„Wie geht es zu, und welches sind die Kräfte, die der Untersuchungsrichter in dem Inquisiten anregt, daß dieser durch das Geständniß freywillig [...] ein großes Unglück über sich selbst verhängt [...]?“ (Wilhelm Snell 1819, S. 2)

In Kapitel 5 habe ich die Geschichte kriminalpolizeilicher Ermittlungsarbeit als eine Geschichte ihrer Ausdifferenzierung und Organisationswerdung rekonstruiert. Ein Aspekt dieses Prozesses ist, dass die Polizeiorganisationen zunehmend von einem durch eigene andere Rollen der polizierenden Personen gewährleisteten Informationsfluss abgeschnitten werden und diesen dann durch organisationsspezifische Leistungen herstellen müssen. Eine wichtige Informationsquelle der Polizei sind dabei die in Kapitel 6 analysierten Kontakte zu Informanten, eine andere der Kontakt zu Personen, die seitens der Ermittler verdächtigt werden, Straftaten begangen zu haben. Die polizeiliche Beschuldigtenvernehmung als moderne und formalisierte Form dieses Kontakttyps ist Gegenstand der folgenden Analyse.

FormalPara Die polizeiliche Beschuldigtenvernehmung als Interaktionstyp an den Grenzen des organisierten Rechtsbetriebs

Die Vernehmung von Personen, die einer Straftat beschuldigt werden, ist eines der zentralen Elemente von Ermittlungsverfahren, die in der Bundesrepublik und in anderen Rechtsstaaten in der Regel von der Polizei im Auftrag der Staatsanwaltschaft durchgeführt werden und an deren Ende die Entscheidung für oder gegen die Erhebung einer Anklage steht. Der Verlauf der Interaktion zwischen Vernehmer und Beschuldigtem und vor allem dessen Dokumentation im Aussageprotokoll hat deshalb in vielen Fällen entscheidenden Einfluss auf die Frage, ob aus einem Beschuldigten in einem Ermittlungsverfahren ein Angeklagter in einer Hauptverhandlung wird. Trotz dieser großen Bedeutung der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung für die Strafjustiz ist die Vernehmung als soziale InteraktionFootnote 1 im deutschsprachigen Raum bislang kaum zum Gegenstand wissenschaftlicher Publikationen gemacht worden. Die wenigen vorliegenden Beiträge zum Thema beschränken sich typisch entweder auf eine Diskussion der offiziellen Rechtsnormen oder sie leiden, wenn sie sich empirisch auf Grundlage teilweise aufwändig erhobener Beobachtungsdaten für die Frage interessieren, was wirklich in Vernehmungszimmern in Polizeibehörden vor sich geht, unter dem Verzicht auf von der Sache her naheliegende Anschlüsse an Fragestellungen und Konzepte der theorieorientierten Sozialforschung (als prominentes Beispiel für die USA vgl. Leo 2008; für die BRD Schröer 1992b).

Zwischen dieser – überspitzt formuliert – legalistischen und empiristischen Literatur zu polizeilichen Beschuldigtenvernehmungen ist mein Beitrag zum Thema verortet. Auf Grundlage zahlreicher empirischer Untersuchungen zu polizeilichen Beschuldigtenvernehmungen insbesondere in Deutschland, Großbritannien und den USA nehme ich die polizeiliche Beschuldigtenvernehmung zunächst als einen typischen Fall eines Grenzsystems in den Blick: Der polizeiliche Vernehmer als Abgesandter des organisierten Rechtsbetriebs trifft auf ein Gegenüber, an dessen Kooperation der Grenzrollenträger und sein Entsendesystem ein starkes Interesse haben, die sie aber in Rechtsstaaten mit Gespür für die Bedeutsamkeit von Beschuldigtenrechten allenfalls dann zu erzwingen versuchen könnten, wenn sie bereit wären, Folgeprobleme wie Beweisverwertungsverbote oder die erhöhte Wahrscheinlichkeit von Falschaussagen in Kauf zu nehmen. Zugleich belegen die Daten zu den in diesem Kapitel primär thematisierten Vernehmungen in Deutschland, den USA und Großbritannien ein hohes Maß an Kooperationsbereitschaft Beschuldigter. Am Anfang meiner Darstellung steht deshalb eine Frage, die seit dem Beginn der Delegitimierung der Folter als Mittel der Geständnismotivierung auch in der die Rechtspraxis begleitenden Anleitungs- und Reflexionsliteratur an zentraler Stelle steht: Wie gelingt es einem Vernehmer, sein Gegenüber dazu zu bringen, sich im Laufe des Gesprächs an den Ermittlungen gegen ihn selbst zu beteiligen – obwohl es dem Beschuldigten gemäß der Rechtsordnungen in Rechtsstaaten frei steht, jede Kooperation und Aussage zu verweigern?

Der Text formuliert eine Antwort, indem er auf Grundlage der vorliegenden rechts- und sozialwissenschaftlichen Fallstudien zur Vernehmungspraxis der Polizei eine Beschreibung der typischen Interaktionsordnung polizeilicher Vernehmungen anfertigt. Der Vorschlag ist, die zentrale interaktive Herausforderung des Vernehmers darin zu sehen, das ihm durch seine Rolle aufgetragene Misstrauen in die Selbstdarstellung des Beschuldigten zu praktizieren, den Beschuldigten mithin taktlos zu behandeln, ohne dadurch den von der Rechtsordnung zugestandenen und von den Interessen des Beschuldigten her gesehen naheliegenden Abbruch der Interaktion durch den Beschuldigten zu provozieren. Die in Anschluss an die Theorie organisationaler Grenzkontakte formulierte und am empirischen Material entfaltete These lautet, dass Ermittler diese Aufgabe typisch bewältigen, indem sie ihre Grenzstellung zur Justiz (Staatsanwaltschaft) und zum Strafrecht in der Vernehmungsinteraktion ausbeuten. Die interaktionelle Ausbeutung der strukturellen Einbettung der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung als Grenzsystem zwischen Beschuldigtem und Justiz durch die Vernehmer beinhaltet etwa, dass die Polizisten dem Beschuldigten die Möglichkeit eines Tausches von Kooperationsbereitschaft gegen Einfluss auf die Staatsanwaltschaft oder auf die Art der Formulierung des Aussageprotokolls suggerieren, dass sie ihre Skepsis bezüglich der Aussagen des Beschuldigten als Dienst an dessen möglichst plausibler Darstellung vor der Anklagebehörde inszenieren oder, dass sie dem Beschuldigten im Gespräch eine Version des zu protokollierenden Tatverlaufs anbieten, die seine moralische und rechtliche Schuld (vermeintlich) reduziert.

Meine damit skizzierte Analyse der Interaktionsordnung polizeilicher Beschuldigtenvernehmung und ihrer organisationalen und rechtlichen Rahmung unterscheidet sich von drei in der Literatur vorherrschenden Formen der Behandlung des Themas. Erstens von einer juristisch-legalistischen Beschreibung, die den Vernehmer als passiven Protokollanten einer Aussage charakterisiert, die der aussagebereite Beschuldigte freiwillig und weitestgehend unabhängig vom Verlauf der Interaktion äußert. Zweitens von populären und ‚kritischen‘ Darstellungen des Themas, in welchen der Vernehmer häufig als dominant-drohender Vertreter einer übermächtigen Justizmaschine dargestellt wird, der seine Probleme typisch durch Rechtsdehnung und Rechtsbruch löst. Drittens von einer insbesondere in der deutschsprachigen sozialwissenschaftlichen Literatur prominenten, vor allem auf die Arbeiten Norbert Schröers (1992a, 1992b, 2003; Schröer et al. 2006) zurückgehenden Beschreibung des Kontaktes zwischen Vernehmer und Beschuldigtem als Simulation einer persönlich-diffusen Sozialbeziehung.

Meine in Abgrenzung zu diesen drei prominenten Darstellungen ausgearbeitete These ist, dass Polizisten in Rechtsstaaten sich aus guten Gründen regelmäßig als dem Beschuldigten gegenüber vermeintlich wohlwollende Berater in Rechtsfragen präsentieren, weshalb ich die polizeiliche Beschuldigtenvernehmung als simulierte Rechtsberatung charakterisiere. Der sich als Rechtsberater inszenierende Vernehmer begegnet dem Beschuldigten gerade nicht als fürsorglicher Vater oder besorgter Freund, sondern er bietet sich ihm als Partner einer funktional spezifischen Sozialbeziehung an, nämlich als neutraler Vermittler und Repräsentant gegenüber der Welt von Strafrecht und Justiz. Dass diese Inszenierung so häufig zu dem von Polizei und Justiz faktisch in der Regel angestrebten Ergebnis – einer Selbstbelastung des Beschuldigten – führt, ist weniger eine Folge des interaktiven Geschicks einzelner Vernehmer oder informal praktizierter Illegalität in der Polizeiarbeit, sondern in erster Linie ein Resultat der strukturellen Grenzstellung der Polizei und des von ihr faktisch durchgeführten Ermittlungsverfahrens zwischen Beschuldigtem und Justiz.

FormalPara Die Kombination von Vertrauen und Misstrauen als interaktionssoziologisches Rätsel und seine organisations- und gesellschaftstheoretische Aufklärung

Mit dieser Hinführung zu Thema und These dieses Kapitels ist bereits angedeutet, dass mich der Interaktionstyp der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung auch deshalb interessiert, weil in ihm eine in den meisten anderen Typen von Interaktionen und Sozialbeziehungen seltene und unwahrscheinliche Kombination dargestellten Vertrauens und Misstrauens in einen Gesprächspartner beobachtet werden kann. Selten und unwahrscheinlich ist eine solche Kombination von Vertrauen und Misstrauen, weil es ja gerade die für sich genommen nicht rationalisierbare Wahl zwischen Vertrauen oder Misstrauen als generalisierte Einstellung gegenüber Alter ist, die für Ego bestimmte Handlungen, Selbstdarstellungen und Beobachtungsweisen nahelegt und andere als unangemessen erscheinen lässt. Nur als wechselseitig exklusive Alternativen, als generalisierte Umwelteinstellungen, sind Vertrauen und Misstrauen zueinander funktional äquivalente Mechanismen der Reduktion sozialer Komplexität (Luhmann 1968c, siehe dazu ausführlich Kapitel 2).

Die in diesem Kapitel synonym verwendeten Formulierungen ‚vertrauensvolles Misstrauen‘ und ‚wohlwollende Zweifel‘ sollen vor diesem Hintergrund ein Haltung Egos (hier: der Vernehmer) gegenüber Alter (hier: der Beschuldigte) bezeichnen, die sich durch eine nicht aufgelöste, sondern auf Dauer gestellte Kombination von Vertrauen und Misstrauen auszeichnet. Eine die folgende Darstellung zusammenfassende und insofern zentrale These des Kapitels lautet, dass diese – in den meisten anderen Typen von Interaktionen und Sozialbeziehungen entmutigte – Haltung des vertrauensvollen Misstrauens gegenüber einem Interaktionspartner dem Polizisten durch die Einbettung der Vernehmung als Interaktionssystem im Kontext des Ermittlungsverfahrens sowie durch die Rollenbeschreibung des Vernehmers als Agent der Staatsanwaltschaft strukturell deutlich erleichtert wird. Die Darstellung vertrauensvollen Misstrauens ist dem Polizisten deshalb auch ohne übermäßiges individuelles Geschick im Umgang mit anspruchsvollen Interaktionssituationen möglich und kann deshalb als allgemeine Rollenerwartung institutionalisiert werden. Ich komme am Ende des Kapitels auf diese Eigenschaften der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung zurück, die sie zu einem interessanten Gegenstand für eine allgemeinere Theorie von Interaktionen unter Bedingungen wechselseitigen Misstrauens machen.

1 Geschichte und Formalordnung der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung

Bevor ich die damit benannten Thesen schrittweise anhand der Befunde der empirischen Vernehmungsforschung begründen und veranschaulichen kann, scheint es mir sinnvoll, die für mein Argument bedeutsame gesellschaftliche und organisationale Rahmung der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung ausführlicher darzustellen und dabei zu zeigen, in welchen Hinsichten es sich bei diesem Interaktionstyp und bei dem ihn wiederum rahmenden Ermittlungsverfahren um ein Grenzsystem, um eine Instanz der Übersetzung bzw. Vermittlung vor allem zwischen dem Beschuldigten und der Strafjustiz (Staatsanwaltschaft, Strafprozess, Gerichte) handelt. Dies ist die Aufgabe dieses Abschnittes.

