In diesem Kapitel rekonstruiere und analysiere ich drei Konstellationen aus der (Vor-)Geschichte kriminalpolizeilicher Behörden in Europa: Den Fall der Strafverfolgung ohne Polizei als Organisation und als Aufgabe von Privatleuten in England während des 17. und 18. Jahrhunderts (5.1), die Gründungsgeschichte und Ermittlungspraxis der Pariser Kriminalpolizei unter Leitung des vormaligen Straftäters und Gefängnisinsassen Eugène François Vidocq zu Beginn des 19. Jahrhunderts (5.2) und schließlich das ambivalente Verhältnis zwischen der Berliner Kriminalpolizei und den als Ringvereinen bezeichneten organisierten Vereinigungen von Straftätern in der Weimarer Republik (5.3). Verbunden sind diese Abschnitte dadurch, dass sie als Fallstudien zum „Erfindungsreichtum der Praxis“ (Hirschauer 2008) des Polizierens in der Bearbeitung der beiden Systemprobleme konzipiert sind, die sich in der Diskussion in Kapitel 2 als für misstrauische Sozialsysteme zentral erwiesen haben: Geheimnisaufklärung im Sinne der Gewinnung von durch andere verborgenen und insofern schwer zugänglichen Informationen einerseits, und andererseits die Organisation und Begrenzung von Skepsis und Misstrauen gegenüber den dem ermittelnden System zugänglichen Informationen und Informanten.

Kampf und Misstrauen als zentrale Elemente der manifesten Beschreibung des Umweltverhältnisses von Polizeien

Charakteristisch für misstrauische Sozialsysteme wie beispielsweise Zusammenschlüsse von Investigativjournalisten, Geheimdienste, revolutionäre Untergrundorganisationen oder die Kriminalpolizei ist die im misstrauischen Sozialsystem institutionalisierte Überzeugung, dass es in der Systemumwelt ernstzunehmende individuelle oder kollektive Akteure gibt, welche die Informationsgewinnung durch das misstrauische Sozialsystem durch Prozesse des Verbergens und Täuschens zu behindern versuchen. Eine Folge dieser im System institutionalisierten Überzeugung ist, dass misstrauische Sozialsysteme den ihnen zugänglichen Informationen und Informanten mit einem überdurchschnittlichen Maß an Skepsis und Misstrauen begegnen – schließlich könnte es sich um Informationen handeln, die ihren Ursprung in der Absicht der fraglichen Umweltakteure haben, das System zu täuschen.

Mit einem von Lewis Coser verwendeten, aber nicht begrifflich explizierten Wort können viele misstrauische Sozialsysteme auch als „Kampforganisationen“ (Coser 2009, S. 126) oder kämpfende Sozialsysteme bezeichnet werden. Die von Coser angeführten und strukturgleiche Beispiele für kämpfende Sozialsysteme wie revolutionäre Untergrundgruppen, militärische Kampfeinheiten, aber auch viele organisierte Interessensvertretungen oder „social control systems“ (Skolnick und Woodworth 1967, S. 99) verbindet miteinander, dass sie ihr Umweltverhältnis primär über den Zweck strukturieren, bestimmten individuellen oder kollektiven Akteuren in ihrer Umwelt Schaden zuzufügen. Kämpfende Sozialsysteme zeichnen sich also dadurch aus, dass in ihrer manifesten Selbstbeschreibung der Zweck oder die primäre Aufgabe des Systems als Bekämpfung bestimmter Umweltakteure oder gesellschaftlicher Zustände beschrieben wird, zum Beispiel als Bekämpfung des Kapitalismus oder des Sozialismus, der Kriegsgegner eines Staates, des organisierten Verbrechens oder der aktuellen Regierung. Wie Coser hervorhebt, kommt es dabei nicht in erster Linie darauf an, ob die aus Sicht des kämpfenden Sozialsystems bestehende Bedrohung tatsächlich existiert: Die kämpfende „Gruppe muss nur an ihre Existenz glauben“ und mag gar dazu tendieren „innere und äußere Feinde zu ‚erfinden‘, um ihre innere Solidarität zu erhöhen“ (Coser 2009, S. 125, S. 123).Footnote 1

„Misstrauen“ und „Kampf“Footnote 2 sind also zwei oft eng miteinander verbundene Aspekte der in Sozialsystemen wie der Polizei oder revolutionären Untergrundorganisationen institutionalisierten Beschreibung des eigenen Umweltverhältnisses. Was misstrauische und kämpfende Sozialsysteme auszeichnet, ist, dass sie in Bezug auf ein oder mehrere für sie bedeutsame Umweltsegmente – etwa kriminelle Milieus im Fall der Polizei oder terroristische Vereinigungen im Fall der Geheimdienste – ein außerordentlich hohes Maß an Misstrauen als Umwelteinstellung institutionalisiert haben. Die Umweltsegmente, gegenüber denen misstrauische Systeme misstrauisch sind, werden innerhalb des Systems in der Regel auch als ‚Gegner‘ oder ‚Feinde‘ beschrieben, deren Bekämpfung zu den manifesten Systemzielen gehört. Insofern sind Sozialsysteme mit einer institutionalisierten misstrauischen Haltung gegenüber bestimmten Umweltsegmenten oft zugleich Sozialsysteme, die wesentlich in Hinblick auf die Bekämpfung dieser Umweltsegmente strukturiert sind, also kämpfende Sozialsysteme.

Der Unterschied zwischen den von mir vorgeschlagenen Begriffen „misstrauische Sozialsysteme“ und „kämpfende Sozialsysteme“ liegt mithin lediglich in dem Aspekt, der jeweils betont wird: Misstrauen (und Vertrauen) ist als Kategorie relevant, wenn es im Fall der Polizei um die Frage geht, ob ein Kriminalpolizist den ihm von einem Milieuinformanten überlieferten Informationen Vertrauen schenkt oder nicht. Kampf (und Kooperation) ist als Kategorie relevant, wenn es im Fall der Kriminalpolizei um die Frage geht, ob die Bekämpfung der organisierten Kriminalität in der Stadt effektiver über konsequente Rechtsdurchsetzung und eine ‚Null-Toleranz-Strategie‘ oder über selektive Kooperationsbeziehungen und die Hoffnung auf eine Selbstregulation des Milieus erreicht werden kann.Footnote 3 Die (Kriminal-)Polizei ist also sowohl ein misstrauisches als auch ein kämpfendes Sozialsystem – und das gleiche gilt beispielsweise für Geheimdienste, Armeen, terroristische Vereinigungen oder revolutionäre Untergrundorganisationen.

Um Missverständnisse zu vermeiden, sei darauf hingewiesen, dass ich mich in diesem Kapitel nicht mit dem gesamten Umweltverhältnis polizierender Einheiten beschäftige, sondern mit dem Verhältnis von polizierenden Personen und Polizeiorganisationen zu dem Umweltsegment der Normbrüche und ihrer mehr oder weniger organisierten Urheber. In Bezug auf das Verhältnis von Polizeien zu diesem Umweltausschnitt frage ich nach den Formen der Kombination von Kampf und Kooperation, von Vertrauen und Misstrauen. Behauptet wird also nicht, dass Polizeien gegenüber ihrer gesamten Umwelt primär im Modus von Kampf und Misstrauen agieren, sondern nur, dass die Bekämpfung und Kontrolle eines bestimmten Umweltsegments – nämlich des Umweltsegments der Brüche gesellschaftlichen Rechts und ihrer mehr oder weniger stark organisierten Urheber – zentraler Bestandteil der manifesten Funktion von Polizeien für die sie umfassende Gesellschaft ist und, dass diese besondere Form der Strukturierung eines System-Umwelt-Verhältnisses auch mit einem besonders hohen Maß an institutionalisiertem Misstrauen in das zu bekämpfende Umweltsegment einhergeht.

Polizeiarbeit vor und nach dem 19. Jahrhundert in Europa als dem ‚Jahrhundert der Kriminalpolizei‘

Bevor ich in die Analyse der drei historischen Konstellationen einsteige, um sie dann im folgenden Kapitel mit einigen allgemeineren und stärker auf Polizeiarbeit im 20. und 21. Jahrhundert bezogenen Überlegungen zu polizeilicher Ermittlungsarbeit als Arbeit an den Grenzen des Rechts zu verbinden, scheint es mir sinnvoll, die Geschichte der Polizei und des Polizeibegriffs in Europa zumindest grob zu skizzieren und einige Besonderheiten meines Umgangs mit dieser Geschichte zu explizieren.Footnote 4 Viele Soziologen und Historiker, die sich für die Geschichte der Polizei im heutigen Sinne – also als formale Organisation und Teil der öffentlichen Verwaltung – interessieren, lassen die von ihnen analysierte und erzählte Geschichte im Europa des 19. Jahrhunderts beginnen. Dafür gibt es gute Gründe, da sich das Polizieren an vielen Orten in Europa zwischen 1800 und 1900 in schnellen Schritten dem heute verbreiteten Typus von Polizei(arbeit) angenähert hat im Zuge eines freilich nur in der Rückschau mehr oder weniger linear erzählbaren Prozesses, in welchem schon zuvor in Ansätzen vorliegende Entwicklungstendenzen etwa der Ausdifferenzierung von Polizeien oder der Spezialisierung, Verberuflichung und Verrechtlichung von Polizeiarbeit sachlich an Intensität und sozial an Reichweite gewonnen haben. Der Historiker Andreas Roth (1997, S. 32) rekonstruiert diese Entwicklungstendenzen prägnant für die deutschen Polizeien im 19. Jahrhundert mit dem Dreischritt einer „Beschränkung auf die Sicherheit“ (im Unterschied zu einem breiten wohlfahrtsstaatlichen Aufgabenspektrum), einer „Verrechtlichung“ polizeilichen Handelns in Form der zunächst politisch erhobenen und dann rechtlich fixierten Forderung, dass Polizei nur dann tätig werden darf, wenn es dafür eine positiv gesatzte Rechtsgrundlage gibt und schließlich einer „Verstaatlichung der Polizei“, also der Übertragung von Polizeigewalt weg von lokalen Ordnungseinheiten (Kommunen) hin zu zentralstaatlichen Instanzen.

Meine Entscheidung, zwei von insgesamt drei der hier rekonstruierten und analysierten Episoden aus der Geschichte der europäischen Kriminalpolizeien aus dem Zeitraum vor (England 1690–1800) bzw. ganz zu Beginn (Paris um 1800) des „Jahrhunderts der Detektive“ (Thorwald 1965) zu wählen, bestreitet diese Datierung und Diagnose nicht, sondern zieht aus ihrer Gültigkeit lediglich andere Schlüsse, als dies in der Praxis der Polizeigeschichtsschreibung üblich ist. Mich interessiert in diesem Kapitel weniger die ‚Geburtsstunde‘ der Kriminalpolizei in Europa als solche (dann wäre der naheliegende Ansatz eine im England des Jahres 1829 einsetzende Analyse der Organisationsgeschichte von Scotland Yard), sondern – neben einer Analyse der drei Fallkonstellationen je für sich – der Kontrast zwischen zwei Formen, in denen Strafverfolgung und Ermittlungsarbeit organisiert werden kann: Einerseits den ‚eingebetteten‘, nicht ausdifferenzierten Typus, wie er in England im 18. Jahrhundert vorliegt, andererseits den ausdifferenzierten Typus einer Polizei als Behörde im heutigen Sinn, wie er in Paris um 1800 in einem frühen Stadium, in Berlin zu Beginn des 20. Jahrhunderts dann bereits deutlich weiter entwickelt zu beobachten ist.

Historiker werden an meinen Analysen vielleicht die in ihrer Disziplin aus guten Gründen geforderte kritische Arbeit an den Quellen und den Fokus auf das historische Detail vermissen. Mein Anspruch war es aus naheliegenden Gründen nicht, die geschichtswissenschaftliche Forschung zu den europäischen Polizeien auf diesem Terrain zu überbieten, sondern eher, das Wissen der Geschichtswissenschaft mit den Mitteln meiner eigenen Disziplin zu rekonstruieren und zu befragen. Wie jede Form der Arbeit an der Grenze ist auch die Arbeit an disziplinären Grenzen oft besonders interessant und besonders undankbar zugleich: Historikerinnen dürften einigen für den Gang meiner Argumentation unverzichtbaren Generalisierungen skeptisch begegnen, während einige Soziologinnen das Verhältnis von zahlreichen historischen Details und weniger zahlreichen innovativen soziologischen Thesen beklagen mögen. Ich vermute, dass dies die typischen und unvermeidbaren Folgen der professionellen Paradoxie einer historisch interessierten Soziologie sind, die man akzeptieren muss, wenn man diese Art von Soziologie betreiben oder lesen will (vgl. Hecke und Weißmann 2017).

Zum Gang der Argumentation

Die folgenden drei Abschnitte widmen sich der Analyse je einer historischen Konstellation des Polizierens aus der europäischen Geschichte. Die betrachteten polizierenden sozialen Einheiten sind dabei manchmal Einzelpersonen, die im Auftrag anderer Einzelpersonen oder lokaler Gemeinschaften agieren – so die Constables und Thief-taker in England im 17. und 18. Jahrhundert (5.1) und manchmal formale Organisationen innerhalb der staatlichen Verwaltung, so in einer frühen Form die von dem vormaligen Straftäter Eugène François Vidocq zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufgebaute und geleitete Pariser Kriminalpolizei (5.2) und in einer reiferen Form die Berliner Kriminalpolizei während der Weimarer Republik (5.3).

Diese in Hinblick auf ihre Struktur und den Grad ihrer Ausdifferenzierung aus der sie umfassenden Sozialwelt sehr verschiedenartigen ermittelnden Systeme verbindet miteinander, dass sie im Auftrag anderer sozialer Einheiten – dem Opfer einer Straftat, einer Gemeinde oder eines Staates – Straftaten aufklären und Straftäter überführen. Dieser Ermittlungsauftrag, so der Ausgangspunkt meiner Argumentation, legt für die ermittelnden Systeme Misstrauen, Gegnerschaft und Kampf als institutionalisierte Einstellungen gegenüber dem Umweltsegment der Normbrüche und Normbrecher nahe. Das Maß, in dem diese Einstellungen verwirklicht werden können, variiert mit dem Maß der Ausdifferenzierung des ermittelnden Systems aus der es umfassenden Sozialwelt: Der ehrenamtlich agierende Constable, der zugleich Mitglied der Gemeinde ist, in deren Auftrag er polizeiliche Funktionen erfüllt, ist schon durch diese Rollenkombination in dem ihm möglichen Misstrauen in die Selbstdarstellung anderer Gemeindemitglieder und also in der ihm möglichen Ermittlungsarbeit begrenzt. Im Vergleich dazu erweist sich die Berliner Kriminalpolizei während der Weimarer Republik als Fall einer ausdifferenzierten Ermittlungsinstanz, deren Mitgliedern Misstrauen in die Selbstdarstellungen von Bürgern in deutlich höherem Maße sozial ermöglicht ist. Auch diese professionellen Ermittler aber, so das systematische Argument dieses Kapitels, müssen Elemente von Vertrauen, Tausch und Kooperation in das Verhältnis zu denjenigen Umweltsegmenten einfließen lassen, mit deren Bekämpfung sie beauftragt sind. Dies zeigt sich vor allem anhand der für Polizeiarbeit zu allen Zeiten und an allen Orten unverzichtbaren Beziehung zwischen der Polizei und ihren Informanten, die im Fokus der folgenden Analysen steht.

1 Zur Ausdifferenzierung und Organisationswerdung der Strafverfolgung: Constables, Thief-taker, Associations for the Prosecution of Felons und die Londoner Bow Street Runners (England ca. 1690–1800)

In diesem Abschnitt beschäftige ich mich mit dem im England des 17. und 18. Jahrhundert etablierten System der Verfolgung von Straftaten. Dieses System des ‚Polizierens vor der Polizei‘, also vor der Gründung der Metropolitan Police of London im Jahr 1829, wird in der soziologischen Literatur typisch knapp als „an antiquated and corrupt system of law enforcement“ (Bittner 1967, S. 699; vgl. Vitale 2018, S. 35) bezeichnet. Eine Folge dieser Charakterisierung, die Normen des 20. Jahrhunderts etwa bezüglich Korruption unkritisch auf ältere Rechtsordnungen bezieht, ist, dass frühe Formen des Polizierens aus dem Gegenstandsbereich einer historisch interessierten Soziologie von Polizei(arbeit) ausgeschlossen werden. Nicht nachgegangen wird dann der Frage, warum und wie dieses System – wenngleich mit gewissen Beschränkungen und Folgeproblemen – über einen so langen Zeitraum doch funktionierte: Die Opfer von Einbruchskriminalität etwa hatten bessere Chancen als in der heutigen Bundesrepublik, ihr entwendetes Eigentum oder den Täter ausfindig zu machen und die Arbeit R.W. Englands (1985) zu Mordermittlungen in Nordengland zwischen 1800 und 1824 belegt ein hohes Maß an Gründlichkeit und Professionalität in der von Gerichtshelfern und nicht ausgebildeten und unbezahlt tätigen lokalen Ordnungshütern durchgeführten Beweisaufnahme.

Insgesamt hat die neuere geschichtswissenschaftliche Literatur die früher übliche und in der soziologischen Literatur noch heute vorherrschende Charakterisierung des Polizierens vor der Polizei in England als inexistent oder ineffektiv mittlerweile in weiten Teilen als einseitig zurückgewiesen und betont stattdessen, dass diese Form des Polizierens vor allem in den als „face to face society“ konstituierten dörflichen Gemeinschaften ihren guten Sinn hatte (vgl. Tobias 1979, S. 1 f.; S. 40 f.; Reiner 2000, S. 33 ff.). In diesem Abschnitt nutze ich die gute geschichtswissenschaftliche Forschungslage für eine Fallstudie zu einer Konstellation des Polizierens ohne Polizei, um so unter anderem der Frage nachgehen zu können, welchen Unterschied es macht, wenn Ermittlungsarbeit durch (Gruppen von) Einzelpersonen und nicht durch eine (staatliche) Organisation vollzogen wird. In diesem Zusammenhang rekonstruiert der Abschnitt auch die Grenzen der nicht organisierten Strafverfolgung und zeichnet am englischen Fall einen nicht zentral geplanten, sondern durch verschiedene lokale Initiativen initiierten Prozess ihrer Organisationswerdung nach.

