 104), sie hat dennoch Konsequenzen für das Ausmaß der Solidarität unter Polizisten. Der ‚gefährliche Einsatz‘, so auch die Überlegung von Jochen Christe-Zeyse (2006), prägt das professionelle Selbstverständnis von Polizisten unabhängig davon, wie häufig diese Art von Einsätzen faktisch vorkommt. Als guter Polizist gilt dementsprechend derjenige Kollege, der den Erfordernissen der Einsatzsituation gerecht wird: Er bringt neben der Fähigkeit, auch unter Zeitdruck und Unsicherheit Entscheidungen zu treffen (‚besser eine falsche Entscheidung als gar keine Entscheidung‘) vor allem die Bereitschaft mit, auch unter Gefährdung des eigenen Lebens den Kollegen zur Seite zu stehen (‚wenn man gebraucht wird, muss man da sein‘).

3.4 Wie riskant ist der Polizeiberuf? Zum hohen Bedarf an kollegialer Unterstützung bei der Polizeiarbeit

In Abgrenzung zu der mit den Konzepten „Kameradschaft“ und „Gefahrengemeinschaft“ formulierten Erklärung starker polizeilicher Solidaritätsnormen durch eine geteilte physische Bedrohung deute ich die unter Polizisten institutionalisierten Solidaritätsnormen in diesem Text als starke Ausprägung der in allen Organisationen beobachtbaren Kollegialitätsnormen. Niklas Luhmann thematisiert in seiner Organisationssoziologie Kollegialität als Menge derjenigen informal institutionalisierten Normen, an denen sich Organisationsmitglieder einer Hierarchiestufe im Umgang miteinander orientieren. Wie andere informale Erwartungen werden auch Kollegialitätserwartungen selten explizit formuliert, sondern bleiben in der Regel kommunikativ latent. In den „eigentümlichen Stil sozialen Verhaltens unter Kollegen“, in die hier geltenden Gewohnheiten und Erwartungen, wird der Neuling durch Miterleben und Mithandeln einsozialisiert (Luhmann 1964b, S. 314). Eine wichtige Teilmenge der im Kollegenkreis institutionalisierten Normen betrifft dabei die Darstellung der Innenverhältnisse des Kollegiums gegenüber Nichtmitgliedern, also etwa die Frage, welche der im Kreis der Kollegen vorhandenen Wissensbestände nach außen – etwa gegenüber Vorgesetzten oder Nichtmitgliedern der Organisation – dargestellt werden können und welche verheimlicht werden sollten:

„Träger dieser Differenz“ zwischen zu verbergenden und darstellbaren Inhalten „ist die Kollegenschaft. Kollegen erwarten voneinander, auch wenn sie sich nicht näher kennen, ein gewisses Eingeweihtsein und ein Handeln, das der Innen/Außen-Differenz verständnisvoll Rechnung trägt. Diese Einstellung ist ein Grundgesetz interner Kooperation und als solche institutionalisiert. Sie setzt keine Gruppenbildung voraus.“ (Luhmann 1965b, S. 172)

Die Darstellung eines Kollegen gegenüber Nichtmitgliedern des Kollegiums ist immer eine gefilterte Darstellung, „Loyalität, Diskretion und Ausdrucksvorsicht sind als kollegiale Erwartungen institutionalisiert“ (Luhmann 1965b, S. 172). Wer ein geschätzter Kollege sein und bleiben will, muss also seine Bereitschaft zur Mitarbeit an einer möglichst günstigen Darstellung des Kollegiums für Außenstehende zu erkennen geben: „Es herrscht eine besondere Darstellungsdisziplin, die von allen Beteiligten durchgehalten werden muß. Sich darin gegenseitig Deckung zu geben, ist kollegiale Pflicht.“ (Luhmann 1964b, S. 316; vgl. ähnlich Hughes 1945, S. 108 f.)

So wie die Kollegialitätserwartungen selbst, so ist auch die Sanktion für Verstöße gegen Kollegialitätserwartungen informaler Natur. Wer gegen Kollegialitätserwartungen verstößt, hat also in der Regel keine formalen Sanktionen wie eine Abmahnung oder eine Versetzung zu befürchten, aber er wird damit rechnen müssen, seinerseits von Kollegen schlechter behandelt zu werden, etwa „auf die Hungerration rein formaler, jedenfalls unschädlicher Information gesetzt und dadurch in seiner Aktionsfähigkeit und seinem Einflußpotential erheblich beschnitten“ zu werden (Luhmann 1965b, S. 172). In den meisten Organisationen, so die Einschätzung Luhmanns, ist die Sanktionsmacht des Kollegiums jedoch nicht stark ausgebildet, weshalb die informalen Kollegialitätsnormen einen deutlich schwächeren Einfluss auf das Handeln der Organisationsmitglieder hätten als die Formalordnung der Organisation:

„Die informalen Normen können nicht aufgeschrieben werden. Und schlimmer noch: die Gruppen, die sie tragen, können nicht über die Mitgliedschaft im System disponieren. Sie können den, der ihre Normen verachtet und boykottiert, nicht wirksam aus ihrem Arbeitsbereich entfernen, wenn er sich formal nichts zuschulden kommen läßt. Sie können ihm die kollegiale Unterstützung oder die Vorteile einer Cliquenmitgliedschaft entziehen und gegen ihn intrigieren; aber das hilft wenig, wenn es ein tüchtiger oder gut gesicherter Mann ist.“ (Luhmann 1965b, S. 177)

Gemäß dieser Einschätzung Luhmanns erleichtert die Unterstützung durch die Kollegenschaft dem einzelnen Organisationsmitglied also die Arbeit in der Organisation, sie ist aber keine unverzichtbare Voraussetzung erfolgreicher Arbeitsleistungen. Ein Organisationsmitglied, das seine Arbeit gut und richtig macht – oder auch bei schlechter Arbeitsleistung keine persönlichen Nachteile zu befürchten hat – könne auf die Unterstützung durch die Kollegen notfalls auch verzichten. Der einzelne Mitarbeiter habe deshalb gute Gründe, sich im Fall starker Unvereinbarkeit zwischen formalen Organisationserwartungen und informalen Kollegialitätserwartungen für das formal richtige Handeln zu entscheiden.

Meine im Verlauf dieses Kapitels explizierte These ist, dass diese für viele Organisationstypen wie Schulen, Universitäten, Produktionsbetriebe oder größere Teile der öffentlichen Verwaltung plausible Einschätzung für Polizeien nicht zutrifft. Ein Polizist ist stärker als eine Lehrerin, ein Schaffner, eine Sachbearbeiterin im Finanzamt oder ein Mitarbeiter eines Versandhändlers auf die Unterstützung durch seine Kollegen angewiesen, um seine Arbeit erledigen zu können. Diese kollegiale Unterstützung benötigt der einzelne Polizist zuweilen im Einsatz selbst, vor allem aber in der nachträglichen Darstellung des Einsatzhandelns als formal fehlerfreies Handeln. Der hohe Bedarf an informaler und illegaler kollegialer Unterstützung in dieser Hinsicht ergibt sich daraus, dass es für Polizisten kaum möglich ist, für die Dauer eines Berufslebens „ein gut gesicherter Mann“ im Sinne der oben zitierten Formulierung Luhmanns zu sein, sich also auch langfristig über unzählige Einsätze hinweg „formal nichts zuschulden kommen“ zu lassen (1965b, S. 177).

Verstärkend zu dieser ausführlich unten thematisierten immanenten Fehleranfälligkeit operativer Polizeiarbeit kommt hinzu, dass Polizisten im Außendienst ihre Arbeit selten allein verrichten und selten Einfluss darauf haben, mit und vor welchen Kollegen sie ihren Dienst tun. Schon durch die gemeinsame Anwesenheit in Einsatzsituationen – sei es im Streifendienst mit mindestens einem weiteren Kollegen oder bei Großeinsätzen wie der Begleitung von Demonstrationen – und das dadurch verfügbare Wissen um die Differenz zwischen dem Einsatz und seiner späteren Darstellung, ergibt sich in Polizeibehörden regelmäßig und auch unter einander mehr oder weniger unbekannten oder unsympathischen Kollegen Wissen um illegale Handlungen. Im Vergleich etwa mit einem Sachbearbeiter im Innendienst haben Polizisten im Außendienst also einen recht geringen Einfluss darauf, ob und mit welchen Kollegen sie welche Informationen über ihre Fehler bei der Arbeit teilen, da sie ihre Arbeit vor den Augen von nicht durch sie selbst ausgewählten Kollegen verrichten.

Der Grund für die hohe Angewiesenheit von Polizisten auf informale kollegiale Unterstützung lässt sich auch in Anschluss an eine Nebenbemerkung Luhmanns zu der Frage explizieren, welche Verhaltensweisen dazu führen, die „Solidarität für die weitere Zusammenarbeit zu festigen“ (Luhmann 1964b, S. 318), unter welchen Bedingungen sich in einem Kollegenkreis also überdurchschnittliche starke Solidaritätserwartungen ausbilden. Die von Luhmann genannten Beispiele – das Lästern über gemeinsame Vorgesetzte, abfällige Äußerungen über Klienten oder andere Organisationsabteilungen – teilen miteinander die Eigenschaft, dass es sich um vom Gesamtsystem Organisation her gesehen nicht voll legitime Handlungen handelt, um „Äußerungen, die nicht laut werden dürfen“ (Luhmann 1964b, S. 318). Wer mit seinen Kollegen Äußerungen dieser Art teilt, kommuniziert damit implizit die Erwartung, dass die Äußerungen diskret zu behandeln sind. Kollegenkreise, deren Mitglieder voreinander nicht voll legitime Handlungen vollziehen oder das Wissen um diese Handlungen miteinander teilen, bilden eben dadurch eine „solidarische Vertraulichkeit“ heraus, die Goffman (1959, S. 149) als „eine Art von Friedensangebot“ gedeutet hat: „Du verrätst uns nicht, und wir verraten dich auch nicht“. Wo Kollegen Wissen um illegitime Handlungen miteinander teilen, bietet sich jedem von ihnen die Möglichkeit zum Geheimnisverrat, sei es durch die Mitteilung des Wissens vor „unberufenen Ohren“ (Hughes), sei es durch Nachlässigkeiten in der Außendarstellung. Kurz: Kollegenkreise, die Geheimnisse miteinander teilen, sind eben deshalb stark integriert und bilden stärkere Loyalitätserwartungen heraus.Footnote 26

4 Berufsgruppen als Versicherungsgemeinschaften: Themen und Thesen einer Soziologie des Umgangs mit Fehlern bei der Arbeit

„Bei einer rationalen Einstellung zu Risiken ist es oft richtiger, den Schadenseintritt abzuwarten, als viel in (wahrscheinlich unnötige) Vorbeugung zu investieren. Ja, in dem Maße als ein System Schäden verkraften und ausgleichen kann, wird es rationaler, auf diese Fähigkeit zu setzen, statt zu versuchen, alles nur Denkbare zu verhindern. (Das muß nicht unbedingt gegen Zähneputzen sprechen).“ Footnote 27 (Luhmann 1990, S. 183)

Meine These ist, dass die in der sozialwissenschaftlichen Literatur zu Polizeien vorherrschende Erklärung starker Berufsgruppensolidarität durch das Vorliegen einer die Gruppe integrierenden gemeinsamen physischen Bedrohung eine in spezifischen Fällen zutreffende Erklärung (etwa dem Fall einer U-Boot-Besatzung im Kriegseinsatz oder dem Fall einer Gruppe von Bergmännern in einem Kontext, in dem die Erwartung schwerer Unfälle das alltägliche Erleben der Kumpel prägt) oft ohne hinreichende Prüfung und deshalb zu pauschal auf andersartige Fälle überträgt (etwa auf eine Dienstgruppe der Polizei in einer deutschen Stadt im 21. Jahrhundert, also in einem Staat mit durchgesetztem staatlichen Gewaltmonopol und eines im historischen und regionalen Vergleich geringen Umfangs von öffentlich sichtbarer Gewalt [nicht nur] gegen Polizisten). Im Zuge dieser Übertragung übernimmt die soziologische Beobachtung unkritisch und zu pauschal die Selbstbeschreibung polizeilicher Dienstgruppen oder gar ‚der Polizei‘ als einer Gefahrengemeinschaft, anstatt mit den Mitteln des Fachs nach einer alternativen Erklärung für das Phänomen starker Gruppensolidarität unter Polizisten zu suchen.

Diese alternative Erklärung entwickle ich in den folgenden Abschnitten in Anschluss an Überlegungen, die ich vor allem der Berufs- und Professionssoziologie entnehme. Ausgehend von der ebenso kurzen wie präzisen Arbeit „Mistakes at Work“ von Charles E. Hughes (1951b) beschreibe ich Berufsgruppen als Versicherungsgemeinschaften gegen das Risiko persönlicher Verantwortlichkeit für berufliche Fehlleistungen. Die Mitglieder dieser Gemeinschaften haben spezifische, informal institutionalisierte, Rechte und Pflichten: Sie sind darauf verpflichtet, andere Mitglieder vor Kritik zu schützen, wenn diese einen Fehler begangen haben, der in den Augen von Nichtmitgliedern bei professioneller Vorgehensweise vermeidbar gewesen wäre, nach Einschätzung der Mitglieder der Versicherungsgemeinschaft dagegen als schwer vermeidbar oder aus anderen Gründen als verheimlichenswert eingestuft wird. Im Gegenzug können sich die Mitglieder der Versicherungsgemeinschaft darauf verlassen, dass sie von den übrigen Mitgliedern im Bedarfsfall in der gleichen Weise vor externer Kritik geschützt werden. Das Verhältnis der Mitglieder informaler Versicherungsgemeinschaften zueinander ist also ein solches der Reziprozität, jedoch in einer Form, in der ‚Einzahlungen‘ und ‚Auszahlungen‘ voneinander entkoppelt sind. Die Norm wechselseitiger Unterstützung ist in den drei SinndimensionenFootnote 28 stark generalisiert – also relativ indifferent gegenüber der Frage, welcher Fehler von welchem Kollegen zu welchem Zeitpunkt begangen worden ist – und unabhängig von unmittelbar zu erwartenden Gegenleistungen.