Von anderen Formen der polizeilichen Befragung – insbesondere der Zeugenvernehmung und der informatorischen Befragung, die eine Polizistin etwa an einem Tatort durchführen kann, um sich einen ersten Überblick über den Tathergang und die Tatbeteiligten zu verschaffen – unterscheidet sich die Beschuldigtenvernehmung durch den rechtlich definierten Status des polizeilichen Gegenübers als Beschuldigter.Footnote 2 Der ‚Ort‘ der Beschuldigtenvernehmung im Justizsystem ist das Ermittlungsverfahren, das seinen Ausgangspunkt entweder in einer Anzeige oder in staatlichen Behörden vorliegenden Hinweisen auf eine Straftat hat. Die Staatsanwaltschaft als ‚Herrin des Ermittlungsverfahrens‘ delegiert dessen Durchführung zumeist an Polizeibehörden und trifft am Ende des Verfahrens die Entscheidung für oder gegen die Erhebung einer Anklage gegen den Beschuldigten.Footnote 3 Typisch wird diese Entscheidung auf Grundlage der von der Polizei geführten Ermittlungsakte getroffen, deren zentraler Bestandteil das Protokoll der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung ist. Die offizielle Aufgabe der Beschuldigtenvernehmung im Kontext des Ermittlungsverfahrens liegt dabei darin, sowohl dem Ermittlungsinteresse von Polizei und Staatsanwaltschaft als auch dem Verteidigungs- und Entlastungsinteresse des Beschuldigten zu dienen.

Die Formalordnung der Beschuldigtenvernehmung hat sich in den vergangenen Jahrhunderten stark gewandelt (vgl. etwa Mahlstedt 2011, S. 30 ff.). Noch die Preußische Criminalordnung vom 11. Dezember 1805 erlaubte dem richterlichen Kollegium den Einsatz der Prügelstrafe gegen Beschuldigte, damit „der halsstarrige und verschlagene Verbrecher durch freches Lügen und Erdichtungen oder durch verstocktes Leugnen oder gänzliches Schweigen sich nicht der verdienten Strafe entziehen möge“ (§ 292, zitiert nach Hahn 2011, S. 335). Diese Formulierung fällt jedoch bereits in einen im deutschen Rechtsraum im 18. Jahrhundert einsetzenden schrittweisen Prozess der Delegitimierung und Abschaffung der Folter als Mittel der Geständnismotivierung.Footnote 4 Eine wichtige Zäsur der Rechtsentwicklung liegt dann in dem in der Strafprozessordnung des Deutschen Reichs 1877 eingeräumten Recht auf Aussageverweigerung, das 1964 um die Belehrungspflicht ergänzt wird. Seitdem muss der Beschuldigte vor Beginn der Vernehmung darauf hingewiesen werden, dass „es ihm nach dem Gesetz freistehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen“ (StPO 1965, § 136). Aufgeklärt werden muss der Beschuldigte ebenfalls über seinen Anspruch auf rechtlichen Beistand durch einen Strafverteidiger und darüber, welcher Straftat er beschuldigt wird.Footnote 5 Festgehalten werden in den § 136 ff. der Strafprozessordnung auch die den Beamten verbotenen Vernehmungsmethoden (Misshandlung, Ermüdung, Täuschung usw.).Footnote 6

Die heutige Rechtslage weist dem Beschuldigten also eine starke Position zu und eröffnet ihm die Möglichkeit, auf jede Kooperation mit den polizeilichen Ermittlern zu verzichten, ohne dadurch Nachteile für ein mögliches späteres Strafverfahren befürchten zu müssen. Entsprechend ist die schriftliche Vorladung zur Vernehmung, die den Beschuldigten in der Regel in Freiheit in seinem Briefkasten und nur in den seltenen Fällen einer von den Behörden angenommenen Flucht- oder Verdunklungsgefahr (vgl. § 112 StPO) in Untersuchungshaft erreicht, als Einladung formuliert. Die Beschuldigten werden nicht dazu aufgefordert, sondern darum gebeten, zu einem bestimmten Termin bei der lokalen Polizeibehörde vorzusprechen und freundlich dazu ermuntert, im Fall der Verhinderung aus beruflichen oder sonstigen Gründen einen neuen Termin zu vereinbaren. Typisch enthalten diese von Behörde zu Behörde im Detail abweichenden Vorladungsschreiben der Polizei auch einen Satz, der antizipierte Motivationsprobleme des Eingeladenen bearbeiten soll und darauf hinweist, dass die Vernehmung dem Beschuldigten die Gelegenheit geben soll, „zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen“, die gegen ihn „vorliegenden Verdachtsgründe aufzuklären“ und die zu seinen „Gunsten sprechenden Tatsachen geltend zu machen.“

2 Der empirische Befund: Beschuldigte reden, wenn sie schweigen könnten (und sollten)

Verschiedene Instanzen, die sich für die Interessen Beschuldigter einsetzen, sind sich darin einig, dass der Beschuldigte die Einladung zur aktiven Verfahrensbeteiligung seitens der Polizei entweder gänzlich ignorieren oder freundlich ablehnen sollte. Strafverteidiger (vgl. statt vieler Ruckstuhl 2010, S. 73 f.) ebenso wie die rechtsextreme ‚Gefangenenhilfe‘ und die im linken Milieu verortete ‚Rote Hilfe‘ urteilen einstimmig, dass ein Kooperationsverzicht in Form von Abwesenheit oder Schweigen für den Beschuldigten in der polizeilichen Vernehmung in fast allen Fällen die beste Option ist. Die Ratgeber des Beschuldigten können sich dabei auf die auch durch Polizeipraktiker (Thiess 2014, S. 107 f.) und Sozialwissenschaftler stets bestätige Einsicht berufen, dass Aussagen des Beschuldigten bei der polizeilichen Vernehmung – ohne vorherige Einsicht in die Ermittlungsakten, ohne anwaltlichen Beistand und dementsprechend ohne eine zuvor zurechtgelegte Verteidigungsstrategie – die Position des Beschuldigten fast immer schwächen. Die Ermittlungsverfahren aussagebereiter Beschuldigter werden seltener eingestellt, während die Wahrscheinlichkeit der Verurteilung ebenso wie das durchschnittliche Strafmaß im Fall einer Aussage bei der Polizei signifikant steigen (vgl. etwa Simon 1991, S. 277 ff.; Skolnick und Fyfe 1993b, S. 58 ff.; Leo 1996a, S. 285; 298 ff.; Habschick 2012, S. 13).Footnote 7

Der in Bezug auf zahlreiche Rechtsstaaten immer wieder aufgestellte empirische Befund ist jedoch, dass sich die überwiegende Mehrzahl wirklicher Beschuldigter nicht an die Empfehlungen ihrer Ratgeber hält. In den vergangenen 30 Jahren durchgeführte Untersuchungen zeigen, dass in den USA und Großbritannien nur etwa 20 % der Beschuldigten von ihrem Recht Gebrauch machen, die Aussage zu verweigern oder sich vor einer Aussage mit einem Anwalt zu beraten (Baldwin 1993, S. 335; Leo 1996a, S. 275; Sanders und Young 2005, S. 242; Kassin et al. 2010a; Feld 2013; Leo 2017, S. 14; Habschick 2012, S. 19, S. 25). Wenngleich für Deutschland bislang keine umfassenden quantitativen Untersuchungen zum Vernehmungsverhalten Beschuldigter durchgeführt worden sind, lassen die vorliegenden qualitativen Studien und Schätzungen (Brusten und Malinowski 1975; Schröer 1992b; Reichertz 1994; Kraheck-Brägelmann 1997; Bley 2012) keinen Zweifel daran aufkommen, dass der insbesondere für die USA und Großbritannien seit vielen Jahren immer wieder aufgestellte Befund einer erstaunlich großen Kooperationsbereitschaft Beschuldigter auch für Deutschland zutrifft. Wie robust dieser Befund ist, zeigt auch ein Blick auf die für weitere Staaten (hier: Australien, Niederlande, Schweiz, Schottland, Wales) vorliegenden Untersuchungen, die übereinstimmend von einer zwischen 80 % und 95 % liegenden Aussagebereitschaft Beschuldigter bei der Polizei berichten (vgl. für die Schweiz und mit Hinweisen auf weitere Untersuchungen Capus et al. 2016, S. 46 f.).

Einfluss auf die Entscheidung für oder gegen eine Aussage haben dabei insbesondere das Alter des Beschuldigten (je jünger, desto wahrscheinlicher eine Aussage), eine vorherige Verurteilung (bereits verurteilte Straftäter schweigen deutlich häufiger) und die Schwere des Tatvorwurfs (je geringer, desto wahrscheinlicher eine Aussage). In deutlich über der Hälfte der durchgeführten Vernehmungen gelingt es den Beamten, ihr Gegenüber dazu zu bringen, sich mit ihren Aussagen selbst zu belasten, entweder durch ein in etwa einem Viertel der durchgeführten Vernehmungen abgelegtes vollständiges Geständnis der Tat oder doch jedenfalls durch die Preisgabe von belastenden Indizien, die den Ermittlern vor Aufnahme der Gespräche nicht bekannt waren (Baldwin 1993, S. 335; Leo 1996b, S. 260, 1996a, S. 280; Sanders und Young 2005, S. 242; Kindschi Gosselin 2007; Habschick 2012, S. 19, 25; Feld 2013, S. 11).

„Es war ihm dann nicht mehr möglich, seinem Gegenüber ins Gesicht zu lügen …“. Zur Deutung der Beziehung von Vernehmer und Beschuldigtem als persönliche Beziehung

Diese auffällige Diskrepanz zwischen dem rationalen und dem faktischen Verhalten Beschuldigter in der polizeilichen Vernehmung ist der Ausgangspunkt fast aller sozialwissenschaftlichen Studien zum Thema. Im Zentrum der vorliegenden Forschung steht die Frage, wie es Polizisten gelingt, ihr Gegenüber an den Ermittlungen gegen ihn selbst zu beteiligen, wie sie also einen Beschuldigten dazu bringen, nicht erst im Gerichtssaal, sondern schon im Verhörzimmer dieses „Verbrechen an sich selbst … zu begehen“ (Luhmann 1969b, S. 98), direkt nachdem der Beschuldigte durch den Polizisten darüber informiert worden ist, dass er keine Nachteile zu befürchten hat, wenn er von seinem Recht Gebrauch macht, auf jede Beteiligung am Gespräch zu verzichten.Footnote 8

Die in der deutschsprachigen Literatur bislang fast konkurrenzlos vertretene Antwort findet sich in den Arbeiten Norbert Schröers (1992a, 1992b, 2003; 2006) und wird durchgehend zustimmend zitiert.Footnote 9 Schröer deutet den Kontakt zwischen Vernehmer und Beschuldigtem als Simulation einer persönlichen Beziehung. Die zentrale Aufgabe des Vernehmers sieht er darin, „über die Zeit zu dem Beschuldigten eine dichte persönliche Beziehung aufzubauen“ (Schröer et al. 2006, S. 21), so, dass der Beschuldigte die Beziehung als eine diffuseFootnote 10 Beziehung begreift und der dann angemessenen „kommunikativen Verpflichtung“ nachkommt, seinem Gesprächspartner gegenüber offen und ehrlich zu sein (Schröer et al. 2006, S. 27). Das Ziel des Vernehmers müsse es sein, dass der Beschuldigte „das Gespräch als echte menschliche Begegnung“ wahrnimmt, „in der er sich als Person angenommen und aufgehoben fühlt“ (Schröer et al. 2006, S. 63). Um eine solche Beziehung aufbauen zu können, müsse der Polizist „echte Wertschätzung“ für sein Gegenüber empfinden (Schröer et al. 2006, S. 85). Den „Motivationshebel für die Geständigkeit“ eines Beschuldigten sehen Schröer und seine Ko-Autoren dann in dessen „Angst vor dem Verlust der Beziehung“ zum Ermittler (Schröer et al. 2006, S. 20), in der Angst davor, dass der Ermittler „sich resigniert vom Beschuldigten abwendet und ihn als Menschen und Geständigen aufgibt“ (Schröer et al. 2006, S. 21). Der geständige Beschuldigte sei deshalb geständig, weil „Vernehmer und Beschuldigter eine Symbiose“ eingegangen sind, „die für den Beschuldigten lebenswichtig wurde: Weil er sich als Person, so wie er war, akzeptiert sah, war er dann bereit – man könnte vielleicht auch sagen: sah er sich dann verpflichtet –, seine Taten preiszugeben“ (Schröer et al. 2006, S. 30 f.). „In Anbetracht des entstandenen Vertrauens in den Vernehmungsgesprächen“ war es „ihm dann nicht mehr möglich, seinem Gegenüber ins Gesicht zu lügen“ (Schröer et al. 2006, S. 34).