1.1 Öffentliche Sicherheit und Ordnung als Gemeinschaftsaufgabe und Strafverfolgung als Privatsache

Eine ausdifferenzierte Berufsrolle, deren Träger sich im Auftrag des Staates primär mit der Aufklärung begangener Straftaten beschäftigen, gibt es in England erst ab 1842, als im Zuge der Gründung einer kriminalpolizeilichen Abteilung der Metropolitan Police of London aus den Reihen der uniformierten Polizei acht Männer rekrutiert werden, die fortan als Kriminalpolizisten tätig sind (Shpayer-Makov 2011, S. 2). Um zu verstehen, wie die ab Mitte des 19. Jahrhunderts von staatlichen Behörden übernommenen Aufgaben zuvor bearbeitet worden sind, ist der Hinweis entscheidend, dass Strafverfolgung in England im 17. und 18. Jahrhundert nicht als Aufgabe des Staates, sondern als Aufgabe von Privatpersonen behandelt worden ist. Staatliche Instanzen wurden nur dann aktiv, wenn sie die Interessen des Staates unmittelbar bedroht sahen, etwa im Fall von Aufständen, Volksverhetzung, Geldfälschung und teilweise bei Mord (vgl. Shpayer-Makov 2011, S. 20). Stattdessen übernahmen vor allem die Opfer der jeweiligen Tat oder ihre Familien die vielfältigen Aufgaben, die in heutigen Rechtssystemen (und auch in anderen Rechtssystemen des 18. Jahrhunderts wie dem französischen) von der Staatsanwaltschaft als der ‚Herrin des Ermittlungsverfahrens‘ übernommen werden.

Der mit Strafverfolgung einhergehende Aufwand macht verständlich, dass sich die meisten Privatleute, die Opfer einer Straftat geworden sind, gegen ein solches Verfahren entschieden. Wer eine Verurteilung eines Täters erreichen wollte, musste sich zunächst auf die Suche nach Zeugen machen, sie entweder selbst oder durch einen selbst bezahlten Anwalt befragen, weitere Indizien zusammentragen, eine Anklageschrift verfassen (lassen), den Prozess vor Gericht führen und schließlich auch die Gerichtskosten ebenso wie die im Zuge der Beweiserhebung angefallenen Kosten selbst tragen (vgl. Hay und Snyder 1989, S. 25 f.; Beattie 2006, S. 15; Knöbl 1998, S. 111). Die Durchführung eines Strafprozesses erforderte mithin neben einem hohen finanziellen und zeitlichen Aufwand auch das entsprechende Wissen um die Rechtswirklichkeit. Diese hohen Hürden erklären die geringe Anklagequote ebenso wie die Korrelation von Anklagequote und gesellschaftlicher Schichtzugehörigkeit des Opfers (vgl. Barrie 2016, S. 438 f.). Dass die geringe Strafverfolgungsquote lange Zeit nicht als größeres Problem angesehen wurde, hängt auch damit zusammen, dass das von Zeitgenossen als ‚Bloody Code‘ bezeichnete Strafrecht zu dieser Zeit nicht auf die Aufklärung möglichst vieler Straftaten setzte, sondern auf harte Sanktionierung einiger weniger Straftäter, von der eine abschreckende Wirkung ausgehen sollte (vgl. Shpayer-Makov 2011, S. 19).

Neben den Opfern von Straftaten nehmen nebenberuflich und unbezahlt tätige Gemeindepolizisten, die Constables, eine zentrale Rolle im englischen System der Rechtsdurchsetzung ein. Die Constables agieren als lokale Vertreter der ebenfalls unbezahlt tätigen Friedensrichter (‚Justice of the Peace‘) und haben außer ihrem guten Ansehen in der Gemeinde keine spezifische Qualifikation oder Ausbildung vorzuweisen. Constables und Friedensrichter sind Ausdruck und Bestandteil eines Systems der Rechtsdurchsetzung und Verwaltung, das insgesamt auf die Tätigkeit von Amtsträgern setzte, die als nicht speziell ausgebildete Laien, unbezahlt und neben ihrer eigentlichen Berufstätigkeit, also als Amateure tätig sind (Shpayer-Makov 2011, S. 19; Tobias 1979, S. 25–56). Die Constables werden für einen Zeitraum von einem Jahr aus dem Kreis ihrer Gemeinde für das Amt berufen, ihre Aufgaben sind noch vielfältiger als die Aufgaben heutiger Streifenpolizisten und umfassen die Kontrolle von Reisenden ebenso wie das Eintreiben von Steuern, die Kontrolle von Wirtshäusern, das Schlichten von Streitigkeiten oder die Verhaftung angezeigter Straftäter (Rawlings 2005, S. 44; Beattie 2001, S. 114 ff.; Knöbl 1998, S. 109 f.). Wenn ein Constable zufällig eine Straftat beobachtet oder wenn ihm durch das Opfer oder den Friedensrichter ein Täter genannt wird, versucht er in der Regel, den Täter festzunehmen; eigenständige Ermittlungsarbeit in Bezug auf noch unbekannte Täter leisten die Constables dagegen nicht, da dies als Aufgabe der Opfer der Tat verstanden wird (Beattie 2001, S. 85). Insgesamt fallen an den Constables ihre großen Freiheiten in der Wahl ihres Aktivitätsgrades und der von ihnen durchgeführten Maßnahmen auf (Beattie 2001, S. 121 f.). Vor allem im Bereich des ‚unsittlichen Verhaltens‘ (Alkoholkonsum oder Handel an Sonntagen, nicht lizenzierter Ausschank von Alkohol) beobachten die übergeordneten Amtsträger regelmäßig ein deutliches Vollzugsdefizit, eine deutliche Differenz von sichtbaren und sanktionierten Normbrüchen und ermahnen die Constables (erfolglos) zu einer konsequenteren Rechtsdurchsetzung (Beattie 2001, S. 123 f.).

1.2 Soziale Kontrolle – Ausdifferenzierung und Autonomie als Variablen

Eine soziologische Erklärung für dieses Vollzugsdefizit im englischen System des Polizierens ohne Polizei kann ausgehend von den Arbeiten des Ethnologen Siegfried Ferdinand Nadel (1953) entwickelt werden. Wie Skolnick, Woodworth oder Luhmann in den unten (Kapitel 6) diskutierten Arbeiten beschäftigt sich auch Nadel mit sozialen Einheiten, die Aufgaben der sozialen Kontrolle übernehmen und zu diesem Zweck unter anderem auf die Gewinnung von Informationen über Normbrüche angewiesen sind. Nadel hat an diesen sozialen Einheiten und ihren Mitgliedern – Beispiele sind etwa die Abteilung für interne Ermittlungen in einer Organisation, der Lehrer in einer Schulklasse, die Kontrolleure des Gesundheitsamts im Verhältnis zur kontrollierten Gastronomie oder die Polizei in vielen Feldern der modernen Gesellschaft – hervorgehoben, dass sie auf Funktionen spezialisiert sind, die in einfachen Gesellschaften nicht auf einzelne Teilsysteme oder Rollen beschränkt waren.

Nadel bezeichnet das Problem, für das alle Formen sozialer Kontrolle Lösungen darstellen, als die Erzeugung von Erwartungssicherheit im Umgang mit anderen Mitgliedern einer Gemeinschaft und meint, dass diese Erwartungssicherheit in einfachen, nicht differenzierten Gemeinschaften durch personale Rollenkombination erzeugt worden ist. Von einem guten Mitglied der Dorfgemeinschaft, das als Gastwirt Interesse an zahlenden Kunden hat, kann erwartet werden, dass es auch in seiner Rolle als ehrenamtlicher Richter so handelt, dass sich sein Handeln nicht zu weit von den in der Gemeinschaft unterstützten Gerechtigkeitsvorstellungen entfernt: „Die soziale Kontrolle beeinflußt das Verhalten primär in der Form der Rücksicht auf eigene andere Rollen“ (Luhmann 1968b, S. 155; vgl. 1972, S. 282 ff.). Anders formuliert: Da das Handeln in einer Rolle großen Einfluss auf die Handlungsmöglichkeiten in allen anderen Rollenkontexten hat, kommt es in diesen Gemeinschaften zu einer „self-regulation by ‚multiple consequences‘“ (Nadel 1953, S. 271). Die Gemeinschaft insgesamt übernimmt dadurch Funktionen der sozialen Kontrolle, die in Gesellschaften mit einer stärkeren wechselseitigen Isolation von Handlungskontexten von spezialisierten Rollen übernommen werden.

Wenn eine Gemeinschaft oder ein Sozialsystem dagegen über ausdifferenzierte Träger von Kontrollaufgaben verfügt, stehen diese Kontrollorgane vor dem Problem, den Selbstdarstellungen der von ihnen kontrollierten Personen mehr oder weniger vertrauensvoll, mehr oder weniger misstrauisch begegnen zu müssen. In dem Maße, in dem die Kontrolleure die Anhaltspunkte für Vertrauen und Misstrauen der allgemeinen Gesellschaftsstruktur entnehmen, also etwa dem erfolgreichen Gastronom oder dem aus der Oberschichtsfamilie stammendem Schüler mehr Vertrauen entgegenbringen, handelt es sich dann zwar um ausdifferenzierte, nicht aber um autonom agierende Träger von Kontrollaufgaben. Gelingt es den Kontrolleuren dagegen, Autonomie im Verhältnis zur umfassenden Sozialwelt zu gewinnen, entsteht innerhalb des „social control system“ (Skolnick und Woodworth 1967, S. 99) ein neuartiger Bedarf an eigenen Kriterien für die Zuteilung von Vertrauen und Misstrauen.

Bezieht man dieses allgemeine Modell auf den Fall der englischen Constables, dann lässt sich feststellen, dass die Aufgabe der sozialen Kontrolle zwar auf Rollenebene ausdifferenziert ist, die Constables in ihrem Rollenhandeln aber nur ein geringes Maß an Autonomie aufweisen. Wie in den von Nadel beschriebenen Gesellschaften gilt auch für die englischen Constables, dass sie neben ihrer Rolle als Ordnungshüter in der gleichen Gemeinschaft andere Rollen innehatten, etwa auch noch Bäcker oder Wirt waren, und damit rechneten, auch nach ihrer kurzen Amtszeit als Constable im Kreis der Gemeinde zu leben. Die Constables achteten deshalb bei der Wahl und Durchführung ihrer Maßnahmen darauf, auch zukünftig als gutes Gemeindemitglied akzeptiert zu sein, entfernten sich in ihrem Handeln also nicht allzu weit von den in der lokalen Gemeinschaft institutionalisieren normativen Überzeugungen. Das von Amateuren getragene System der Rechtsdurchsetzung trug deshalb zur Reproduktion der umfassenden Gesellschaftsstruktur bei: Die der Zeugenaussage einer Person zugeschriebene Glaubwürdigkeit und die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person den Constable im Fall eines Konflikts auf ihrer Seite hatte, korrelierte stark mit dem Status der Person in ihrer Gemeinde (vgl. Shpayer-Makov 2011, S. 20; Rawlings 2005, S. 44).

Zu dieser Erklärung passt die Beobachtung, dass in vielen Gemeinden etwa religiöse Autoritäten oder Versammlungen von Dorfältesten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, etwa für das Schlichten von Streit und die Aussprache von Sanktionen bei Verstößen gegen die ‚gute Ordnung‘, bedeutsamer waren als die für Sicherheit und Ordnung formal zuständigen Constables (Barrie 2016, S. 441 f.). Das englische System des Polizierens vor der Polizei setzte mithin wesentlich auf die in kleinen Gemeinschaften etablierte Ordnung und war Ausdruck einer „face-to-face society in which those who held public office, whether constables or watchmen, were known to those upon whom they exercised authority“ (Durston 2012, S. 155).Footnote 5 Die starke Einbettung des Constables in die Dorfgemeinschaft ist ein gutes Beispiel dafür, dass Prozesse der Ausdifferenzierung von Rollen immer gesamtgesellschaftliche Prozesse sind (vgl. dazu auch Luhmann 1969b, S. 59 ff.). Eine Rolle kann nur dann erfolgreich ausdifferenziert werden und ihr Träger kann nur dann Träger einer „begrenzt autonome[n] Informationsverarbeitung“ (Luhmann 1969b, S. 69) sein, wenn dies Unterstützung in der gesellschaftlichen Umwelt des Rollenträgers findet, wenn der Constable etwa nach einer Festnahme eines im Dorf hoch angesehenen Mannes nicht fürchten muss, zwar von dem Friedensrichter gelobt zu werden, aber fortan auf die Mehrzahl seiner Gäste im Wirtshaus verzichten zu müssen.

1.3 Aufstieg, Funktionen und Skandale einer Berufsgruppe: ‚Thief-taker‘ als Grenzrolle zwischen Täter, Opfer und Justiz und die Defizite nicht-organisierter Strafverfolgung

Gegen Ende des 17. Jahrhunderts setzt sich vor allem in den Kreisen wohlhabender Bürger und staatlicher Entscheider die Überzeugung durch, dass es im Zuge der Urbanisierung zu einem drastischen Anstieg von Straftaten insbesondere in und um London gekommen sei (vgl. Manning 1979, S. 47 ff.). Vor allem Raub, Diebstahl und Einbruchskriminalität werden als zentrale gesellschaftliche Probleme wahrgenommen (vgl. Beattie 2001, S. 1 ff.), was neben einem zu vermutenden tatsächlichen Anstieg der Kriminalität vor allem mit einer abnehmenden „tolerance for crime and riotous protest“ zusammenhängt (Manning 1979, S. 65). Um die Opfer von Eigentumsdelikten dazu zu motivieren, gegen die Täter zu ermitteln und sie vor einem Gericht anzuklagen, beschließt das englische Parlament die Auszahlung staatlicher Belohnungen an Personen, die einen Beitrag zur Überführung bestimmter Typen von Straftätern leisteten, namentlich für die Ergreifung von Wegelagerern (1692), Geldfälschern (1695) und Einbrechern (1706). Die Belohnung für die Verhaftung und Überführung eines Einbrechers entsprach in London Mitte des 18. Jahrhunderts dabei drei bis vier Jahreseinkommen eines Handwerkergesellens (Beattie 2006, S. 16).

Trotz der Aussicht auf diese Belohnungszahlungen scheuten weiterhin viele Bürger den Aufwand und auch die Gefahren der Ermittlungsarbeit und bevorzugten es, diese Aufgabe an Dritte zu delegieren. Deshalb lag der wesentliche Effekt der Einführung staatlicher Belohnungszahlungen in der nicht intendierten Schaffung und raschen Verbreitung einer neuen Berufsgruppe: Sogenannte ‚Thief-taker‘ prägen das englische System der Strafverfolgung im 18. Jahrhundert, vor allem in London. Wales (2000, S. 81) schätzt die Zahl der bekannten Thief-taker in London um 1700 auf 40 Personen und zeigt, dass sich die Rolle der Thief-taker schnell zu einer regulären und in weiten Bevölkerungskreisen anerkannten, legitimen Berufsrolle entwickelt hat. In den Vierteln Londons war bekannt, wer in welchem Gebiet als Thief-taker aktiv war und Thief-taker boten ihre Dienste offen an, etwa durch Anzeigen in Zeitungen (Beattie 2001, S. 228). Die Angehörigen dieser jungen Berufsgruppe engagieren sich im Wesentlichen in zwei Tätigkeitsfeldern: Zum einen widmen sie sich entsprechend ihrer Bezeichnung dem Aufspüren von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden (sei es durch Hinweise des Opfers oder von Kontaktpersonen aus kriminellen Milieus) und nun vor Gericht angeklagt werden sollen. Quantitativ bedeutsamer ist jedoch ein anderes Tätigkeitsfeld der Thief-taker, nämlich die Rückführung des entwendeten Eigentums an die Opfer von Diebstahl, Raub oder Einbruch gegen Zahlung einer Vermittlungsgebühr durch das Opfer (vgl. Beattie 2001, S. 226 ff.). Die Thief-taker boten ihre Dienste der interessierten Öffentlichkeit als eine Art Fundbüro für gestohlene Güter an, wie etwa das folgende Zeitungsinserat des bekannten Londoner Thief-takers John Bonner aus den 1690er Jahren veranschaulicht:

„This is to give notice to those who have sustained any loss at Sturbridge Fair last, by Pick Pockets or Shop lifts: If they please to apply themselves to John Bonner in Short Gardens, they may receive information and assistance therein; also Ladies and others who lose their Watches at Churches, and other Assemblies, may be served by him as aforesaid, to his utmost power, if desired by the right Owner, he being paid for his labour and Expenses.“ (zitiert nach Wales 2000, S. 70)

Das wichtigste Erfolgsmittel der Thief-taker in beiden Tätigkeitsfeldern ist ihr Wissen um zentrale Personen, Netzwerke und Orte der Welt der Straftäter. In Bezug auf London um 1700 formuliert Beattie (2001, S. 252): „The world of illegality was not so large that a network of men could not keep up with at least the serious thefts and known receivers. Thief-takers commonly worked together in this way. Knowledge – and mutual help – enabled them to apprehend offenders who were vulnerable and valuable.“ Wenn ein Thief-taker von einem Einbruchsopfer also damit beauftragt wurde, den Aufenthaltsort seiner gestohlenen Ware ausfindig zu machen, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass wenn nicht der angesprochene Thief-taker selbst, so doch zumindest eine seiner Kontaktpersonen wusste, aus welchem Kreis in der fraglichen Gegend Einbrüche begangen worden sind und an wen sich der Thief-taker also wenden musste, um eine Verhandlung zur Rückführung der Ware aufzunehmen.Footnote 6

Über die für ihre Arbeit zentralen Kontakte und Wissensbestände verfügen die meisten Thief-taker schlicht deshalb, weil sie selbst über eine kriminelle Vergangenheit verfügen. Viele Thief-taker haben ihre Karriere mit einem Tausch von Informationen über Straftaten von Komplizen gegen Begnadigung begonnen (Wales 2000, S. 75). Fast alle erfolgreichen Thief-taker nehmen darüber hinaus eine weitere berufliche Position ein, die sie in Kontakt mit kriminellen Milieus bringt, etwa als Betreiber von oder Mitarbeiter in Kneipen, Pfandhäusern, Bordellen oder günstigen Pensionen. Durch ihre anderen eigenen (vergangenen) Rollen stehen die Thief-taker also in Kontakt zu Netzwerken von Straftätern und sind so gut über die Ereignisse in der Unterwelt informiert (Wales 2000, S. 79; Paley 1989, S. 304 f.).