Die polizeispezifische Form dieser Versicherungsgemeinschaft hat in der öffentlichen Diskussion aus guten Gründen einen schlechten Ruf, weil sie – wie ich in diesem Kapitel zeigen möchte – besonders große Schwierigkeiten hat, intern zwischen formal illegalem, aber aus professioneller Sicht schützenswertem Verhalten einerseits und formal illegalem und auch aus professioneller Sicht illegitimen Verhalten andererseits zu unterscheiden. Genauer: Auch da, wo diese Unterscheidung von Polizeibeamten getroffen wird, decken sie in der Regel auch das aus ihrer Sicht illegitime, oft bloß personenfunktionale unrechtmäßige Handeln von Kollegen (etwa exzessive Gewalt, rassistische Beleidigungen von Bürgern oder Korruption), in der berechtigten Befürchtung, andernfalls den Schutz der informalen Versicherungsgemeinschaft zu verlieren. Auf diesen Schutz können Polizisten weniger leicht als Professoren, Tischler oder Köche verzichten, da es für sie im Vergleich zu diesen und fast allen weiteren Berufsgruppen deutlich erschwert ist, im Laufe ihres Berufslebens keine schwerwiegenden Fehler bei der Arbeit zu begehen, für die sie bei konsequenter und durch kollegiale Zeugen unterstützter Strafverfolgung persönlich haften müssten.Footnote 29

In den folgenden Abschnitten rekonstruiere und expliziere ich Hughes Hypothesen, bringe sie zur Veranschaulichung in Kontakt mit empirischen Studien zum Thema beruflicher Fehlleistungen und präzisiere sie in begrifflich-konzeptioneller Hinsicht in Anschluss an Überlegungen, die sich in den Arbeiten Niklas Luhmanns unter dem Begriff „Technologiedefizit“ einerseits und dem Begriffspaar „Verantwortung/Verantwortlichkeit“ andererseits finden lassen.

4.1 Einheit und Funktion beruflicher Gemeinschaften: Zur Vergemeinschaftung arbeitsbezogener Risiken

Für meine mit Hughes eingenommene Perspektive auf berufliche Arbeit ist dabei zunächst die Überlegung entscheidend, dass die Einheit einer beruflichen Gemeinschaft nicht notwendigerweise durch Übereinstimmung bezüglich der Tätigkeit, der Ausbildung oder der organisationalen Zugehörigkeit bestimmt werden muss, sondern auch über die Einheit der Gefahren oder des Risikos bestimmt werden kann, der sich die Träger einer bestimmten Berufsrolle aussetzen. Träger einer Berufsrolle werden in dem Maße eine soziale Gruppe, als sie dem „same work risk“ (Hughes 1951, S. 319, vgl. S. 317) ausgesetzt sind – und sie dürften es dann in einem stärkeren Sinne werden, wenn das Risiko nicht nur gleich, sondern auch groß und von den Risiken in anderen beruflichen Feldern verschieden ist. Das heißt auch: Ob und in welchem Ausmaß beispielsweise die internationale Ärzteschaft oder doch nur die Chirurgen des Krankenhauses Bielefeld Mitte eine soziale Gruppe sind, die durch gemeinsame Arbeitsrisiken integriert ist und die das Risiko individueller Fehlleistungen sozialisiert, ist eine nur durch empirische Forschung und nur in Bezug auf spezifische historische Konstellationen sinnvoll zu beantwortende Frage. Vor dem Hintergrund der von Alvin W. Gouldner (1957) formulierten Unterscheidung von „Cosmopolitans and Locals“ lautet eine soziologisch naheliegende Vermutung, dass die in der Soziologie als Professionen beschriebenen Berufsgruppen eher dazu in der Lage sind, auch über lokale und organisationale Grenzen hinaus berufliche Gemeinschaften zu bilden.Footnote 30

Beschreibt man die Differenzierung der Arbeitswelt auf diese Weise, erscheint sie nicht lediglich als Differenzierung von Tätigkeiten, sondern auch als Differenzierung und Delegation von Risiken.Footnote 31 In dieser Perspektive sind Polizeibeamte diejenigen Rollenträger, die qua Berufsrolle regelmäßig den Auftrag haben, auf rechtmäßige Weise in die Grundrechte von Bürgern etwa durch Personenkontrollen, die Durchsuchung von Wohnungen oder den Einsatz physischer Gewalt einzugreifen – und die deshalb dem berufsspezifischen Risiko ausgesetzt sind, dass Einsatzsituationen ‚entgleisen‘, es also zu einem unrechtmäßigen Eingriff in die Grundrechte von Bürgern kommt, für den dann – gemäß der Grundsätze einer rechtsstaatlich kontrollierten Verwaltung – der einzelne Polizeibeamte zur Verantwortlichkeit gezogen werden müsste. In Anschluss an Hughes lautet die zentrale Frage einer Soziologie beruflicher Fehlleistungen nun, wie das jeweilige Kollektiv (Organisation oder Berufsgruppe oder Kollegenkreis) auf diese Situation reagiert, insbesondere, ob die „Verantwortung“ für Handlungsprobleme und die „Verantwortlichkeit“ für Fehler und Misserfolge bei der Bearbeitung dieser Probleme an jeweils identische Berufsrollenträger (oder Teilsysteme) verteilt wird, oder ob „Verantwortung“ und „Verantwortlichkeit“ sei es formal, sei es informal, voneinander entkoppelt werden. Eine zentrale Funktion der Berufsgruppe als einer Versicherungsgemeinschaft liegt – knapp formuliert – darin, den einzelnen Berufsrollenträger von exklusiver Verantwortlichkeit für sein Handeln zu entlasten. Dadurch, dass der Berufsrollenträger als Mitglied eines Kollektivs agiert, wird die Gefahr (bestimmter) beruflicher Fehlleistungen vergemeinschaftet. In sehr vielen Fällen ist diese Leistung eine formal illegale Leistung (anders als bei Eltern und Hundebesitzern, die formal legal für die Fehltritte ihrer Kinder und Hunde haften), weshalb die meisten Berufsgruppen Versicherungsgemeinschaften nur in dem Maße sein können, in dem sie auch verbergende Gemeinschaften werden. Ich komme darauf zurück.

Im Kontext der hier formulierten Argumentation ist zunächst entscheidend, dass die mit einer beruflichen Tätigkeit verbundenen Gefahren fast nie in nur einer Dimension anfallen. Zu nennen sind neben der Gefährdung der individuellen physischen Unversehrtheit, die mit dem Konzept der Gefahrengemeinschaft betont wird, zumindest die folgenden Gefahrendimensionen: die Gefährdung der individuellen psychischen Verfasstheit (Schäden an der Verfasstheit des individuellen Bewusstseins etwa infolge der täglichen Durchsicht kinderpornographischen Materials als Cyberkriminalist oder infolge von dienstlich zu treffenden ‚tragic choices‘ etwa bei dem Einsatz von Drohnen im Krieg), moralische Gefahren (Schäden an der moralischen Achtbarkeit als Person: Soldat als Beruf ist nur möglich in einer Gesellschaft, in der Tucholskys Satz „Soldaten sind Mörder“ nicht als Norm institutionalisiert ist), rechtliche Gefahren (Gefahr, für Diensthandlungen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden) sowie ökonomische Gefahren (Schadensersatzforderungen; Gefahr des abrupten Endes von Berufskarrieren). In jeder dieser Hinsichten kann ein Berufsrollenträger so betroffen sein, dass dies substanzielle Auswirkungen auf ihn als Person hat. Die potenzielle Betroffenheit ganzer Personen ist also nicht – wie etwa Stefan Kühl in seinen oben dargestellten Überlegungen zur Unterscheidung von Kollegialität und Kameradschaft zumindest nahelegt – eine exklusive Eigenschaft physischer Gefahrensituationen. Auch eine mehrjährige Haftstrafe, das abrupte Ende beruflicher Karrieren, substanzielle Schäden an der psychischen Gesundheit oder der moralischen Achtbarkeit betreffen Menschen nicht lediglich in ihrer Berufsrolle, sondern als ganze Personen.

4.2 Defensive Berufsgruppensolidarität als empirisch bestimmbare und erklärbare Variable

Der allgemeine Befund, dass Kollegen- oder Berufsgruppen dazu tendieren, defensive Solidarität zu praktizieren bzw. eine geschönte Darstellung des (fehlerhaften oder jedenfalls umstrittenen) Handelns von Kollegen vor Nichtmitgliedern der Berufsgruppe zu präsentieren, gehört zu den frühen und seitdem zumeist lediglich wiederholten Einsichten der sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit Berufsgruppen im Allgemeinen und Professionen im Besonderen. Es fehlt jedoch an Fallstudien, die das spezifische Ausmaß oder die spezifische Form defensiver Solidarität in einer bestimmten Berufsgruppe empirisch so rekonstruieren, dass auf ihrer Grundlage sinnvolle Berufsgruppenvergleiche möglich wären. Angesichts des Fehlens empirisch hinreichend detaillierter und für Vergleiche geeigneter Forschung muss ein Blick in die journalistische Berichterstattung zum Thema genügen, um begründet zu vermuten, dass sich verschiedene Berufsgruppen in verschiedenen Kontexten in Hinblick auf das Ausmaß defensiver Solidarität unterscheiden. Bei Hughes findet sich – zumindest implizit – eine zugleich interessante und sparsame Hypothese zur Erklärung dieser Varianz, also eine Antwort auf die Frage, warum die „collective defenses against the lay world“ (Hughes 1951, S. 318) etwa bei Wissenschaftlern, Klempnern oder Ernährungsberatern schwächer ausgeprägt sind als bei Polizisten oder Ärzten. Hughes selbst und die seinen Text kommentierende Literatur (ausführlich Roth 1991; prominent Vaughan 1999) hat wie mir scheint die Einfachheit der von ihm formulierten Hypothese noch nicht recht realisiert, was damit zusammenhängen mag, das Hughes sie eher vorsichtig, beiläufig und in einem einzigen Satz formuliert:

„Perhaps this is the basis of the strong identification with colleagues in work in which mistakes are fateful, and in which even long training and a sense of high calling do not prevent errors.” (Hughes 1951, S. 318)

Es sind in dieser von Hughes nicht weiter ausgeführten Perspektive also zwei unabhängige Variablen, zwei Charakteristika einer beruflichen Tätigkeit, die zusammengenommen erklären können sollen, wie groß die defensive Solidarität der Mitglieder des jeweiligen beruflichen Kollektivs ist. Die eine Variable betrifft die Folgenschwere des Fehlers (stirbt ein Patient oder wackelt ein Tisch?), die zweite Variable betrifft die prinzipielle Vermeidbarkeit von Fehlleistungen (machen selbst die am besten ausgebildeten und gewissenhaft arbeitenden Angehörigen der Berufsgruppe regelmäßig Fehler oder lassen sich Fehlleistungen prinzipiell vermeiden?). Da Hughes beide Variablen nicht näher bestimmt, widme ich ihnen einige eigene Überlegungen mit dem Ziel, die Rede von der ‚Folgenschwere eines Fehlers‘ und der ‚Unvermeidbarkeit von Fehlleistungen‘ begrifflich-konzeptionell zu präzisieren.

Erklärende Variable I: Folgenschwere des Fehlers

Die erste von Hughes angeführte erklärende Variable ist zumindest auf den ersten Blick kaum erläuterungsbedürftig: Je bedeutsamer die Folgen eines Fehlers sind, desto größer ist das Interesse des einzelnen Berufsrollenträgers, diese Folgen nicht allein tragen zu müssen. Naheliegend ist allein die Rückfrage an Hughes bzw. an das Konzept der „Versicherungsgemeinschaft“, um die Folgenschwere des Fehlers für wen es geht: Für den Patienten und seine Angehörigen, für das Krankenhaus als Organisation, für die Ärzteschaft insgesamt, für den einzelnen Arzt und sein berufliches Nahumfeld?

Mir scheint das Konzept dann am plausibelsten und erklärungskräftigsten zu sein, wenn stets die mögliche persönliche Betroffenheit des einzelnen Berufsrollenträgers im Fokus der Aufmerksamkeit steht. Der mögliche hohe Schaden, den ein ärztlicher Fehler für einen Patienten und seine Angehörigen hat, ist – so mein Vorschlag zur Explikation des Konzeptes der „Versicherungsgemeinschaft“ – nicht als solcher ein Erklärungsfaktor, sondern nur auf dem Umweg, dass der hohe Schaden des Patienten die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass dieser als Beschwerdeführer sei es gegen das Krankenhaus als Organisation, sei es gegen die Person des Arztes in Erscheinung tritt. Aus Sicht des einzelnen Berufsrollenträgers gibt es deshalb sehr unterschiedliche, zueinander funktional äquivalente Mechanismen der Absicherung: Die eigene Organisation, private Versicherungsunternehmen, das kollegiale Nahumfeld oder gesamtgesellschaftliche Einrichtungen wie das Recht der Gesellschaft können ihn auf je unterschiedliche Art und Weise vor exklusiver Verantwortlichkeit für individuelle Fehlleistungen bewahren. Und das heißt auch: Wo der Einzelne nicht durch Gesellschafts- oder Organisationsrecht formal von Verantwortlichkeit entbunden ist, bekommt die (im Fall polizeilicher Fehler illegale) Möglichkeit der Entlastung von Verantwortlichkeit durch das Kollegium eine besondere Relevanz.

Erklärende Variable II: Technologiedefizit (die Unvermeidbarkeit von Fehlern)

Auch bezüglich der Frage, anhand welcher Kriterien ein Beobachter beruflicher Arbeit feststellen kann, ob und in welchem Ausmaß Fehler bei der Arbeit in einem Beruf prinzipiell vermeidbar sind, gibt Hughes Text keine befriedigende Auskunft. Hilfreich scheint mir an dieser Stelle das in der systemtheoretischen Literatur formulierte Konzept des Technologiedefizits zu sein, das von Niklas Luhmann und Karl Eberhard Schorr in ihrer Analyse pädagogischer Tätigkeiten ausgearbeitet worden ist, sich aber auch zur Analyse jeder anderen Tätigkeit einsetzen lässt. Als Technologie bezeichnen die beiden Autoren eine Menge von Regeln, deren Befolgung dazu dienen soll, „Materialien … von einem Zustand in einen anderen umzuformen“, einen Gegenstand also in Richtung bestimmter Ziele zu verändern (Luhmann und Schorr 1982, S. 14). So soll aus einem schweigenden Beschuldigten ein geständiger Beschuldigter werden, aus einem defekten Fernsehapparat ein funktionierender Fernsehapparat, aus einem unwissenden Schüler ein Schüler mit bestimmten Wissensbeständen oder bestimmten Fähigkeiten – und die Regeln, deren Befolgung den Gegenstand von dem Ausgangszustand in den angestrebten Zustand transformiert, können zusammengenommen als Technologie bezeichnet werden.