Die von Schröer ausgearbeitete Deutung trifft sicher auf viele von ihm analysierte Vernehmungen zu, ist aber als empirische Generalisierung schon deshalb nicht überzeugend, weil die Beziehung zwischen Vernehmer und Beschuldigtem ja auch im Fall eines Geständnisses beendet wird. Vor allem aber scheint mir die von Schröer vertretene These keine Sensibilität für die Frage zu haben, ob und wie das Bedürfnis eines Beschuldigten nach einer diffusen Sozialbeziehung zu ‚seinem‘ Vernehmer mit Täter und Tat variiert. Während die These Schröers etwa für den Ehemann, der seine Frau im Affekt getötet hat, die Tat bereut und seine Schuld bislang noch keinem Menschen gegenüber beichten konnte oder auch für den in seiner persönlichen Identität stark verunsicherten und während der Vernehmung von sozialer Unterstützung isolierten jugendlichen Ersttäter eine gewisse Plausibilität hat, kann sie in Bezug auf den Wiederholungstäter im Bereich der Organisierten Kriminalität, der seine Selbstachtung und soziale Unterstützung aus dem kriminellen Milieu bezieht, weniger überzeugen.

Dementsprechend werde ich im Folgenden unter Berücksichtigung der von Schröer und der deutschsprachigen Literatur insgesamt kaum beachteten englischsprachigen Literatur eine alternative Interpretation der Vernehmungsinteraktion ausarbeiten. Dabei zeigt sich, dass die von Schröer beschriebene Simulation einer persönlichen Beziehung lediglich eine von mehreren Möglichkeiten ist, den Beschuldigten über seine faktischen Interessen und den faktischen Charakter der Beziehung zu täuschen. Zwar gibt es Vernehmer, die sich dem Beschuldigten als verständnisvoller Freund oder besorgter Vater und seltener auch Vernehmer, die sich – entgegengesetzt und für populäre Darstellungen des Themas typisch – als Vorbote einer feindlichen Justizmaschine zu inszenieren versuchen, gegen die jeder Widerstand aussichtslos erscheinen soll.Footnote 11 Die Auswertung der Literatur legt jedoch nahe, dass eine andere Inszenierung sowohl typischer als auch erfolgversprechender ist: Die Inszenierung des Vernehmers als neutraler, interesseloser Rechtsberater des Beschuldigten. Als Rechtsberater ist der vernehmende Polizist weder Freund noch Feind des Beschuldigten und er entspricht auch nicht der typisch von Juristen gezeichneten Rolle des Vernehmers als Protokollant, der lediglich passiv diejenigen Informationen aufnimmt und verarbeitet, die der Beschuldigte von sich aus offenbart. Der Vernehmer als vermeintlicher Rechtsberater bietet sich dem Beschuldigten gerade nicht als Partner einer diffusen, sondern als Partner einer funktional spezifischen Sozialbeziehung an, nämlich als neutraler Vermittler und Repräsentant gegenüber der Welt von Strafrecht und Justiz.

3 Die soziologische Erklärung: Die Beschuldigtenvernehmung als Grenzsystem und wohlwollende Zweifel als typische Gesprächshaltung des Vernehmers

„Believe it or not, and I know you´re going to have trouble believing this, ah, I´m actually here to help you.” (Los Angeles Police Detective in der Vernehmung von Jose Jacobo im Jahr 1999, zitiert nach Leo 2008, S. 119)

In der Perspektive der in diesem Buch genutzten Theorie der Grenzrollen und Grenzsysteme handelt es sich bei Beschuldigtenvernehmungen um besondere Fälle einer Kategorie von Interaktionen, in der ein Organisationsmitglied im Auftrag seiner Organisation auf ein Nichtmitglied der Organisation trifft, also um einen Fall des Interaktionstyps Grenzkontakt. Mit anderen Grenzkontakten wie der Interaktion zwischen Verkäufer und Kunde oder Krankenhausarzt und Patient teilt die Beschuldigtenvernehmung die Eigenschaft, dass nur einer der beiden Beteiligten, nämlich der im Auftrag einer Organisation agierende Verkäufer, Arzt oder Vernehmer formal auf bestimmte Verhaltensweisen verpflichtet ist, während Kunden, Patienten und Beschuldigte kein ihnen vorwerfbares Fehlverhalten an den Tag legen, wenn sie sich in der Interaktion nicht gemäß der Wünsche des Professionellen verhalten. Aus Sicht der Grenzrollentheorie liegt das zentrale Problem der Arbeit an der Grenze sozialer Systeme daher in der Angewiesenheit auf die Kooperation von Nichtmitgliedern, die frei sind und bleiben, diese Kooperation zu verweigern.

Dieses allgemeine Problem von Grenzrollen stellt sich dem Vernehmer in der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung nun in besonders drastischer Weise, da er mit einem Gegenüber konfrontiert ist, dessen Interessen denjenigen des Professionellen genau entgegengesetzt sind. Dem Beschuldigten ist es nicht nur erlaubt, jede Kooperation mit dem Professionellen zu verweigern, er hat des Weiteren in der Regel auch keinerlei Interesse daran, sich an den Ermittlungen gegen ihn selbst zu beteiligen. Anders formuliert: Die aus Sicht des Beschuldigten naheliegende Einstellung, den Vernehmer als Vertreter einer ihm feindlich gesonnenen Justiz zu behandeln, muss durch den Vernehmer nicht lediglich neutralisiert, sondern in Kooperationsbereitschaft überführt werden. Sofern man den vernehmenden Polizisten also mit einem Verkäufer vergleichen will, muss man sich den sich selbst belastenden Beschuldigten als einen Kunden vorstellen, der mit Reue auf eine Kaufentscheidung zurückblickt, zu der er sich von einem Verkäufer hat hinreißen lassen, der ihm nicht einmal durchgehend taktvoll begegnet ist.

In Einklang mit dieser von mir eingenommenen Perspektive auf Beschuldigtenvernehmungen als Grenzkontakte sieht auch die vorliegende sozialwissenschaftliche Literatur zum Thema das zentrale Handlungsproblem des Vernehmers in der Herstellung einer nicht erzwingbaren Aussagebereitschaft Beschuldigter. Vollständig sichtbar wird die Herausforderung für den Ermittler allerdings erst durch den Hinweis, dass der Vernehmer sein Gegenüber nicht nur zu irgendeiner Aussage bewegen muss, sondern zu einer für die Anklageerhebung und den möglichen Strafprozess brauchbaren, das heißt zu den übrigen Ermittlungsergebnissen passenden und gerichtsfest protokollierten Aussage. Eine solche Aussage kann der Vernehmer nur erreichen, wenn er den Schilderungen des Beschuldigten mit einem gewissen Grad an Skepsis und Misstrauen begegnet. Der Vernehmer muss sein Gegenüber also zumindest zuweilen taktlos behandeln und zugleich den dadurch eigentlich naheliegenden Abbruch des Gesprächs durch den Beschuldigten verhindern. Angesichts dieser Herausforderung ist es nicht überraschend, dass auch unter Kriminalisten selbst die Fähigkeit zur Gewinnung brauchbarer Informationen in der Beschuldigtenvernehmung als eine der zentralen Kunstfertigkeiten gilt, die einen guten Ermittler von einem weniger guten Ermittler unterscheidet. Die Beschuldigtenvernehmung, so ein langjähriger Leiter einer Münchener Mordkommission, gilt trotz der Fortschritte im Bereich der Erhebung objektiver Tatspuren weiterhin als „der wichtigste Schlüssel zum Erfolg“ des Ermittlungsverfahrens und ihre erfolgreiche Durchführung als „die hohe Schule polizeilicher Handwerkskunst“ (Thiess 2014, S. 110; vgl. auch Reichertz 1994, S. 129; Bosse 2017).

Im Unterschied zu dieser Sicht des Praktikers rechnet meine in diesem Kapitel vorgeschlagene Deutung des Interaktionstyps der Beschuldigtenvernehmung die hohe Aussagebereitschaft Beschuldigter nur in zweiter Linie auf die individuelle Person des Vernehmers und seine ‚Handwerkskunst‘ zu. Erklärungskräftiger ist der Verweis auf Sachverhalte, die der einzelnen Interaktion vorausgehen: Auf den Charakter der Polizei als gesamtgesellschaftlich mehr oder weniger geschätzter Institution und Vertreterin des staatlichen Gewaltmonopols, auf die Institutionalisierung einer misstrauischen Einstellungen als Rollenpflicht des Vernehmers und – damit zusammenhängend – auf die strukturelle Ausdifferenzierung der Polizei und des von ihr durchgeführten Ermittlungsverfahrens als Grenzsystem zwischen beschuldigtem Bürger und Justiz.

3.1 Vertrauensaufbau als Prozess: Über taktvolle Gesprächseinstiege und die Etablierung von Interaktionsnormen

„Ähnlich wie auf einer Party oder bei einer Liebelei ist nicht gleich anfangs schon alles erlaubt. Die Beteiligten müssen ihre Beziehung erst anwärmen, sich wechselseitig Vertrauen verdienen durch Entgegenkommen in Ton und Stil oder auch in der Sache, bevor ein freierer Ton, ein deutlicher Angriff vorgetragen werden kann.“ (Luhmann 1969b, S. 46)

Der empirischen Vernehmungsforschung lässt sich entnehmen, dass Polizisten insbesondere in Fällen, in denen sie sich auf eine lange und komplizierte Vernehmung einstellen, häufig einen eher informellen Gesprächseinstieg wählen. Sie erkundigen sich etwa nach dem Wohlbefinden ihres Gegenübers, begegnen ihm auffallend freundlich und mit Interesse an seiner Person oder bedanken sich höflich für seine Gesprächsbereitschaft. Dieser Gesprächseinstieg geht dann typisch fließend über in die erste stärker formalisierte Gesprächssequenz, nämlich die Überprüfung der Angaben zur Person des Beschuldigten (Name, Wohnort, Beruf, familiäre Situation). Viele Polizisten verbinden diese ihnen formal auferlegte Pflicht strategisch mit vermeintlich interessierten Nachfragen zu dem Privatleben des Beschuldigten, wobei der Wahrheitsgehalt auch sachlich unplausibler Antworten nach Möglichkeit nicht bezweifelt wird. Charakteristisch für diese erste Phase der Vernehmung ist also ein hohes Maß an Takt seitens des Polizisten, der etwa die vom Beschuldigten geschilderten beruflichen Erfolge unkritisch bewundert und sich auch sonst um ein „hilfreiches Mitwirken“ an dessen Selbstdarstellung bemüht, um ein „Bestätigen der Darstellung auch dort, wo sie durchschaut wird“ (Luhmann 1964c, S. 136).

In einer jüngeren Untersuchung von 32 Beschuldigtenvernehmungen in Fällen schwerer Kriminalität aus den USA berichten David et al. (2018) davon, dass allein dieses „gesellige Vorspiel zur eigentlichen Vernehmung“Footnote 12 typisch etwa eine Viertelstunde in Anspruch nimmt. Ihrer plausiblen und auch mit den Auskünften führender Lehrbücher zu kriminalpolizeilichen Vernehmungen in den USA (Inbau 2004, S. 50) und Deutschland (Artkämper et al. 2017, S. 311 ff.) übereinstimmenden Deutung zufolge hat diese Einstiegsphase zwei latente Funktionen für die Vernehmung. Zum einen dient sie dazu, den Beschuldigten mit der Situation vertraut zu machen und ihm zu suggerieren, dass es sich bei dem gerade stattfindenden Gespräch bloß um einen zwanglosen Austausch von Informationen handelt. Zum anderen etabliert der Gesprächseinstieg eine Norm, die auch den weiteren Verlauf der Interaktion prägen wird: Dass der Vernehmer Fragen stellt und erwartet, dass sein Gegenüber diese Fragen wahrheitsgemäß beantwortet.Footnote 13 Bevor die eigentliche Vernehmung beginnt und bevor sie über ihr Recht auf die sofortige Beendigung des Gesprächs informiert worden sind, gewöhnen sich die Beschuldigten so ganz beiläufig „an den Gedanken, Fragen zu beantworten“ (Simon 1991, S. 281).