Soziologisch lässt sich die Rolle der Thief-taker als Grenzrolle, als vermittelnde und übersetzende Einrichtung zwischen sehr verschiedenartigen Umweltsegmenten charakterisieren und analysieren, nämlich zwischen Justiz (Gerichten, Friedensrichtern und Constables), Angehörigen krimineller Milieus und den Opfern von Eigentumsdelikten. Je nach Situation und beteiligten Personen entscheiden die Thief-taker, wie sie mit ihrem Wissen um eine Straftat und den Aufenthaltsort des Täters umgehen: Manchmal bemühen sie sich um eine Ergreifung des Täters, um eine Belohnung zu erhalten, manchmal kaufen sie die ihnen vom Täter angebotene Ware an, um sie entweder weiter zu verkaufen oder um sie dem rechtmäßigen Eigentümer gegen Zahlung einer Belohnung zu übergeben (Beattie 2001, S. 230). Eine weitere Form der von Thief-takern vollzogenen Vermittlungsleistungen besteht in einer Tätigkeit, die heute von Anwälten übernommen werden würde: Täter, die befürchteten, bald durch Aussagen von Mittätern oder anderen Zeugen überführt zu werden, beauftragten Thief-taker damit, einen ‚Deal‘ mit den Friedensrichtern auszuhandeln: Geständnis und Informationen über Komplizen gegen Freispruch oder milde Strafe (Durston 2012, S. 271 f.)

Die hohe Nachfrage nach den von Thief-takern angebotenen Vermittlungsleistungen ergibt sich daraus, dass Opfer und Täter durch sie profitieren konnten. Für die Opfer ist die Vermittlungsleistung oft die einzige Möglichkeit, das gestohlene Eigentum zurückzuerhalten. Dem Täter bietet die Vermittlung nicht nur eine im Vergleich zum Verkauf an Dritte vergleichsweise risikofreie Absatzmöglichkeit der Ware sowie das Versprechen des Opfers, auf Anklageerhebung zu verzichten, sondern darüber hinaus die Möglichkeit, für einige Güter wie etwa persönliche Dokumente oder geschäftliche Unterlagen einen deutlich höheren Preis erzielen, als dies auf dem freien Markt möglich wäre, da diese Güter für ihren rechtmäßigen Besitzer einen höheren Wert haben als für Dritte (Beattie 2001, S. 248 f.). Wie im Fall anderer Grenzrollen liegt auch für die Thief-taker als Vermittler eine zentrale Herausforderung darin, das Vertrauen ihrer sehr unterschiedlichen Handlungspartner zu erwerben und zu erhalten: Straftäter mussten darin vertrauen, dass ihre Identität geheim gehalten wird, die Opfer, dass die Thief-taker die Verhandlungen um die Rückführung des Diebesgutes im Sinne der rechtmäßigen Eigentümer führen und die Gerichte mussten ihren Zeugenaussagen Glauben schenken, wenn die Thief-taker sich im Einzelfall für die Überführung eines Täters entschieden.

Auf Grundlage der geschichtswissenschaftlichen Forschung lassen sich im historischen Rückblick fünf zentrale Defizite dieses auf privater Initiative und Thief-takern als Grenzrollen zwischen Opfern, Tätern und Justiz basierendem System der Strafverfolgung identifizieren. Erstens – und die folgenden Problemgesichtspunkte umfassend – bleibt die Anklagequote trotz der staatlichen Belohnungen für die Überführung etwa von Einbrechern und Geldfälschern deutlich unter dem von staatlichen Entscheidern und wohlhabenden Bürgern erhofften Niveau. Die meisten Opfer von Eigentumskriminalität interessieren sich ausschließlich für die Rückführung ihres Eigentums und verzichten oft auch deshalb auf eine Anklageerhebung, weil sie die dem Täter drohende Todesstrafe für unverhältnismäßig halten. In der Regel wird der Verzicht auf Strafverfolgung deshalb explizit als Teil des von Thief-takern vermittelten Tauschgeschäftes zur Rückführung der Ware gegen Geldzahlung behandelt: Thief-taker beschließen ihre Anzeigen, in denen sie für die Übergabe ‚verlorener‘ Gegenstände ihrer Klienten eine Belohnung in Aussicht stellen, typisch mit der Formel „no questions asked“ (vgl. Wales 2000, S. 69 f.; Styles 1989, S. 68–75). Gerald Howson (1985, S. 66) zitiert ein Beispiel einer solchen Anzeige aus dem Jahr 1714:

„Lost on Friday evening 19th March last, out of a Compting House in Derharm Court in Great Trinity Lane, near Bread Street, a Wast Book and a Day Book; they are of no use to anyone but the Owner, being posted into a Ledger to the Day they were lost. Whoever will bring them to Mr. Jonathan Wild over-against Cripplegate Church, shall have a Guinea Reward and no Questions asked.“

Das zweite zentrale Defizit des englischen Systems der Strafverfolgung im 17. und 18. Jahrhundert liegt darin, dass die Anklagequote stark mit dem Schichtstatus des Opfers korreliert, da Personen aus unteren Schichten das für die Strafverfolgung notwendige Wissen oft ebenso fehlt wie die finanziellen Ressourcen. Drittens ist es für Straftäter sehr leicht, sich durch Ortswechsel einer Verhaftung zu entziehen, da die lokalen Segmente der Strafverfolgung kaum untereinander koordiniert sind (Styles 1983, S. 132). Viertens fehlt es in dem auf der Initiative von Opfern basierenden System der Strafverfolgung an einer adäquaten Reaktion auf Straftaten ohne individuelle Opfer. Das erklärt das besonders hohe Vollzugsdefizit bei zwei der zentralen Straftaten im 17. und 18. Jahrhundert, der Geldfälschung und dem ‚Clipping‘, bei dem ein Teil der Silbermünzen abgeschnitten wurde (vgl. Wales 2000, S. 73), und auch bei Straftaten, die in der Bevölkerung akzeptiert waren, wie Wilderei oder Schmuggel (vgl. Tobias 1979, S. 21 ff.). Fünftens sind unter den insgesamt wenigen Anklagen und Verurteilung verhältnismäßig viele Verurteilungen unschuldiger Personen (Wales 2000, S. 68).

Jonathan Wild und die McDaniel Gang: Thief-taker als Thief-maker

Dieses hohe Maß an Justizirrtümern ergibt sich daraus, dass die hohen staatlichen Belohnungszahlungen Motive für die Fabrikation falscher Anschuldigungen schufen,Footnote 7 die Gerichte zugleich kaum eigene Ermittlungsarbeit leisten konnten und deshalb von den durch Laien wie den Thief-takern angelieferten Informationen abhängig sind. Paley (1989, S. 326) vermutet, dass Richter oft ahnten, dass die von einem Thief-taker vorgebrachte Aussagen nicht der Wahrheit entsprechen, sie die Aussagen aber zumindest bis zu den in diesem Abschnitt analysierten Justizskandalen um die McDaniel Gang im Jahr 1754 schlicht deshalb regelmäßig als zutreffend behandelten, weil ihnen der Zugang zu alternativen Informationen fehlte und sie ihrerseits ein Interesse an Verurteilungen hatten. Am deutlichsten sichtbar werden diese Defizite des englischen Systems der Strafverfolgung im 17. und 18. Jahrhundert anhand von zwei Gruppen von Männern, die nach außen hin als Thief-taker agierten, faktisch jedoch zugleich und vor allem großen Einfluss auf die Londoner Unterwelt hatten: Die von ca. 1714 bis 1725 aktive Gruppe um Jonathan Wild und die von ca. 1744 bis 1754 aktive ‚McDaniel Gang‘. Die Tätigkeiten beider Gruppen zeigen, dass das System privater Strafverfolgung in Kombination mit hohen Belohnungszahlungen starke Anreize setzte, „to make thieves in order to take them“ (Beattie 2001, S. 413).Footnote 8

Der für das Thema dieses Kapitels relevante Abschnitt der Biografie Jonathan Wilds (1682–1725)Footnote 9 beginnt mit seiner Verhaftung im Jahr 1710 aufgrund nicht bezahlter Schulden. Nach seiner Entlassung 1712 bewegt Wild sich in kriminellen Milieus, verdient Geld mit dem An- und Verkauf von Hehlerware und professionalisiert diese Tätigkeit 1714 mit der Gründung seines ‚Office for the Recovery of Lost and Stolen Property‘. Wilds Methode besteht darin, seine Mitarbeiter zunächst mit Raubüberfällen, Diebstählen und Einbrüchen zu beauftragen und dann abzuwarten, bis die Opfer ihren Verlust in den Zeitungen annoncieren, um den Opfern schließlich anzubieten, die gesuchte Ware gegen eine entsprechende Gebühr ausfindig zu machen. Zu Beginn seiner Tätigkeit spezialisierte sich Wild dabei auf Diebesgut, das nur für seinen Besitzer wertvoll war, wie Briefe oder Geschäftsbücher und minimierte das eigene Risiko darüber hinaus vor allem dadurch, dass er die gestohlenen Güter nie in seinen eigenen Besitz übernahm, sondern nur als Vermittler agierte und den Opfern einen Ort nannte, an dem ihnen ihr Eigentum gegen die Zahlung des ausgehandelten Betrages übergeben werden würde (Howson 1985, S. 69, S. 73). Sofern die Besitzer sich nicht selbst bei Wild meldeten, wurde er auch bei ihnen vorstellig mit der Mitteilung, ihm sei zu Ohren gekommen, dass sie Opfer eines Diebstahls geworden seien und er ihnen nun das Angebot machen könnte, sich gegen eine kleine Aufwandsentschädigung um die Rückführung ihres Eigentums zu bemühen. Oft empfahl er den Opfern auch die Veröffentlichung einer Suchanzeige im Stil der oben zitierten Annonce aus dem Jahr 1714, um den Verdacht direkter Kontakte zu den Tätern zu zerstreuen. Neben dieser primären Geschäftsstrategie verdiente Wild auch Geld damit, (vermeintliche) Straftäter an die Gerichte auszuliefern, wobei es sich dabei zum einen um Mitglieder konkurrierender Gruppen von Thief-takern handelte und zum anderen um einzelne Einbrecher, die sich weigerten, mit Wild zusammenzuarbeiten und ihm den Großteil des Gewinns zu überlassen (Beattie 2001, S. 255; Tobias 1979, S. 13 ff.).

Nach außen stellt sich Wild mithin als guter Polizist dar, als ‚Thief-taker General‘, der Diebesgut durch intensive Ermittlungsarbeit in der ‚Unterwelt‘ ausfindig macht und erwirbt sich so einen guten Ruf in der Londoner Öffentlichkeit. Dieser gute Ruf in einem bedeutsamen Umweltsegment ist dann – wie für Grenzrollen (siehe dazu oben, Kapitel 3) typisch – auch entscheidende Grundlage von Wilds systeminternen Einfluss gegenüber seinen Mitarbeitern: Wild kann ihnen drohen, sie bei mangelnder Folgebereitschaft als Diebe anzuzeigen, weil er gegenüber den Gerichten eine hohe Glaubwürdigkeit als Kenner der Unterwelt genießt. Wilds System erreicht nach einigen Jahren eine große Reichweite, seine Mitarbeiter nehmen Verhaftungen auch in den Städten Südenglands vor und seine Organisation erlangt den Status einer „national institution“ (Howson 1985, S. 5). Etwa zehn Jahre lang gelingt es Wild auf diese Weise, zugleich angesehene Person der Londoner Öffentlichkeit und zentrale Figur der Londoner Unterwelt zu sein. Mitte der 1720er Jahre schlägt die öffentliche Stimmung gegen Thief-taker im Allgemeinen und Wild im Besonderen jedoch um und erste Mitarbeiter beschuldigen Wild, nicht Thief-taker, sondern Thief-maker zu sein. Im Februar 1725 wird er wegen des Vorwurfs verhaftet, einem seiner Mitarbeiter zum Ausbruch aus dem Gefängnis verholfen zu haben. Wild wird zum Tode verurteilt und am 24. Mai 1725 unter großem öffentlichem Interesse hingerichtet.

Mein zweites Beispiel für die Möglichkeit, im England des 18. Jahrhunderts als Thief-taker auf beiden Seiten des Rechts aktiv zu sein, ist die in der historischen Forschung als ‚McDaniel Gang‘ bezeichnete Gruppe um den Thief-taker Stephen McDaniel. Die McDaniel Gang agiert von 1744 bis zu der Verurteilung zahlreicher Mitglieder im Jahr 1754 nach außen hin als Gruppe gewöhnlicher Thief-taker, arrangiert jedoch wiederholt die von ihnen später ‚aufgeklärten‘ Überfälle selbst. Typisch wirbt ein Mitglied der Gruppe Mittäter für einen Überfall an, wobei es sich in der Regel um junge und verschuldete Männer handelt, die als Neulinge noch keine Kontakte in London haben. Gemeinsam begehen sie dann einen Überfall auf einen vorher durch die McDaniel Gang ausgewählten und instruierten Kutschenfahrer und veräußern das Diebesgut an einen ebenso instruierten Hehler. Durch das Gruppenmitglied unter den Tätern sind die Thief-taker um McDaniel über den Aufenthaltsort der weiteren Täter informiert, die sie deshalb schon wenige Tage nach der Tat verhaften und dem Gericht übergeben können. Kutscher und Hehler treten vor Gericht als Zeugen auf und die Gruppe nimmt die Belohnung für die Verhaftung und Überführung der Wegelagerer entgegen (vgl. Paley 1989, S. 301 ff.; Durston 2012, S. 267 f.). Im August 1754 werden Stephen McDaniel und drei weitere Thief-taker durch den Constable Joseph Cox erfolgreich des ‚thief-makings‘ überführt und zu zwei Tagen Pranger verurteilt.

Schon kurz vor dem mit der Verurteilung Jonathan Wilds verbundenen Skandal veröffentlicht Bernard Mandeville eine Kritik des englischen Systems der Strafverfolgung, die charakteristisch ist für den Umschwung der öffentlichen Meinung in den 1720er Jahren. In zwei Beiträgen für das British Journal im Jahr 1725, die später als die ersten beiden Kapitel seines Buches „An enquiry into the causes of the frequent executions at Tyburn“ erschienen sind, stellt Mandeville zunächst das hohe Ausmaß an Eigentumskriminalität in London fest. Eine zentrale Ursache sieht er in der verbreiteten Praxis der „shameful negotiations with thieves, or their agents, for the recovery of stolen goods, by which, in reality, we become aiders and abetters to them“ (Mandeville 1725, S. 2). Mandeville kritisiert hier also die Thief-taker, die er in Widerspruch zu ihrer Selbstbeschreibung als quasi-Polizisten und Agenten der Opfer als Agenten der Täter charakterisiert. Vor allem aber kritisiert Mandeville die unter Opfern von Eigentumsdelikten verbreitete Vorgehensweise, sich nach der Tat umgehend an Thief-taker wie Jonathan Wild zu wenden und für die Rückführung des gestohlenen Gutes oft Summen zu bezahlen, die zwar dem persönlichen Wert der Gegenstände entsprechen mögen, ihren Marktwert jedoch übersteigen. Auf diese Weise erfüllen die Opfer Mandeville zufolge den Tätern ihre beiden größten Wünsche, da diese nicht nur einen guten Preis für ihr Diebesgut, sondern zugleich auch noch die Zusicherung erhalten, keine Strafverfolgung fürchten zu müssen. Zwar sei die Vorgehensweise der Opfer aus ihrer je individuellen Betroffenheit heraus verständlich, im Ganzen führe diese Praxis jedoch dazu, das Geschäft der Diebe attraktiver zu machen, weshalb Mandeville in den von den Thief-takern vermittelten Tauschgeschäften zwischen Opfern und Tätern eine zentrale Ursache der hohen Kriminalitätsbelastung Londons sieht.

Dass Mandeville mit seiner Einschätzung nicht allein ist, zeigt auch ein Blick auf die Gesetzgebung seiner Zeit: 1720 beschließt das Parlament eine deutliche Anhebung der staatlichen Belohnungszahlungen für die Mitwirkung an der Verurteilung von Straftätern. Die Überführung eines Einbrechers in London bringt von nun an 140 Pfund und damit drei Jahresgehälter eines Handwerkergesellens ein (Beattie 2001, S. 379). Diese Anhebung der Belohnungszahlungen sind ein deutlicher Versuch, Thief-taker dazu zu motivieren, sich für eine Überführung des Täters und gegen die Übernahme ihre Rolle als Vermittler zwischen Täter und Opfer zu entscheiden. Diese Vermittlungsleistung – der Ankauf von Diebesgut in Verbindung mit der Zusicherung, auf Strafverfolgung zu verzichten – wurde im ersten ‚Transportation Act‘ von 1718 als Straftat definiert, ab 1720 gab es für Hinweise auf sie ebenfalls eine Belohnung (Beattie 2001, S. 381). Die Zeitgenossen wussten mithin um die Stellung der Thief-taker als Grenzrolle mit doppelter Loyalität und bemühten sich, finanzielle und strafrechtliche Anreize dafür zu schaffen, dass Thief-taker in Einklang mit ihrer Selbstbeschreibung als Agenten des Rechts und der Opfer, nicht als Agenten der Täter agieren.