Die Funktion von Technologien liegt also darin, Handelnde mit Regeln zu versorgen, deren Befolgung vorhersehbare Ergebnisse hervorbringt, und zwar unabhängig von der Person des Handelnden sowie Kontext und Zeitpunkt der Handlung. Gute Beispiele für Technologien sind Kochrezepte oder Bedienungsanleitungen für technische Geräte. Sofern der Anwender dieser Technologien die Anweisungen in der richtigen Reihenfolge und ohne technischen Fehler befolgt, kann er sicher sein, das gewünschte Ergebnis zu erreichen. Technologisierbare Tätigkeiten haben soziologisch gesehen zwei bedeutsame Eigenschaften: Zum einen können sie auch im Kontext komplexer Sozialsysteme kontrolliert, gesteuert und in ihre Effekten eingeplant werden, während es umgekehrt in Fällen nicht-technologisierbarer Tätigkeiten notwendigerweise eine große Autonomie der Arbeitssituation gibt (die Unterrichtsstunde im Unterschied zur Arbeit am Fließband). Zum anderen besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Technisierbarkeit einer Tätigkeit und ihrer Anfälligkeit für Kritik. Wo es erfolgssichere Technologien gibt, lässt sich anhand eines nicht zufriedenstellenden Ergebnisses feststellen, dass die Technologie falsch angewandt worden ist und häufig lässt sich der Fehler auch konkret lokalisieren (vgl. Luhmann und Schorr 1988, S. 127). Umgekehrt gilt: Wo es keine erfolgssicheren Technologien gibt, lässt sich aus einem nicht zufriedenstellenden Ergebnis, beispielsweise dem nicht aussagebereiten Beschuldigtem oder dem unwissenden Schüler, nicht darauf schließen, dass die Vernehmerin oder der Lehrer falsch gehandelt hat.

Im Gegensatz zu Lebensmitteln und technischen Geräten lassen sich Personen und Sozialsysteme nicht erfolgssicher von einem Zustand in einen anderen Zustand transformieren. Weder „Individuen, noch das Interaktionssystem des Unterrichts“, so die auf pädagogische Arbeit bezogenen Formulierung Luhmanns, „sind Trivialmaschinen, die, wenn man den richtigen Input eingibt, die gewünschten Resultate liefern“ (Luhmann 2002, S. 157). Psychotherapeuten, Lehrer, Vernehmer, aber auch Stand-Up-Comedians, Prostituierte, Exorzisten und Trickspielbetrüger müssen am „reagierenden Objekt operieren und … Entscheidungen treffen“, die nicht schon vor Beginn der jeweiligen Interaktion eindeutig festgelegt werden können. In der Arbeit an Personen oder Sozialsystemen ist die Reaktion des jeweils zu transformierenden ‚Objektes‘ nie mit Sicherheit vorherzusagen und entsprechend müssen Praktiker in diesen Bereichen auch in der Lage sein, auf aus ihrer Sicht zufällige Ereignisse adäquat zu reagieren, also eine kaum in Regelwissen zu übersetzende „Sensibilität für Zufälle und Chancen“ entwickeln (Luhmann und Schorr 1982, S. 29).

Für das hier in Anschluss an Hughes explizierte Argument ist entscheidend, dass im Fall vollständig oder zumindest in weiten Teilen technisierbarer Tätigkeiten die Vergemeinschaftung des Risikos beruflicher Fehlleistungen eher verzichtbar ist. Der Einzelne kann sich hier eher darauf verlassen, den Erfolg und die formale Richtigkeit eigenen Handelns in der eigenen Hand zu halten. Im Fall nicht-technisierbarer und für formale Fehler anfälliger Arbeit ist die Übernahme dieser Arbeit dagegen zumindest für durchschnittlich risikoaverse Personen nur dann attraktiv, wenn die Verantwortlichkeit für Misserfolge und formale Fehler nicht dem einzelnen Rollenträger überlassen bleibt, sondern vergemeinschaftet wird. Dieser Bedarf an einer Vergemeinschaftung des Risikos ist im Fall nicht-technisierbarer Tätigkeiten dann auch leichter zu bedienen, weil hier der Schluss vom individuellen Misserfolg auf individuelle Fehlleistungen erschwert ist.Footnote 32

5 Polizei als Profession? Exkurs zum Zusammenhang von Technologiedefizit, people processing und professioneller Arbeit

Häufig werden die als „Professionen“ bezeichneten Berufe in der Soziologie dadurch charakterisiert, dass die von ihnen durchgeführten Tätigkeiten nicht technisierbar sind. Die Individualität und Komplexität der Fälle, mit denen es Therapeuten, Ärzte oder Strafverteidiger zu tun haben, mache es unmöglich, die Fälle lediglich auf Grundlage eines regelbasierten Routinewissens zu bearbeiten und erfordere vielmehr die Fähigkeit und Bereitschaft, fallspezifische und auch auf Erfahrungswissen basierende Urteile zu treffen.Footnote 33 Diese Einschätzung scheint mir zwar richtig, aber noch unvollständig zu sein. Das Spezifische professioneller Arbeit liegt – so die meiner Argumentation zu Grunde liegende konzeptionelle These – nicht lediglich darin, dass es sich um nicht-technisierbare Tätigkeiten handelt. Darüber hinaus sind professionsspezifische Problemlagen immer auch durch den Zwang gekennzeichnet, unter einem gewissen Zeitdruck auch dann Entscheidungen zu treffen, wenn die für eine rationale Entscheidung notwendigen Informationen nicht vorhanden sind. Die Ausbildung der Professionellen ist deshalb nie reine Wissensvermittlung, sondern immer auch Vorbereitungen auf die berufsspezifischen Formen des Entscheidens unter Unsicherheit (vgl. dazu klassisch Fox 1957).Footnote 34

Der Unterschied, den Entscheidungszwang unter Bedingungen knapper Zeit und unvollständiger Informationen für die Form einer beruflichen Arbeit macht, lässt sich gut am Kontrastfall des Historikers veranschaulichen, der keinen Zugang zu bestimmten Quellen hat, oder anhand des Gutachters, dem zu einem bestimmten Problem widersprüchliche Informationen vorliegen. Sie machen (zumindest gemessen an der offiziellen Beschreibung ihrer Aufgabe) alles richtig, wenn sie die Unsicherheit ihres Wissens akzeptieren und nach außen darstellen. Ein Wissenschaftler, dessen Wissen zu einem Phänomen begrenzt ist, muss nicht raten, ob es sich so oder so verhält: Er kann weitere Nachforschungen anstellen und dort, wo auch diese Nachforschungen kein hinreichend sicheres Wissen ergeben, seinen Lesern eben dies mitteilen. Anders verhält es sich mit den Angehörigen professioneller Berufsgruppen: Sie müssen auch dort zu einer Entscheidung kommen, wo die vorliegenden Informationen nicht ausreichen, um die eine Handlung eindeutig als einer anderen Handlung überlegen auszuzeichnen. Sie sind zu einer Entscheidung gezwungen, da ihnen auch der Verzicht auf eine Handlung als Handlung zugerechnet werden würde: Die begonnene Operation am offenen Herzen muss durch den Arzt auch dann fortgeführt werden, wenn unvorhergesehene Komplikationen auftreten, der Strafprozess von dem Richter auch dann mit einem Urteil abgeschlossen werden, wenn die Rechtslage angesichts von Gesetzeslücken keine eindeutige Auskunft gibt und der polizeiliche Einsatzleiter im Fall einer Geiselnahme muss sich für oder gegen einen Zugriff seiner Einsatzkräfte auch dann entscheiden, wenn er nur wenig über die Täter und die Situation der Geiseln weiß.

Luhmann (1964b, S. 173) spricht in Bezug auf Situationen dieser Art von der „Notwendigkeit, in Ungewißheit und ohne ganz vollständige Informationen entscheiden zu müssen“. Dieses „Wagnis“, „das viel schwerer fällt also bloße Normtreue“, bezeichnet er als die Übernahme von Verantwortung:

„Ein solches Verhalten, das Bruchstücke zusammenfügt und interpretiert, Annahmen in Tatsachen verwandelt und Hoffnungen in Voraussagen, ist in einem elementaren Sinne verantwortungsvoll. Dabei liegt die Verantwortung nicht allein in der Übernahme des Risikos, sondern darin, daß das Risiko anderen abgenommen wird. Ein Arzt, der zur Operation rät, die Nachbarin, die über das Innenleben Dritter berichtet, der Einheimische, der einem Fremden ein Hotel empfiehlt, sie alle verdichten unzureichende Informationen zu einer Darstellung, die einem anderen eine Handlungs- oder Orientierungsgrundlage bietet, ohne daß er diesen informativen Hintergrund selbst kontrolliert. Man kann Verantwortung daher als einen sozialen Prozeß der Informationsverarbeitung beschreiben, der zugleich der Absorption von Unsicherheit und der Bewußtseinsentlastung dient. In diesem Prozeß ersetzt die Verantwortung fehlende Informationen und schafft damit ein Gewißheitsäquivalent.“ (Luhmann 1964b, S. 173 f.)

Luhmann hat den Begriff der Verantwortung im Rahmen seiner frühen Organisationstheorie eingeführt und ihn nicht genutzt, um die Spezifika der Problemlagen zu bezeichnen, mit denen die Angehörigen professioneller Berufsgruppen konfrontiert sind. Eben dies scheint mir jedoch – in Anschluss auch an Überlegungen, die André Kieserling in einem Vortrag unter dem Titel „Die Arbeit der Professionen“ im Jahr 2015 in Bielefeld skizziert hat – sinnvoll zu sein, da professionsspezifische Problemlagen durch die Kombination von Grenzen der Technisierbarkeit und Zwang zur Übernahme von Verantwortung geprägt sind, oft unter Bedingungen knapper Zeit und mit irreversiblen Folgen des Handelns. Was die als „Professionen“ bezeichneten Berufe jedoch zusätzlich und entscheidend von anderen Berufsgruppen unterscheidet – so die heute zuweilen vergessene Einsicht aus Parsons Theorie der Professionen (Parsons 1939; vgl. Goode 1957) – ist, dass die jeweilige nicht-technisierbare Problemlage eine solche ist, der gesamtgesellschaftliche eine hohe Bedeutsamkeit zugeschrieben wird und deren Bearbeitung deshalb einer darauf spezialisierten und mit besonderen Rechten ausgestatten Berufsgruppe exklusiv überlassen wird (Hughes thematisiert dies mit dem Begriffspaar Lizenz und Mandat). Deshalb sind weder Fußballspieler noch Unternehmensberater oder Exorzisten aussichtsreiche Kandidaten für Professionsbildung, obwohl ja auch für die Angehörigen dieser Berufsgruppen gilt, dass sie unter den Bedingungen von Technologiedefizit und Handlungszwang agieren.

Der Frage, was genau Professionen von anderen Berufsgruppen unterscheidet, sind auch Ursula Bohn und Stefan Kühl nachgegangen, und zwar ausgehend von der Beobachtung, dass es Organisationsberatern trotz aller Bemühungen und trotz der Tatsache, dass auch der Organisationsberatung ein Technologiedefizit attestiert werden müsse, nicht gelungen ist, eine Profession im soziologischen Sinn des Wortes zu werden (keine einheitliche Kunstlehre, keine einheitliche Berufsethik, keine einheitliche Organisation des Berufsstandes, keine Autonomie in Hinblick auf die Beurteilung der Qualität der eigenen Arbeit). Ihre Erklärung lautet, dass die Professionalisierung der Organisationsberatung ausgeblieben ist und auch zukünftig ausbleiben wird, weil Organisationsberater kein ‚people processing‘ betreiben (Bohn und Kühl 2010, S. 81). Sie schließen damit an eine auch von Luhmann vertretene These an, die er vielleicht am deutlichsten in einem bislang nicht veröffentlichten Manuskript mit dem Titel „Professionelle Arbeit“ formuliert hat:

„Das Problem, das wie ein Katalysator die Entstehung von Professionen auslöst, ist die Arbeit an individuellen Personen. Es kann sich, und dies sind die Bezugsprobleme der klassischen Professionen, um trost- oder heilsbedürftige Personen, um kranke Personen, um streitende Personen handeln. Offensichtlich gehört auch die Erziehung in diesen Bereich, ferner der gesamte Komplex der Betreuung und Rehabilitierung von Personen mit psychischen oder sozialen Verhaltensschwierigkeiten.“ (Luhmann o.J., S. 2 f.)

Meine Vermutung ist, dass diese auch von Bohn und Kühl in ihrer Erklärung ausbleibender Professionalisierung von Unternehmensberatern aufgegriffene enge Verbindung von professioneller Arbeit mit ‚people processing‘ in der systemtheoretischen Literatur zwar zwei gute Gründe auf ihrer Seite hat, aber trotzdem zu kurz greift. Die guten Gründe sind, dass ‚People-Processing-Berufe‘ (Arzt, Psychotherapeut, Lehrer) unter Technologiedefiziten ‚leiden‘ (da Personen keine Trivialmaschinen sind) und sehr gute Chancen auf die Zuschreibung gesamtgesellschaftlicher Bedeutsamkeit haben (da der Zustand etwa ganzer Populationen von Schülern aus naheliegenden Gründen gesamtgesellschaftliche Bedeutsamkeit hat). Aber daraus folgt nicht, dass alle Professionen im Kern mit ‚people processing‘ beauftragt sind oder sein müssen. Beispiele für Berufe, deren Tätigkeit sinnvoll als professionelle Arbeit beschrieben werden kann, obwohl sie nicht in erster Linie ‚people processing‘ betreiben, sind Staatsanwalt, Richter oder Journalist.

Mein Vorschlag ist deshalb, die Arbeit an Personen nicht zum unverzichtbaren Definitionsmerkmal professioneller Arbeit zu erklären, sondern stattdessen zu betonen, dass professionelle Arbeit in ihrem Kern mit einer spezifische Problemkonstellation konfrontiert ist: Entscheidungszwang (Krise) auf notwendigerweise unsicheren Handlungsgrundlagen (Technologiedefizit) mit Folgen, die gesamtgesellschaftlich als schwerwiegend bzw. bedeutsam eingeschätzt werden. Viele dieser Problemlagen lassen sich als ‚people processing‘ beschreiben; in anderen Fällen ist die professionelle Problemlage, die „wie ein Katalysator die Entstehung von Professionen auslöst“ (Luhmann) jedoch der gesellschaftliche Bedarf an einer vertrauenswürdigen veröffentlichten Meinung (Journalismus) oder der gesellschaftliche Bedarf an der Aufklärung und Sanktion von Rechtsbrüchen (Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaft, Gericht). Professionalisierungsbedürftig – um ein Wort von Ulrich Oevermann (vgl. u. a. Oevermann 2002) aufzugreifen – sind, so meine Vermutung, also solche Tätigkeiten, die auf Gesellschaftsebene als funktional unverzichtbar eingeschätzt und mit einem hohen Risiko persönlich zurechenbarer Fehlleistungen einhergehen: Rechtspflege, Krankenbehandlung und Erziehung sind Beispiele unter anderen.