Die Etablierung dieser Gesprächsnorm, dass der Polizist fragt und auf seine Frage eine Antwort erhält, dürfte regelmäßig auch dadurch erleichtert werden, dass viele Beschuldigte Polizisten außerhalb des Verhörzimmers vornehmlich in Situationen begegnet sind, in denen sie ihnen gegenüber tatsächlich zu Folgebereitschaft verpflichtet waren. Schließlich agieren Schutzpolizisten, die zum Zweck der Gefahrenabwehr eine Straße sperren oder eine Personenkontrolle durchführen, in dieser Rolle als Vertreter des staatlichen Erzwingungsstabes und können eine nicht vorhandene Folgebereitschaft von Bürgern im Zweifelsfall mittels politisch legitimierter Macht erzwingen. Insbesondere bei polizeilichen Befragungen ‚vor Ort‘ (etwa im Rahmen einer Verkehrskontrolle oder der Aufnahme eines Verkehrsunfalls) kann der Polizist seine Rolle deshalb häufig von seinem Gegenüber unbemerkt wechseln: Vom Ordnungshüter, der Gefahren abwendet und dem Folge zu leisten ist, zum Vernehmungsbeamten als Teil der Justiz, der eine nicht vorhandene Kooperationsbereitschaft von Bürgern rechtlich gerade nicht erzwingen könnte.

Auf den eher informellen und taktvollen Gesprächseinstieg folgt mit der Belehrung des Beschuldigten über seine Rechte auf Aussageverweigerung und rechtlichen Beistand eine stark durch die rechtliche Rahmung des Ermittlungsverfahrens vorstrukturierte Gesprächssequenz. Typisch ist hier der Versuch von Polizisten, den Hinweis auf die Rechte des Beschuldigten als bloße Bürokratie und somit als unwichtiges Beiwerk zu thematisieren, das daran hindert, zum ‚wirklich wichtigen‘ Teil des Gesprächs überzugehen, in dem der Verdächtige die Gelegenheit hat, seine Version der Geschichte mitzuteilen (vgl. etwa Leo 1996b, S. 272; Capus et al. 2016). Die Tatsache, dass die meisten Beschuldigten (nicht nur) in den USA, Großbritannien und Deutschland auf ihr Recht auf Aussageverweigerung und oft auch auf rechtlichen Beistand verzichten, spricht dafür, dass es den Polizisten in diesen Fällen bereits gelungen ist, eine grundsätzliche Bereitschaft des Beschuldigten herzustellen, gemeinsam mit dem Vernehmer eine Aussage zu Protokoll zu bringen. Angesichts des harmlos wirkenden Gesprächseinstiegs dürfte es vielen Beschuldigten schwerfallen, der durch das Verhalten ihres Gegenübers als Normalfall unterstellten Kooperationsbereitschaft explizit zu widersprechen und die Situation so als eine des Interessengegensatzes zu definieren.

3.2 Macht und Tausch: Aufbau einer Drohkulisse und Angebot der Komplizenschaft

Mit dem Verzicht des Beschuldigten auf sein Recht auf Aussageverweigerung beginnt die sachlich zentrale und zeitlich umfangreichste Sequenz der Vernehmung, und zwar typisch entweder mit einer Aufforderung an den Beschuldigten, seine Version des fraglichen Tathergangs zu schildern oder mit einer Darstellung des polizeilichen Wissens über die Schuld des Gegenübers (vgl. für Darstellungen des typischen Ablaufs von Vernehmungen etwa Leo 2008, S. 121 ff.; Sticher 2006, S. 26 ff.). Ihren strategischen Vorteil, den Zeitpunkt der ersten Beschuldigtenvernehmung selbst bestimmen zu können, nutzen die Vernehmer gerade in Fällen schwerer Kriminalität dazu, die erste Beschuldigtenvernehmung nach Möglichkeit erst dann durchzuführen, wenn sie die Schuld des Beschuldigten für wahrscheinlich halten und diese Einschätzung gegenüber dem Beschuldigten durch den Verweis auf belastende Indizien auch plausibel darstellen können.

Dieser Aufbau einer Drohkulisse kann dabei auf sehr unterschiedliche Weise erfolgen. David Simon berichtet in einem für die von ihm begleiteten Mordermittler aus Baltimore in den 1990er Jahren besonders wichtigen Fall von dem Versuch der Ermittler, den Beschuldigten dadurch mit einer erdrückenden Beweislage einzuschüchtern, dass sie das Verhörzimmer mit zahlreichen Stellwänden ausstatteten, an denen Material zum Fall angebracht war (Simon 1991, S. 234). Typisch für die Ermittler aus Baltimore war auch der Einstieg in die Vernehmung mit einem etwa 30-minütigen Monolog über ihre beruflichen Erfahrungen und ihr Wissen zum Fall, ebenfalls mit dem Ziel, „sich mit der Aura des Allwissenden zu umgeben“ (Simon 1991, S. 761). Dementsprechend sahen sie es als einen der schwerwiegendsten Ermittlungsfehler an, einen Beschuldigten zu früh zu vernehmen und „ohne richtige Munition im Vernehmungsraum auf ihn“ loszugehen (Simon 1991, S. 599).

Auch Falldarstellung aus der Literatur zu Großbritannien (Carter 2011, S. 116 ff.) und Deutschland (Niehaus und Schröer 2004) zeigen, dass Vernehmungsbeamte zu Beginn der Vernehmung häufig viel Zeit darauf verwenden, die objektive Beweislage als für den Beschuldigten erdrückend zu beschreiben, ohne dabei jedoch den Eindruck zu erwecken, dass ihnen an der Verurteilung des Beschuldigten persönlich gelegen wäre. Zentral ist dabei immer der Aufbau eines Bildes, demzufolge die ermittelnden Beamten etwa durch Tatortermittlungen und Zeugenaussagen schon sehr viel über den Fall wissen und dementsprechend auf die Aussage des Beschuldigten nicht angewiesen sind. Der Aufbau dieses Bildes ist Ermittlern in den USA im Vergleich zu Deutschland dabei insofern erleichtert, als es ihnen rechtlich gestattet ist, Lügen über die faktische Beweislage als Vernehmungstechnik einzusetzen, also etwa zu behaupten, dass die Fingerabdrücke des Beschuldigten an der Mordwaffe gefunden worden sind, auch wenn dies nicht der Fall ist (für einen Vergleich der Rechtslage in Deutschland und den USA vgl. Ross 2008).Footnote 14

Im Zuge dieses kommunikativen Aufbaus einer Drohkulisse in Form der Darstellung des polizeilichen Wissens zur Tat und im weiteren Verlauf des Gesprächs muss der Vernehmer eine doppelte Balance leisten. Erstens muss er zuweilen Zweifel an der Darstellung des Beschuldigten artikulieren, ohne den Eindruck zu erwecken, selbst an einer Verurteilung des Beschuldigten interessiert zu sein, ohne sich also als Gegner des Beschuldigten zu präsentieren. Die Aufgabe für den Vernehmer besteht darin, die ihm aufgetragene Skepsis als Dienst am Beschuldigten, als wohlwollende Zweifel, als vertrauensvolles Misstrauen zu präsentieren. Zweitens muss es dem Vernehmer gelingen, den Beschuldigten zwar davon zu überzeugen, dass ihn die vorliegenden Indizien stark belasten und seine Verurteilung deshalb wahrscheinlich ist, ihm aber dennoch den Eindruck zu vermitteln, dass sein Verhalten in der Vernehmung das spätere Urteil noch beeinflussen kann. Entsprechend sieht Leo die zentrale Technik erfolgreicher Vernehmer darin, „to induce compliance from their suspects by offering them hope“ (Leo 1996b, S. 266). Wie für das von Niklas Luhmann analysierte Gerichtsverfahren ist es also auch für die Funktionsweise des von Staatsanwaltschaft und Polizei durchgeführten Ermittlungsverfahrens wesentlich, dass die an ihm in Laienrollen, also als Zeugen oder Beschuldigte, beteiligten Personen das Verfahren als ergebnisoffen wahrnehmen. Die „Ungewißheit des Ausgangs“ (Luhmann 1969b, S. 40) – Einstellung des Verfahrens oder Anklage für welche Tat? – ist zentral, um vor allem bei dem Beschuldigten ein Interesse daran zu erwecken, „sich selbst im Verfahren eine neue Vergangenheit zu geben“. Die Hoffnung, den Ausgang des Verfahrens beeinflussen zu können, motiviert den Beschuldigten zu selbst gewählten Beiträgen zum Verfahren, wodurch er im Zeitverlauf dann seine eigenen weiteren „Operationsmöglichkeiten im Verfahren selbst zunehmend“ einschränkt (Luhmann 1969b, S. 44).

Hoffnung auf ein milderes Urteil bei Kooperation machen die Vernehmer dem Beschuldigten zum einen, indem sie sich als einzigen möglichen Verbündeten des Beschuldigten innerhalb einer ihm ansonsten feindlich gesonnenen Justiz beschreiben, insbesondere als Repräsentant des Beschuldigten gegenüber dem Staatsanwalt (vgl. Leo 2008, S. 150 ff.; Simon 1991, S. 260 ff.). Ähnlich dem Strafverteidiger in der Beschreibung Blumbergs (1967; vgl. Heck i.E.) bieten die in der empirischen Forschung beschriebenen Vernehmer den Beschuldigten häufig implizit einen Tausch an: Kooperatives Verhalten und Aufrichtigkeit des Beschuldigten im Tausch gegen das Einlegen eines guten Wortes beim Staatsanwalt und eine für den Beschuldigten günstige Art der Formulierung des Aussageprotokolls. Die Polizisten plausibilisieren die Behauptung ihres Einflusses auf den Staatsanwalt mit Geschichten über dessen Persönlichkeit und seine bisherige Vorgehensweise, etwa mit Hinweisen darauf, dass er schon oft nachsichtig mit alleinerziehenden Müttern gewesen sei, sofern diese die Tat gestanden haben (vgl. Leo 1996b, S. 276, S. 283).

Wie der Strafverteidiger in der Beschreibung Blumbergs und viele weitere Grenzrollen machen sich die Polizisten dabei die Tatsache zu Nutze, dass ihr Gegenüber in Bezug auf ihren faktischen Einfluss und die Aufrichtigkeit ihrer Darstellungen weitestgehend urteilsunfähig ist: „Since the dimensions of what he is essentially selling, organizational influence and expertise, are not technically and precisely measurable, the lawyer can make extravagant claims of influence and secret knowledge with impunity“ (Blumberg 1967, S. 29). Niehaus und Schröer (2004, S. 81 f.) berichten von einem Fall, in dem es dem Vernehmer mit dieser Technik innerhalb weniger Minuten gelingt, den Beschuldigten von einem Verzicht auf sein zuvor in Anspruch genommenes Recht auf Aussageverweigerung zu überzeugen und ihn zu einem Schuldeingeständnis zu motivieren, von dem er im gleichen Atemzug mitteilt, dass er seine Aussage einem Richter gegenüber nicht wiederholen könnte. Ähnlich verhielt sich ein Beschuldigter in einem Fall, über dessen Revision der Bundesgerichtshof am 7. Januar 1997 (1 StR 666/96) geurteilt hat. Hier hatte der Beschuldigte einem vernehmenden Polizeibeamten von der Beteiligung eines weiteren Verdächtigen an einem Raubüberfall berichtet und zugleich mitgeteilt, vor Gericht wolle er „die Sache allein auf sich nehmen, deshalb … auch nichts unterschreiben.“ Die Beschuldigten akzeptieren in diesen Fällen also die vom Vernehmer angebotene Interpretation seiner Rolle als Vertreter des Beschuldigten gegenüber der Justiz, eine auch von Simon (1991, S. 274) häufig beobachtete Entwicklung der Beziehung, in der die „natürliche Feindschaft zwischen Jäger und Gejagtem“ keine Rolle spielt und die „eher einer symbiotischen als einer feindlichen Beziehung gleicht.“

Hoffnung auf ein milderes Urteil bei Kooperation machen die Vernehmer dem Beschuldigten typisch zum anderen mit dem Argument, dass der Beschuldigte über ein exklusives Tatwissen verfüge, dessen Preisgabe für die Härte des Urteils einen großen Unterschied machen könne. So empfiehlt die Anleitungsliteratur der Polizeibehörden aus Los Angeles den Beamten die Gesprächssequenz: „You did it. We know you did it. We have overwhelming evidence to prove you did it. But the reason makes a difference. So why don´t you tell me about it” (zitiert nach Leo 2008, S. 134). Die in der Literatur publizierten Vernehmungsprotokolle sprechen dafür, dass diese Strategie häufig zur Anwendung kommt. „There´s a big difference here between something happening intentional or not”, teilen die Mordermittler dem Beschuldigten etwa in einer von Jack Katz (1999, S. 278) analysierten Vernehmung mit und bringen den Beschuldigten so dazu, den objektiven Tathergang zu bestätigen. Auch Schröer (2003, S. 70 f.), Simon (1991, S. 270 ff.) und Carter (2011, S. 116 ff.) beschreiben immer wieder einen Verlauf von Vernehmungen, in denen der Polizist eine Version des Tathergangs vorschlägt, in welcher der Beschuldigte die Tat zwar begangen hat, aber aus doch (vermeintlich) verständlichen und seine auch rechtliche Schuld (vorgeblich) vermindernden Motiven: Notwehr statt Tötungsabsicht oder die Absicht, das Kleinkind zu erziehen, statt es durch Schütteln zu töten.