Trotz aller Defizite und Skandale des auf privater Initiative und gemeinschaftlicher Bewältigung anstatt auf eine staatliche Behörde setzenden Systems der Strafverfolgung war unter Zeitgenossen noch im 19. Jahrhundert der Glaube an die Effektivität der informierten Öffentlichkeit als Organ der Strafverfolgung außerordentlich hoch. In einer viel beachteten Reformschrift sieht Edwin Chadwick noch 1829 die nicht ausdifferenzierte Form des Polizierens, in der jeder Bürger auch Wachtmeister und Ermittler ist und deshalb über begangene Straftaten informiert werden muss, als einer ausdifferenzierten Polizeibehörde überlegen an:

„[...] by a speedy and complete collection and publication of information concerning all sorts of delinquency committed, more would be done in reducing crime, and at a cheaper rate, than by any other possible alteration in the present system of police, or by any possible increase of the existing establishments. For by this means the public at large will be converted into a police: each individual member, by being put upon his guard, would perform unconsciously a great portion of the duties of the police officer. (Preventive Police 1829, S. 278, zitiert nach Styles 1989, S. 90, meine Hervorhebung)

Chadwicks Optimismus in Hinblick auf die Effektivität und Effizienz eines Polizierens ohne Polizei speist sich auch daraus, dass sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts eine leichte Steigerung der Anklage- und Verurteilungsquoten beobachten lässt, die eng mit der Etablierung der Massenpresse verbunden ist (vgl. Barrie 2016, S. 444 f.). Während es um 1700 in England noch keine regionale Tagespresse gibt, zählt Styles (1989, S. 58) für das Jahr 1808 bereits über 100 verschiedene lokale Tageszeitungen. Fester Bestandteil vieler Zeitungen sind von Beginn an kriminalitätsbezogene Anzeigen, in denen zumeist die Opfer von Eigentumskriminalität – der häufigste Falltyp ist Pferdediebstahl – eine Belohnung für den Hinweis auf den Täter oder den Verbleib des Eigentums aussetzen (Styles 1989, S. 59 f.). Ab etwa 1750 kommt ein zweiter Typ kriminalitätsbezogener Anzeigen hinzu, in dem umgekehrt zumeist durch Amtsträger wie Friedensrichter oder Constables die Festnahme einer verdächtigen Person oder die Beschlagnahmung von mutmaßlichem Diebesgut bekanntgegeben wurde, verbunden mit der Aufforderung, bei der Identifizierung des Verdächtigen oder des Eigentümers zu helfen (Styles 1989, S. 66). Styles kann zeigen, dass die Verbreitung von kriminalitätsbezogenen Informationen über Flugblätter und vor allem in Zeitungen ein recht erfolgreiches Mittel der Strafverfolgung war und vor allem die Möglichkeiten der über-regionalen Strafverfolgung deutlich verbessert hat: In Prozessen bezüglich Pferdediebstahls stammen die entscheidenden Informationen in einer von Styles untersuchten Stichprobe in 31 % der Fälle aus Reaktionen auf gedruckte Informationsaufrufe (Styles 1989, S. 77).

1.4 Zur Organisationswerdung der Strafverfolgung: ‚Associations for the Prosecution of Felons‘ und die Londoner ‚Bow Street Runners‘ als Frühform organisierter Strafverfolgung

Im historischen Rückblick fällt auf, dass die Versuche der Zeitgenossen, die skizzierten Schwächen des englischen Systems der Strafverfolgung auszugleichen, in der Mitte des 18. Jahrhunderts ohne zentrale staatliche Planung auf die Etablierung formaler Organisationen im Feld der Strafverfolgung hinausliefen. Diese von Privatpersonen initiierten Organisationen erfüllten dabei im Wesentlichen die Funktionen, die in heutigen Rechtsstaaten typisch von der Staatsanwaltschaft einerseits und der Kriminalpolizei andererseits übernommen werden.

Zum einen entstehen ab Ende des 17. Jahrhunderts ‚Associations for the Prosecution of Felons‘, lokale Vereine mit dem Zweck, Opfer von Straftaten finanziell und praktisch bei der Verfolgung von Straftätern zu unterstützen. Ab den 1760er Jahren kommt es im ganzen Land in großer Zahl zu Vereinsgründungen, David Philips (1989, S. 120) schätzt die Zahl der Vereine zu diesem Zeitpunkt auf 1.000–4.000. In jedem dieser Vereine organisieren sich typisch 20 bis 60 Männer (einige Vereine hatten auch Frauen unter ihren Mitgliedern), Bauern ebenso wie Handwerker oder Händler, um sich gegenseitig zu unterstützen, wenn eines der Mitglieder Opfer einer Straftat geworden ist. Diese Hilfe ist teilweise praktischer Natur (die Mitglieder suchen die Landstraßen nach gestohlenen Pferden ab), vor allem aber finanzieller Art: Jedes Mitglied zahlte einen meist jährlichen Beitrag und aus dieser Vereinskasse wurden dann etwa Belohnungszahlungen, Reise- und Gerichtskosten bezahlt, die im Zuge von Strafprozessen anfielen. Teilweise unterstützten die Vereine auch Opfer, die nicht Mitglieder des Vereins waren, um eine abschreckende Wirkung auf potenzielle Straftäter zu erreichen (vgl. Philips 1989; King 1989; Hay und Snyder 1989, S. 27; Sutton 2004). Faktisch übernahmen die Vereine damit vor allem in ländlichen Gegenden die in anderen Rechtssystemen typisch von staatsanwaltschaftlichen Behörden übernommenen Funktionen, nämlich Ermittlungsarbeit, Anklageerhebung und Prozessführung. Die Nähe zum Organisationstyp Staatsanwaltschaft zeigt sich auch darin, dass viele Vereine ihren Mitgliedern mit Strafzahlungen oder Ausschluss drohten, sollten diese sich auf ein Tauschgeschäft mit Tätern einlassen und auf eine Anklageerhebung verzichten (Sutton 2004, S. 96). Das Ziel der Vereine bestand also nicht lediglich darin, ihre Mitglieder gegen den finanziellen Schaden von Eigentumskriminalität abzusichern, sondern gleichermaßen darin, die Strafverfolgungsquote in ihrem jeweiligen lokalen Einflussgebiet zu erhöhen.

Der zweite Organisationstyp, der sich Mitte des 18. Jahrhunderts ohne zentrale staatliche Initiative im Feld der Strafverfolgung herausgebildet hat, kann in vielen Hinsichten als Vorläufer einer kriminalpolizeilichen Behörde angesehen werden. Die Initiative geht zurück auf den Schriftsteller Henry Fielding, der 1748 in London zum Friedensrichter berufen wird und im folgenden Jahr in der Londoner Bow Street eine kleine Gruppe von Männern um sich versammelt, die von nun an als ‚Bow Street Runners‘ bekannt sind. Entscheidend für den Erfolg der Bow Street Runners auf dem Feld der Strafverfolgung ist, dass es Henry Fielding gelingt, den Herzog von Newcastle dazu zu bewegen, das Magistrat als erstes in England überhaupt mit einem kleinen monatlichen Budget auszustatten (vgl. Knöbl 1998, S. 122; Hobbs 2001, S. 23). Henry Fielding und sein Halbbruder John, der die Führung des Magistrats nach der Erkrankung und dem Tod Henrys übernimmt, rekrutieren ihre Mitarbeiter zunächst aus dem Kreis aktiver Thief-taker und ehemaliger Constables, ersetzen dieses Personal aber nach und nach durch Personen, die ihnen als vertrauenswürdiger erscheinen (Paley 1989, S. 314). Neben einer kleinen monatlichen Entlohnung motivieren die Fieldings ihre Mitarbeiter vor allem durch die Vermittlung gut bezahlter Arbeitsstellen zu einer in weiten Teilen rechtmäßigen Mitarbeit bei der Aufklärung von Straftaten und können so erreichen, dass sich ihre Mitarbeiter in London schnell den Ruf erwerben, im Vergleich zu gewöhnlichen Thief-takern weniger stark anfällig für Korruption und die oben beschriebenen Praktiken des ‚thief-making‘ zu sein (Paley 1989, S. 337).

Die Bow Street Runners sind ab 1749 die erste Gruppe von Männern, die sich systematisch der Aufklärung von Straftaten widmet, also dem Ermitteln unbekannter Täter zu bekannten Straftaten, im Unterschied zur Prävention von Straftaten etwa durch Nachwächter oder dem Ergreifen bekannter Täter durch privat bezahlte Thief-taker (Beattie 2012, S. 2 ff.). Grundlage dieser Innovation ist neben den programmatischen Überlegungen der Fielding-Brüder die Ausstattung des Magistrats mit einem eigenen finanziellen Budget, das zwar weiterhin durch die Zuwendung durch Privatleute und staatliche Belohnungszahlungen ergänzt werden musste, aber nicht mehr mit diesen identisch war. So war es möglich, Arbeit auch in die langfristig angelegte Informationsgewinnung über bestimmte Straftäter, ihre Methoden und Erkennungsmerkmale zu investieren und so wurde die Verfolgung von Straftätern nach und nach etwas weniger stark abhängig vom Schichtstatus der Opfer (Beattie 2006, S. 19). Im Laufe der Jahre und in deutlichem Unterschied zu den nur für ein Jahr und ohne Ausbildung tätigen Constables entwickeln sich die Bow Street Runners dann auch zu „professional witnesses“ (Beattie 2012, S. 76), die gelernt haben, welche Informationen sie zusammentragen und wie sie vor Gericht auftreten müssen, um einen Richter von der Schuld eines Angeklagten zu überzeugen.Footnote 10

Mit der Arbeit der Bow Street Runners beginnt ein Prozess, „[that, M.W.] displaced the victim from the center of crime control by laying emphasis on skill, professionalism, continuity and the need to construct networks for the collection and dissemination of information“ (Rawlings 2005, S. 60). Die positive gesellschaftliche Resonanz auf die Initiative der Fieldings hängt dabei wesentlich auch mit einer Neudefinition des mit ‚Kriminalität‘ bezeichneten Problemfeldes zusammen: Kriminalität wird nicht mehr allein als ein Problem des in seinen individuellen Interessen betroffenen Opfers wahrgenommen, sondern zugleich als Problem einer umfassenden Rechtsgemeinschaft, die als solche ein Interesse an der Verhinderung und Verfolgung von Straftaten hat. Ebenso verändert sich die Auffassung rationaler Strafpraxis auf eine Weise, die eine andere Form der Strafverfolgung erforderlich macht: Nicht mehr Abschreckung durch harte und öffentliche Bestrafung einiger weniger Straftäter am Pranger oder durch Hinrichtung, sondern Abschreckung durch eine vergleichsweise mildere Haftstrafe für möglichst alle Straftäter wird nun mehrheitlich zum Ziel erklärt (vgl. Rawlings 2005, S. 60).

Informationsgewinnung als organisierte Arbeit: Informantennetzwerke und Massenpresse als zentrale Informationsquellen der Bow Street Runners

Während sich die Bow Street Runners in Hinblick auf ihre Anfälligkeit für Korruption und thief-making sowie durch ihre Fähigkeiten zum organisierten, arbeitsteiligen und auf Dauer angelegten Sammeln von Informationen von den Thief-takern unterscheiden, ähneln die Mittel und Wege ihres Zugangs zu Informationen denjenigen, die uns schon aus der Arbeit der Thief-taker bekannt sind. Viele ‚Runners‘ hatten entweder eine eigene kriminelle Vergangenheit oder zumindest enge Kontakte in kriminelle Milieus, etwa als Betreiber einer von Kriminellen häufig besuchten Kneipe oder als Verkäufer von Hehlerware (Beattie 2006, S. 23). Diese Art der Rollenkombination ist natürlich kein Zufall, sondern hat damit zu tun, dass auch für die Bow Street Runners Informationen aus kriminellen Milieus das wichtigste und unverzichtbare Mittel waren, um in Erfahrung zu bringen, aus welchem Kreis ein Überfall oder Einbruch begangen worden war (Beattie 2006, S. 26 f.). Bezahlte Informanten – Personen aus kriminellen Milieus, die etwa in Kneipen etwas über eine begangene oder geplante Tat gehört haben – bleiben dementsprechend „the most important weapon“ der Bow Street Runners (Beattie 2012, S. 67). Sie werden in ‚Flash Houses‘ rekrutiert, halb-legalen Treffpunkten der Unterwelt, die zentrale Informationsquelle der Runners sind und von ihnen deshalb geschützt werden (Beattie 2012, S. 74). Attraktiv und verbreitet war für sie die Nutzung von Informanten auch, weil die englischen Gerichte großes Verständnis für die Notwendigkeiten von Quellenschutz zeigten und in fast allen Fällen auf eine Vernehmung des (vermeintlichen) Informanten verzichteten. John Beattie, Autor einer umfassenden Monographie zu den ‚First English Detectives‘ vermutet deshalb, dass die Bow Street Runners zuweilen Informanten erfanden, um die Verbindung zwischen einer bei ihnen angezeigten Straftat und Personen herzustellen, die sie für gefährliche Verbrecher hielten, denen sie eine Tat aber nicht nachweisen konnten (Beattie 2012, S. 67 ff.).Footnote 11

Im Unterschied zu den Thief-takern konnten die Bow Street Runners ihre Informantennetzwerke jedoch langfristiger pflegen und profitierten dabei auch von dem Ruf, den ihre Organisation in Öffentlichkeit und Unterwelt genoss. Vor allem aber gelang es ihnen dank ihres langfristig angelegten Engagements und besserer finanzieller Möglichkeiten, die Reichweite ihres Kommunikationsnetzwerkes schrittweise auf ganz England auszudehnen. Eine zentrale Voraussetzung dafür war der oben skizzierte Aufstieg der Massenpresse im 18. Jahrhundert. Die Bow Street Runners nutzen die Presse neben kriminalitätsbezogenen Anzeigen, die um Informationen bezüglich begangener Straftaten und dem Verbleib gestohlener Güter bitten und dafür eine Belohnung in Aussicht stellen, auch für die Initiierung von Reportagen über die Arbeit ihrer Organisation. Das Ziel dieser Öffentlichkeitsarbeit lag darin, die Bow Street Runners zur zentralen Adresse zunächst Londons und dann Englands für kriminalitätsbezogene Informationen zu machen (Styles 1983, S. 128 f.).

Dieser Anspruch der Bow Street Runners, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer Art Bundespolizei zu werden, findet seinen Ausdruck auch in dem 1772 von John Fielding verfassten ‚General Preventative Plan‘, in dem er die lokalen Magistrate und Constables in ganz England zur Mitarbeit an der Etablierung eines nationalen Informationssystems bezüglich Kriminalität aufruft. Die Magistrate außerhalb Londons sollen Informationen über gesuchte Straftäter und begangene Straftaten an die Bow Street Runners senden, wo sie gesammelt, ausgewertet und schließlich über die Presse in ganz England verteilt werden sollen. Zunächst werden dafür die bereits etablierten Zeitungen genutzt, ab 1773 geben die Bow Street Runners mit ‚The Hue and Cry‘ eine eigene Zeitschrift heraus, die an Magistrate in ganz England verteilt und lokal an öffentlichen Plätzen ausgehängt wird. Diese Initiative des Sammelns und Verbreitens von Informationen über Straftaten und Straftäter wird von den lokalen Friedensrichtern und Constables sehr positiv aufgenommen, wodurch ein wichtiger Schritt zur Mäßigung der zuvor extremen regionalen Fragmentierung der Strafverfolgung gelungen ist (Styles 1983, S. 138 f.). Weniger euphorisch reagieren die lokalen Amtsträger auf Fieldings strukturelle Reformvorschläge, die deshalb zunächst im Sande verlaufen: Eine reguläre Bezahlung der Constables und eine Erhöhung ihrer Anzahl, die Ausweitung ihrer Aufgaben im Bereich der Aufklärung von Straftaten und die Etablierung ihrer Häuser als einer Art Polizeidienststelle, die auch für Ortsfremde als Anlaufstelle für kriminalitätsbezogene Meldungen erkennbar ist (Styles 1983, S. 141 ff.).

Wenngleich Henry Fielding sein Modell einer organisierter Ermittlungsarbeit also nicht auf ganz England ausdehnen konnte, zeigen sich an den Londoner Bow Street Runners selbst deutliche Züge einer formalen Organisation: Eine klare Unterscheidung von Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern, die Adressierbarkeit des sozialen Systems im Unterschied zu einzelnen seiner Mitglieder, klar formulierte Mitgliedschaftspflichten und die koordinierte Entscheidung über Aktivitäten der Mitglieder nach systemeigenen Kriterien, die nicht einfach eine Folge der Präferenzen etwa privater Auftragsgeber oder der Gerichte waren.

1.5 Schluss: Die Verorganisierung einer gesellschaftlichen Funktion und ihre Folgen

Der englische Versuch, Verbrechen und Strafe als Angelegenheit zwischen Privatleuten zu ordnen, führte mithin im Laufe des 18. Jahrhunderts ohne zentrale staatliche Planung, sondern als Folge gesellschaftlicher Evolution zu organisationsförmigen Zusammenschlüssen. ‚Associations for the Prosecution of Fellons‘ unterstützen Opfer von Straftaten bei der Durchführung von Strafprozessen und sind funktional gesehen in vielen Hinsichten ein Äquivalent zu staatlichen Anklagebehörden. Für die heute von kriminalpolizeilichen Behörden übernommenen Aufgaben des Ermittelns und Ergreifens von Straftätern engagierten die Opfer von Straftaten mehr oder weniger professionelle Thief-taker, die oft Kooperationsbeziehungen untereinander eingehen, da auch die Ermittlungsarbeit die Kapazitäten von Einzelpersonen rasch übersteigt. Die von John und Henry Fielding initiierte Gruppe der Bow Street Runners sind der erste dieser Zusammenschlüsse, der deutliche Züge formaler Organisation trägt und staatliche Unterstützung erfährt, weshalb auch Peter K. Manning (1979, S. 38) in ihnen den ersten Fall von „police as a full-time, legally bound, centrally administred public organization“ sieht.

An dem Vergleich der Arbeit der Bow Street Runners mit derjenigen von Thief-takern lässt sich deshalb gut exemplarisch rekonstruieren, welche Leistungen im Feld der Strafverfolgung erst im Rahmen formaler Organisation möglich werden. Ich denke dabei erstens an die Adressierbarkeit des ermittelnden Systems auch über enge lokale Grenzen hinaus: Schon wenige Jahre nach ihrer Gründung werden die Bow Street Runners zu einer etablierten und landesweit bekannten kommunikativen Adresse für Personen, die etwa als Augenzeugen oder Opfer Informationen bezüglich einer Straftat haben. Diese Informationen werden deshalb zunehmend konzentriert an eine soziale Adresse kommuniziert, statt wie zuvor an irgendeinen der zahlreichen Thief-taker. Zweitens gelingt den Bow-Street Runners im Unterschied zu den Thief-takern durch formale Organisation auch ein auf Dauer angelegtes, strategisches Engagement: Informationen werden nicht lediglich einzelfallbezogen verwendet, sondern finden Eingang in ein Informationssystem über begangene Straftaten und bekannte Straftäter sowie deren typische Vorgehensweisen. Nicht nur dieses Informationssystem, sondern auch die Kontakte zu Informanten, zum Gericht und zur Presse werden fallübergreifend gepflegt und erleichtern so die fallbezogene Arbeit. Mit der oben in Abschnitt 3.4.2 über die Informationsgewinnung an den Grenzen sozialer Systeme eingeführten Unterscheidung der Erkundung von Systemumwelten per gezielter Suche mit einem Fernrohr von einer breiter angelegten Erkundung von Systemumwelten mit einem Radar lässt sich also sagen, dass die Bow Street Runners im Vergleich zu ihren Vorläufern über einen deutlich breiteren Überblick über die Welt der Eigentumskriminalität verfügten. Drittens lässt sich an den Bow Street Runners wie an allen sozialen Systemen beobachten, dass die zunehmende Differenzierung ihrer Umwelt ihnen zu Autonomiegewinnen verhilft: Die Ermittlungstätigkeit der Bow Street Runners wird im Unterschied zur Arbeit der Thief-taker nicht mehr exklusiv und unmittelbar durch die Beauftragung durch die Opfer von Straftaten ausgelöst. Dieses Umweltsegment bleibt insbesondere in den ersten Jahren zentral für die Frage, wie intensiv sich die ‚Runners‘ mit einem Fall beschäftigen, aber sie werden von Beginn an und im Laufe der Zeit zunehmend auch unabhängig von einer Anfrage durch Opfer von Straftaten aktiv. Darin liegt ein wichtiger Schritt zur Ausdifferenzierung der Strafverfolgung, die so schrittweise weniger stark vom Schichtstatus der Opfer abhängig wird.