Arbeit, Beruf, Profession – Professionssoziologie als zentraler Bestandteil einer allgemeinen Soziologie beruflicher Arbeit

Charakteristisch und gewinnbringend an Hughes Perspektive auf berufliche Arbeit ist, dass Hughes seine Berufssoziologie stark vergleichend konzipiert und durchgeführt hat und entsprechend vor allem nach den „common themes in human work“ gefragt hat, also nach Analysegesichtspunkten, die hinreichend abstrakt sind, um sehr unterschiedliche berufliche Tätigkeiten gleichermaßen in ihrer Perspektive zu analysieren und so etwas über die Besonderheiten der jeweiligen Tätigkeit zu lernen. So glaubte Hughes daran, etwas über Prostituierte lernen zu können, wenn er Psychiater beobachtete – weil sich beide auf verschiedene Weise mit den Nöten ihrer Klienten beschäftigen, weil Vertrauen notwendig ist und vor allem: weil beide darauf achten müssen, den Kontakt zu ihren Klienten nicht persönlich werden zu lassen (vgl. Hughes 1951, S. 316).

Schon dieses Beispiel zeigt, dass Hughes Arbeiten zwar wichtige Anregungen für eine Analyse der Arbeit der klassischen Professionen (Ärzte, Geistliche, juristische Berufe) bereithalten, dass Hughes aber weit davon entfernt war, in Professionen etwas zu sehen, dass kategorial und a-historisch von anderen Berufen zu unterscheiden und notwendigerweise in einer eigenen Subdisziplin der Soziologie zu behandeln wäre.Footnote 35 Wie viele andere Soziologen nennt auch Hughes etwa in seinem kurzen Text mit dem schlichten Titel „Professions“ (Hughes 1965) die üblichen Merkmale professioneller Berufsgruppen (lange akademische Ausbildung, hoher Sozialstatus, universalistische Orientierung, hohe Autonomie), aber er begreift diese und andere Merkmale professioneller Berufsgruppen nicht als etwas, dass sich mit Notwendigkeit aus der jeweiligen Tätigkeit (dem Heilen, dem Unterrichten, dem Predigen usw.) ergibt, sondern – wie später dann prominent und mit je anderen Schwerpunkten auch Randall Collins (1979) oder Andrew Abbott (1988) – auch als Resultat gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse (wobei in diesen Aushandlungsprozessen dann natürlich diejenigen Berufe bessere Chancen haben, deren Tätigkeiten nicht technisierbar sind und deren Leistungen eine hohe gesamtgesellschaftliche Relevanz zugeschrieben wird, weshalb es ein breites Interesse daran gibt, die Qualität und Verfügbarkeit der Leistungen nicht dem Markt oder dem Staat alleine zu überlassen). Im Sinne der von Hughes vorgelegten Arbeits- und Professionssoziologie lege auch ich deshalb keinen allzu großen Wert auf die Frage, ob es sich bei dem seinerseits ja sehr vielfältigen Polizeiberuf um einen Beruf handelt, der die Bezeichnung als „Profession“ verdient, sondern begnüge mich damit, die Arbeit von Polizisten auf ihre besondere Art des Umgangs mit einem ‚common theme of human work‘ zu befragen, nämlich den Umgang mit Fehlern bei der Arbeit.

Dieser Exkurs zu allgemeineren Fragen der Berufs- und Professionssoziologie, vor allem zu der Frage nach der Plausibilität einer begrifflich scharfen Unterscheidung von Professionen und anderen Berufsgruppen, hat zumindest im Nebenertrag auch Relevanz für die Explikation der bei Hughes etwas unbestimmten Rede von der Unvermeidlichkeit beruflicher Fehlleistungen. Fehler sind, so kann jetzt festgehalten werden, im Fall der für professionelle Berufsgruppen typischen Problemlagen schwer vermeidbar. Diese Problemlagen sind durch ein Zusammentreffen folgender Eigenschaften charakterisiert: Ein Mangel an erfolgssicherer Technologie, kombiniert mit Handlungszwang, weil auch der Handlungsverzicht als Handlung zugerechnet werden würde, einem gewissen Zeitdruck sowie irreversiblen Handlungsfolgen. Sofern es einer Berufsgruppe – zum Beispiel Ärzten oder Polizisten – gelingt, die exklusive Lizenz und das exklusive Mandat (Hughes 1958) für eine so beschaffene Problemlage – zum Beispiel für die Durchführung von Operationen, Therapiesitzungen, Fahndungen, Geiselbefreiungen oder Mordermittlungen – zugesprochen zu bekommen und die jeweilige Problemlage als gesellschaftlich in hohem Maße bedeutsam eingeschätzt wird, kann die in Frage stehende Berufsgruppe mit einiger Plausibilität als „Profession“ im soziologischen Sinn bezeichnet und von anderen Berufsgruppen unterschieden werden. Daraus, dass das Handeln dieser Professionen überdurchschnittlich fehleranfällig ist und aufgrund der ihm gesellschaftlich zugeschriebenen hohen Relevanz überdurchschnittlich intensiv und kritisch beobachtet wird, ergibt sich dann das in diesem Kapitel fokussierte Phänomen der in professionellen Berufsgruppen besonders stark ausgeprägten „collective defenses against the lay world“ (Hughes 1951, S. 318).

6 Kleinere Missgeschicke, eindeutige Kunstfehler und unverzeihliche Fehltritte: Zur berufsgruppeninternen Kategorisierung beruflicher Fehlleistungen

Berufliche Gemeinschaften vergemeinschaften nicht nur das Risiko der beruflichen Fehlleistung ihrer Mitglieder, sie sind daneben und in Zusammenhang damit auch Instanzen der Beurteilung der Qualität der Arbeitsleistungen ihrer Mitglieder. Die in dieser Hinsicht implizit (etwa im Gespräch am Rande einer wissenschaftlichen Tagung im Unterschied zum expliziten Urteil im wissenschaftlichen Peer-Review-Verfahren) getroffenen und kommunizierten Urteile und die ihnen zu Grunde liegenden Kriterien sind zwar nicht komplett von den jeweiligen manifesten Kriterien guter Arbeit entkoppelt, aber auch nicht einfach mit diesen identisch. Nicht nur die von Fritz Schütze kenntnisreich beschriebenen Sozialarbeiter, sondern alle Berufsgruppen – sonst wären sie keine (Berufs-)Gruppen im hier verwendeten Wortsinn – unterscheiden intern und informal den Bereich des formal fehlerhaften Handelns nochmals in einen Bereich von „zulässigen Fehlern, die dem ‚state of the art‘ entsprechen, und unzulässigen Kunstfehlern oder gar Quacksalbereien, die bei der umsichtigen Anwendung der beruflichen Arbeitsprozeduren hätten vermieden werden können“ (Schütze 1996, S. 194).

Zum Beispiel: Der Arztberuf

Das breiteste soziologische Interesse hat in dieser Hinsicht der Arztberuf auf sich gezogen. Die Literatur rekonstruiert recht einhellig die informal institutionalisierten Standards, gemäß derer Ärzte das formale Fehlverhalten ihrer Kollegen in ‚normale‘ und ‚schwerwiegende‘ Fehler unterscheiden. Als „normal mistakes“ (Freidson 1975, S. 131; Bates 1980) oder „technical mistakes“ (Bosk 2003) gelten den Ärzten solche Fehler, die jeder Arzt im Laufe seiner Berufskarriere einige Male begeht. Sie haben zu tun mit einem unvermeidbaren Mangel an Informationen, mit der generellen Unsicherheit medizinischen Wissens, mit den Besonderheiten des Einzelfalls, aber auch mit eher praktisch-organisatorischen Restriktionen (zu wenig Zeit für den Einzelfall). Wenn Ärzte etwa eine schwer erkennbare oder seltene Krankheit falsch diagnostizieren oder sich bei der Wahl der Therapie an mittlerweile veralteten Standards orientieren, können sie mit einem im Vergleich zur Perspektive der Laien außerordentlich hohen Maß an kollegialem Verständnis rechnen. Die wesentliche Ursache dafür ist oben in der Explikation der Argumentation von Hughes mit Hinweis auf die für Professionen typische ‚Zwangslage‘ – Handlungszwang trotz Fehlen hinreichend erfolgssicherer Handlungsgrundlagen – benannt worden.

Der Arzt als Beobachter und Kommentator kollegialer Fehlleistungen weiß deshalb, dass er die Frage, wie viele und wie schwerwiegende ‚normal mistakes‘ er in seiner zukünftigen Praxis begehen wird, nicht ganz in der eigenen Hand hat und er ist schon allein deshalb zu Nachsicht im Kommentar kollegialer Fehlleistungen disponiert: „Not some, not most, but all doctors, at one time or another, make errors. That is the nature of medicine; it isn’t an exact science”, heißt es etwa in einem populären Buch des US-amerikanischen Chirurgen William A. Nolen aus den 1970er Jahren.Footnote 36 Ärzte, die wenige oder keine dieser als gewöhnlich und unvermeidlich kategorisierter Fehler begehen, gelten den Kollegen im Umkehrschluss dann auch keineswegs zwangsläufig als die besseren, sondern eher als die glücklicheren Kollegen, die schlicht das Glück hatten, in ihrer Karriere wenigen schwierigen Entscheidungssituationen ausgesetzt gewesen zu sein oder in diesen Situationen die im Rückblick richtige Entscheidung getroffen zu haben (Bates 1980).

Als ‚Problem Doctors‘,Footnote 37 als schlechte Ärzte gelten dagegen zum einen diejenigen Kollegen, die wiederholt und trotz kollegialer Korrekturversuche gegen unumstrittene Standards guter Arbeit verstoßen (fachliches Versagen), zum anderen und vor allem aber diejenigen Kollegen, die Fehler begehen, die Bosk als „moral error“ und Freidson als „deviant mistake“ bezeichnet: Verstöße gegen die professionelle Ethik der Berufsgruppe. Beispiele sind ein Arzt, der trotz offenkundiger Mängel seiner Diagnose und aus bloß partikularistischen Motiven auf weitere Untersuchungen verzichtet (Bates 1980, S. 108) oder eindeutig aus bloß partikularistischen Motiven zu medizinisch schädlichen Maßnahmen rät, der die Behandlungssituation gezielt zur Anbahnung sexueller Kontakte zu Patienten nutzt (Wilbers et al. 1997),Footnote 38 der Kollegen belügt oder sie nicht im Rahmen seiner fachlichen Möglichkeiten unterstützt (Bosk 2003). Ob Kollegen eine Fehlleistung als technischen oder als moralischen Fehler ansehen, wird auch an den jeweiligen Reaktionen sichtbar: Während ein ‚technical mistake‘ zu der impliziten oder expliziten Aufforderung führt, zukünftig in der Rolle des Arztes anders zu handeln, führt ein ‚moral error‘ dazu, dass die Kollegen die Eignung einer Person für den Beruf des Arztes prinzipiell in Frage stellen (Bosk 2003).

Zumeist wird die Frage nach dem Schweregrad einer beruflichen Fehlleistung innerhalb beruflicher Gemeinschaften jedoch ohnehin nur dann thematisiert, wenn die Gemeinschaft durch externe Kritik zu einer solchen Selbstreflexion gedrängt wird. Am deutlichsten ist das der Fall, wenn die einzelne Fehlleistung – was zum ‚Tatzeitpunkt‘ oft nicht abzusehen ist – Element eines sozialen Prozesses geworden ist, der zu einer organisationalen oder professionellen Katastrophe geführt hat. Light (1972) nennt als Beispiel einer solchen Katastrophe im Feld der Psychiatrie den Suizid eines Patienten, dessen Gesundheitszustand kurz zuvor als stabil eingestuft wurde und der deshalb aus der Klinik entlassen worden war. Munro (1996) thematisiert für das Feld der Familiensozialarbeit ähnlich gelagerte Fälle, in denen die Professionellen die Situation eines Kindes in der Familie als sicher einstufen und das Kind kurz darauf (erneut) Opfer häuslicher Gewalt wird. In den von den Autoren untersuchten professionellen Aufarbeitungen der Katastrophen wird dann jeweils die Frage thematisiert, ob es in der jeweiligen vergangenen Gegenwart der Fallbearbeitung schon Hinweise auf das katastrophale Ereignis gab. Beide beschreiben den „professional talk“, die Definitionsarbeit der jeweiligen Kollegien so, dass die Kollegen gemeinsam daran arbeiten, die Katastrophe als nicht oder kaum vermeidbar und das professionelle Handeln als im Wesentlichen richtig zu definieren. Beide beobachten auch, dass die Kollegien sich darum bemühen, eine nicht triviale Balance zu halten, nämlich einerseits den einzelnen Praktiker zu schützen, ohne andererseits die für die zukünftige Arbeit unverzichtbare Unterscheidung zwischen richtigem und fehlerhaftem Handeln unkenntlich werden zu lassen.

Studien dieser Art zeigen jedenfalls deutlich, dass die innerhalb beruflicher Gemeinschaften informal institutionalisierten Standards guter Arbeit nicht ganz identisch mit den formal-manifesten Normen fehlerfreien Handelns sind. Das Feld der Polizeiarbeit ist ein Beispiel dafür, dass die formalen und die informalen Normen guter Arbeit zuweilen sogar in einem direkt widersprüchlichen Verhältnis zueinander stehen können: Formal illegale Gewalt gegen Bürger als Reaktion auf deren ‚respektloses Verhalten‘ (‚punch for fleeing‘ und andere Formen von ‚street justice‘) hat zumindest in einigen polizeilichen Dienstgruppen eine hohe Legitimität, gilt in diesen beruflichen Gemeinschaften also als illegales, aber richtiges Handeln, als gute Polizeiarbeit (vgl. klassisch van Maanen 1978 und für Spezifikationen die oben diskutierte Literatur).