Der US-amerikanische Vernehmungsforscher Richard Leo (2008, S. 154) sieht in dieser Strategie der kommunikativen Konstruktion und Gegenüberstellung ‚guter‘ und ‚schlechter‘ Szenarien die faktisch verbreitete Version der in populären Darstellungen des Themas oft bemühten ‚good cop‘ / ‚bad cop‘ Strategie. Die Vernehmer, von denen die empirische Forschung berichtet, machen den Beschuldigten dabei sehr unterschiedliche kommunikative Angebote, um die Differenz zwischen der strafbaren Handlung und dem (vermeintlich) moralisch richtigen Handeln zu neutralisieren. Diese empirische Vielfalt lässt sich gut ausgehend von Gresham Sykes und David Matzas klassischen Überlegungen zu den Techniken der Neutralisierung ordnen. So kann die Geschichte der Tat so erzählt werden, dass der Beschuldigte in ihr nicht als Handelnder, sondern als Getriebener vorkommt, der für seine Handlung eigentlich nicht verantwortlich zu machen ist (Sykes und Matza 1968, S. 366 f.); die Vernehmer können die Tat als eine solche charakterisieren, die der Gesellschaft in Wahrheit nicht schadet, also die Norm kritisieren, an der gemessen es sich bei der Tat um eine Straftat handelt (Sykes und Matza 1968, S. 367); oder sie zeigen Verständnis für ihr Gegenüber, indem sie seine Tat als zwar aus guten Gründen strafbare, aber doch verständliche Lösung eines Konflikts etwa zwischen den Erwartungen eines Freundes und denjenigen des Gesetzes deuten (Sykes und Matza 1968, S. 369 f.). Eine vierte Form der moralischen Aufwertung der Tat liegt in der Ablehnung bzw. Abwertung des Opfers und einer damit einhergehenden Darstellung der Tat als „gerechter Rache oder Strafe“ (Sykes und Matza 1968, S. 368).

Die Anwendung dieser zuletzt genannten Strategie hat Anne M. Coughlin (2009) ausführlich in Bezug auf Vernehmungen von Männern in den USA rekonstruiert, die der Vergewaltigung einer Frau beschuldigt werden. Victim-blaming-stories, Erzählungen also, die dem Opfer der Vergewaltigung zumindest einen Teil der Verantwortlichkeit für die Tat zuschreiben und die Tat so moralisch und vermeintlich auch rechtlich in ein besseres Licht zu stellen versuchen, werden in den von Coughlin analysierten Vernehmungen nicht nur regelmäßig angewandt, sie werden auch von dem international führenden Lehrbuch zu Beschuldigtenvernehmungen als Vernehmungstechnik empfohlen. Fred Inbau und seine Ko-Autoren empfehlen explizit und durch zahlreiche Formulierungsvorschläge veranschaulicht, den Opfern eine Mitschuld an der Tat zuzuschreiben, um den Tätern die Bestätigung des Tathergangs zu erleichtern:

„Joe, no woman should be on the street alone at night looking as sexy as she did. Even here today, she’s got on a low-cut dress that makes visible damn near all of her breasts. That’s wrong! It’s too much of a temptation for any normal man. If she hadn’t gone around dressed like that you wouldn’t be in this room now.“ (Inbau 2004, S. 257)Footnote 15

3.3 Kommunikative Zugzwänge, das Protokoll als Grenzobjekt und die Inszenierung des Vernehmers als interesseloser Rechtsberater

„… der Kampf in einem Verhör …, ein Kampf ohne Zeugen, der aber stets protokolliert wird. Weiß Gott, was auf dem Papier von der heftigsten, eiskalten Szene bleiben mag … Ein Protokoll ist also nicht mehr als die Asche von einer Feuerbrunst.“ (Honoré de Balzac, Glanz und Elend der Kurtisanen, S. 391)

Wenn und insoweit es dem Vernehmer gelungen ist, den Beschuldigten davon zu überzeugen, dass die Fortsetzung des Gesprächs die Aussichten des Beschuldigten im Verfahren verbessern könnte, stehen dem Vernehmer auch Verhaltensweisen offen, die soziologisch als taktlos bezeichnet werden können, insofern sie den Beschuldigten nicht „nach Maßgabe seiner eigenen Selbstdarstellung … behandeln“.Footnote 16 In dieser eher durch Taktlosigkeit und Misstrauen geprägten Phase des Gesprächs kann der Vernehmer dazu übergehen, Fragen des Beschuldigten zu ignorieren, seine Darstellung zu hinterfragen oder sein Verhalten offen als Hinweis auf Unaufrichtigkeit oder Nervosität zu interpretieren.

Zu den wenig taktvollen Verhaltensweisen der Vernehmer zählt fast immer auch die Aufforderung zu einer mehrfachen Darstellung des Tatgeschehens. Oft bitten sie den Beschuldigten, das fragliche Tatgeschehen in zeitlich umgekehrter Reihenfolge erneut zu rekonstruieren und legen insgesamt eine große „Detailversessenheit“ an den Tag.Footnote 17 Die Ermittler interessieren sich in ihren Nachfragen häufig auch für sehr spezifische Angaben zu Sachverhalten, die mit dem Tathergang auf den ersten Blick nicht zusammenhängen. Auf das diesem Vorgehen zugrunde liegende Kalkül hat bereits Linton (1965) in seiner Analyse des Kreuzverhörs im Strafprozess mit dem Argument hingewiesen, dass die Länge des Strafprozesses angesichts der begrenzten Kapazitäten des menschlichen Gedächtnisses das größte Problem des Laien ist: Alles, was der Beschuldigte in irgendeiner Situation gesagt hat, kann festgehalten und auf Widersprüche zu späteren Aussagen überprüft werden. Wenn der Prozess lange genug dauert, bräuchte auch ein Unschuldiger eine „superhuman capacity to be consistent in order to avoid contradictions“ (Linton 1965, S. 8; vgl. Goffman 1969, S. 35). Die Aussagebereitschaft Beschuldigter verschlechtert ihre strategische Position im späteren Strafverfahren deshalb auch dann, wenn sie sich mit ihren Aussagen nicht selbst belasten, da jede protokollierte Aussage den vor Gericht noch vorhandenen Darstellungsspielraum verkleinert (vgl. zu dieser Bedeutung des Vernehmungsprotokolls für die spätere Hauptverhandlung auch Capus et al. 2014):

„Äußerungen binden. Verpaßte Gelegenheiten kehren nicht wieder. Verspätete Proteste sind unglaubwürdig. Nur durch besondere Kunstgriffe kann schon reduzierte Komplexität wieder geöffnet, neue Unsicherheit geschaffen, Geschehenes wieder ungeschehen gemacht werden, und im allgemeinen weckt ein solches Agieren gegen die Tendenz zur Entscheidung den Unwillen der anderen Beteiligten, besonders, wenn es zu spät versucht wird.“ (Luhmann 1969b, S. 45)

Gelingt es den Ermittlern, Widersprüche zwischen den verschiedenen Aussagen des Beschuldigten oder zwischen einer Aussage des Beschuldigten und bereits vorliegenden Ermittlungsergebnissen festzustellen, so haben sie damit ein wichtiges kommunikatives Mittel in der Hand. Deshalb unterbrechen Polizisten einen Beschuldigten auch dann nicht bei seiner Darstellung, wenn sie deren fiktiven Charakter durchschaut haben. Von dieser Strategie berichten mit fast hundertjährigem Abstand zueinander sowohl Ernst Gennat, der unter Polizeihistorikern gut bekannte Leiter der Berliner Mordkommission in den 1920er Jahren, als auch eine in der neueren empirischen Forschung interviewte Polizistin:

„Wenn der Vernommene im Laufe seiner Ausführungen irgendwelche Angaben macht, die der Wahrheit nicht entsprechen, so werden diese Angaben in genau der gleichen sachlichen und ruhigen Weise aufgenommen. Nichts wäre falscher, als dem Vernommenen wegen der Unrichtigkeit seiner Angaben sofort entsprechende Vorhaltungen zu machen, um ihn – vielleicht um Schreibwerk zu ersparen – schneller zu wahrheitsgemäßen Angaben zu veranlassen. Je mehr der Vernommene lügt, um so mehr Angriffsflächen bietet er auch, und die Neigung zum Lügen wird, wenn er schuldig ist bzw. irgendetwas zu verbergen hat, um so größer werden, je weniger der Vernommene gestört oder unterbrochen wird.“ (Gennat 1929, S. 103)

„Wenn ich jetzt aber merke, ‚Oh, verdammt noch mal, da stimmt was nicht‘, wann sage ich dem dann, dass da etwas nicht stimmt? Wann sage ich das dem denn, ne? Nach Möglichkeit doch erst dann, wenn ich weiß, dass er richtig schön lange genug gelogen hat, ne. Dann frage ich ihn noch mal zu Einzelheiten und noch mal und noch mal.“ (zitiert nach Holzhauer 2016, S. 142)

Strategisch wertvoll sind Widersprüche in dem polizeilich dokumentierten Fallwissen, weil sie dem Ermittler erlauben, die Darstellung des Beschuldigten skeptisch zu befragen, ohne die eigene Selbstdarstellung als in der Sache neutraler Informationssammler und Vermittler zwischen Beschuldigtem und Justiz diskreditieren zu müssen. Die Bitte um die Erläuterung des Widerspruchs zwischen der aktuellen Aussage und der Aussage aus dem Gespräch der letzten Woche kann freundlich gestellt sein, sie setzt den Beschuldigten dennoch unerwartet unter Druck, schnell eine plausible Erklärung anzufertigen: „a nonresponse, held too long, is a response, an admission“ (Katz 1999, S. 307 f.) – wenn nicht in Bezug auf die Tat, so doch in Bezug auf die Unwahrheit vorheriger Aussagen zum Tathergang.Footnote 18

Anhand der Interaktionssituation der Beschuldigtenvernehmung lässt sich auch anschaulich erläutern, dass Selbstdarstellungen von Personen ruckartig, durch nur eine einzige diskreditierende Information beschädigt werden können (vgl. auch dazu mit dem Begriff „Imageschäden“ Goffman 1967). Der Beschuldigte mag über Wochen eine kohärente Geschichte erzählt haben, die der Polizist ihm – vielleicht nur sozial, vielleicht auch psychisch – ‚abgenommen‘ hat. Wenn dann eine einzige Information vorliegt, die nicht zu dieser Geschichte passt, muss der Beschuldigte diesen Widerspruch auflösen, falls ihm daran liegt, gegenüber dem Polizisten noch als vertrauenswürdig zu gelten. Der Zugzwang liegt dann bei ihm. Verzichtet er auf einen Zug, gilt für ihn das allgemeine Gesetz der „Forcierung von Kommunikation durch Anwesenheit“ (Luhmann 2017, S. 176): Auch der Beschuldigte kann nicht nicht kommunizieren und sein Verzicht auf verbale Kommunikation würde ihm als Kommunikation zugerechnet und zur Information im Verfahren werden. Mit der vorherigen Darstellung ist dann zugleich auch die Glaubwürdigkeit des Beschuldigten diskreditiert. Natürlich ist nicht ausgeschlossen, dass der Beschuldigte in weiteren Interaktionen seine Glaubwürdigkeit zurückerlangen kann, aber dafür bräuchte er dann eine Geschichte, die den kommunikativ vorliegenden und vielleicht auch protokollierten Widerspruch auflösen kann. Der einzige Weg dazu ist dann, das Ermittlungsverfahren mit weiteren Informationen zu versorgen, die von den Ermittlern und in einem möglicherweise folgenden Strafprozess von einem Gericht auf Widerspruchsfreiheit und Plausibilität geprüft werden können.