2 Funktionen und Folgen einer Karriere auf beiden Seiten des Rechts: Eugène François Vidocq und die inoffizielle Gründung der Pariser Kriminalpolizei im Jahr 1811

Eugène François Vidocq (1775–1857), die zentrale Figur der zweiten Fallstudie dieses Kapitels, zählt schon aufgrund seines auch für das 18. und 19. Jahrhundert außergewöhnlichen Lebenslaufs zu den interessantesten Personen aus der Geschichte der Kriminalpolizei in Europa. Schon seine Zeitgenossen waren davon fasziniert, dass ein Sohn aus bürgerlichem Hause zunächst knapp fünfzehn Jahre als Insasse französischer Gefängnisse und Straflager verbringt, um anschließend nach einer kurzen Zwischenstation als Gefängnisspitzel zum Leiter der ersten Pariser Kriminalpolizei ernannt zu werden. Dokumente dieser von Vidocqs Lebenslauf ausgehenden Faszination finden sich nicht zuletzt in der Literatur: Vor allem in den Romanen Honoré de Balzacs, aber auch bei Victor Hugo oder Edgar Allan Poe gibt es Protagonisten, die sich mehr oder weniger stark an Vidocqs Biografie und Charakterzügen orientieren.Footnote 12

2.1 Eugène François Vidocq (1775–1857): Häftling, Gefängnisspitzel und Leiter der Pariser Kriminalpolizei

Ein Text, der wie dieser Abschnitt den Werdegang Vidocqs rekonstruieren und interpretieren will, steht zunächst vor einem Quellenproblem, das sich daraus ergibt, dass weite Teile der geschichts- und populärwissenschaftlichen Darstellungen zu Vidocq auf Grundlage der von Vidocq selbst (bzw. einem ‚Ghostwriter‘) verfassten Memoiren (Vidocq 1828) entstanden sind. Viele Biografen Vidocqs, so die Kritik der neueren Geschichtsschreibung, hatten wenig Interesse „to separate the Vidocq of fact from the Vidocq of fiction“ (Morton 2011, S. vii), beschränken sich – ebenso wie Vidocqs Memoiren – auf ein bloßes Aufzählen der von Vidocq ‚gelösten‘ Fälle, um Vidocq dann in Übereinstimmung mit seiner verschriftlichen Selbstdarstellung zu einem „milestone in the history of policing“ zu erklären (so kritisch Brown 2006, S. 40; Meier 2008, S. 65). Erste Arbeiten, die neben den Memoiren Vidocqs etwa auch das Archivmaterial der Polizei berücksichtigen, lassen mittlerweile immerhin den Schluss zu, dass die vorliegenden Darstellungen in Hinblick auf die sachliche Ereignisrekonstruktion im Wesentlichen zutreffend sind (Perrin 1995; Morton 2011) und lediglich in Hinblick auf ihre Überhöhung der Person Vidocqs problematisiert werden müssten (vgl. Brown 2006). Bis heute fehlt jedoch der in diesem Abschnitt unternommene Versuch, die Karriere Vidocqs auf beiden Seiten des Rechts in die historische Entwicklung kriminalpolizeilicher Arbeit einzuordnen und im Rahmen einer allgemeiner ansetzenden Theorie polizeilicher Informationsgewinnung zu interpretieren.

Unstrittig sind also die Eckdaten von Vidocqs Biografie, die ich zunächst knapp rekonstruiere (vgl. zum Folgenden u. a. Morton 2011; Hewitt 2010, S. 46 f.; Borowitz 2005; Perrin 1995; Marx 1988, S. 17 f.; Feix 1975; Stead 1954). Eugène François Vidocq wird 1775 in dem etwa 200 Kilometer nördlich von Paris gelegenen Arras als Sohn eines Getreidehändlers und Bäckermeisters geboren. Nach einer ereignisreichen Jugend – Vidocq bestahl seine Eltern, wurde dann durch einen Raubüberfall daran gehindert, in die USA zu emigrieren, schlug sich als Gaukler und Straßenhändler durch und war von seinem fünfzehnten bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr Soldat – wurde Vidocq im September 1795 in Folge einer Schlägerei mit einem Soldaten das erste Mal zu einer längeren Haftstrafe von drei Monaten verurteilt, gefolgt von einer Verurteilung zu acht Jahren Straflager wegen Dokumentenfälschung im Jahr 1796. Vidocq floh aus dem Gefängnis, wurde wieder verhaftet und floh erneut, lebte von 1802 bis 1803 unter falschem Namen als Kaufmann, bis er erkannt und abermals verhaftet wurde. Erneut gelang ihm die Flucht, bis er schließlich 1809 ein letztes Mal von der Polizei aufgespürt wurde.

Wenngleich sich Vidocq also von seinem 20. bis zu seinem 34. Lebensjahr durchgehend im Gefängnis oder auf der Flucht befand, wäre er als typischer Straftäter des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert unzureichend charakterisiert. Im Unterschied zu den meisten Insassen französischer Gefängnisse stammt Vidocq aus einer in Arras angesehenen Familie des aufstrebenden Bürgertums und hat eine gute Ausbildung genossen, weshalb Feix (1975, S. 81 ff.) meint, Vidocq sei eher aus Neugier denn aus Not zum Straftäter geworden. Tatsächlich scheint die ursprüngliche Motivation für den Diebstahl des Familieneigentums der Wunsch gewesen zu sein, in die Vereinigten Staaten auszuwandern und als Ursache für die Schlägerei mit einem Soldaten, in deren Folge Vidocq das erste Mal im Gefängnis saß, geben die Biografen übereinstimmend nicht kriminelle Pläne, sondern Rivalität im Werben um eine Frau an. Und schließlich soll die Fälschung eines Begnadigungsschreibens zugunsten eines Häftlings, in deren Folge Vidocq zu einer achtjährigen Haftstrafe verurteilt wurde, von zwei Mithäftlingen Vidocqs durchgeführt worden sein, die Vidocq anschließend erfolgreich der Tat beschuldigten. Der weitere Lebenslauf Vidocqs weist dann auch mehrere Situationen auf, in denen er sich um eine Rückkehr in eine bürgerlich-legale Existenz bemüht (Vidocq 1828, S. 197 ff.), etwa als Kaufmann in Rouen, wo er ein Jahr lang Besitzer eines Kurzwarenladens war (Vidocq 1828, S. 228) oder später für acht Monate als Kleiderhändler in Paris (Vidocq 1828, S. 296). Es mag deshalb auch eine von Vidocq in seinen Memoiren stark betonte Distanz gegenüber der Welt der Delinquenten sein, die Vidocq dazu disponierte, in seiner zweiten Lebenshälfte ihr berühmter Gegenspieler zu werden: „Immer dann, wenn man mich gefasst hat, war ich gerade dabei, mir eine anständige Existenz zu schaffen! Ich bin viel weniger schuldig, als ich Unglück habe!“ (Vidocq 1828, S. 289).

Vidocqs Weg in die kriminelle Karriere hinein folgte also nicht den typischen Mustern seiner Zeit, sein Weg zum Polizeispitzel tat es durchaus: Im Glauben, nur auf diese Weise dem Kreislauf aus Haft, Flucht und VerfolgungFootnote 13 entgehen zu können, bietet Vidocq dem Pariser Polizeichef Jean Henry im Jahr 1809 seine Mitarbeit an. Henry reagiert zunächst skeptisch, gibt Vidocq dann aber vermutlich auch aufgrund seines eloquenten Auftretens und der im Gespräch sichtbar werdenden detaillierten Kenntnis der Lebenswelt der Straftäter die Gelegenheit, im Gefängnis als Spitzel tätig zu werden. 21 Monate lang wird Vidocq gezielt zu solchen Gefangenen in Zellen gesperrt, in deren Fällen die Polizei Bedarf an weiteren Informationen hat, etwa in Hinblick auf bislang unbekannte Mittäter oder den Verbleib von Diebesgut. In der Literatur wird diese 21-monatige Tätigkeit Vidocqs als Polizeispitzel zumeist als Lern- und Bewährungsphase beschrieben, in der Vidocq seine Fähigkeit entwickelte und nachwies, das Vertrauen seiner Gesprächspartner zu gewinnen und sie dazu zu bringen, ihm belastende Informationen mitzuteilen. Weniger offensichtlich, aber nicht weniger bedeutsam ist eine andere Folge der fast zweijährigen Tätigkeit Vidocqs als Spitzel: Henry und der Pariser Polizeiapparat haben durch sie eine neue Quelle von Drohmacht gegen Vidocq in der Hand, da eine Offenbarung von Vidocqs Spitzeltätigkeit dessen Überleben in der Pariser Unterwelt unmöglich gemacht hätte. Nachdem Vidocq begonnen hat, als Gefängnisspitzel für die Polizei zu arbeiten, ist ihm eine Rückkehr in seine vorherige Existenz als entflohener Häftling und Mitglied der Pariser Unterwelt deshalb faktisch versperrt.Footnote 14

Diese Einschränkung der sozialen Mobilität Vidocqs in Verbindung mit seiner erfolgreichen Spitzeltätigkeit genügte dem Pariser Polizeiapparat dann, um Vidocq nach 21 Monaten eine neue und anspruchsvollere Aufgabe zu übertragen. 1811 fingieren Vidocq und der Pariser Polizeichef Jean Henry Vidocqs angesichts seiner Vorgeschichte recht glaubwürdigen Ausbruch aus dem Gefängnis, damit Vidocq fortan im Pariser Stadtgebiet für die Polizei tätig werden kann. Jean Henry macht Vidocq, der bis zu seiner Begnadigung 1817 offiziell als entlaufender Häftling geführt wird, zum Leiter der zunächst inoffiziell betriebenen ‚Brigade de la Sûreté‘ mit zunächst vier Mitarbeitern, bei denen es sich ebenfalls um ehemalige Häftlinge handelt und die von Henry aus geheimen Budgets bezahlt werden (Emsley 2006, S. 65). Die erfolgreiche Arbeit der Gruppe führt zu einem sukzessiven Personalzuwachs und dazu, dass aus der inoffiziellen Polizeieinheit Henrys am 17.12.1813 durch ein Dekret Napoleons die offizielle Behörde ‚Sûreté Nationale‘ wird. Vidocq wird diese erste französische kriminalpolizeiliche Behörde, die Jürgen Thorwald (1965, S. 7) als die „älteste und traditionsreichste“ Kriminalpolizei der Welt, als die „Wiege der Kriminalpolizei überhaupt“ bezeichnet hat, sechszehn Jahre leiten, bevor er dann im Jahr 1827 aufgrund von Differenzen mit seinen neuen Vorgesetzten zurücktritt, um 1830 noch einmal für zwei Jahre an die Spitze der Sûreté zurückzukehren. Der wesentliche Grund für den erneuten Rücktritt liegt in einem Legitimitätsverlust der Personalpolitik Vidocqs, der seine Mitarbeiter fast ausschließlich aus dem kriminellen Milieu rekrutierte. Ein Ausdruck dieser schwindenden Legitimität war auch, dass Verteidiger vor Gericht immer häufiger die Glaubwürdigkeit von Sûreté-Mitarbeitern mit Verweis auf deren kriminelle Vergangenheit in Zweifel zogen. Nach dem zweiten Rücktritt Vidocqs wurde die Behörde aufgelöst und mit neuem Personal neu gegründet. Von nun an konnte die Pariser Polizei keine Personen mehr beschäftigen, die zu Haftstrafen verurteilt worden waren.

2.2 Polizeiarbeit unter Napoleon und Fouché

Bereits unter den Zeitgenossen hatten die Kontrollinstanzen des französischen Staates im 18. Jahrhundert den Ruf, ihre Informationen wesentlich durch die Nutzung und Bezahlung von Informanten zu gewinnen. Berühmt geworden ist in dieser Hinsicht ein Satz, den der damalige Pariser Polizeichef gegenüber König Ludwig XV. geäußert haben soll und demzufolge sich der König darauf verlassen könne, dass bei einer Ansammlung von drei Personen in der Öffentlichkeit sich zumindest einer auf der Liste der Informanten der Pariser Polizei befinden würde (Morton 2011, S. 130; Hewitt 2010, S. 45). Deutlich wird der Umfang des Spitzelsystems auch daran, dass die Pariser Polizei Mitte des 18. Jahrhunderts die Hälfte ihres Budgets für die Entlohnung von Spitzeln verwendet (Krieger 2009, S. 99). Joseph Fouché, Polizeiminister unter Napoleon Bonaparte (1799–1802; 1804–1810), baute diesen systematischen Einsatz von „Spitzeln als Frühwarnsystem“ (Krieger 2009, S. 119) des Staates noch einmal deutlich aus, setzte die Spitzel und die durch sie erlangten Informationen jedoch in erster Linie im Feld der Politischen Polizei ein, also im Kampf gegen die politischen Gegner des Regimes und nicht mit dem Ziel der Verhinderung oder Aufklärung gewöhnlicher Kriminalität (Stead 1954, S. 44).

Vor der inoffiziellen Gründung der Sûreté unter Vidocq im Jahr 1811 gab es in Paris dementsprechend auch keine staatliche Behörde, die sich gezielt mit nicht-politischen Straftaten wie Eigentumskriminalität beschäftigt hat, sondern neben der Politischen Polizei lediglich die allgemeine uniformierte Polizei: „Wenn es vorher schon eine französische Polizeimacht gegeben hatte, so hatte diese mehr der Bespitzlung und Verhaftung von politischen Gegnern der jeweiligen französischen Könige gedient als der Aufklärung von Verbrechen … Die Pariser Straßen bildeten ein dankbares Operationsgebiet für Schwärme von Räubern und Dieben“ (Thorwald 1965, S. 7). Soweit in Paris um die Jahrhundertwende überhaupt Ermittlungsarbeit betrieben wird, wird sie von einer Stelle betrieben, die der 1800 von Napoleon geschaffenen ‚Préfecture de police de Paris‘ zugeordnet ist. Dies sind zum einen 24 Friedensrichter mit je zwei Mitarbeitern (‚comissaires de police‘), die für jeweils einen Distrikt von Paris zuständig waren. Ihr Verantwortungsbereich umfasst alle Aufgaben, die für ein „smooth running of the city“ erforderlich waren, also die Kontrolle von Marktständen ebenso wie die Sauberkeit und Beleuchtung der Straßen, das Löschen von Feuer und – zu einem vergleichsweise geringen Anteil – die Ermittlung und Festnahme von Straftätern (Emsley 2006, S. 64 f.; Stichweh 1991, S. 229). Straftäter, die in einem der Distrikte gesucht wurden, konnten sich jedoch zumeist leicht durch Ortswechsel der Strafverfolgung entziehen (Stead 1954, S. 61). Neben den Friedensrichtern gibt es auf dem Feld der Ermittlungsarbeit zum anderen die zweite Abteilung der ‚Préfecture de police de Paris‘, die seit ihrer Gründung im Jahr 1800 von Jean Henry geleitet wird. Henry und seine wenigen Mitarbeiter befassen sich zwar mit Aufgaben, die denjenigen heutiger Kriminalpolizeien ähnlich sind, setzen für die Aufklärung von Straftaten aber nicht auf eigene Ermittlungen, sondern ausschließlich und in großem Umfang auf ein großes Netzwerk von Informanten aus dem kriminellen Milieu, die gegen Geldzahlung oder Hafterleichterungen die (vermeintlichen) kriminellen Taten oder Pläne anderer Personen zur Anzeige brachten (Emsley 2006, S. 65).

2.3 Vidocqs Sûreté Nationale und die Quellen ihres Erfolges

Wie oben dargestellt ergänzt Jean Henry seine zweite Abteilung der ‚Préfecture de police de Paris‘ im Jahr 1811 zunächst inoffiziell und zwei Jahre darauf dann offiziell um die Sûreté Nationale. Schnell zeigt sich, dass die von Vidocq geleitete Gruppe ehemaliger Strafgefangener bei der Aufklärung von Straftaten und vor allem bei der Ermittlung der Aufenthaltsorte gesuchter Straftäter deutlich erfolgreicher ist als die übrigen für Strafverfolgung zuständigen Instanzen in Paris. Trotz der geringen Zahl an Mitarbeitern – der Höchststand waren 28 Mitarbeiter Ende der 1820er Jahre –, belegen die überlieferten Akten eine hohe Aktivität der jungen Behörde, beispielsweise 811 Verhaftungen im Jahr 1817 oder 1.500 im Jahr 1825 (Morton 2011, S. 159, S. 182). Was waren die Quellen dieses Erfolges, der Vidocq und seinen Mitarbeitern im Unterschied zu dem sonstigen ermittelnden Personal des französischen Staates beschieden war?