Definitionshoheit über berufliche (Fehl-)Leistungen als Variable

Wenngleich Form und Inhalt der berufsgruppeninternen Kategorisierung und Bewertung beruflicher (Fehl-)Leistungen natürlich von Berufsgruppe zu Berufsgruppe variieren, so liegt eine Gemeinsamkeit aller beruflichen Gemeinschaften doch in ihrem Interesse, in Hinblick auf diese Kategorisierung eine möglichst große Autonomie zu erlangen und den Einfluss von Laien bzw. einer breiteren Öffentlichkeit gering zu halten. Auf die oben mit Hughes beschriebene ‚Zumutung‘, mit der an sie übertragenen Aufgabe auch die Verantwortlichkeit für die adäquate Durchführung dieser Aufgabe zu übernehmen, reagieren nicht nur die klassischen Professionen, sondern alle beruflichen Gemeinschaften mit dem Versuch, die Definitionshoheit über Arbeitsqualität und Fehler bei der Arbeit in der eigenen Hand zu halten:

“[A] colleague group (the people who consider themselves subject to the same work risks) will stubbornly defend its own right to define mistakes, and to say in the given case whether one has been made.” (Hughes 1951, S. 319)

Anschauungsmaterial für diese allgemeine Eigenschaft beruflicher Gemeinschaften lässt sich etwa einem von Julius Alfred Roth – einem Schüler von Everett Hughes und David Riesman in Chicago – 1991 publizierten schmalen Band entnehmen, bei dem es sich im Wesentlichen um einen Kommentar zum klassischen „Mistakes at Work“-Aufsatz von Hughes handelt. Der Vorzug der an eigenen Thesen eher armen Darstellung von Roth ist, dass er seine Analysen im Gegensatz zu weiten Teilen der soziologischen Literatur nicht vorschnell auf den Bereich der klassischen Professionen und anderer ‚stolzer Berufe‘ beschränkt, sondern etwa auch die Arbeit von Krankenschwestern und Bauarbeitern in sie einbezieht. So zeigen die von Roth rekonstruierten und kommentierten Analysen zu Bauleuten (u. a. Riemer 1976), wie diese typisch reagieren, wenn sie einen Fehler bei der Arbeit (eine Abweichung des realisierten Baus vom Bauplan) erkennen. Meistens verheimlichen sie, dass sie den Fehler bemerkt haben und arbeiten einfach weiter, und zwar am liebsten so, dass die Fortführung ihrer Arbeit dazu führt, dass der Fehler für andere nicht mehr sichtbar ist oder so, dass eine spätere Korrektur des Fehlers aufgrund des weiteren Fortgangs der Arbeit nicht mehr sinnvoll ist. Die Wahrscheinlichkeit einer insgesamt seltenen Korrektur des Fehlers steigt, wenn die Korrektur leicht ist, wenn bedeutsame Personen (etwa Vorgesetzte) den Fehler ebenfalls bemerkt haben oder wenn die Arbeiter selbst davon überzeugt sind, dass der vorliegende Fehler bedeutsame Effekte hat (also etwa die Sicherheit des Baus gefährdet im Unterschied zu einer aus ihrer Perspektive weniger bedeutsamen bloß optischen oder finanziellen Abweichung vom Bauplan). Auch dann, wenn die Abnehmer des Baus, also etwa die Familie, die sich ihr Familienhaus bauen lässt, mal einen Fehler bemerken, haben die Bauleute gute Aussichten, den Fehler nicht korrigieren zu müssen, wenn es ihnen gelingt, die Situation so zu definieren, dass der Abnehmer des Baus vor der Alternative steht, die Fehler zu akzeptieren oder die Fertigstellung des Baus deutlich zu verzögern.

Analysen dieser Art sind in erster Linie eine Veranschaulichung dessen, was soziologisch auch ohne empirische Forschung zu erwarten ist und was auch für andere Produkte beruflicher Arbeit wie wissenschaftliche Texte, durchgeführte Unterrichtsstunden, abgeschlossene Ermittlungsverfahren oder therapierte Patienten gilt: Das am Ende gebaute Gebäude ist nie die perfekte Umsetzung des Bauplans, sondern „constructed out of a series of mistakes“ (Roth 1991, S. 11). Wo gearbeitet wird, gibt es mehr oder weniger eindeutig formulierte Programme richtigen Handelns, von denen systematisch und kontinuierlich abgewichen wird, werden also dauerhaft Fehler gemacht, die meistens niemandem auffallen und für die sich meistens niemand interessiert. So verbreitet berufliche Fehlleistungen sind, so ubiquitär ist auch das Interesse beruflicher Gemeinschaften, die Definitionshoheit über die Qualität und Fehlerhaftigkeit ihres Handelns in der eigenen Hand zu halten. Die Gruppe der Bauleute hält wie andere Gruppen bei externer Kritik an ihrer Arbeit häufig zusammen, wenn ihnen dies nützlich erscheint; die Vorarbeiter (zwischen Arbeitern und Architekt) und der Architekt (zwischen Vorarbeitern und Bauherren) fungieren als eine Grenzrolle mit doppelter Loyalität; und der Bauherr ist naiv, wenn er denkt, dass er qua Rolle in der Lage wäre, adäquat zu beurteilen oder erfolgssicher zu programmieren, was die von ihm beauftragten Bauleute tatsächlich tun.

Eine vergleichende Soziologie beruflicher Arbeit kann nun aber nicht lediglich feststellen, dass alle beruflichen Gemeinschaften daran interessiert sind, die Definitionshoheit über die eigene Arbeitsleistung in der eigenen Hand zu halten, sie kann auch feststellen und erklären, dass und warum einige Berufe in dieser Hinsicht erfolgreicher sind als andere. So fällt an den in der Soziologie als Professionen beschriebenen Berufen auf, dass es ihnen in der Regel vergleichsweise gut gelingt, Definitionshoheit in Bezug auf die Qualitätskriterien ihrer Arbeit und die Frage zu entwickeln, wann genau einem Kollegen ein (schwerwiegender) Fehler unterlaufen ist. Das hängt auch damit zusammen, dass bei den als Professionen bezeichneten Berufsgruppen oft sowohl die Ziele ihrer Arbeit (woran genau sollte der Erfolg eines Lehrers oder eines Psychotherapeuten im Einzelfall eindeutig feststellbar sein?), als auch die den Arbeitsprozess definierenden Handlungsnormen oft nicht eindeutig bzw. umstritten sind (ist es besser, die Klasse zu Ungunsten einzelner Schüler oder ist es besser, einzelne Schüler zu Ungunsten der Klasse zu unterrichten? Ist es besser, in der Behandlung eines schwer depressiven Patienten zunächst ausschließlich auf eine Behandlung mit Antidepressiva oder zugleich auf Gesprächstherapie zu setzen?). Das ist ein deutlicher Unterschied zu technologisierbaren beruflichen Tätigkeiten wie derjenigen des Fahrradmechanikers, der beispielsweise nur selten in der Lage sein dürfte, einen Laien davon zu überzeugen, dass der Auftrag zur Reparatur der Lichtanlage des Fahrrads erfolgreich und gemäß der Regeln seiner Berufsgruppe ausgeführt wurde, wenn die Lichtanlage nach der Reparatur nicht funktioniert. Ärzte und andere unter Technologiedefiziten ‚leidende‘ (professionelle) Berufsgruppen haben dagegen bessere Chancen, auch auf Gesellschaftsebene Definitionshoheit in Bezug auf die Qualitätskriterien ihrer Arbeit und die Frage zu entwickeln, wann genau ein (schwerwiegender) Fehler vorliegt und wie er zu sanktionieren ist und Nichtmitglieder ihrer Berufsgruppe als solche als urteilsunfähig darzustellen und zu behandeln (vgl. auch dazu gut Hughes 1951, S. 319 ff.; Roth 1991, S. 54 ff.).Footnote 39

6.1 Die soziale Institutionalisierung von Fehlertoleranz und die Entkopplung von Verantwortung und Verantwortlichkeit als Problemlösung mit Folgeproblemen

Im alltäglichen individuellen Erleben ebenso wie beispielsweise in den die öffentliche Verwaltung programmierenden Rechtstexten wird zumeist als selbstverständlich unterstellt, dass Personen und Organisationen, die Handlungen ausführen und Entscheidungen treffen, für diese Handlungen und Entscheidungen auch verantwortlich gemacht werden. Die Zurechnung von Handlungen und der Verantwortlichkeit für diese Handlungen auf die jeweils gleiche soziale Einheit bzw. ‚Adresse‘ (Person, Organisation) scheint zu den zentralen, auf der Ebene der Gesamtgesellschaft institutionalisierten Normen zu gehören. Nur einer kleinen Teilmenge der als handlungsfähig geltenden Subjekte wie beispielsweise kleinen Kindern, unter Drogeneinfluss stehenden oder schwer dementen Erwachsenen wird die Verantwortlichkeit für das eigene Handeln teilweise gemäß gesellschaftlicher Konventionen oder rechtlicher Normen erlassen. Für diese Personengruppen existieren dann jedoch sekundäre Mechanismen, die auch hier die Möglichkeiten eines gänzlich von Verantwortlichkeit befreiten Handelns stark begrenzen: „Eltern haften für Ihre Kinder“ und haben schon deshalb Motive, deren Handeln in legale Bahnen zu lenken und wem wie einigen Insassen geschlossener psychiatrischer Einrichtungen gesellschaftlich die Verantwortlichkeit für eigenes Handeln in Teilen erlassen wird, dessen Handlungsmöglichkeiten werden durch die totale Institution umso drastischer begrenzt.

Diese auf Gesellschaftsebene institutionalisierte Norm der Identität von Handelndem und Verantwortlichem lässt sich nicht nur in Bezug auf Personen, sondern prinzipiell auch in Bezug auf soziale Gebilde wie (professionelle) Berufsgruppen beobachten. Wenn – wie Rainer Schützeichel (2007, S. 555) in seiner Interpretation von Parsons Beitrag zur Professionssoziologie formuliert – die Gemeinschaft der Ärzte, Richter oder Lehrer als eine Art Treuhänder für spezifische gesellschaftliche Werte (Gesundheit, Recht, Erziehung) fungieren, dann übernehmen sie mit dem dazugehörigen ‚Aufgabenbereich‘ eben auch die „durchaus riskante Verantwortlichkeit“ für die adäquate Bearbeitung der jeweiligen Problemlagen. Im Gegenzug – so das Modell des impliziten Vertrages zwischen Gesellschaft und Berufsgemeinschaft, für das man auch William J. Goodes Charakterisierung professioneller Berufsgruppen als „Community within the Community“ (Goode 1957) zitieren kann – erhalten die Berufsgruppen die exklusive Lizenz für die jeweilige Tätigkeit, einen hohen Sozialstatus, materielle Belohnung, das Recht auf Selbstorganisation und rechtliche Privilegien wie den Status als Berufsgeheimnisträger.

Die ‚kritische‘ Professionstheorie (prominent: Collins 1979, S. 131–181) formuliert nun den Verdacht, dass (professionelle) Berufsgruppen die ihnen gesellschaftlich und rechtlich bzw. staatlich zugestandenen Privilegien, die an sie delegierten Freiheiten (vgl. dazu etwa Molander und Grimen 2010, S. 169), nicht lediglich dazu nutzen, die ihnen gemäß des Modells des impliziten Vertrages gesellschaftlich zugedachte Treuhänderfunktion möglichst optimal zu erfüllen, sondern immer wieder auch dazu nutzen, berufsgruppenpartikularistische Interessen zu bedienen. Berufsgruppen werden in diesen Texten dann tendenziell als Gemeinschaften von Verschwörern beschrieben, welche die partikularistischen Interessen ihrer Mitglieder auf Kosten der legitimen Interessen von Nichtmitgliedern befriedigen – etwa auf Kosten des Interesses des Patienten an einer guten medizinischen Behandlung (im Unterschied zu einer für den einzelnen Arzt finanziell attraktiven ‚Übermedikalisierung‘) oder auf Kosten des Interesses von Bürgern an einer an Recht und Gesetz gebundenen Polizei. Die etwa von Parsons und Goode vorgelegten Versionen von Professionssoziologie erscheinen Autoren wie Collins als naiv und idealisierend: Professionen würden hier ganz zu Unrecht als „the saviors of the modern world“ beschrieben, statt zu sehen, dass auch Professionen nichts anderes sind als „organized interest groups bargain with each other over favored niches“ (Collins 1979, S. 132 f.). Auch die Formulierung eines die Profession auf Gemeinwohlorientierung verpflichtenden ‚Code of Ethics‘ oder die Betonung der Notwendigkeit professioneller Selbstregulierung und -organisation seien – so Collins (1979, S. 135 ff.) konsequent konflikttheoretisch formulierte These – nur Mittel, um die Interessen der mittelschichtbasierten professionellen Beutegemeinschaften zu bedienen.

Diese ‚kritische‘ Perspektive auf Berufsgruppen enthält sicherlich wichtige Anregungen für eine umfassende Soziologie beruflicher Gemeinschaften, aber sie übersieht, dass die Entlastung einzelner Rollenträger oder auch einzelner sozialer (Teil-)Systeme von der exklusiven Verantwortlichkeit für die von ihnen erbrachten (Fehl-)Leistungen zuweilen eine schwer verzichtbare Problemlösung ist, um die in Frage stehenden Leistungen (medizinische Operationen, Polizeiarbeit) überhaupt vollbringen zu können. So hat Goffman (1973, S. 135 ff.) anhand einer Interaktionsanalyse einer Operation im Krankenhaus darauf hingewiesen, dass ein nachsichtiger Umgang der Professionellen mit den Fehlern ihrer Kollegen nicht notwendigerweise lediglich den partikularistischen Interessen der Professionellen dient, sondern funktional auch für das Handlungssystem im Ganzen (hier: die OP-Interaktion) sein kann. In der von Goffman beschriebenen Situation begehen die Assistenten im OP-Saal eindeutige Fehler, verletzten etwa den Chefchirurgen versehentlich mit dem Skalpell am Finger oder wollen ein für die jeweilige Operation ungeeignetes Instrument einsetzen. Der Chefchirurg muss nun zwei verschiedenartigen Erfordernissen des Handlungssystems Genüge tun: Zum einen muss er die technisch richtige Durchführung der Operation gewährleisten und kann deswegen die Fehler seiner Kollegen nicht einfach unkommentiert beobachten und so die Unterscheidung zwischen richtigem und falschem Handeln gefährden. Zum anderen muss der Chefchirurg aber auch für eine entspannte Stimmung im OP-Saal sorgen, dafür, dass gerade die jüngeren Kollegen ihre Selbstsicherheit nicht verlieren, die sie für die Durchführung der technisch anspruchsvollen Aufgaben benötigen. Dieses Ziel – und dadurch indirekt der Erfolg der OP – wäre gefährdet, wenn der Chefchirurg die Fehler seiner Mitarbeiter unmittelbar und direkt kritisiert. Die von Goffman beobachtete Lösung dieses Dilemmas liegt darin, dass der Chefchirurg die Fehler indirekt anspricht, das Team mithin mit „leichter Hand“ führt: Der von seinem Mitarbeiter in die Hand geschnittene Chefchirurg macht einen Scherz („Wenn ich dadurch Syphilis bekomme, weiß ich genau, woher ich sie habe, und ich habe dafür Zeugen“) und er weist seine Mitarbeiter nicht auf die Wahl des falschen OP-Instrumentes hin, sondern erwähnt scheinbar im Selbstgespräch das für den nächsten Operationsschritt geeignete Arbeitsinstrument.

Luhmann thematisiert die möglichen Vorzüge einer Entkopplung von Handlungsvollzug und Verantwortlichkeit für das Handeln in Bezug auf organisierte Sozialsysteme in einem Kapitel seines organisationstheoretischen Frühwerks „Funktion und Folgen formaler Organisation“. Luhmanns Frage lautet dabei zunächst im Kern, wie und wodurch die Übernahme von Verantwortung im Kontext komplexer Sozialsysteme ermöglicht werden kann, wobei er die Übernahme von Verantwortung – wie oben dargestellt – konzipiert als die Übernahme eines Risikos, durch welche Unsicherheit für andere reduziert wird. Verantwortung übernimmt diesem Begriff zufolge jemand, der trotz unvollständiger Informationen und ohne eigene Gewissheit Entscheidungen trifft, an denen andere sich dann in ihrem Handeln und Erleben so orientieren können, als ob es sich dabei um Gewissheiten handelt. Wer Verantwortung übernimmt, nimmt anderen das Risiko des Irrtums ab, schafft Sicherheit für andere, obwohl er sich selbst unsicher ist.