Die damit skizzierten kommunikativen Zugzwänge, denen sich der Beschuldigte im Laufe der Vernehmung ausgesetzt sieht, sind nun gerade nicht exklusiv eine Folge der ihn bereits zu Gesprächsbeginn belastenden Indizien, sondern zumindest teilweise ein Ergebnis der Interaktion selbst. Während das konsequente Schweigen von Beginn an den Beschuldigten nicht weiter belastet hätte, kann das Schweigen in Folge der Konfrontation mit einem nicht zu der bisherigen Darstellung passenden Indiz als Hinweis darauf gelesen werden, dass die ursprüngliche Darstellung nicht der Wahrheit entsprach. Der Beschuldigte, der sich zu Beginn des Kontaktes als kooperativer und offener Gesprächspartner des Ermittlers dargestellt hat – im Unterschied zu einer ihm ebenso offenstehenden Möglichkeit der Darstellung als wohlinformierter Bürger, der es bevorzugt, den Ratschlägen professioneller Strafverteidiger zu folgen und also zu schweigen – hat sich damit für den weiteren Verlauf des Ermittlungsverfahrens der Möglichkeit eines für seine strategische Position schadlosen Schweigens beraubt (vgl. ähnlich Goffman 1969, S. 49 f.).

Für die erfolgreiche Inszenierung des Vernehmers als neutralem Rechtsberater des Beschuldigten ist der von der Person des Vernehmers unabhängige Charakter des organisational gespeicherten Fallwissens entscheidend. Der über-persönliche Charakter des Wissens erlaubt dem Ermittler, den Zweifel an der Darstellung des Beschuldigten als Dienst an dessen möglichst plausibler Darstellung vor Gericht darzustellen. Diese Inszenierung kommt in vielen Vernehmungsprotokollen durch Äußerungen zum Vorschein, in denen die Ermittler sich von dem ihnen durch ihre Rolle auferlegten Misstrauen in die Darstellung des Beschuldigten distanzieren: Sie selbst hätten keine Schwierigkeiten damit, die Aussage des Beschuldigten in das Protokoll aufzunehmen, ihrer Einschätzung nach würde die Darstellung jedoch keinen Staatsanwalt überzeugen. Oder: Die Rechtsfolgen der bisherigen Darstellung seien für den Beschuldigten sehr ungünstig, da ein Leser der Aussage davon ausgehen müsste, die Tat sei im Vorfeld geplant und nicht im Affekt vollzogen worden. Begünstigt wird diese Inszenierung des Vernehmers durch die interne Differenzierung des Systems der Strafverfolgung: tatsächlich ist es ja nicht er selbst, sondern die Staatsanwaltschaft, die darüber entscheiden muss, ob und in welcher Sache der Beschuldigte angeklagt wird. Und tatsächlich spricht viel dafür, dass die Art der Formulierung des Aussageprotokolls einen bedeutsamen Einfluss auf das Bild hat, das sich abwesende Dritte, hier also die Staatsanwaltschaft und der Richter im Fall eines späteren Strafverfahrens, von dem Beschuldigten machen, insbesondere in Bezug auf seine Kooperationsbereitschaft und Glaubwürdigkeit.Footnote 19

Das Protokoll der Vernehmung kann so zu einem Objekt der (vermeintlichen) Aushandlung zwischen Vernehmer und Beschuldigtem werden. Diese Möglichkeit wird in Deutschland dadurch begünstigt, dass hier auf eine audiovisuelle Aufzeichnung von Vernehmungen in der Regel verzichtet wird und es kaum formale Vorgaben für die Anfertigung von Vernehmungsprotokollen gibt.Footnote 20 Die Kontrolle über die schriftliche Dokumentation des Gesprächs liegt in der Hand des Polizisten, der selbst entscheidet, wann, wie ausführlich und in welchen Worten er welche Gesprächsinhalte in das Protokoll aufnimmt. Der Vernehmer kann und muss beispielsweise entscheiden, ob er neben den dem Beschuldigten zugeschriebenen Antworten auch seine eigenen Fragen mit in das Protokoll aufnimmt, ob er kleinere Unstimmigkeiten zwischen verschiedenen mündlichen Aussagen in das schriftliche Protokoll einfließen lässt, ob er die im Gespräch mitgeteilte Unsicherheit in Bezug auf bestimmte Beobachtungen oder nonverbale Signale wie das Schweigen des Beschuldigten wiedergibt und, ob sein Interaktionseindruck bezüglich der Glaubwürdigkeit des Beschuldigten Eingang in die Ermittlungsakte findet.Footnote 21

Dieser große Einfluss des Vernehmers auf das formulierte Protokoll wird durch dessen Form dann jedoch unkenntlich gemacht: In der Regel formulieren die Polizisten das Protokoll in der ersten Person Singular (Schmitz 1983, S. 381; Donk 1992) und erwecken dabei laut empirischer Forschung (Kunz und Haas 2012, S. 173) erfolgreich auch bei Richtern den unzutreffenden Eindruck, dass die Formulierungen von dem Beschuldigten stammen würden.Footnote 22 Durch seine Freiheiten bei der protokollierenden Vermittlung zwischen der Situation der Vernehmung und dem Wissen der Anklagebehörde ist es für den Vernehmer möglich, das Verhältnis zum Beschuldigten implizit oder auch explizit als Tauschbeziehung zu definieren: Informationen zum Tathergang in Austausch mit einer für den Beschuldigten vermeintlich rechtlich günstigen Darstellung des Tathergangs im Protokoll.

Dem sich als neutralem Rechtsberater des Beschuldigten inszenierenden Vernehmer gelingt so die unwahrscheinliche Kombination von praktiziertem taktlosem Misstrauen gegenüber einzelnen Aussagen des Beschuldigten und der Darstellung nüchtern-wohlwollender Komplizenschaft. Diese Kombination beruht wesentlich auf der interaktiven Ausbeutung der strukturellen Grenzstellung des Vernehmers zur Justiz: Er kann plausibel behaupten, sich in der Welt der Anklagebehörde und des Strafrechts auszukennen und ihr zuzuarbeiten, aber nicht in ihr zu Hause zu sein und die dort verfolgten Interessen nicht vorbehaltlos zu teilen. Akzeptiert der Beschuldigte die Rollendarstellung des Polizisten als eines Verfahrensbeteiligten, der ohne eigene Interessen den Auftrag vollzieht, Informationen zur Sache zusammenzutragen, um Dritten (der Staatsanwaltschaft) Informationen für eine noch nicht feststehende Entscheidung über die Anklageerhebung zu übermitteln, so grenzt er damit auch den Raum möglicher eigener Selbstdarstellungen ein. Das komplementär zu dieser Rolle passende Verhalten des Beschuldigten ist in seinem Stil ebenfalls nüchtern und frei von offen dargestelltem Misstrauen in den Polizisten.

4 Zwischenfazit: Die Beschuldigtenvernehmung als Trickbetrug und die komplizierte soziologische Suche nach einer gerechten Rechtspraxis

In der juristischen Literatur zur polizeilichen Beschuldigtenvernehmung wird typisch die Auffassung vertreten, dass „doch mit dem Aussageverweigerungsrecht und der vorgeschriebenen Belehrung über dieses Recht sichergestellt [ist, M.W.], dass der Beschuldigte freiwillig Auskunft gibt, also zur Sachverhaltsaufklärung nur insoweit beiträgt, als es seinem Willen entspricht“ (Mahlstedt 2011, S. 54). Diese Auffassung ist Ausdruck einer legalistischen Vorstellung der Vernehmungspraxis und sie übersieht die zentrale Bedeutung, die der interaktive Kontakt zwischen Beschuldigten und Vernehmern für die Aussagebereitschaft Beschuldigter hat. Der Vernehmer wird in weiten Teilen der juristischen Literatur als bloßer Protokollant beschrieben, der notiert und allenfalls mit Hilfe vorsichtiger Nachfragen zu vervollständigen versucht, was der Beschuldigte ‚freiwillig‘, gemäß seines schon vor Eintritt in die Interaktionssituation feststehenden Willens auszusagen bereit ist. Juristen beschreiben das Ermittlungsverfahren mithin eher als Entscheidungsverfahren, als rationale Verarbeitung von Informationen und vernachlässigen typisch die Bedeutsamkeit des Ermittlungsverfahrens und der auf es bezogenen Interaktionen als soziale Systeme.Footnote 23

Die von mir vorgeschlagene soziologische Interpretation der Vernehmungsinteraktion und ihrer organisational-rechtlichen Rahmung unterscheidet sich in zwei Aspekten deutlich von dieser juristisch-legalistischen Auffassung. Erstens habe ich herausgearbeitet, dass zentrale Ursachen der Aussagebereitschaft Beschuldigter im interaktiven Kontakt des Beschuldigten zum Vernehmer selbst hervorgebracht bzw. aktualisiert werden. Der Vernehmer muss die faktisch hochgradig enttäuschungsanfällige Erwartung der Kooperationsbereitschaft des Beschuldigten zunächst als Selbstverständlichkeit inszenieren und die Selbstdarstellung des Beschuldigten als kooperationsbereit ‚einfangen‘, um dann schrittweise eine Beziehung zu ihm aufzubauen, die stabil genug ist, um die im Laufe des Gesprächs steigende Dosis an Misstrauen in die Darstellung des Beschuldigten auszuhalten. Auch das Gut, das der Vernehmer dem Beschuldigten in Austausch mit dessen Kooperationsbereitschaft anbietet, ist wesentlich ein Produkt der Interaktion: Die Behauptung des Einflusses auf den Fortgang des Ermittlungsverfahrens in Form einer für den Beschuldigten günstigen Formulierung des Aussageprotokolls und des Einlegens eines guten Wortes beim Staatsanwalt kann als Tauschgut nur fungieren, wenn diese Behauptung in der Interaktion vom Beschuldigten als glaubwürdig wahrgenommen wird.Footnote 24 Wie die Beziehung des Vernehmers zum Beschuldigten und die in dieser Beziehung zum Tausch angebotenen Güter, so ist schließlich auch die Geschichte des Tathergangs, die am Ende der Vernehmung im Aussageprotokoll festgehalten wird, ein Ergebnis der Interaktion selbst. Sie muss – insbesondere in Bezug auf das Innenleben des Täters und seine Motive, in Bezug auf an Sachverhalten in der Welt also nicht eindeutig falsifizierbare Aussagen – als eine Geschichte verstanden werden, an welcher der Polizist durch die von ihm gestellten Fragen und durch die dem Beschuldigten ‚angebotene‘ Version der Tat zumindest als Ko-Autor beteiligt ist. Damit diese Geschichte ihre Funktion im Ermittlungsverfahren erfüllen kann, muss der Vernehmer allerdings wie ein ‚Ghostwriter‘ agieren, also dafür Sorge tragen, dass sein Einfluss auf das Protokoll im Protokoll selbst verborgen bleibt.

Zweitens betont die von mir in diesem Kapitel vorgeschlagene soziologische Analyse in Abgrenzung zur juristisch-legalistischen Darstellung der Vernehmungsinteraktion, dass List und Täuschung zentrale Elemente polizeilicher Beschuldigtenvernehmungen sind. Viel spricht dafür, dass der erfolgreiche Vernehmer sein Gegenüber in der Regel nur dann zur Preisgabe von ihn selbst belastenden Informationen bringen kann, wenn es ihm gelingt, den Beschuldigten über seine faktischen Interessen und den faktischen Interessensgegensatz zum Polizisten zu täuschen. Dieser Einsicht folgend, die in der englischsprachigen Literatur deutlich häufiger formuliert wird als in deutschsprachigen Untersuchungen, hat Leo (1996b) die kriminalpolizeiliche Vernehmung als eine Form des Trickbetrugs („confidence game“) bezeichnet. Wie in allen anderen ‚con games‘ (vgl. klassisch Goffman 1952) ist es auch in der Beschuldigtenvernehmung das zentrale Mittel des Betrügers (hier: des Polizisten), den Betrogenen (hier: den Beschuldigten) davon zu überzeugen, dass es in seinem besten Interesse sei, ein Gut (oft Geld, hier belastende Indizien) freiwillig herauszugeben: „Einen mutmaßlichen Täter mit der Behauptung zu täuschen, es liege in seinem Interesse, mit der Polizei zu reden, wird immer der Katalysator jedes Verhörs bleiben“ (Simon 1991, S. 279; vgl. Skolnick 1982, S. 130–137).