Die von Vidocq selbst und seinen Biografen gegebene Antwort auf diese Frage konzentriert sich auf Eigenschaften, die in der Person Vidocqs liegen und nennt neben seinem scharfsinnigen Verstand vor allem seine Kunst, das Vertrauen seiner Gesprächspartner zu erwerben. Plausibilisiert werden soll diese Deutung in den Memoiren Vidocqs und den zumeist nah an deren Darstellung bleibenden Biografien durch eine Aneinanderreihung der von Vidocq ‚gelösten‘ Fälle. In der Gesamtschau zeigen diese vermeintlichen Heldentaten jedoch ein sehr geringes Maß an kombinatorischer Detektivarbeit, an Hypothesenbildung und abduktivem Schließen, wie sie etwa Jo Reichertz (1991) als für kriminalpolizeiliche Ermittlungsarbeit charakteristisch bezeichnet. Vielmehr beutet Vidocq systematisch seine Kenntnisse über die Pariser Unterwelt aus: Er hält sich in den Kneipen auf, in denen es wahrscheinlich ist, dass er Informationen über begangene oder geplante Straftaten erhält; er versteht und spricht die Gaunersprache Argot und weiß auch sonst, wie er sich verhalten muss, um das Vertrauen einer kriminellen Bande zu gewinnen, eine Zeit lang als ihr Mitglied zu agieren und sie dann im richtigen Moment an seine neuen Kollegen zu verraten (vgl. ähnlich Brown 2006, S. 39). Dass Vidocq über dieses Wissen und diese Fähigkeiten verfügt, ist jedoch in erster Linie das Ergebnis seiner kriminellen Karriere und vor allem seiner langjährigen Gefängnisaufenthalte, deren Effekte sich deshalb keineswegs nur bei dem Leiter der Sûreté, sondern auch bei seinen Mitarbeitern finden. Für sie alle gilt, dass sie die typischen Methoden der Einbrecher und Geldfälscher ebenso kennen, wie die zentralen Orte der Unterwelt, an denen sich Nachfragen bezüglich möglicher Täter lohnen könnten. Sie kennen die entsprechenden Kneipen, Hehler und Prostituierten und haben dank ihrer Anstellung bei der Sûreté auch die organisational-staatlich gedeckte Drohmacht in der Hand, mit der sie ihre Kontaktpersonen in dieser ‚Zwischenwelt‘ zum Informationsaustausch motivieren können.Footnote 15

Neben Wissen und Habitus fehlte dem staatlichen Personal ohne kriminelle Vergangenheit vermutlich auch schlicht die Bereitschaft, sich wie Vidocq und seine Mitarbeiter unter falscher Identität in kriminellen Milieus zu bewegen. Verdeckte Ermittlungsmethoden der Polizei galten um 1800 bei den meisten Polizisten als anrüchig, als eines Polizisten, der zugleich anständiger Bürger sein wollte und musste, unangemessen (Becker 2000, S. 123). Selbst der heute selbstverständliche Verzicht der Kriminalpolizisten auf das Tragen einer Uniform wurde von den Beamten lange abgelehnt. Dass die Kriminalpolizisten des 19. Jahrhunderts in dieser Haltung Kinder ihrer Zeit waren, zeigt ein Blick auf den in dieser Hinsicht sehr ähnlichen Ehrenkodex europäischer Offiziere im 19. Jahrhundert. Sie lehnten es, so Goffmans (1969, S. 43) Wiedergabe, ab, „getarnte Männer zu getarnten Aktionen zu führen, sondern ihre Soldaten mußten grellbunte und weithin sichtbare Uniformen tragen und die Schlachten an offen vereinbarten Orten und Zeiten austragen – sonst hätten sie sich den Vorwurf zugezogen, nach unsportlichen und unmännlichen Vorteilen zu streben.“

Die zweite zentrale Quelle von Vidocqs Erfolg – neben seinem Wissen über kriminelle Milieus und seiner Sozialisation in ihnen – hängt damit zusammen, dass er und seine Mitarbeiter nicht als Gruppe von Privatleuten, sondern als Mitglieder einer staatlichen Organisation agieren. Die 1800 von Napoleon gegründete Préfecture de police de Paris, in deren zweiter Abteilung Vidocqs Sûreté angesiedelt ist, ersetzt in vielen Funktionen das Pariser Bureau Central und kann deshalb auf die seinerzeit beste und umfassendste Datensammlung Frankreichs zugreifen. Es gibt hier Register zu ausgestellten Pässen ebenso wie zu Straftaten und Verhaftungen und auch Beschreibungen von Straftätern und Landstreichern; und es gibt eine große Menge an Personal, das die bekannten Pensionen und Kneipen überwachen kann, um festzustellen, welche Personen sich derzeit an welchen Orten der Stadt aufhalten (vgl. Brown 2006, S. 50, S. 57). „This mania for recording the criminal and marginal population in and around Paris arguably became the greatest weapon in the arsenal of the police (and the precursor to the vast data sets of Fouché and Vidocq)“, meint deshalb auch der Historiker Howard G. Brown (2006, S. 50). Die starke Fokussierung der Literatur auf die Person Vidocqs verdeckt den Umfang, in dem er seinen Erfolg dem Personal und Wissen der staatlichen Organisation zu verdanken hatte, die in den Biografien nicht einmal vorkommt: Hier erscheint Vidocq als Einzelkämpfer, der in Manier eines Privatdetektivs Verbrecher überführt und sie einem dankbaren Polizeichef nur noch übergibt.

Trotz ihrer Erfolge wird die Arbeit der neu gegründeten Sûreté vor allem seitens des etablierten Personals der Pariser Verwaltungsbehörden misstrauisch beäugt. Immer wieder wird der Vorwurf formuliert, Vidocq oder seine Mitarbeiter würden sich – ähnlich wie viele der oben thematisierten englischen Thief-taker im 17. und 18. Jahrhundert – an Straftaten beteiligen oder Straftaten provozieren, um sie später aufklären zu können (Stead 1954, S. 147). Als sich der Präfekt der Pariser Polizei erneut direkt bei Vidocq über das Fehlverhalten seiner Mitarbeiter beschwert, reicht Vidocq in Reaktion darauf am 20.6.1827 seinen Rücktritt ein:

„Achtzehn Jahre lang habe ich der Polizei mit Auszeichnung gedient. Von Ihren Vorgängern habe ich nicht einen einzigen Vorwurf zu hören bekommen, woraus ich schließen muß, dass ich keinen verdient hatte. Seit Ihrer Versetzung zur Zweiten Abteilung haben Sie mir zum zweiten Mal die Ehre erwiesen, sich mit Klagen über die Detektive an mich zu wenden. Bin ich Herr über deren Freizeit? Nein. Um Ihnen, Monsieur, die Mühe zu ersparen, daß Sie in Zukunft ähnliche Klagen an mich richten müssen, und um mir die Mühe zu ersparen, solche Klagen anzuhören, habe ich die Ehre, Sie zu bitten, daß Sie meinen Rücktritt entgegennehmen.“ (zitiert nach Stead 1954, S. 157 f.)

Vidocqs Hinweis auf seinen mangelnden Einfluss auf die nebenberuflichen Tätigkeiten seiner Mitarbeiter spricht dafür, dass die Vorwürfe zumindest in Teilen zutreffen könnten, und auch sein zweiter Rücktritt nach der kurzen Rückkehr zur Sûreté von 1830 bis 1832 ist von dem Vorwurf begleitet, Straftaten seiner Mitarbeiter zu decken. Diese Erfahrungen bilden dann auch den Hintergrund, vor dem es nach dem endgültigen Ausscheiden Vidocqs aus der Sûreté 1832 zu einer grundsätzlichen Reform der Behörde kommt. „Kein Vorbestrafter darf zum Polizeidienst zugelassen werden“, heißt es knapp und eindeutig in Artikel 2 des entsprechenden Reformdekrets und alle von Vidocq angestellten verurteilten Straftäter werden aus dem Polizeidienst entlassen. Das neue Personal der Kriminalpolizei wurde nunmehr und wie bis heute üblich aus den Reihen der uniformierten Polizei rekrutiert (Stead 1954, S. 197; Feix 1975, S. 96; Emsley 2006, S. 66).

Nach etwa 20 Jahren endet damit in Paris der Versuch, die Aufklärung von Straftaten wesentlich in die Hände ehemaliger Straftäter zu legen. Da die Behörden jedoch weiterhin auf das nur in den delinquenten Milieus selbst verfügbare Wissen angewiesen sind, kommt es zu einer Rückbesinnung auf die auch vor Vidoqcs Polizeikarriere zentrale Methode der Informationsbeschaffung, nämlich die Bezahlung oder Erpressung von Straftätern im Austausch mit Informationen. Während diese alte Praxis unverändert Anwendung findet, wandelt sich die Semantik, mit der sie beschrieben und reflektiert wird. Die Selbstbeschreibung der Polizeiarbeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts betont nun auffallend oft und bestimmt, dass die genutzten Informanten ein bloß passives Werkzeug in der Hand professioneller Polizeibeamter und deshalb ohne jeden Einfluss auf die Form der Strafverfolgung seien und die Behörde auch in keiner Weise repräsentieren könnten. So wählt der spätere Staatswissenschaftler Gustav Zimmermann in seinem Buch über die Deutsche Polizei im 19. Jahrhundert für den Informanten die Metapher des Fernrohrs, durch die hindurch der Polizist ungefiltert in kriminelle Gegenwelten blicken kann (vgl. Becker 2000, S. 132) und auch Louis Canler, Leiter der Sûreté ab 1849, schließt sich dieser Deutung an:

„My irregular cossacks never took any initiative, they never participated in any arrest, nor were they ever called upon to make up numbers in any operation. They were never more than passive instruments in the hands of my officers, acting on the orders given them as the ox obeys the goad, but providing a broad surveillance that was, above all, secret. They were an auxiliary service for the police and did not represent the police as had been the case under Vidocq and his successor Coco-Lacour.“ (Canler, Memoires, S. 384 f., zitiert nach Emsley 2006, S. 70)

Diese Selbstbeschreibung hat als solche natürliche ihre Funktionen, soll sie doch dazu dienen, das Ansehen der Polizei in der bürgerlichen Öffentlichkeit zu verbessern: Die Ermittler stellen sich nun dar als Experten auf dem Feld der Ermittlungsarbeit, die Straftätern nicht durch die Hilfe anderer Straftäter, sondern durch ihre eigenständige und anspruchsvolle Ermittlungsarbeit auf die Spur kommen. Vernunft und Anlehnung an Wissenschaft in Form der Kriminalistik werden zu Leitmotiven der kriminalpolizeilichen Selbstbeschreibung, die nun darauf bedacht ist, die Differenz und Gegnerschaft von Polizei und Verbrechen deutlich zu betonen. Die Kriminalpolizisten beschreiben sich in den von ihnen immer häufiger verfassten Memoiren typisch als „honest, professional, expert detectives supported by the powers of reason and science“, als Vertreter der guten Gesellschaft, welche die Pläne der bösartigen Unterwelt nicht zuletzt durch intellektuelle Überlegenheit aufdecken und durchkreuzen (Emsley 2006, S. 77).

So funktional diese Selbstbeschreibung sein mag, so leicht sind auch ihre fiktiven Elemente zu erkennen. Wo immer Polizeien auf die Mitarbeit von Informanten angewiesen sind, sind diese kein passives Instrument, sondern Träger eigener Interessen und Mitglieder eines Milieus, das nach eigenen Kriterien bestimmte Informationen weiterzuleiten und andere zu verbergen versucht – so wie die Untergebenen in jeder Organisation nicht lediglich von ihren Vorgesetzten überwacht werden, sondern diese insbesondere durch die selektive Weiterleitung von Informationen zugleich „unterwachen“, wie Luhmann (2016) formuliert hat. So beschrieben, verliert die in der polizeilichen Selbstbeschreibung unterstellte Gleichsetzung von Distanz zu kriminellen Milieus mit ausdifferenziert-eigenständiger Ermittlungsarbeit ihre Selbstverständlichkeit. Ganz im Gegenteil spricht viel dafür, dass der Pariser Versuch, Angehörige krimineller Milieus in den Polizeidienst aufzunehmen, durchaus geeignet ist, um den Informationsfluss aus delinquenten Milieus stärker nach den Bedürfnissen der Behörde als nach denjenigen dieser Milieus zu strukturieren. Die dadurch vollzogene Übernahme potenzieller Informanten in den Polizeidienst kann die Abhängigkeit der Kriminalpolizei von den Strukturen der ‚Gegenseite‘ zwar nicht beseitigen, aber doch abmildern im Vergleich zu dem vor und nach Vidocq vorherrschenden System der Strafverfolgung, das ausschließlich auf Denunziationen durch Einzelpersonen setzt, die in ihrer Glaubwürdigkeit kaum eingeschätzt werden können. Dieses auf Denunziationen basierende System der Strafverfolgung ist in hohem Maße abhängig von den Normen der Unterwelt und ist damals wie heute insbesondere kaum dazu geeignet, Informationen über die ranghohen und etablierten Straftäter zu erlangen, da deren Denunziation für potenzielle Informanten mit zu hohen Folgekosten verbunden ist.

2.4 Schluss: Nebenfolgen der Professionalisierung von Polizeiarbeit und der polizeiliche Bedarf an einer strukturierten Welt der Delinquenz

Jean Henrys Versuch, das gesamte Personal einer kriminalpolizeilichen Behörde aus dem Milieu verurteilter Straftäter zu rekrutieren, ist ein in dieser Form sicher einmaliger Versuch, der jedoch auf ein sehr allgemeines Problem von Strafverfolgungsbehörden und normkontrollierenden Instanzen überhaupt reagiert, das ich unten (Kapitel 6) mit Bezug auf die moderne Polizei als „Informationsproblem des Erzwingungsstabes“ behandeln werde. Auch Polizeien, die wie die Pariser Polizei ab 1832 und die meisten Behörden nach ihnen darauf verzichten, verurteilte Straftäter als Organisationsmitglieder zu beschäftigen, können nicht darauf verzichten, ihr Informationsproblem unter anderem durch gute Beziehungen in kriminelle Milieus zu bearbeiten. Die gemäß der Selbstbeschreibung der Polizeien zu bekämpfende Welt der Delinquenz muss durch die Behörden nochmals unterteilt und strukturiert werden, um dann zumindest mit Teilen dieser Welt kooperative Beziehungen einzugehen, sie also in den Dienst der Strafverfolgung zu stellen.

Ein ähnliches Argument hat auch Michel Foucault in seinem Kapitel über „Gesetzwidrigkeiten und Delinquenz“ in „Überwachen und Strafen“ formuliert. Foucault thematisiert hier das Gefängnis als Ort der Produktion von Delinquenten: Im Gefängnis wird den Gefangenen eine bestimmte Existenzweise aufgezwungen, sie kommen in Kontakt mit anderen Straftätern und verlassen das Gefängnis mit einem Stigma, das eine nicht-delinquente Karriere unwahrscheinlich macht (Foucault 1977, 342 ff.). Auf den ersten Blick ist die Geschichte des Gefängnisses also eine Geschichte des Misserfolges: Das Gefängnis trägt nicht dazu bei, die Menge an Straftaten zu verringern und Straftäter zu resozialisieren, sondern das Gefängnis (re)produziert die Delinquenz. Foucault (1977, S. 350) schlägt vor, die Perspektive umzukehren und zu fragen, „wozu der Mißerfolg des Gefängnisses gut ist. Wem nützen die verschiedenen Erscheinungen, die von der Kritik regelmäßig denunziert werden – Fortbestand der Delinquenz, Rückfälligkeit, Umwandlung des Gelegenheitstäters in einen Gewohnheitsdelinquenten, Organisation eines geschlossenen Delinquentenmilieus?“ Die Antwort lautet, nach einigen für mich hier nicht relevanten Zwischenüberlegungen: Der Polizei. Delinquenz als eine Art ‚Zwischensystem‘ kann von den normkontrollierenden Instanzen nutzbar gemacht werden:

„Die Strafjustiz wäre dann so etwas wie die »Verwaltung« der Gesetzwidrigkeiten: sie zieht die Toleranzgrenzen, gibt den einen Verstößen freien Raum, unterdrückt die anderen, schließt einen Teil davon aus, macht einen anderen nutzbar, neutralisiert die einen, zieht aus den andern Gewinn. Die Strafjustiz würde also die Gesetzwidrigkeiten nicht einfach »Unterdrücken«, sondern sie differenzieren und ihre allgemeine »Ökonomie« sicherstellen.“ (Foucault 1977, S. 351)

Vidocqs Lebenslauf ist ein gutes Beispiel für eine solche Nutzbarmachung eines Delinquenten durch Polizei und Justiz, die ihre entscheidende Station in der Anwerbung Vidocqs als Gefängnisspitzel hat. Auch Foucault meint deshalb, dass mit Vidocq „die Delinquenz ihre zweideutige Stellung (als Objekt und Instrument) gegenüber einem Polizeiapparat gewonnen hat, der zugleich gegen sie und mir ihr arbeitet“. Vidocq symbolisiert von diesem Zeitpunkt an ein „versteckte[s] und wirre[s] Einverständnis zwischen denjenigen, die das Gesetz durchsetzen und denjenigen, die es verletzen“ (Foucault 1977, S. 365). Gut gewählt zur Veranschaulichung von Foucaults Argument ist die Karriere Vidocqs auch, weil in ihr das Gefängnis eine zentrale Rolle einnimmt. Im Gefängnis wird Vidocq in den Habitus krimineller Milieus einsozialisiert, hier erwirbt er sich den Ruf als geschickter Ausbrecher und großer Gegenspieler der Polizei und hier entscheidet er sich für den Schritt zum Gefängnisspitzel, der ihm eine Rückkehr in ein Leben auf der Flucht unmöglich und ihn deshalb von der Polizei abhängig macht:

„Man könnte darum von einem Komplex aus drei Elementen sprechen (Polizei/ Gefängnis/Delinquenz), die sich aufeinander stützen und einen ununterbrochenen Zirkel bilden. Die polizeiliche Überwachung liefert dem Gefängnis die Straftäter, die dieses zu Delinquenten transformiert, welche dann zu Zielscheiben und Hilfskräften der Polizei werden und einige aus ihren Reihen regelmäßig wiederum ins Gefängnis bringen.“ (Foucault 1977, S. 363 f.)