Luhmanns zentrales Argument ist nun, dass die oben skizzierte und gesamtgesellschaftlich unverzichtbare Einheit von Handlungsvollzug und Verantwortlichkeit es unwahrscheinlich macht, dass Handelnde bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. So unverzichtbar die in der Verwaltungswissenschaft formulierten Prinzipien wie dasjenige der „Übereinstimmung von Befugnis und Verantwortlichkeit“ sind, die dazu dienen sollen „den Verantwortlichen Ausreden abzuschneiden, sie also zu rechtzeitiger Sorgfalt zu motivieren“ (Luhmann 1964b, S. 181), so ist doch nicht zu übersehen, dass sie im Nebenertrag auch zu einer nicht intendierten Vermeidung riskanter Handlungsoptionen, zu einem übermäßig risikoaversen Entscheiden und zur Weitergabe des Risikos an andere Organisationsmitglieder erziehen, mit Luhmann: Zu einer Vermeidung verantwortungsvollen Handelns. Wenn Organisationen als komplexe soziale Systeme die Wahrscheinlichkeit „für Neuerungen, für ein problemoffenes, experimentelles Verhalten“ ihrer Mitglieder steigern wollen, müssen sie – so Luhmanns im Kontext einer in dieser Hinsicht aus durchaus guten Gründen weniger experimentierfreudigen Verwaltungswirklichkeit und -wissenschaft wohl provozierender Vorschlag – ein „schützendes Dunkel und ein gewisses Auseinanderfallen von Verantwortung und Verantwortlichkeit“ nicht nur zulassen, sondern punktuell gezielt unterstützen (Luhmann 1964b, S. 187). Nur dann, wenn angesichts riskanter und schwieriger Problemlagen nicht jeder Fehler und jeder Misserfolg persönliche Nachteile für die sich durch Handlung engagierenden Organisationsmitglieder hat, werden diese bereit sein, sich an dem für die Organisation als sozialem System unumgänglichen Prozess der ‚Unsicherheitsabsorption‘ durch die Übernahme von „Verantwortung“ zu beteiligen. Prägnant formuliert Luhmann diesen Zusammenhang an anderer Stelle des Buches:

„Die Mitgliedschaftsrolle hat somit auch eine Funktion der Entlastung von einem persönlich untragbaren Risiko im Bereich des sozialen Handelns, wo man den Erfolg selten allein in der Hand hat. Die Formalisierung begrenzt die Verantwortlichkeit und ermöglicht dadurch die Übernahme komplexer Verantwortungen.“ (Luhmann 1964b, S. 61)

Um es nochmals mit anderen Worten zu formulieren: Berufliche Arbeit findet immer im Kontext verschiedener sozialer Gebilde (Organisation, Berufsgruppe, Kollegium) statt und eine zentrale Funktion dieser sozialen Gebilde, in denen der einzelne Berufsrollenträger durch formale Entscheidung oder durch informale Übereinkunft (Zwangs-)Mitglied ist, liegt darin „to delegate, to spread, or, in some cases, to concentrate, the risk and the guilt of mistakes“ (Hughes 1951, S. 323). Die hier diskutierten Analysen von Goffman, Luhmann und Hughes sensibilisieren dafür, dass in dieser Entlastung des Einzelnen von exklusiver Verantwortlichkeit für sein Handeln eine für das jeweilige soziale System insgesamt schwer verzichtbare Problemlösung, eine notwendige Voraussetzung für die individuelle Übernahme von Verantwortung liegen kann.Footnote 40 Das Schweigen und Lügen zugunsten von Kollegen – im Fall der Polizei insbesondere in Bezug auf durch Kollegen begangene Straftaten – reagiert, so die hier verfolgte Überlegung, auch auf das Problem des Handlungszwangs unter Bedingungen unvollständiger Information, auf die Unausweichlichkeit der „Übernahme komplexer Verantwortung“ im Sinne Luhmanns (1964b, S. 61), durch die auch Teile polizeilichen Handelns charakterisiert sind, insbesondere dann, wenn sie als Grenzstellenarbeit „an den Toren des Systems“ (Luhmann 1964b, S. 189) vollzogen wird, etwa im Einsatz oder in der Vernehmung.

6.2 Zwischenfazit: „Versicherungsgemeinschaft“ und „Gefahrengemeinschaft“ – doch nur zwei Worte für die gleiche Sache?

Bei Leserinnen dieses Textes mag die Frage aufkommen, ob es sich bei dem hier als Versicherungsgemeinschaft beschriebenen Mechanismus wirklich um ein Phänomen handelt, das sich klar und deutlich von anderen Mechanismen der Vergemeinschaftung abgrenzen lässt. Mein zentrales Argument dafür, dass es sich lohnt, in Versicherungsgemeinschaften einen eigenständigen Modus der Vergemeinschaftung zu sehen, ist, dass das Konzept und Wort der Gefahrengemeinschaft die Perspektive zu sehr und in Hinblick auf Polizeiarbeit im Kontext des Rechtsstaats sachlich inadäquat auf physische Gefährdungslagen der Berufsrollenträger beschränkt. In Zusammenhang damit verleitet das Konzept der Gefahrengemeinschaft dann dazu, Differenzen etwa zwischen dem Polizeiberuf und dem Beruf des Sachbearbeiters im Finanzamt und Gemeinsamkeiten zu dem Beruf des Soldaten eher zu behaupten als zu belegen. Oft geht die Verwendung des Konzepts auch mit der Behauptung eines Zugs zu altruistischer Orientierung nach dem Modell einer Solidargemeinschaft oder einer Romantisierung der Vergemeinschaftung gegen bösartige Gefahren einher, wodurch die gerade für Polizeien (aber auch das Militär) zentrale normative Ambivalenz berufsbezogener Solidarität leicht aus dem Blick gerät.

Das hier vorgeschlagene und explizierte Konzept der informalen Kollegengruppe als einer Versicherungsgemeinschaft fokussiert dagegen eher das rationale Kalkül, die Reziprozität und die soziale Exklusivität berufsbezogener Solidarität. Hier versichert sich – natürlich nicht in Form einer auch anders möglichen Entscheidung, typisch auch ganz ohne Intention, aber doch der Funktion nach – ein Einzelner und verbessert so seine Chancen maßgeblich, seinen Beruf möglichst störungsfrei ausüben zu können. Der polizeiliche Korpsgeist – beschrieben als ein besonderer Fall einer berufsbezogenen Versicherungsgemeinschaft – wirkt also als eine (Zwangs-)Versicherung gegen Berufsunfähigkeit. Wer regelmäßig einzahlt, hat gute Chancen, Zeit seines Berufslebens auf die berufsspezifische Unterstützung seiner Kollegen zählen zu können. Im Fall der Polizei besteht – wie die oben diskutierten Fälle der wenigen bekannten ‚Whistleblower‘ zeigen – eine stark institutionalisierte ‚Versicherungspflicht‘.

7 Synthese: Folgenreiche Rechtsfehler als zentrales Berufsrisiko von Polizisten und der polizeiliche Korpsgeist als Fall einer berufsgruppenspezifischen Versicherungsgemeinschaft

7.1 Zur Fehleranfälligkeit von Polizeiarbeit

Im voranstehenden Text habe ich das oft als polizeilichen Korpsgeist bezeichnete Phänomen starker Berufsgruppensolidarität unter Polizisten teilweise ohne weitere Spezifikationen als einen von vielen Fällen einer beruflichen Versicherungsgemeinschaft charakterisiert. Die Besonderheiten polizeilicher Arbeit, die großen Einfluss auf die spezifische Form polizeilicher Berufsgruppensolidarität haben, sind bislang nur angesprochen, nicht aber systematisch dargestellt worden. Dies ist nach der Explikation der entscheidenden Variablen, in denen sich verschiedene (berufliche) Tätigkeiten in Hinblick auf das ‚Fehlerproblem‘ voneinander unterscheiden, nun in knapper Form möglich:

  1. i)

    Wenngleich große Teile des typischen Arbeitstages einer Polizistin im Streifendienst wenig spektakulär verlaufen, so sind polizeiliche Einsatzsituationen (Schlichtung eines Familienstreites, Verfolgungsfahrt) doch durch die oben als für Professionen typisch bezeichneten Problemlagen charakterisiert: Handlungszwang unter Bedingung knapper Zeit und ohne vollständige Informationen, sodass sich die oft folgenreichen Entscheidungen nicht einfach aus einem als verbindlich angesehenen Regelwissen ableiten lassen. Teile polizeilichen Handelns sind also durch Technologiedefizite und die Notwendigkeit der Übernahme von Verantwortung (s. o.) gekennzeichnet und deshalb anfällig für Fehler.

  1. ii)

    Eine entscheidende Besonderheit polizeilicher Fehler liegt darin, dass es sich bei ihnen – anders als bei berufstypischen Fehlern von Forschern, Tischlern, Sportlern oder Friseuren – nicht nur, um ‚folgenreiche‘Footnote 41 Fehler, sondern darüber hinaus um Straftaten handeln kann. Nur, wenn im Einzelfall eine entsprechende Rechtsgrundlage vorliegt, handelt die eine polizeiliche Maßnahme durchführende Polizistin legal, andernfalls sind ihre entsprechenden Handlungen rechtlich gesehen Fälle etwa von Hausfriedensbruch, Nötigung, Freiheitsberaubung, Körperverletzung oder Totschlag, weshalb sich der operative Polizeidienst auch als „eine permanente Gratwanderung zwischen Recht und Unrecht“ charakterisieren lässt (Herrnkind 2006, S. 60).

  1. iii)

    Rechtlich gesehen sind polizeiliche Fehler also folgenreich, aus Sicht der Polizisten gehören sie dagegen zum Alltag und ergeben sich typisch in der Durchführung ganz normaler Polizeiarbeit. Raphael Behr veranschaulicht am Beispiel des Einsatzes von ‚Sonderrechten und Sondersignalen‘ im Straßenverkehr (Blaulichtfahrt), dass das Verletzen formaler Vorgaben zum Alltag der Polizeiarbeit gehört und auch informal von Kollegen erwartet wird:

    „Beispielsweise existieren für den Gebrauch von Sonderrechten und Sondersignalen genaue Dienstanweisungen, insbesondere zum Tempolimit innerhalb geschlossener Ortschaften. Daran hält sich aber niemand, denn es ist für street cops völlig weltfremd, dass sie Verfolgungsfahrten abbrechen sollten, weil ein Verdächtiger schneller fährt als es ihnen die Vorschrift erlaubt. Gleichwohl muss man im Falle eines Verkehrsunfalls oder anderer Komplikationen damit rechnen, dass sich die Behörde auf die Dienstanweisung beruft und eine Verantwortlichkeit des Beamten daraus ableitet. Mit diesem Risiko muss er leben. Würde er sich aber bei einer Unterstützungsfahrt genau an die Dienstvorschrift halten und mit ihr begründen, dass er einem Kollegen nicht rechtzeitig zur Hilfe eilen konnte, würde er im Kollegenkreis wahrscheinlich schnell zum Außenseiter werden.“ (Behr 2003, S. 153)

    In einer der klassischen Studien der Polizeisoziologie schildert Peter K. Manning etwas allgemeiner, dass unter Streifenpolizisten (ähnlich wie unter den oben thematisierten Ärzten) die Auffassung verbreitet ist, dass es letztlich eine Frage des Zufalls sei, wie viele und wie schwerwiegende Rechtsfehler ein Polizist in Einsatzsituationen begeht. Sicher sein könne man sich nur, dass jeder aktive Polizist im Laufe seiner Karriere einige bedeutsame Rechtsfehler begehen wird (wofür ja, worauf Martin Herrnkind (2004, S. 187 f.) mit Beispielen hinweist, auch schon Fehler bei der Dokumentation des Einsatzhandelns genügen):

    „The view is that there are so many regulations, covering so many aspects of the job, that routine work will intrinsically require violation of one or more of the rules listed in the 10.000 paragraph general orders. It is considered purely a matter of change or luck whether a rule will be invoked at a given time.” (Manning 1976, S. 79) „Given the fact you can't police by the book, if a bloke hasn't got a few investigations in his file, he’s probably not doing his job (…) if you are active as a policeman, you will have complaints against you.“ (Manning 1976, S. 83)

    Aus dieser dem polizeilichen ‚Einsatzhandeln‘ und damit fast allen von der Polizei als Organisation zu vergebenen Berufsrollen eingeschriebenen Fehleranfälligkeit folgt, dass die oben diskutierten Thesen Luhmanns zur begrenzten Bedeutsamkeit kollegialer Unterstützung in Arbeitsorganisationen für Polizeien nicht zutreffen, weil es für Polizisten kaum möglich ist, für die Dauer eines Berufslebens „ein gut gesicherter Mann“ im Sinne der oben zitierten Formulierung Luhmanns zu sein, sich also auch langfristig über unzählige Einsätze hinweg „formal nichts zuschulden kommen“ zu lassen (Luhmann 1965b, S. 177). Die Erwartung formal illegaler Hilfeleistungen (hier: beim Verbergen von Fehlern) ist im Fall der Polizei nicht nur, wie Luhmann (1964b, S. 336) es als für formale Organisationen im Allgemeinen als typisch ansieht, „in engeren Gruppen“ und Cliquen, sondern unabhängig von der Person des Kollegen institutionalisiert. Die Polizei unterscheidet sich – so ein Ergebnis meiner Analyse – von anderen Arbeitsorganisationen also unter anderem dadurch, dass die „wechselseitige[n] Abhängigkeiten“ (Luhmann 1964b, S. 336) und deshalb auch die durch sie erzeugte ‚Komplizenschaft‘ weit über den Kreis der einander persönlich vertrauenden Kollegen hinausreichen.

  1. iv)

    Diese im Organisationstypenvergleich weiten Grenzen der kollegialen Solidarität unter Polizisten sind vor allem eine Folge der Tatsache, dass Polizisten im Streifendienst oder bei Großeinsätzen ihre Arbeit vor den Augen nicht durch sie ausgewählter Kollegen vollziehen und deshalb auch ihre Fehler vor deren Augen begehen. Eine im Einsatz beobachtete und nicht sofort zur Anzeige gebrachte Straftat der Kollegen ist aufgrund der polizeilichen Pflicht zur Strafverfolgung ebenfalls eine Straftat, weshalb ‚Täter‘ und ‚Zeugen‘ schnell eine Interessensgemeinschaft mit dem Ziel der Leugnung der Tat bilden. Polizisten werden so sehr schnell zu „Geheimnisträgern wider Willen“ (Schöne 2011, S. 328) und viel spricht dafür, dass sie erst ab diesem Zeitpunkt ein vollwertiges Mitglied ihres Kollegiums sind: Nur, wer sich selbst durch unrechtmäßiges Handeln oder den Verzicht auf die Meldung unrechtmäßigen Handelns von Kollegen strafbar gemacht hat, hat etwas zu verlieren, wenn er die Loyalität der Gemeinschaft verliert und kann deshalb als vollwertiges Mitglied in sie aufgenommen werden. Die durch illegales Handeln vor den Augen anderer vollzogene wechselseitige Offenbarung diskreditierender Informationen – darauf haben auch Diego Gambetta und Jennifer Flashman (2014) in Anschluss an Thomas Schelling hingewiesen – ist eine zentrale Möglichkeit, stabile Vertrauensbeziehungen zu erzeugen. Frank Serpico, der wohl berühmteste polizeiliche ‚Whistleblower‘, galt seinen Kollegen deshalb aus soziologisch nachvollziehbaren Gründen als nicht vertrauenswürdig, als sichtbar wurde, dass er die ernsthafte Absicht hatte, in einer von Korruption durchsetzten Polizei im New York der 1960er Jahre rechtsfehlerfreie Polizeiarbeit zu praktizieren (vgl. zum Fall Maas 2005).