Strafverfolgung im Rechtsstaat: Zur Spannung von Regeltreue und Erfolg im Verhörzimmer

In Hinblick auf die Beschreibung polizeilicher Vernehmungspraktiken unterscheidet sich die soziologische Forschung also deutlich von der juristisch-legalistischen Literatur. In Hinblick auf die Bewertung polizeilicher Vernehmungspraktiken fällt dagegen eher die Einigkeit zwischen Soziologinnen und Juristinnen auf. Weite Teile der bislang vorliegenden soziologischen Literatur vertreten die Auffassung, dass die Täuschung des Beschuldigten über seine Interessen durch den Vernehmer nicht mit den Anforderungen ein faires, rechtsstaatliches Ermittlungsverfahren vereinbar und deshalb ein zu beseitigendes Übel ist. Die übliche Kritik polizeilicher Vernehmungspraktiken beruft sich dabei einerseits auf die offizielle Rollenbeschreibung des Kriminalpolizisten als demjenigen, der die Wahrheit des Falls ermitteln soll und also auch an Indizien interessiert sein muss, die den Beschuldigten entlasten und andererseits auf die Vorstellung des idealen Verhörs als einem offenen Gespräch auf Augenhöhe, einem ‚balanced game‘ (aus der neueren Literatur etwa David et al. 2018). Das ideale Verhör stellen sich die sozialwissenschaftlichen Kritiker der Polizeipraxis dann als eines vor, in dem die Beschuldigten viel expliziter und individueller als bisher über ihre Rechte aufgeklärt werden (so etwa auch Capus et al. 2016)Footnote 25 und in dem es dem vernehmenden Polizisten verboten ist, den Übergang vom vermeintlich harmlosen Vorgespräch zur Hauptphase der Vernehmung fließend zu gestalten. In Bezug auf die USA fordern David et al. (2018) etwa, dass Beschuldigte darüber aufgeklärt werden, dass Polizisten in Bezug auf Beweismittel lügen dürfen. Kurz: Die überwiegende Mehrheit der sozialwissenschaftlichen Kritiker macht sich zu Anwälten der Beschuldigten und fordert eine Rechtspraxis, die den Interessen dieser Rollenträger entspricht.

Häufig reflektiert diese legalistische Form der Kritik nicht, dass das Interesse des Beschuldigten an Straffreiheit und das Interesse der Rechtsgemeinschaft an der Aufklärung von Straftaten notwendigerweise in einem spannungsreichen Verhältnis zueinander stehen. Das heißt natürlich nicht, dass im Strafverfahren nicht den Interessen beider Seiten Rechnung getragen werden kann und muss, aber durchaus, dass die Stärkung des einen Interesses regelmäßig zulasten des anderen geht. So würde es zwar dem effektiven Schutz der Rechte und Interessen Beschuldigter dienen, wenn Anwälte ein Recht auf Anwesenheit in der polizeilichen Vernehmung hätten oder ihre Anwesenheit gar vom Gesetzgeber vorgeschrieben werden würde. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde damit aber zugleich die Zahl schuldiger Beschuldigter, die sich in der Vernehmung selbst belasten, drastisch zurückgehen (für die Einschätzung eines Praktikers vgl. Thiess 2014, S. 107 f.). Dementsprechend wird die für polizeiliche Beschuldigtenvernehmungen in heutigen Rechtsstaaten typische Lage von David Simon (1991, S. 620) treffend als „institutionelle Schizophrenie“ charakterisiert: Dem Beschuldigten wird formal eine starke Stellung zuerkannt und dem Vernehmer faktisch der Auftrag erteilt, den Beschuldigten über seine Stellung, seine Rechte und seine Interessen zu täuschen. Eine solche „institutionelle Schizophrenie“ ist jedoch – so die in diesem Buch im Gegensatz zu der in der Sozialphilosophie und Soziologie typischen Haltung immanenter Sozialkritik eingenommene Position – kein vermeidbarer Fehler, sondern muss zentraler Bestandteil einer Rechtsordnung sein, in der sowohl der aus dem Rechtsstaatsprinzip hervorgehende Grundsatz eines fairen Verfahrens als auch das Gebot der Effektivität staatlicher Strafverfolgung Verfassungsrang genießen.

Eine soziologisch-funktionalistische KritikFootnote 26 polizeilicher Vernehmungen scheint mir im Gegensatz zu vielen vorliegenden Äußerungen gerade nicht bei den Interessen einer der beiden beteiligten Parteien ansetzen zu dürfen, sondern bei der Funktion der Vernehmungsinteraktion im breiteren Kontext des Ermittlungsverfahrens: belastende Indizien gegen schuldige Beschuldigte zu bestätigen oder hervorzubringen und entlastende Indizien für unschuldige Beschuldigte zu dokumentieren. Die Forderungen der sozial- und rechtswissenschaftlichen Kritiker nach maximaler Aufklärung des Beschuldigten über seine Rechte und seine Situation müssen dann als einseitig gelten, weil die konsequente Umsetzung dieser Forderung den Vernehmer zu einem Protokollanten degradieren würde, dessen wichtigste Aufgabe darin bestünde, den Beschuldigten vor selbstbelastenden Aussagen zu warnen. Eine so eingerichtete Vernehmungspraxis hätte im Vergleich zu der in heutigen Rechtsstaaten typisch institutionalisierten Praxis deutlich schlechtere Aussichten, belastende Indizien gegen schuldige Beschuldigte hervorzubringen. Andererseits bietet auch eine soziologisch-funktionalistische Perspektive durchaus Ansatzpunkte für eine Kritik polizeilicher Vernehmungsmethoden, nämlich immer dann, wenn diese systematisch dazu führen, dass unschuldige Beschuldigte sich in Folge ihres fehlenden Wissens um ihre Rechte und die Wirkung ihrer Aussagen in eine Lage bringen, die zu ihrer späteren Verurteilung beiträgt (siehe für den extremen, in den USA gleichwohl nicht seltenen Fall falscher Geständnisse Kassin et al. 2010b; Lassiter und Meissner 2010; für Deutschland Volbert und May 2016).Footnote 27

5 Exkurs in vergleichender Absicht: Irreguläre Vernehmungen durch Privatpersonen und verdeckte Ermittler

Der erfolgreiche Vernehmer, so also ein zentrales Ergebnis der bisherigen Überlegungen, nutzt seine Grenzstellung zur Justiz aus, um seinen Gesprächspartner über dessen faktische Situation und Interessenslage zu täuschen. Ob dies gelingt, hängt freilich nicht zuletzt vom Beschuldigten selbst ab: „Echte Profis“, so auch das Fazit von David Simon (1991, S. 275 f.) und erfahrenen Praktikern (vgl. Habschick 2012, S. 157 f.), sind „immun gegen Polizeivernehmungen“. Wer sich, sei es aufgrund vergangener Erfahrung mit Ermittlungsverfahren, sei es aufgrund einer vorangegangenen Rechtsberatung, zu konsequentem Schweigen entschließt, hat in heutigen Rechtsstaaten das Recht auf seiner Seite und kann polizeiliche Beschuldigtenvernehmungen entweder gar nicht erst betreten oder sie verlassen, ohne sich selbst belastet zu haben. Will die Polizei sich damit nicht zufriedengeben, muss sie auf Formen der Vernehmung jenseits der regulären Beschuldigtenvernehmung zurückgreifen.

Als irreguläre Vernehmung bezeichne ich hier Gespräche, die Privatpersonen oder verdeckte Ermittler im Auftrag der Polizei mit Beschuldigten führen, wobei dem Beschuldigten im Moment des Gesprächs nicht bekannt ist, dass seine Aussagen Polizei und Justiz zugänglich gemacht werden. Sozialwissenschaftliche Literatur zu diesem Typ polizeilicher Informationsgewinnung als einem Fall der „Kooption einzelner Publikumsmitglieder in Leistungsrollen“ (Stichweh 2005: 35) liegt soweit ich sehe nicht vor. Es gibt jedoch eine andere Quelle, die es gestattet, einen breiten Einblick in die Praxis irregulärer Vernehmungen zu erhalten, die typisch an der Grenze des rechtlich Erlaubten vonstattengehen und die ich in diesem Abschnitt in Bezug auf die Bundesrepublik auswerte: Die Rechtsprechung zu der Frage, ob die in irregulären Vernehmungen erlangten Beweismittel vor Gericht verwertet werden dürfen (vgl. Eckhardt 2009; Mahlstedt 2011; Stoffer 2016).

Die Vermutung, dass es aus polizeilicher Sicht attraktiv sein könnte, Vernehmungen durch nicht-Polizisten durchführen zu lassen, drängt sich schon bei einer Lektüre der Gesetzeslage auf. So soll § 136a der Strafprozessordnung, in dem unter anderem Misshandlung, Ermüdung und Täuschung als verbotene Vernehmungsmethoden aufgeführt werden, zwar noch auf solche Privatpersonen Anwendung finden, die explizit von der Polizei mit einer Vernehmung beauftragt werden, nicht aber auf solche Privatpersonen, „die Straftaten ohne amtlichen Auftrag erforschen“ (Joecks 2015, S. 332). Liest man diese Auskunft über die Rechtslage soziologisch, also inkongruent im Verhältnis zu ihrer offiziell-rechtlichen Bedeutung, ergibt sich aus ihr ein Imperativ für Polizeibehörden, die sich an den Grenzen des rechtlich Erlaubten um den Zugang zu schwer zugängliche Informationen bemühen: Privatpersonen auf eine Weise mit Ermittlungsarbeit zu beauftragen, die durch Dritte nicht oder nur schwer nachgewiesen werden kann, also mündlich statt schriftlich und über Dritte statt im direkten Kontakt.

Die Vielfalt irregulärer Vernehmungsformen wird gut durch drei typische Konstellationen erfasst: Die Befragung des Beschuldigten durch Mitgefangene in Untersuchungshaft (‚Zellkumpanen-Konstellationen‘), die Befragung des Beschuldigten durch ihm bekannte Personen, die auf Tonband aufgezeichnet oder von Polizeibeamten mitgehört wird (‚Hörfalle‘) und schließlich die Befragung des Beschuldigten durch verdeckt ermittelnde Polizeibeamte. Als Beispiel einer verheimlichten Ausforschung im Strafvollzug erlangte eine Strafgefangene einige Prominenz, die in den 1990er Jahren über einen Zeitraum von etwa sieben Jahren regelmäßig mit der Kriminalpolizei zusammenarbeitete. Dabei gab sie sich gegenüber Mitgefangenen in Untersuchungshaft als Wahrsagerin aus und stellte ihnen in Aussicht, die Ermittlungsbehörden und Gerichte durch übersinnliche Kräfte zu einem milden Urteil bewegen zu können. Dies sei ihr allerdings nur möglich, wenn ihr Gegenüber sich ihr vollkommen offenbart und den wahren Tathergang auch schriftlich festhält. Tatsächlich gelang es der Strafgefangenen auf diese Weise, mehrere Mitgefangene zu einem schriftlichen Tatgeständnis zu bewegen.Footnote 28

In Fällen wie diesem wird regelmäßig vor Revisionsgerichten die Frage verhandelt, ob die durch die irreguläre Vernehmung gewonnenen Informationen im Strafprozess verwertbar sind oder nicht. Als zentrales Kriterium hat sich dabei die Frage herauskristallisiert, ob das Handeln des vernehmenden Mithäftlings den Ermittlungsbehörden zugerechnet werden muss. Selten ist diese Frage so eindeutig zu beantworten wie in einem vom Bundesgerichtshof 1987 (BGHSt 34, 362) verhandelten Fall. Beamte der Kriminalpolizei hatten hier veranlasst, einen Strafgefangenen in die Zelle eines Untersuchungshäftlings zu verlegen, der eines Banküberfalls beschuldigt wurde. Zuvor hatten die Beamten der Kriminalpolizei den Strafgefangenen gezielt für die Informationsbeschaffung in diesem Fall angeworben, ihn mit Informationen über die Tat versorgt und ihm taktische Hinweise zur Ausforschung des Beschuldigten gegeben. Entsprechend urteilte der Bundesgerichtshof, dass die durch den Strafgefangenen gewonnenen Informationen vor Gericht nicht verwertet werden dürfen. Allerdings gelingt es Gerichten selten, die Beauftragung von Privatpersonen mit Ermittlungstätigkeiten eindeutig nachzuweisen. Soweit den Polizeibehörden ein expliziter Auftrag nicht nachgewiesen werden kann – so etwa im oben beschriebenen Fall der Wahrsagerin – handelt es sich bei diesen Aussagen aus Sicht der Gerichte um ganz normale Zeugenaussagen auch dann, wenn der Zeuge schon zuvor als Polizeiinformant tätig gewesen ist.Footnote 29