So gesehen ist das Ungewöhnliche und für eine Theorie polizeilicher Informationsgewinnung Bedeutsame an Vidocqs Engagement für die Polizei keineswegs die bloße Tatsache dieses Engagements und sein Erfolg, sondern vor allem, dass dieses Engagement im Gegensatz zu demjenigen damaliger und heutiger Polizeispitzel und V-Leute in Form einer formalisierten Organisationsmitgliedschaft vollzogen werden konnte. Mit der Entscheidung von 1832, verurteilte Straftäter nicht mehr zum Polizeidienst zuzulassen, wird diese Form der Problemlösung delegitimiert, und es liegt nahe, darin einen notwendigen Aspekt der Ausdifferenzierung und Professionalisierung kriminalpolizeilicher Berufsrollen und Organisationen zu sehen (vgl. etwa Brodeur 2010, S. 187). Gleichwohl gilt, dass diese Etablierung einer professionellen Berufsrolle für Kriminalpolizisten, zu der verurteilte Straftäter keinen Zugang haben, die Strafverfolger zunächst einmal von einem durch Rollenkombination ermöglichten Informationsfluss aus der ‚Gegenwelt‘ abschneidet. Gerade als professioneller Berufsrollenträger ist der moderne Ermittler von Umwelten abgeschnitten, die die englischen Thief-taker ebenso wie Vidocqs Mitarbeiter und der englische Constable, der seine Gemeinde kennt und ihr Vertrauen genießt, erreichen konnten. Wenn diese Form der Problemlösung, die Nutzung eigener anderer Rollen des Ermittlers für die Ermittlungsarbeit, an Legitimität verliert, steigt der Bedarf an organisational herzustellenden professionellen Kontakten zu Informanten und V-Leuten und damit auch die Abhängigkeit der Behörden von einer nur sehr begrenzt steuerbaren und kontrollierbaren Gruppe von Nichtmitgliedern (vgl. ähnlich für den Fall von Informanten in Protestbewegungen Marx 1974, S. 410).Footnote 16

3 Die organisierte Unterwelt als informale Ordnungsmacht: Die Berliner Kriminalpolizei und ihr Verhältnis zu den Ringvereinen in der Weimarer Republik (1918–1933)

In diesem dritten und letzten Teil meiner historischen Analyse beschäftige ich mich mit der Berliner Kriminalpolizei in der Zeit der Weimarer Republik, und zwar vor allem in Hinblick auf ihr Verhältnis zu den auffällig stark organisierten Gruppen von Straftätern, die seinerzeit großen Einfluss auf diverse Kriminalitätsfelder, vor allem Prostitution, Drogenhandel, Schutzgelderpressung und Eigentumskriminalität in Berlin hatten. Diese als sogenannte ‚Ringvereine‘ organisierten Gruppen sind heutigen Lesern vielleicht am ehesten aus Fritz Langs Film „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ aus dem Jahr 1931 bekannt, in dem Lang auf Grundlage realer Ereignisse zeigt, wie Mitglieder eben dieser Ringvereine parallel zur Polizei und erfolgreicher als diese nach einem Serientäter suchen, der junge Mädchen entführt, vergewaltigt und ermordet hat. Ich komme darauf zurück, weil sich an diesem Film und an der in ihm erzählten Geschichte wesentliche Aspekte des Verhältnisses von Polizei und Ringvereinen veranschaulichen lassen. Neuere Zeugnisse eines anhaltenden Interesses an der Welt der Ringvereine sind die Romane Volker Kutschers und die auf ihnen basierende Fernsehserie „Babylon Berlin“, in denen der Kommissar Gereon Rath unter anderem auch gegen Mitglieder der Ringvereine und zuweilen in nicht ganz freiwilliger Zusammenarbeit mit ihnen ermittelt.

Wenngleich ich mich auch in diesem Abschnitt vor allem für das ambivalente Verhältnis zwischen Polizei und Kriminalität interessiere, enthält der Text auch einige Passagen, die sich um eine Charakterisierung der Ringvereine selbst und der Funktionen bemühen, die sie für die von ihnen kontrollierten illegalen Märkte einerseits und ihre Mitglieder andererseits erfüllten. Dies scheint mir sinnvoll, da es bislang in der soziologischen Literatur keine Charakterisierung der für die Geschichte der organisierten Kriminalität in Deutschland durchaus bedeutsamen Ringvereine gibt und auch in der sonstigen wissenschaftlichen Literatur nur einige wenige Publikationen vorliegen, die sich mit den Ringvereinen beschäftigen, darunter vor allem die Aufsätze und Buchkapitel des Historikers Patrick Wagner zur Kriminalpolizei in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus (Wagner 1991, 1996, 2002; Wagner und Weinhauer 2000) sowie einige wenige weitere geschichtswissenschaftliche und kriminologische Aufsätze (Hartmann und Lampe 2008; Goeschel 2013).

Die Darstellung soll deshalb zunächst auch schlicht dazu dienen, einen bislang wenig beachteten, aber soziologisch interessanten Typ krimineller Vereinigungen aus der jüngeren deutschen Geschichte einem soziologischen Publikum zugänglich zu machen und sie bedient sich dazu neben den vorliegenden geschichtswissenschaftlichen und kriminologischen Arbeiten diversen zeitgenössischen Quellen, etwa den Berichten des Kriminalkommissars Ernst Engelbrecht über das „großstädtische Verbrechertum und seine Schlupfwinkel“ (Engelbrecht 1931), Curt Elwenspoeks 1931 publiziertem „Buch vom Kampf der Kriminalpolizei“, Artikeln in Berliner Zeitungen, Berichten der Behörden oder Schriften, die ohne wissenschaftlichen Anspruch auf Grundlage von Interviews mit ehemaligen Ringvereinsmitgliedern über die Vereine berichten (Malzacher 1970; Pollak 1993; Feraru 1995). Meine Charakterisierung der Ringvereine als eines besonderen Typs krimineller Vereinigungen unterscheidet sich dabei von den vorliegenden Darstellungen vor allem dadurch, dass ich mich weniger für einzelne Personen und Ereignisse aus der Welt der Ringvereine interessiere, sondern in erster Linie für ihre Form der Vergemeinschaftung als formale Organisation, ihre dadurch ermöglichte Kontrolle illegaler Märkte und die Form der dadurch für die Berliner Polizei attraktiven Kooperation mit den Ringvereinen in den 1920er Jahren.

3.1 Die Berliner Kriminalpolizei in den frühen Jahren der Weimarer Republik

Die Berliner Kriminalpolizei ist in der Weimarer Republik mit im Jahr 1931 2.205 Beamten die größte Kriminalpolizei Deutschlands. Nicht nur aufgrund ihrer Größe, sondern vor allem aufgrund ihrer unter anderem durch ihre Größe ermöglichten hochgradigen internen Differenzierung und ihrer Verfahren der Informationsverarbeitung gilt sie national und international als „vorbildhafte Einrichtung“ (Wagner 1996, S. 80). Da die Gründung eines zentralen Reichskriminalpolizeiamtes zwar am 12. Juli 1922 per Gesetz beschlossen, aber nie realisiert wurde, erfüllten die Berliner Polizei und das bei dieser Behörde angesiedelte preußische Landeskriminalpolizeiamt de facto viele Aufgaben einer solchen nationalen Zentralbehörde, wie sie heute vom Bundeskriminalamt übernommen werden. „Informale Zentrale“ (Wagner 1996, S. 117) der deutschen Polizei war die Berliner Kriminalpolizei nicht nur, insofern sie erste Adresse für Anfragen ausländischer Behörden war, sondern auch insofern, als sie bei Reformprojekten anderer deutscher Polizeibehörden – etwa bei der Einrichtung einer Mordkommission oder einer zentralen Informationssammlung – stets als nachzuahmendes Vorbild herangezogen wurde (vgl. Wagner 1996, S. 121 ff.).

Die im Vergleich zur Polizeiarbeit im 19. Jahrhundert nochmals stark vorangeschrittene Spezialisierung kriminalpolizeilicher Ermittlungsarbeit zeigt sich auch daran, dass die Berliner Kriminalpolizei nun über Spezialdezernate etwa für Mord, Wohnungseinbruch oder Trickbetrug verfügt und dementsprechend über Personal, das die Mehrfachtäter auf dem jeweiligen Gebiet kennt und auch tatübergreifend im Blick zu behalten versucht. Auch die zentrale Datensammlung der Berliner Polizei, das in der Polizeigeschichtsschreibung berühmte ‚Verbrecheralbum’ war seit der Jahrhundertwende nach Tatgruppen differenziert (Wagner 2002, S. 16 f.; Liang 1977, S. 153 ff.). Hinter dieser Organisationsstruktur steht die so genannte Perservanzhypothese, der zufolge Täter in ihrem Delikttypus (zum Beispiel Raubkriminalität) und darüber hinaus in der Art der Deliktbegehung, dem so genannten ‚Modus Operandi‘ (zum Beispiel die Art des Überfalls oder des Einbruchs) ein hohes Maß an Beständigkeit und Treue zu sich selbst aufweisen. Deshalb, so die praktische Konsequenz, sei die genaue Rekonstruktion und Dokumentation des Tathergangs wichtig, um verschiedene Taten einem Serientäter zuordnen zu können und dann durch die Aufklärung einer einzigen Tat die übrigen Taten gleich mit aufzuklären (vgl. zu einer Diskussion der Perservanzhypothese in der Ermittlungsarbeit Oevermann et al. 1985).Footnote 17

3.2 Ringvereine in Deutschland: Entstehungsgeschichte und Mitgliedschaftsbedingungen

Die typische Struktur krimineller Milieus, die auch in den vorherigen Abschnitten zu England im 17. und 18. Jahrhundert sowie zu Paris um 1800 thematisiert worden ist, lässt sich gut als lose, netzwerkartige Verbindung zwischen Einzelpersonen und Kleingruppen von Straftätern charakterisieren. Die Mitglieder dieser Netzwerke sind typisch durch ihre Tätigkeit im gleichen kriminellen Feld, etwa Einbruch oder Raub, miteinander verbunden, kooperieren vielleicht für einzelne gemeinsame Aktivitäten miteinander und nutzen gemeinsame Treffpunkte wie Kneipen oder Pensionen zum Austausch von Informationen. Berichte über solche losen, netzwerkartigen Verbindungen von Straftätern nehmen in Deutschland ab Mitte des 19. Jahrhunderts zu (vgl. Hartmann und Lampe 2008, S. 125 f.). Aus diesen Milieus heraus entstehen vermutlich zuerst in Berlin um 1890 herum Zusammenschlüsse ehemaliger Strafgefangener, die typische Merkmale formaler Organisationen aufweisen, nämlich eine klare, durch kommunizierte Entscheidungen hergestellte Unterscheidung zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern und die Kommunikation von formalisierten Mitgliedschaftserwartungen, die jede Person erfüllen muss, um Mitglied der Vereinigung werden und bleiben zu können, darunter insbesondere auch die Akzeptanz einer formalisierten Hierarchie.

Die erste in der Literatur dokumentierte Gründung eines solchen organisationsförmigen Zusammenschlusses von entlassenen Gefängnisinsassen ist die Gründung des ‚Reichsvereins ehemaliger Strafgefangener‘ in Berlin 1891. Das nach außen formulierte und zunächst vermutlich auch faktisch primär verfolgte Ziel des Vereins lag darin, das öffentliche Ansehen und die soziale Lage ehemaliger Strafgefangener zu verbessern und seine Mitglieder bei der Reintegration in die bürgerliche Gesellschaft zu unterstützen (Feraru 1995, S. 15; Hartmann und Lampe 2008). Insofern die ehemaligen Strafgefangenen diese Ziele in der Organisationsform des Vereins verfolgten, passten sie gut in eine Zeit, in der vor allem Männer aus dem Bürgertum ebenso wie aus der Arbeiterklasse Geselligkeit zunehmend in Vereinen suchten und fanden: Schützen-, Turn-, Gesangs- oder Geschichtsvereine wurden allerorts gegründet und prägten das öffentliche Leben des Kaiserreiches mit. Später gegründete Ringvereine wählten teilweise auch eine andere Außendarstellung und bezeichneten sich etwa als Sparverein oder wie der 1924 gegründete Ringverein ‚Letzte Hoffnung‘ als Lotterieverein. In der Satzung heißt es: „Der Zweck der Gründung ist, die Geselligkeit unter den Mitgliedern zu pflegen und, wenn es das Glück will, durch Lotteriespiel einen geldlichen Vorteil der Mitglieder zu erlangen“ (zitiert nach Feraru 1995, S. 120). Schon die Namen der Ringvereine verweisen zum einen auf die nach außen dargestellte Fassade der Vereine als Geselligkeits-, Vergnügungs-, Lotterie- oder Sparvereine, zum anderen aber auch auf die normativen Verhaltenserwartungen, die sie an ihre Mitglieder stellen: Bürgerliche Vereinsromantik, lokale Verwurzelung (‚Heimatklänge‘, ‚Friedrichshain‘) und vor allem wechselseitige rollenübergreifende Solidarität unter Mitgliedern (‚Bruderhand‘, ‚Treue Freunde‘, ‚Immertreu‘, ‚Hand in Hand‘).

Sieben Jahre nach der Gründung des Reichsvereins ehemaliger Strafgefangener gibt es 1898 in Berlin bereits 12 typgleiche Vereine, die nach Stadtteilen differenziert sind und sich somit im Werben um neue Mitglieder und in ihren sonstigen Aktivitäten keine Konkurrenz machen. 1910 ist die Zahl der Berliner Vereine auf 24 gestiegen (Feraru 1995, S. 36), 1929 schätzt das preußische Innenministerium die Zahl der Vereine auf 40 und die ihrer Mitglieder auf 1.000 bis 5.000 (Wagner 2002, S. 29; Liang 1977, S. 164). Als Differenzierungsprinzip dient neben dem Stadtteil nun auch das Tätigkeitsfeld, da einige Vereine etwa nur Zuhälter aufnehmen, während andere sich etwa auf Einbruchsdiebstahl oder Betrug spezialisieren (Hartmann und Lampe 2008, S. 112). Auch außerhalb von Berlin kommt es zu immer mehr Vereinsgründungen, vor allem in Großstädten wie Leipzig, Hannover, Hamburg, Bremen, Kiel, Dresden oder Rostock (Hartmann und Lampe 2008, S. 111; Feraru 1995, S. 83). Mit der zunehmenden Zahl an Vereinen steigt auch der Bedarf an Koordination unter ihnen, dem die Vereine durch die Gründung diverser Dachverbände Rechnung tragen. Schon 1898 kommt es zur Gründung des Dachverbandes ‚Groß Berlin‘, in dessen Vorstand jeder einzelne Verein seine eigenen Vorstände entsendet (Feraru 1995, S. 25 f.). Es folgen viele weitere Dachverbände für Berlin, größere Teile Deutschlands und mit dem 1920 gegründeten ‚Deutschen Ring‘ auch ein gesamtdeutscher Dachverband. In einem Protokoll einer Versammlung dieses Dachverbandes werden seine Ziele und die von ihm hochgehaltenen Werte gut sichtbar:

„Jeder Bruder, der aus irgendeinem Anlaß seinen Wohnsitz wechselt oder kürzere oder längere Zeit in einer anderen Stadt weilt, soll während der Zeit seines Aufenthaltes überall dort, wo ein Bruderverein besteht, herzliche Aufnahme finden. Er soll sich überall zu Hause fühlen. Er soll der Sorge enthoben sein, bei unvorhergesehenen Unglücksfällen und unvorhergesehener Mittellosigkeit Gefahr zu laufen, im Kampf um seine Selbsterhaltung gegen die bestehenden Gesetze der Ordnung und des Anstandes zu verstoßen und so sich und den Verein zu diskreditieren.“ (zitiert nach Ruland 1985, S. 207 f.)

Diese Passage zeigt neben dem Versuch der republikweiten Vernetzung der Ringvereine auch ihre zentralen Werte: Solidarität mit den ‚Brüdern‘ und eine eigene Vorstellung der guten Ordnung und des Anstandes, die bestimmte Straftaten wie Sexualstraftaten oder Mord verachtet und Wert auf die Reputation der Vereine und ihrer Mitglieder legt. Die Gründung der Dachverbände ab der Jahrhundertwende, dieser „Meta-Organisationen“ im Sinne Nils Brunssons und Göran Ahrnes (Ahrne und Brunsson 2011a), erhöht nochmals den ohnehin schon beachtlichen Formalisierungsgrad der einzelnen Ringvereine, da die Dachverbände Normen erarbeiteten, die für alle Vereine verbindlich werden. So gilt von nun an in allen Vereinen, dass Mitglied nur werden kann, wer eine Haftstrafe von mindestens zwei Jahren vorweisen kann, wobei die Ringvereine zwischen legitimen Delikten wie Betrug, Einbruch oder Raub und illegitimen Delikten unterschieden: Wer wegen eines Tötungsdeliktes oder einer Sexualstraftat verurteilt worden war, hatte keine Chance auf eine Aufnahme in den Vereinen (Hartmann und Lampe 2008, S. 113). Ebenfalls chancenlos waren Personen, die in ihrer Vergangenheit als Spitzel für die Polizei gearbeitet haben. Um hier im Zweifelsfall sicher zu gehen, nutzten die Ringvereine ihre Kontakte zur Polizei zur Überprüfung des Kandidaten.

Die Ringvereine machten sich somit ähnlich wie die von Diego Gambetta (2009a) untersuchten kriminellen Vereinigungen die Strukturen der Strafverfolgung für die Auswahl geeigneter Mitglieder zu Nutze, indem sie das polizeiliche Wissen auf Hinweise bezüglich der Vertrauenswürdigkeit neuer Mitglieder befragten. Neben einem aus Sicht der Vereine passenden ‚polizeilichen Führungszeugnis‘ mussten Neulinge auch mindestens zwei aktuelle Vereinsmitglieder als Bürgen vorweisen und sich zunächst einer Probezeit von drei bis vier Wochen unterziehen, in der sie etwa für Hilfstätigkeiten bei einem Einbruch eingesetzt wurden (Feraru 1995, S. 26 ff.; Hartmann und Lampe 2008, S. 116 f.). Die Funktion dieser Beteiligung in Nebenrollen leuchtet rasch ein, da gemäß dem damaligen Strafrecht jede an einer Tat beteiligte Person zu der gleichen Strafe verurteilt wurde. Wer sich also an einigen Delikten in Nebenrollen beteiligt hatte, war von nun an von dem solidarischen Schweigen der anderen Vereinsmitglieder abhängig und hatte mithin gute Gründe, auch zu deren Gunsten zu schweigen.Footnote 18

Ausdruck eines hohen Formalisierungsgrades der Vereine mit Sinn für bürgerliche Ordnung sind die Satzungen der Vereine, so etwa diejenige von ‚Immertreu‘. Hier verbietet § 14 „strengstens“ das Mitbringen von Hunden zu den Vereinssitzungen und § 15 warnt: „Wer die Sitzung in animiertem Zustand stört, wird zur Ordnung gerufen. Im Wiederholungsfalle wird der Betreffende aus der Sitzung entfernt und mit 5 Mark in Strafe genommen […] Der Kollege, der in trunkenem oder aufgeregtem Zustande leichtsinnig mit seiner Vereinsnadel umgeht, wird mit 10 Mark in Strafe genommen“ (zitiert nach Wagner 2002, S. 34 f.; vgl. Goeschel 2013, S. 65). Geregelt werden in den Vereinssatzungen auch die von den Mitgliedern zu entrichtenden Aufnahmegebühren, Mitgliedschaftsbeiträge und diverse Sanktionen bei Verstößen gegen die Vereinsregeln, die vom vorübergehenden Ausschluss von Versammlungen über den zeitweisen Einbehalt der Vereinsnadel bis zum Vereinsausschluss reichten, dies etwa im Fall des unentschuldigten Fehlens bei einer Beerdigung eines Vereinskollegen. Neben diesen offiziellen Vereinsregeln existieren in allen Vereinen geheime, aber gleichermaßen verbindliche Regeln, auf die neue Mitglieder am Ende der Aufnahmezeremonie per Eid verpflichtet wurden: Stets einen gewissen Teil der Einnahmen dem Verein zukommen zu lassen, den Befehlen der Vereinsführung Folge zu leisten und nie mit Dritten über die Aktivitäten des Vereins zu sprechen (Hartmann und Lampe 2008, 117 f.; Landmann 1959).