Hubert Treiber (1973, S. 51) hat diese Konstellation in Bezug auf Soldaten in Armeen als „Normenfalle“ beschrieben: Die schiere Anzahl an detaillierten Dienstvorschriften führe dazu, dass Vorgesetzte stets in der Lage sind, ihre Untergebenen formal zu sanktionieren und dies eröffnet ihnen die Möglichkeit, die Untergebenen im Austausch mit dem Verzicht auf formale Sanktion zu einer ansonsten nicht verlangbaren Kooperationsbereitschaft in anderen Bereichen zu motivieren. In Polizeien lässt sich eine andere Fassung der „Normenfalle“ beobachten, als in den von Treiber beschriebenen Armeen: Zahlreiche Rechtsvorschriften auf der einen Seite, die Komplexität von Einsatzsituationen sowie gegenläufige informale Kollegialitätserwartungen auf der anderen Seite machen dem Polizeibeamten eine strikte Regelbefolgung auf Dauer schwer möglich und führen wie im Fall der Soldaten ebenfalls zu einem „Zustand der ständigen Kritisierbarkeit“ (Treiber; vgl. Bröckling 1997, S. 25 f.; Kühl 2014, S. 167) – hier allerdings nicht in erster Linie durch Vorgesetzte,Footnote 42 sondern durch gleichrangige Kollegen und damit zu einem starken Motiv, deren wie auch immer geartetes Fehlverhalten zu decken.Footnote 43

Die Analyse polizeilicher Berufsgruppensolidarität verweist dann auch auf eine von Hughes nicht gesehene Variable zur Erklärung der ‚Stärke‘ beruflicher Solidarität: Die Interaktionsdichte bei der (fehleranfälligen) Arbeit. Reziproke Immunität sichern sich vor allem solche Berufsrollenträger zu, die ihre jeweiligen Fehler vor den Augen ihrer Kollegen machen, denen also im Verhältnis zu den Kollegen eine Hinterbühne fehlt. Sie fehlt den Polizisten in der Einsatzsituation und den Chirurgen, wenn sie zu dritt eine komplizierte Operation bewerkstelligen müssen, während Physio- und Psychotherapeuten, Hausärzte und Lehrer, Sozialarbeiter und Anwälte die Situation des Klientenkontaktes in der Regel als Einzelperson betreten und verlassen, ihre professionelle Definition der Situation und möglicher Fehlleistungen in ihr also nicht mit Kollegen abstimmen müssen.

Polizeiarbeit ist damit in Hinblick auf ihre Fehleranfälligkeit durch eine spezifische Kombination gekennzeichnet: Technologiedefizit und damit zusammenhängend hohe Wahrscheinlichkeit von Fehlern im Zuge der Durchführung ganz normaler Polizeiarbeit; hohe Bedeutsamkeit dieser Fehler für den einzelnen Berufsrollenträger; das Wissen um individuelles Fehlverhalten ist im Kollegenkreis breit geteilt. Angesichts dieser Kombination wird die polizeiliche Versicherungsgemeinschaft aus Sicht des einzelnen Polizisten zur unverzichtbaren Voraussetzung, um seiner Arbeit nachgehen zu können.

7.2 Folgenreiche Rechtsfehler bei der Arbeit als zentrales Berufsrisiko von Polizisten

„It all depends, they feel, on whether the ‘guys’ will support you when questions are raised” (Manning 1976, S. 83).

Weite Teile der sozialwissenschaftlichen Literatur und der journalistischen Berichterstattung haben bislang zu pauschal und insofern unkritisch die Selbstbeschreibung polizeilicher Einheiten als durch eine große gemeinsame physische Bedrohung stark integrierte ‚Gefahrengemeinschaft‘ übernommen und Polizeien nach dem Modell familiären Zusammenhalts als ‚Bruderschaft‘ beschrieben. In Abgrenzung dazu habe ich das typische Verhältnis von Polizeibeamten zueinander mit einer von Egon Bittner nebenbei benutzten Formulierung als „reciprocal tolerance“ (Bittner 1970, S. 69 f.) charakterisiert.Footnote 44

Leicht zugespitzt, im Sinne einer für merkfähige Interpretationen kaum vermeidbaren Vereinfachung, ist die in diesem Kapitel beschriebene prototypische Polizistin im Streifendienst oder im Kriminalkommissariat zunächst ein ganz normales Organisationsmitglied, die ihre Arbeit zu erledigen versucht, ohne dabei persönliche Nachteile zu erleiden. Als Mitglied einer Organisationseinheit (Dienstgruppe, Hundertschaft oder Kommissariat) kommt diese pragmatische Bürokratin nicht umhin, in Einsatzsituationen oder bei der Bearbeitung von Ermittlungsverfahren Kooperationsbeziehungen mit ihren Kollegen einzugehen. Die Unterstützung der Kollegen im Bedarfsfall sichert sich die hier beschriebene prototypische Polizistin im Wesentlichen dadurch, dass sie ihre Kollegen bei der Erledigung ihrer Arbeit in Ruhe lässt, und zwar auch dann, wenn sie diese Arbeit auf nicht rechtmäßige Weise erledigen und die Polizistin das Vorgehen der Kollegen normativ geringschätzt, also auch dann, wenn es sich aus Sicht der prototypischen Polizistin eindeutig um schlechte (illegitime) und illegale Polizeiarbeit handelt. Polizisten tolerieren, so die von Bittner (1970, S. 69) formulierte und bis heute im Großen und Ganzen zutreffende Beobachtung, selbst „the worst of their kind in their midst“– also etwa den Kollegen, der regelmäßig zu exzessiver Gewalt neigt – so lange dieser Kollege in der Lage ist, seine Rechtsbrüche so zu gestalten, dass dadurch die Arbeit der übrigen Kollegen nicht übermäßig erschwert wird.

Um diese Charakterisierung polizeilicher Berufsgruppensolidarität auf den Begriff zu bringen und die Verschiedenartigkeit des üblichen und des von mir vorgeschlagenen Ansatzes zur Erklärung starker (Berufs-)Gruppensolidarität zu betonen, habe ich die Differenz der Konzepte Gefahrengemeinschaft und Versicherungsgemeinschaft so stark wie von der Sache her möglich formuliert. Zum Ausgleich dieser intendierten Einseitigkeit der Argumentation mag es deshalb sinnvoll sein, am Ende des Kapitels darauf hinzuweisen, dass es empirisch selbstverständlich Fälle von beruflichen und anderen Gemeinschaften gibt, für die es sich nicht plausibel behaupten lässt, dass es sich exklusiv um eine Gefahren- oder eine Versicherungsgemeinschaft handelt. Die von den beiden Konzepten betonten verschiedenartigen Mechanismen der Vergemeinschaftung können empirisch also durchaus zusammenwirken und sich dann wechselseitig verstärken. Polizeidienstgruppen sind ein gutes Beispiel für diese Verschränkung zweier verschiedenartiger Mechanismen: Die Tatsache, dass das Narrativ der ‚Gefahrengemeinschaft‘ hier für die Teilnehmer selbst eine hohe Plausibilität hat, erleichtert es den Polizisten, ihren formal illegalen Beitrag zur ‚Versicherungsgemeinschaft‘ zu entrichten, weil dieses Narrativ eine institutionalisierte Antwort auf die Frage anbietet, warum sie im Zweifelsfall die Loyalität zum Kollegen (der in ihrer Welt dann ein ‚Kamerad‘ ist) höher gewichten als die Loyalität zum Recht. Diese in der polizeilichen Berufsgruppe als Selbstbeschreibung institutionalisierte und deshalb kausal folgenreiche Erzählung verweist nicht auf das Eigeninteresse des einzelnen Polizisten, sondern auf seine altruistische Orientierung gegenüber den Kollegen. Dass dies so ist, verpflichtet die Soziologie indes nicht dazu, dies für das letzte Wort zu halten.

Ein weiteres Beispiel für den in diesem Kapitel rekonstruierten Mechanismus der Erzeugung von Solidarität durch wechselseitige Erpressbarkeit ist die rechtswidrige Tötung von Zivilisten als Aufnahmeritual in militärischen Kampfeinheiten. Die politische und massenmediale Diskussion rechnet dieses Fehlverhalten typisch auf eine „toxische ‚Krieger-Kultur‘“Footnote 45 unter Soldaten zu oder individualisiert den Rechtsbruch. Der Hinweis auf die Organisationskultur in Militär und Polizei mag einen Teil der Sache treffen. Übersehen wird in diesen Erklärungen jedoch das von mir betonte Phänomen, nämlich, dass Dienstgruppen vom Typ Polizei und Militär dazu neigen, Binnensolidarität und Vertrauen durch wechselseitige Erpressbarkeit zu erzeugen. Der Neuling muss vor den Augen der anderen einen schweren Rechtsbruch begehen, dadurch von der Kooperation der anderen abhängig und dadurch für sie berechenbar und insofern vertrauenswürdig werden.

7.3 Brauchbare und unbrauchbare Illegalität in der Polizeiarbeit

Vor dem Hintergrund des in diesem Kapitel ausgearbeiteten Ansatzes zur Erklärung starker Berufsgruppensolidarität (unter Polizisten) lassen sich auch Überlegungen bezüglich der Plausibilität normativer Urteile zur Sache anstellen, lassen sich also soziologisch informierte Bewertungen sozial formulierter Bewertungsalternativen ausarbeiten.Footnote 46 So hoffe ich, deutlich gemacht zu haben, dass die in der veröffentlichten Meinung zu Polizeiarbeit ebenso wie in der öffentlichen Selbstreflexion polizeilicher Behörden stets wiederholte Auffassung, „in einer rechtsstaatlichen Polizei“ könne und dürfe es „keine Solidarität im Unrecht geben“ (Jasch 2017, S. 103) – aus soziologisch erklärbaren Gründen – die Funktionen informaler und illegaler Versicherungsgemeinschaften für den normalen Arbeitsvollzug übersieht und vor allem die Möglichkeiten der Polizeibeamten überschätzt, diese Solidarität nach sachlichen Kriterien mal zu vergeben und mal zu entziehen. Für den Ausschluss aus der informalen Versicherungsgemeinschaft spielt es – wie die oben diskutierte Forschung zu polizeilichem ‚Whistleblowing‘ gut zeigen kann – keine große Rolle, gegen welchen Kollegen eine Polizistin aus welchen Gründen auszusagen bereit war. Sogar die Anzeige gegen sich selbst führt dazu, als nicht vertrauenswürdige Kollegin kategorisiert und aus der informalen Versicherungsgemeinschaft ausgeschlossen zu werden (vgl. mit Hinweisen in diese Richtung schon früh Westley 1956, S. 255; für neueres Material, das sich in diese Richtung interpretieren lässt, etwa Behr 2000).Footnote 47

Der einzelne Polizist ist also zwar in der Regel in der Lage, formale Verfehlungen ihrem Schweregrad nach zu unterscheiden und zeigt, wie oben dargestellt, typisch Verständnis etwa nur für das situative Entgleisen eines Einsatzes, nicht aber für gezielte unrechtmäßige Gewalt oder Korruption. Dieses rechtsstaatlich lobenswerte subjektive Urteilsvermögen ändert aber nichts daran, dass der einzelne Polizist – so der rechtskreisübergreifende und zeitstabile Befund der empirischen Forschung – fürchten muss, im Kreis der Kollegen auch bei der Anzeige von als in diesem Kreis illegitim angesehenen Straftaten, wenn nicht als Verräter, so doch als weniger vertrauenswürdig zu gelten. Die Norm der Geheimhaltung ist wie so oft auch im Fall der polizeilichen Solidarität „ungeschickt und undifferenziert, viel zu weit ausgedehnt“ (Simmel 1908a, S. 406). Eine ‚geschicktere‘ informale Norm würde nur solche kollegialen Fehler decken, die als Entgleisung rechtmäßiger Polizeiarbeit verstanden werden können. Es fehlt im Bereich der informalen Ordnung aber an einer Instanz, die eine Unterscheidung zwischen guter und schlechter Illegalität treffen und sozial generalisieren könnte.

Ein Missverständnis der in diesem Kapitel entwickelten Argumentation wäre es, ihr – und allgemeiner Ansätzen, die „brauchbare Illegalität“ in Organisationen (Luhmann 1964b; Kühl 2020) oder noch allgemeiner die Funktionalität widersprüchlich strukturierter sozialer Ordnungen (Kieserling 2015a; Weißmann 2017b) herausarbeiten – vorzuhalten, sie fordere eine soziologische Ehrenrettung fehlerhafter Polizeiarbeit per se, legitimiere polizeiliche Willkür und müsste konsequent zu Ende gedacht in die Reformforderung münden, die rechtsstaatliche Einhegung von Polizeiarbeit drastisch zurückzunehmen. Ein Missverständnis wäre dies schon deshalb, weil das Konzept brauchbarer Illegalität bzw. funktionaler Devianz ja gerade die Funktion des regulierten, also begrenzten und seinerseits strukturierten Widerspruchs zwischen offiziellem Ideal und Realität, zwischen ‚Rationalmodell‘ (zu finden im Fall der Polizei etwa in Dienstvorschriften und Polizeigesetzen) und ‚Sozialsystem‘ betont. Es geht im Rahmen systemtheoretisch-funktionalistischer Kritik also nicht in erster Linie um eine Kritik der manifesten Normen in der Absicht, sie zu verändern (zum Beispiel ein heute in der Bundesrepublik illegales Handeln von Polizisten zu legalisieren oder umgekehrt), sondern vor allem um die Steigerung der Sensibilität für die Unvermeidlichkeit der zuweilen auch funktionalen Differenz von Ideal (zum Beispiel das Ideal rechtsfehlerfreier Polizeiarbeit) und Realität (zum Beispiel operative Polizeiarbeit mit vielen Rechtsfehlern).