Ein Blick auf die Rechtsprechung zu vernehmungsähnlichen Gesprächen durch Privatpersonen außerhalb von Gefängnissen zeigt, dass auch eine nachgewiesene Beteiligung der Polizei nicht zwangsläufig zu einem Beweisverwertungsverbot führt. So berichtet Stephan Barton (2011) von einem Fall, in dem eine Frau ihren Ehemann bezüglich eines Drogendelikts dadurch entlasten wollte, dass sie einen Mittäter als Hauptschuldigen überführt. Sie bot der Polizei ihre Mithilfe an und wurde in der Folge von Polizeibeamten auf ein vernehmungsähnliches Gespräch mit dem Verdächtigen vorbereitet und mit Aufzeichnungsgeräten ausgestattet. Die Frau versicherte ihrem Gesprächspartner, die Inhalte des Gesprächs vertraulich zu behandeln und brachte ihn dazu, die Hauptschuld an der Tat einzugestehen. Der Bundesgerichtshof urteilte in dieser Sache am 31. März 2011 (3 StR 400/10), dass die von Privaten aufgezeichneten Gespräche grundsätzlich als Beweise verwertet werden dürfen. Bei aller Uneinheitlichkeit (vgl. Mahlstedt 2011, S. 24 f.) lässt eine Durchsicht der Rechtsprechung der letzten Jahre durchaus erkennen, anhand welcher Kriterien die Gerichte typisch darüber entscheiden, ob sie ein Beweisverwertungsverbot der durch irreguläre Vernehmungen gewonnenen Informationen bejahen oder verneinen (vgl. etwa Mahlstedt 2011, S. 47 f.; Barton 2011): Hat der Beschuldigte sein Gegenüber explizit um Vertraulichkeit gebeten und wurde sie ihm zugesichert? Wurde die Tatsache, dass Polizeibeamte das Gespräch mithören oder über es informiert werden, lediglich verschwiegen oder mit Täuschungsabsicht explizit verneint? Hat der Beschuldigte die Informationen von sich aus preisgegeben oder musste die Privatperson sie ihm durch mehrfaches und hartnäckiges Nachfragen ähnlich einer Beschuldigtenvernehmung entlocken? Und vor allem: Hat der Beschuldigte den Polizeibehörden zuvor unmissverständlich mitgeteilt, gegenüber der Polizei zu keiner Aussage bereit zu sein?

Auch in der Rechtsprechung der Revisionsgerichte zeigt sich dabei durchgehend eine Abwägung zwischen zwei zentralen und zueinander in einem spannungsreichen Verhältnis stehenden Zielen des Strafverfahrens, die sich bereits als für ein Verständnis der regulären Vernehmungssituation zentral erwiesen haben: Die Wahrung der Rechte und Interessen des Beschuldigten einerseits, die Wahrung der Fähigkeit staatlicher Instanzen, Straftaten aufzuklären, andererseits. Die Abwägung zwischen diesen beiden Interessen führt dann etwa dazu, dass die Aussagen, die Beschuldigte gegenüber polizeilich instruierten V-Leuten getätigt haben, zwar nicht in jedem Fall verwertbar sein sollen, aber doch dann, wenn es um Straftaten von „erheblicher Bedeutung geht und die Erforschung des Sachverhalts unter Einsatz anderer Ermittlungsmethoden erheblich weniger erfolgsversprechend oder wesentlich erschwert gewesen wäre“ (Joecks 2015, S. 332).

Der in diesem Exkurs thematisierte Vergleichsfall der irregulären Vernehmungen veranschaulicht aus der Perspektive der allgemeinen Theorie des Handelns an den Grenzen sozialer Systeme, dass die Bearbeitung von Grenzrollenfunktionen (hier diejenige der Informationsgewinnung) durch Personen, die keine Mitglieder des fraglichen Sozialsystems (hier der Kriminalpolizei) sind, einerseits Folgeprobleme mit sich bringen kann, andererseits aber auch neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Privatpersonen wie Angehörige oder Privatdetektive, die im nicht nachweisbaren Auftrag von Polizeibehörden vernehmungsähnliche Gespräche führen und aufzeichnen, sind in ihrem Handeln nicht an die in der Strafprozessordnung festgehaltenen Rechte des Beschuldigten gebunden und haben typisch bessere Chancen als Polizisten, das Vertrauen Beschuldigter zu gewinnen. Diesen Vorteilen steht neben dem organisationalen Aufwand, den Polizeibehörden nur in Fällen schwerer Kriminalität für gerechtfertigt halten dürften, auch der Nachteil möglicher Beweisverwertungsverbote entgegen für den Fall, dass Gerichte Polizeibehörden die Beauftragung von Privatpersonen nachweisen können. Die Rekonstruktion der Rechtsprechung in diesem Exkurs hat jedoch gezeigt, dass die von den Gerichten in der Bundesrepublik gezogenen Schwellen für Beweisverwertungsverbote sehr hoch liegen. Und auch in den wenigen Fällen, in denen die Durchführung von vernehmungsähnlichen Gesprächen durch Privatpersonen im Auftrag der Polizei dazu führt, dass die so erlangten Informationen vor Gericht nicht als Beweis verwertet werden können, können diese Informationen natürlich trotzdem für die weitere Ermittlungsarbeit genutzt werden, etwa, indem ihnen Hinweise auf weitere Mittäter oder Zeugen entnommen werden. Jedenfalls gilt dies in Deutschland, wo sich die Rechtsprechung in der Regel nicht der „Lehre von den Früchten des verbotenen Baumes“ (Artkämper et al. 2017, S. 261) angeschlossen hat, der zufolge Rechtsfehler im Ermittlungsverfahren dazu führen, dass auch die durch sie gewonnenen Folgeergebnisse nicht verwertbar sind (die rechtswidrig erlangte Auskunft über den Ort einer Leiche würde gemäß dieser Auffassung dazu führen, dass auch die an der Leiche sichtbaren Spuren der Tat nicht als Beweise zugelassen werden).

6 Schluss: Die Beschuldigtenvernehmung als simulierte Rechtsberatung und besonderer Fall der Informationsgewinnung in strategischen Interaktionen

Beschuldigten ist es in Rechtsstaaten erlaubt, auf die Kooperation mit Ermittlungsbehörden zu verzichten, sich also nicht an den Ermittlungen gegen sich selbst zu beteiligen und entsprechend etwa in der polizeilichen Vernehmung die Aussage zu verweigern, ohne dadurch einen Nachteil für das weitere Verfahren befürchten zu müssen. Angesichts dieser formal starken Stellung Beschuldigter erscheint die Praxis kriminalpolizeilicher Beschuldigtenvernehmungen als spektakulär erfolgreich: In Deutschland, Großbritannien, den USA und vielen weiteren Rechtsstaaten geben über 80 % der Beschuldigten bei der Polizei eine Aussage zu Protokoll und etwa die Hälfte der aussagebereiten Beschuldigten belasten sich im Laufe der Vernehmungsgespräche selbst.Footnote 30

Meine Analyse der sozialwissenschaftlichen Literatur zu polizeilichen Beschuldigtenvernehmungen kommt zu dem Ergebnis, dass das zentrale Arbeitsmittel des erfolgreichen Vernehmers weder die in der deutschsprachigen Diskussion für zentral gehaltene Simulation einer persönlich-diffusen Beziehung zum Beschuldigten ist, noch das in populären Darstellungen des Themas prominente dominant-drohende Verhalten des Vernehmers. Unzureichend verstanden ist der typische Vernehmer auch als passiver Protokollant einer Aussage, die der Beschuldigte sich schon vor Eintritt in der Interaktion zurechtgelegt hat. Typisch und erfolgreich sind vielmehr ein nüchtern-wohlwollender Verhaltensstil und der Versuch des Ermittlers, seine Grenzstellung zur Justiz als vernehmungstaktischen Vorteil zu nutzen. Diese Grenzstellung erlaubt dem Polizisten, eine gewisse Distanz zu den Zielen sowie Einfluss auf die Entscheidungen der Staatsanwaltschaft darzustellen (insbesondere durch die Formulierung des Aussageprotokolls) und seine Skepsis bezüglich der Darstellung des Beschuldigten als wohlwollende Zweifel, als Dienst an dessen möglichst plausibler Darstellung vor der Anklagebehörde zu präsentieren. Weder (simulierte) Freundschaft, noch (simulierte) Feindschaft sind also das zentrale Erfolgsmittel des Vernehmers, sondern die Inszenierung als persönlich nicht involvierter Rechtsberater des Beschuldigten und Vermittler gegenüber einer ihm ansonsten feindlich gesonnenen Justiz.Footnote 31

Viele theorieorientiert arbeitende Soziologinnen und Soziologen verstehen sich als Spezialisten für Generalisierungen und erwarten deshalb von Texten, die sich mit kleinen Ausschnitten der Sozialwelt beschäftigen, auch Auskünfte darüber, ob und wie sich die gewonnenen Einsichten auf andere Bereiche übertragen lassen, ob sich also etwa aus der hier vorgelegten Analyse der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung etwas über Interaktionen überhaupt lernen lassen könnte. Mein dieses Kapitel beschließender Vorschlag ist, sich einer Antwort auf diese Frage anzunähern, indem die polizeiliche Beschuldigtenvernehmung als besonderer Fall einer breiteren Serie strategischer Interaktionen betrachtet wird:Partner in Liebesbeziehungen, Kollegen bei der Arbeit und Verkäufer von Finanzprodukten können in je unterschiedlichen Situationen ein Interesse daran haben, etwas über ihre Gesprächspartner zu erfahren, was diese nicht ganz von selbst offenbaren und können versuchen, die von ihnen als relevant eingeschätzten Informationen zum gestrigen Aufenthaltsort des Partners, der aktuellen Gehaltsstufe des Kollegen oder der Kaufkraft des Kunden durch mehr oder weniger indirekte Nachfragen in Erfahrung zu bringen.Footnote 32

Die Besonderheit der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung ist aus dieser allgemeinen Perspektive einer Soziologie strategischer Interaktionen (Goffman 1969) dann zunächst, dass der Polizist als Abgesandter einer an Ressourcen reichen Organisation, die wiederum in ein gesellschaftliches System der Strafjustiz eingebettet ist, in das Gespräch eintritt und, dass er als Polizist im Unterschied zu Privatdetektiven und eifersüchtigen Eheleuten an die Strafprozessordnung gebunden ist. Die konkreten Ziele, (rechtlichen) Mittel und (rechtlichen) Beschränkungen unterscheiden sich mithin deutlich von Interaktionstyp zu Interaktionstyp; gemeinsam ist den genannten und weiteren Fällen der auf Informationsgewinnung abzielenden strategischen Interaktionen jedoch die zentrale Spannung zwischen vertrauensvoller und misstrauischer Einstellung der Gesprächspartner zueinander und die auf sie reagierende Gesprächshaltung des vertrauensvollen Misstrauens. Ego (der Informationssammler) kann seinem Ziel (der Informationsgewinnung) nur näherkommen, wenn er den Darstellungen Alters zuweilen skeptisch begegnet, muss Alter also in bestimmten Hinsichten taktlos behandeln, ohne dadurch den Abbruch des Kontaktes und damit das Versiegen des Informationsflusses herbeizuführen.

In der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung ist die ansonsten typisch nur kurzfristig aufscheinende und dann in eine Richtung aufgelöste Kombination von Vertrauen und Misstrauen in unsere Gesprächspartner strukturell erleichtert und kann deshalb auch über zeitlich ausgedehnte Interaktionsketten beibehalten werden. Das Misstrauen in die Selbstdarstellung des Beschuldigten ist Teil der gesellschaftlich institutionalisierten Rolle des Polizisten und er hat als Teilnehmer des Grenzsystems der Vernehmung den großen Vorteil, sein Misstrauen gegenüber dem Beschuldigten als professionelle Dienstleistung, als Mitarbeit an dessen Selbstdarstellung im Ermittlungsverfahren legitimieren zu können. Die Antwort auf die Frage, wie die Kombination von Vertrauen und Misstrauen in strategischen Interaktionen auf Dauer gestellt werden kann, lautet am Ende also schlicht: Durch die Institutionalisierung einer misstrauischen Einstellung als Rollenerwartung sowie durch die Ausdifferenzierung verschiedenartiger Rollen und Grenzsysteme, hier durch die Trennung der Rollen von ‚Ermittler‘, ‚Ankläger‘ und ‚Richter‘ und der Interaktionen, in denen der Laie mit diesen Trägern professioneller Rollen konfrontiert wird.