Im Kontext der in diesem Kapitel entwickelten Perspektive auf die hohe Fehleranfälligkeit von Polizeiarbeit lohnt sich dann auch ein zweiter Blick auf die in der öffentlichen Diskussion eingebrachten Reformvorschläge, vor allem auf die Forderung, dass von Polizisten begangene Straftaten konsequenter und durch unabhängige Ermittlungsbehörden verfolgt werden sollten. Versuche in diese Richtung dürften – falls das hier vorgetragene Argument zutreffen sollte – neben der intendierten Wirkung (Ausleuchten des Dunkelfelds und mittelfristig vielleicht auch Verringerung der von Polizisten begangenen Straftaten) auch eine nicht intendierte Nebenwirkung mit sich bringen, nämlich die Zunahme defensiver Solidarität unter Polizisten. Empirische Anhaltspunkte für diesen Zusammenhang liefern neben der in diesem Kapitel diskutierten sozialwissenschaftlichen Literatur immer wieder auch journalistische Arbeiten. Herausgearbeitet wird hier etwa der Mechanismus, dass Polizisten auf Anzeigen gegen Kollegen mit wahrheitswidrigen Gegenanzeigen gegen Bürger reagieren und so indirekt die Anzeigebereitschaft der von unrechtmäßiger Polizeiarbeit betroffenen Bürger reduzieren.Footnote 48 In der Sprache des in diesem Kapitel formulierten Argumentes: Wenn durch die Intensivierung externer Kontrolle von Polizeiarbeit das Risiko für Polizistinnen und Polizisten zunimmt, für Fehler bei der Arbeit persönlich verantwortlich gemacht zu werden, führt dies tendenziell zu einer zunehmenden Bereitschaft einzelner Polizistinnen und Polizisten auf allen Hierarchieebenen, zu Gunsten ihrer Kollegen zu Lügen und zu Schweigen. Im Ergebnis führt die Intensivierung externer Kontrolle dann im aus rechtsstaatlicher Sicht schlechtesten Fall weder zu einer Abnahme unrechtmäßiger polizeilicher Maßnahmen noch zu einer Zunahme von formalen Sanktionen gegen Polizistinnen und Polizisten, die unrechtmäßige polizeiliche Maßnahmen durchgeführt haben.

Die in diesem Kapitel ausgearbeitete organisations- und professionssoziologische Perspektive auf (die externe Kontrolle von) Polizeiarbeit ist damit auf zumindest drei Thesen hinausgelaufen, die in der öffentlichen Diskussion zum Thema selten hervorgehoben werden. Die erste These ist, dass Rechtsfehler ein unvermeidbarer Teil von Polizeiarbeit sind und das Ideal rechtsfehlerfreier Polizeiarbeit deshalb zwar als Ideal sinnvoll, aber unerreichbar ist.Footnote 49 Die zweite These ist, dass sich die Realität von Polizeiarbeit dem Ideal rechtmäßiger Polizeiarbeit nur in dem Maße annähern kann, in dem die formale Kontrolle von Polizeiarbeit Unterstützung in informalen Kollegialitätsnormen erfährt.Footnote 50 Die dritte These verbindet die beiden anderen und zieht eine aus rechtsstaatlicher Sicht unbequeme Schlussfolgerung: Insofern Polizistinnen aufgrund der inhärenten Fehleranfälligkeit ihrer Arbeit auf die Mitgliedschaft in der informal-kollegialen „Versicherungsgemeinschaft“ angewiesen sind, haben sie starke Motive, diese Mitgliedschaft nicht durch eine (offene und konsequente) Unterstützung von Ermittlungen gegen andere Mitglieder ihrer Versicherungsgemeinschaft zu gefährden. Mit anderen Worten: Die inhärente Fehleranfälligkeit von Polizeiarbeit begrenzt indirekt das Ausmaß, im dem die formale Kontrolle von Polizeiarbeit Unterstützung in informalen Kollegialitätsnormen erfährt und damit die faktische Effektivität dieser Ermittlungen gegen Polizeibeamte.

Aus der in diesem Kapitel ausgearbeiteten Argumentation lassen sich neben diesen drei Thesen auch zwei empirisch überprüfungsbedürftige Hypothesen bezüglich nicht intendierter Nebenfolgen einer Intensivierung der externen Kontrolle von Polizeiarbeit ableiten. Erstens die ausgehend von Hughes (1951) diskutierte Hypothese, dass die Intensivierung externer Kontrolle zu einer Steigerung defensiver Solidarität unter Polizisten führt. Zweitens die Hypothese der Zunahme eines risikoaversen Entscheidungs- und Handlungsstils unter Polizisten im Sinne des Satzes, dass die Furcht vor „Verantwortlichkeit“ (Luhmann 1964b, S. 172–190) die Initiative lähmen kann.Footnote 51 Um nochmals möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Es gibt aus rechtsstaatlicher Perspektive selbstverständlich gute Argumente dafür, diese beiden Nebenwirkungen bzw. Folgeprobleme einer Intensivierung der externen Kontrolle von Polizeiarbeit in Kauf zu nehmen und selbstverständlich ist es eine weitere und komplizierte Frage, in welchen polizeilichen Einsatzsituationen welche Form von Risikobereitschaft und Risikoaversion sachlich angemessen ist. Aber vielleicht kann eine soziologische Perspektive auf das Fehlerproblem in der Polizeiarbeit dazu beitragen, die Diskussionen über die fraglos notwendigen Reformen der externen Kontrolle von Polizeiarbeit mit mehr Gespür für nicht intendierte Nebenfolgen auszustatten.

8 Was tun? Möglichkeiten und Grenzen der (Selbst-)Kontrolle von Polizeiarbeit

„Die Frage, mit der diese Situation uns konfrontiert, ist letztlich natürlich: was man tun kann. Aber eine dafür unerläßliche Vorfrage ist: wie man angemessen beobachten und beschreiben kann.“ (Luhmann 1993b, S. 252)

Die in Anschluss an diese soeben zusammengefassten zentralen Thesen des Kapitels soziologisch interessante und gesellschaftlich relevante Frage bleibt, welche Möglichkeiten es gibt, der (Selbst-)Kontrolle von Polizeiarbeit trotz aller Schwierigkeiten und Grenzen zu mehr Wirksamkeit zu verhelfen. Insgesamt dürfte wesentlich sein, die in den letzten Jahren in vielen Polizeien eher zögerlich angestoßenen Reformbemühungen konsequenter und mit Sensibilität für die oben genannten nicht intendierten Nebenfolgen zu betreiben.

Im Einzelnen scheinen mir – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – vier Ansätze zur Steigerung der Wirksamkeit der (Selbst-)Kontrolle von Polizeiarbeit bedenkenswert zu sein. Die ersten beiden Ansätze beziehen sich unmittelbar auf die formale Struktur der Kontrolle polizeilichen Handelns. Der dritte und der vierte Ansatz beziehen sich auf die innerhalb der polizeilichen Dienstgruppen institutionalisierten Kollegialitätsnormen (die „cop culture“Footnote 52) und gehen von der allgemeinen organisationssoziologischen Überlegung aus, dass informale Kollegialitätsnormen, die am Beispiel des ‚Code of Silence‘ im Zentrum des Kapitels standen, durch Entscheidungen auf Ebene der Formalstruktur von Organisationen zwar nicht determiniert oder gesteuert, aber doch beeinflusst werden können. Dies gilt beispielsweise mit Bezug auf Formen und Inhalte der Aus- und Fortbildung in Polizeiorganisationen (iv), mit Bezug auf ihre Selbstbeschreibung und Außendarstellung (iv) oder mit Bezug auf die Personalauswahl in Polizeiorganisationen (iii).

  1. i)

    Die Möglichkeiten anonymer Meldungen polizeilichen Fehlverhaltens ausbauen, um die Furcht potenzieller Whistleblower vor formalen und informalen Sanktionen zumindest etwas abzuschwächen.Footnote 53 In Bezug auf formale Sanktionen denke ich an die Furcht des potenziellen Whistleblowers vor Gegenanzeigen (u. a. wegen Strafvereitelung im Amt, wenn er eine von ihm beobachtete Straftat eines Kollegen erst mit Verzögerung zur Anzeige bringt), in Bezug auf informale Sanktionen an die Furcht des potenziellen Whistleblowers vor dem Entzug kollegialer Unterstützung (dem Ausschluss aus der informalen Versicherungsgemeinschaft).

  1. ii)

    Die Ermittlungen gegen Polizeibeamte, die einer Straftat beschuldigt werden, nicht ihren unmittelbaren und der gleichen Versicherungsgemeinschaft zugehörigen Kollegen überlassen, sondern diese Aufgabe an eigens dafür geschaffene staatliche Einrichtungen übergeben, deren Personal zumindest etwas weniger stark auf das zukünftige Wohlwollen der von ihnen untersuchten Polizisten und Polizeiorganisationen angewiesen ist. Die Grenzen konsequenter Rechtsdurchsetzung (in diesem Fall gegen Polizisten), die ich in diesem Buch unter anderem mit dem Begriff des „Kontaktsystems“ und dem „Gesetz des Wiedersehens“ (Luhmann 1969b, S. 75) herausgearbeitet habe, würden natürlich auch nach einer solchen Reform erhalten bleiben, dürften sich im Vergleich zur derzeitigen Lage jedoch verschieben.Footnote 54

  1. iii)

    Polizeiliche Dienstgruppen in Bezug etwa auf Geschlecht, Ethnizität oder Religionszugehörigkeit nach Möglichkeit heterogen bzw. ‚divers‘ zu besetzen, um der zusätzlichen Verstärkung der aus rechtsstaatlicher Perspektive problematischen Aspekte kollegialer Versicherungsgemeinschaften durch geteilte „latente Rollen“ (Gouldner 1957) ihrer Mitglieder zumindest etwas entgegenzuwirken. (Stichworte: Rassismus, RechtsextremismusFootnote 55 und toxische MännlichkeitFootnote 56 in der Polizei).Footnote 57 Besonders große Bedeutung dürfte dabei mit Bezug auf den Streifendienst der Position des Dienstgruppenleiters zukommen, da diese Zwischenvorgesetzten vergleichsweise großen Einfluss darauf nehmen könn(t)en, welche Formen unrechtmäßiger Polizeiarbeit innerhalb ihrer Dienstgruppe als legitim angesehen und geduldet werden.

  1. iv)

    Die durch die Selbstbeschreibung von Polizeiorganisationen sowie durch die Strukturen und Inhalte der Aus- und Fortbildung ihres Personals zumindest etwas beeinflussbare professionelle Sozialisation und Erziehung von Polizisten zu einem Selbstbild und Berufsethos, das Polizeiarbeit nicht als Arbeit „nah am Tode“ (Weinhauer 2003, S. 111) mystifiziert, sondern Polizeiarbeit nüchtern als besondere Form von Verwaltungshandeln versteht. Selbstverständlich wird dadurch die Selbstbeschreibung der Polizisten als „Gefahrengemeinschaft“ und „crime fighter“ (s. o.; Waddington 1999, S. 299 f.) nicht gänzlich verschwinden. Es würde jedoch, wie auch ein Blick auf die im internationalen Vergleich schwach militarisierten englischen ‚Bobbys‘ zeigt, der Funktionsfähigkeit der Polizei und ihrem Ansehen in der Öffentlichkeit nicht schaden, wenn diese Selbstbeschreibung ergänzt und relativiert wird durch das Selbstbild von Polizisten als Bürokraten im Dienst eines auf Universalismus und Menschenrechte verpflichteten demokratischen Rechtsstaat.

    Eine solche sich in erster Linie als besondere Mitarbeiterin der öffentlichen Verwaltung verstehende und beschreibende Polizistin ist durchaus in der Lage, im Bedarfsfall physischen Zwang bis hin zu tödlicher Gewalt anzuwenden. Ihren professionellen Stolz zieht sie jedoch vor allem aus Einsätzen, in denen ihr die Überführung von „troublesome, fragile situations back into a normal or efficient state“ (Ericson 1982, S. 218) in Einklang mit ihren rechtlichen Befugnissen und im Idealfall ohne die Anwendung unmittelbaren Zwangs gelungen ist. Auch ohne Kenntnis des in diesem Kapitel vorgestellten Konzepts des „Technologiedefizits“ weiß sie darum, dass einige unrechtmäßige polizeiliche Maßnahmen eine Folge entgleisender Einsatzsituationen sind, weshalb sie kollegiales Verständnis für viele Fehler ihrer Kollegen aufbringen kann. Das kollegiale Verständnis dieser hier imaginierten Polizistin für die Fehler ihrer Kollegen kennt allerdings deutlichere und handlungsrelevantere Grenzen als dasjenige, von dem die empirische Polizeiforschung bislang zu berichten weiß (s.o.).

    Gemeinsam mit ihren ähnlich sozialisierten und denkenden Kollegen gelingt es dieser Polizistin mit der Zeit, informale „Zonen der Kompromisslosigkeit“ (Seibel 2016, S. 168; vgl. Weißmann 2017a) in ihrer Dienstgruppe zu institutionalisieren, in denen kein Platz für Kollegen ist, die ihre Berufsrolle für sachfremde und vom System der Rechtsdurchsetzung her gesehen funktionslose Zwecke wie persönliche Bereicherung oder die Ausübung exzessiver Gewalt nutzen. Auch in diesen Dienstgruppen arbeiten wie in allen größeren Organisationen in der modernen Gesellschaft Personen mit beispielsweise antisemitischen, rassistischen oder homophoben Einstellungen. Sie müssen angesichts der von ihren Kollegen und ihren Vorgesetzten errichteten „Zonen der Kompromisslosigkeit“ jedoch mit formalen und informalen Sanktionen rechnen, sollten sie sich zu oft und zu offen dazu entschließen, die von ihnen bevorzugte Form „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ (Heitmeyer 2002) in ihre dienstlichen Kommunikationen und Handlungen einfließen zu lassen. Als schwerwiegendste informale Sanktion droht ihnen der Ausschluss aus der kollegialen „Versicherungsgemeinschaft“, ohne deren Schutz sie schlechte Chancen haben, ihrem fehleranfälligen Beruf langfristig nachzugehen.

Es gibt mithin einige Ansätze, die geeignet sind, der externen rechtsstaatlichen und internen kollegialen (Selbst-)Kontrolle von Polizeiarbeit zu einer etwas höheren Wirksamkeit zu verhelfen. Die mit diesen und anderen Reformbemühungen auf der Ebene des Rechtssystems (i, ii) und auf der Ebene von Polizeiorganisationen (iii, iv) verbundenen Hoffnungen sollten indes nicht zu groß sein: So lange Polizisten Recht in komplexen und folgenreichen SituationenFootnote 58 anwenden und durchsetzen, sind sie dem Risiko ausgesetzt, persönlich zurechenbare Rechtsfehler zu begehen und werden Versicherungsgemeinschaften bilden, die den Einzelnen von exklusiver Verantwortlichkeit für sein Handeln entlasten.