Verstöße vor allem gegen die Erwartung der Verschwiegenheit gegenüber Polizei und Justiz wurden von den Vereinen schnell und drastisch sanktioniert, wie einige Fälle veranschaulichen, von denen Feraru (1995, S. 66 f., S. 76 ff.) und Polack (1993, S. 91 ff.) berichten. In einem Fall sitzt ein Mitglied eines Ringvereins im Jahr 1922 in Haft und muss damit rechnen, zur Todesstrafe verurteilt zu werden. Angesichts dieser Lage entschließt sich der junge Mann dazu, einen Justizbeamten, der im Auftrag des Ringvereins Waren und Nachrichten in das und aus dem Gefängnis schmuggelt, zu denunzieren. In der Folge kommt es in der Berliner Presse zu einer längeren Skandalisierung der Ringvereine und ihrer guten Kontakte zur Justiz. Wie gut diese Kontakte in der Tat waren, zeigte sich einige Tage später, als es dem Ringverein gelang, ihrem abtrünnigen Mitglied durch einen weiteren Justizbeamten im Dienst des Vereins ein paar Tropfen eines Gifts in das Essen zu mischen, an dem der Häftling verstirbt. In einem anderen Fall im Sommer 1926 gelingt es der Polizei, zwei Mitglieder des Vereins ‚Deutsche Kraft‘ bei einem Einbruchsversuch auf frischer Tat zu erwischen. Der verhörende Kommissar nutzt die Tatsache, dass in der Nähe des Tatorts ein Mord begangen worden war, um die Beschuldigten mit einem zusätzlichen Mordvorwurf unter Druck zu setzen: Sofern die beiden ihm die Namen ihres Vereins, ihres Auftraggebers und ihres Hehlers nennen würden, würde er gegen sie nur wegen versuchten Einbruchs, nicht aber wegen Mordes ermitteln. Die jungen Vereinsmitglieder teilen dem Kommissar daraufhin die gewünschten Informationen mit, ohne zu ahnen, dass ihr Verein schon bald durch einen Spitzel im Polizeipräsidium von ihrem Verrat erfahren sollte. Der Verein Deutsche Kraft reagierte schnell und unmissverständlich: Die redseligen Mitglieder werden auf dem Weg zum Einkaufen in Berlin Mitte auf offener Straße erschossen.

3.3 Tätigkeitsfelder der Ringvereine und Funktionen für ihre Mitglieder

Während die Tätigkeitsfelder von Ringverein zu Ringverein variieren, übernehmen alle Vereine gewerkschaftsähnliche Funktionen für ihre Mitglieder, indem sie diese im Bedarfsfall finanziell, organisatorisch und rechtlich unterstützen: bei der Vermittlung von Arbeitsplätzen in Gastronomie und Vergnügungsindustrie, bei der Finanzierung von Anwaltskosten oder der Vermittlung falscher Zeugenaussagen im Fall eines Strafprozesses, bei der Unterstützung der Familie im Fall einer Haftstrafe, bei dem Versuch, in einer anderen Stadt unterzutauchen und nicht zuletzt bei der Finanzierung einer anständigen Beerdigung im Todesfall, an der typisch nicht nur die Mitglieder des eigenen Ringvereins, sondern auch Abgesandte der anderen Vereine teilnehmen (Hartmann und Lampe 2008, 114 ff.; Wagner 2002, S. 30). Diese Funktion der Ringvereine als Solidargemeinschaft und ihre Mitglieder als die besseren Bürger bewundernd formuliert der ehemalige Kriminalkommissar Engelbrecht im Jahr 1931:

„Alle Vereine sorgen auf das vortrefflichste für ihre Mitglieder, kommt ein Zuhälter in Untersuchungshaft, so übernimmt die weitere Sorge um ihn der Verein, indem er durch Übersendung von Lebensmitteln den Häftling unterstützt und ihm einen Verteidiger stellt. Die Fürsorge für den Zuhälter seitens des Vereins geht sogar so weit, daß ihm ständige Unterstützungen gezahlt werden, wenn sein Mädchen wegen Verbüßung einer Strafe oder wegen Krankheit nicht in der Lage ist, der Gewerbsunzucht nachzugehen und ihn zu ernähren. In meiner langjährigen Praxis als Kriminalkommissar habe ich häufig genug Gelegenheit gehabt, mit organisierten Zuhältern zusammenzukommen. Ich habe mich immer über die wirklich glänzend durchgeführte Organisation gewundert und nur bedauert, daß es in den Kreisen der arbeitenden und anständigen Bevölkerung nicht ähnlich vortrefflich durchgeführte Hilfsorganisationen gibt, wie sie sich die Zuhälter, das schlimmste, gefährlichste und niederträchtigste Verbrechergesindel, schaffen konnten.(Engelbrecht 1931, S. 89 f.)

Eine zweite wichtige Funktion der Vereine für ihre Mitglieder liegt darin, dass durch die Organisation im Hintergrund die Aktivitäten des einzelnen Mitglieds etwa als Zuhälter oder Einbrecher besser geplant und risikofreier vollzogen werden können. Wer als Mitglied eines angesehen Vereins auftreten kann, geht schon dadurch den meisten ansonsten wahrscheinlichen Konflikten im Berliner Nachtleben aus dem Weg, da mögliche Konfliktpartner um die organisationale Unterstützung ihres Gegenübers wissen: „Ein Streit mit einem Ringvereinsmitglied bedeutet in der Regeln den Konflikt mit dem ganzen Verein“ (Wagner 2002, S. 31). Darüber hinaus ermöglicht die Vereinsmitgliedschaft den Zugriff auf durch geteilte Abhängigkeiten vertrauenswürdige Partner für Straftaten sowie auf Informationen etwa über die Ermittlungsaktivitäten der Polizei oder über lohnenswerte Objekte für einen Einbruch.

Die Ringvereine fungieren also als organisatorische und gewerkschaftsähnliche Unterstützung der kriminellen Aktivitäten einzelner Mitglieder. Darüber hinaus agieren einige der Ringvereine auch selbst als Organisationen im kriminellen Milieu und dies vor allem in den Bereichen der Schutzgelderpressung, der Prostitution, des illegalen Glücksspiels und des Drogenhandelns (Malzacher 1970, S. 52 ff.; Ruhla und Dopp 1971, S. 61 ff.). Einfluss üben die Ringvereine dabei – auch hierin Gewerkschaften ähnlich – oft über das Personal in Gastronomie und Bars aus. In den von ihnen kontrollierten Bereichen Berlins platzieren die Vereine systematisch eigene Mitglieder oder von ihnen abhängige Personen als Türsteher, Barkeeper, Küchenpersonal oder Tänzerinnen und nutzen dieses Personal dann etwa zum Vertrieb von Drogen oder zur Durchsetzung von Schutzgeldforderungen. Eine von Feraru geschilderte Episode aus den frühen 1920er Jahren veranschaulicht gut das in der Regel gewaltlose und auf Vermeidung öffentlicher Aufmerksamkeit bedachte Vorgehen der Vereine. Ein neuer Besitzer einer Gaststätte in Moabit hatte sich geweigert, den lokalen Ringverein für den ‚Schutz‘ seiner Gaststätte zu entlohnen. Am folgenden Tag erscheinen nun nicht etwa Mitglieder des Ringvereins, die dem Wirt oder seinen Gästen Gewalt androhen, sondern das gesamte Personal des Restaurants findet sich nicht zur Arbeit ein: „Weder Koch noch Putzfrau, weder Kellner noch die Bardame waren erschienen“ (Feraru 1995, S. 106). Zwar war das Personal des Restaurants nicht im Verein organisiert, aber die Ringvereinsmitglieder kannten das in Gastronomie und Vergnügungsindustrie ihres Kiezes tätige Personal und sie hatten mit der Kombination aus Gewaltandrohung und Lohnersatzzahlungen auch die nötigen Motivationsmittel in der Hand, um Küchen- und Servicepersonal am Erscheinen zur Arbeit zu hindern. Nachdem der Wirt einige Tage erfolglos versucht hatte, Personal für sein Restaurant zu finden, willigt er in die Forderung des Ringvereins ein (Feraru 1995, S. 106 ff.; vgl. für einen ähnlichen Fall Malzacher 1970, S. 53).

Wenngleich in Hinblick auf die Tätigkeitsfelder und die Vorgehensweise also einige Ähnlichkeiten der deutschen Ringvereinen der 1920er und frühen 1930er Jahren mit Mafiaorganisationen wie der sizilianischen und amerikanischen Cosa Nostra sichtbar werden, liegt ein erster wichtiger Unterschied doch darin, dass die Ringvereine nicht als Geheimorganisationen auftraten, sondern formal gemeldete Vereine waren, deren Mitglieder sich auch typisch durch das Tragen von vereinsspezifischen Anstecknadeln oder Ringen als solche zu erkennen gaben. Zum anderen gibt es keine Anzeichen dafür, dass die Ringvereine – wie für Mafiaorganisationen typisch – versucht haben, Einfluss auf politische Wahlen oder Entscheidungen jenseits ihrer unmittelbaren Betroffenheit zu nehmen (vgl. Hartmann und Lampe 2008, S. 114, S. 133 f.).

3.4 Ringvereine als informale Ordnungsmacht der Unterwelt

Die Berliner Ringvereine konnten ihre Stellung als informale Ordnungsmacht der illegalen Märkte für Prostitution, Glücksspiel oder Drogenhandel auch deshalb so lange und ohne ernsthafte Gefährdung halten, weil sie verschiedenen Umweltpartnern etwas anzubieten hatten. Den bürgerlichen Nutzern ihrer Angebote boten sie zuverlässige Qualität, Diskretion und Schutz vor staatlichen Kontrollen; den Betreibern von Gaststätten boten sie ein geringes Niveau an physischer Gewalt in den von ihnen kontrollierten Gebieten und der Polizei schließlich neben diesem geringen Niveau an öffentlich sichtbaren Straftaten immer wieder auch Hinweise auf die kriminellen Aktivitäten von Nichtmitgliedern der Vereine. Wenn Adolf Leib, der Vorsitzende eines der wichtigsten Berliner Vereine ‚Immertreu‘ vor Gericht als Vereinszweck unter anderem angibt, „dem Banditen- und Raüberwesen am Schlesischen Bahnhof Einhalt zu gebieten“ (zitiert nach Boegel 2018, S. 100), dann hat diese Schutzbehauptung durchaus einen wahren Kern: Die Ringvereine erfüllen für die illegalen Märkte eine Art ‚Türsteherfunktion‘ und lassen nur eigene Mitglieder und Waren auf diesen Märkten zu. Ende der 1920er Jahre gibt es in Berlin kaum noch Zuhälter, die nicht in einem Ringverein organisiert sind und die von jugendlichen Banden unternommenen Versuche der Schutzgelderpressung in dieser Zeit werden von den Vereinen schnell und konsequent unterbunden (Hartmann und Lampe 2008, S. 120 f., S. 130 f.). Vereinsübergreifend gibt es dabei eine deutliche Präferenz, die eigenen Interessen gewaltfrei durchzusetzen (vgl. Ruhla und Dopp 1971, S. 61; Liang 1977, S. 154; Feraru 1995, S. 80; Wagner und Weinhauer 2000, S. 273). Dies und die konsequente Missachtung von Sexual- und Tötungsdelikten dürfte dafür gesorgt haben, dass die Vereine bei Teilen der Restaurant- und Barbetreiber sowie der Polizei einen angesichts ihres Geschäftsmodells überraschend guten Ruf genossen.

Die zweite entscheidende Grundlage der langfristigen Vormachtstellung der Ringvereine war, dass sie Konflikte untereinander stets in frühen Stadien beilegen konnten und kaum in der Öffentlichkeit ausgetragen haben. Ein wichtiger Mechanismus der Konfliktvermeidung waren dabei institutionalisierte Kontakte zwischen Vereinen, die wie ‚Immertreu‘ und ‚Felsenfest‘ auf benachbartem Territorium den gleichen Geschäften nachgingen – in diesem Fall Prostitution im Bereich des Schlesischen Bahnhofs, dem heutigen Ostbahnhof. So notiert ein Berliner Kommissar auf Grundlage des Spitzelberichts im Jahr 1929 über die an mehreren Wochentagen stattfindenden Vereinssitzungen von ‚Felsenfest‘: „An diesen Versammlungen nähmen auch regelmäßig 1 bis 2 Mitglieder des Vereins ‚Immertreu’ teil. Ebenso besuchen Mitglieder von ‚Felsenfest‘ die Versammlungen von ‚Immertreu‘“ (zitiert nach Wagner 2002, S. 30 f.). Auf diese Weise waren die Vereine stets über die internen Diskussionen des jeweils anderen Vereins informiert und konnten Konflikte etwa über die Zuständigkeit für ein bestimmtes Gebiet in der Regel schnell beilegen. Falls es dann doch einmal zu einer öffentlich sichtbaren Auseinandersetzung zwischen den Vereinen kommt – so bei einer Schießerei, an der Mitglieder von ‚Felsenfest‘ und ‚Friedrichshain‘ beteiligt waren – waren die Vereine in der Lage, diese Konflikte ohne Beteiligung staatlicher Behörden beizulegen. In diesem Fall bestand der Kompromiss in einer Entschädigungszahlung von 250 Mark von ‚Felsenfest‘ an ein Mitglied von ‚Friedrichshain‘, das bei der Schießerei verletzt worden war (Wagner 2002, S. 39 f.). Zu Aussagen gegenüber den ermittelnden Polizeibeamten war auch in diesem Fall natürlich kein Mitglied der Vereine bereit. Oft wurden Konfliktbeilegungen dieser Art auch durch die jeweiligen Dachverbände moderiert (vgl. Wagner 2002, S. 30).

Zu größeren gewaltsamen Auseinandersetzungen kam es deshalb nie zwischen verschiedenen Berliner Vereinen, sondern nur zwischen einzelnen Vereinen und anderen Gruppen, die die gute Ordnung der Berliner Unterwelt störten. Beispiele dafür sind eine Gruppe Hamburger Zimmerleute, die für einen U-Bahn Ausbau längere Zeit in Berlin arbeitete und in diesem Zuge eine von einem Berliner Ringverein kontrollierte Kneipe übernehmen wollte, was schließlich in der in der Presse vielbeachteten ‚Schlacht vom Schlesischen Bahnhof‘ endete (vgl. o. A. 1929) oder Gruppen von Jugendlichen, die ebenfalls versuchten, in von den Ringvereinen kontrollierten Gebieten Schutzgeld zu erpressen (vgl. Wagner und Weinhauer 2000).

3.5 Ringvereine als Teil der guten Gesellschaft

Die weitgehende Vermeidung öffentlich sichtbarer Gewalt und die konsequente Missachtung und Unterbindung von Sexualstraftaten und Tötungsdelikten waren eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Ringvereine die Funktion eines vermittelnden Zwischensystems zwischen den Männern, die ihren Lebensunterhalt durch illegale Aktivitäten verdienten, den Betreibern von Gaststätten und Bars und der Polizei übernehmen konnten. Den guten Ruf und die Stellung, die die Ringvereine in weiten Teilen der Berliner Öffentlichkeit genossen, erkennt man vielleicht am besten an den jährlich von jedem Verein ausgerichteten Bällen, die sich im Laufe der Weimarer Republik zu wichtigen gesellschaftlichen Ereignissen Berlins entwickelten. Diese Bälle finden keineswegs in abgeschiedenen Kneipen, sondern in bekannten Berliner Veranstaltungsorten statt, etwa – so heißt es in einem Bericht des preußischen Innenministeriums vom Januar 1929 – „im Saalbau Friedrichshain, in den Prachtsälen am Märchenbrunnen, im ‚Rheingold‘ am Potsdamer Platz, in den Germania-Sälen an der Chausseestraße, im Lehrervereinshaus am Alexanderplatz“ (zitiert nach Wagner 2002, S. 34). Auch die Ballgäste aus verschiedenen Segmenten der guten Gesellschaft, Anwälte ebenso wie erfolgreiche Unternehmer, Richter, Journalisten, prominente Schauspieler und immer wieder auch hochrangige Polizisten wie Ernst Gennat, der stadtbekannte Leiter der Berliner Mordkommission oder Bernhard Weiß, der Vizechef der Berliner Polizei, signalisieren, dass die Vereine in ihrem Streben „nach einem Platz in der bürgerlichen Gesellschaft“ durchaus erfolgreich waren.Footnote 19 Dementsprechend kam auch das Innenministerium nicht umhin, den Ringvereinen in einem seiner internen Berichte eine gelungene Inszenierung ihres bürgerlichen Charakters zu bescheinigen:

„Während in der Vorkriegszeit die Vergnügungen in sittlicher Beziehung zu polizeilichem Einschreiten Anlaß gaben, sind die Veranstaltungen nach dem Kriege von den Festen anderer bürgerlicher Vereine nicht zu unterscheiden. Für die Mitglieder ist Gesellschaftsanzug vorgeschrieben. Die zu den Brüdern gehörenden ‚Damenmüssen durchaus angemessen in der Kleidung auftreten. Jede Ausschreitung eines Bruders oder einer ‚Schwesterwird von der amtierenden ‚Saalpolizeistreng unterdrückt und später durch Strafe geahndet.“ (zitiert nach Wagner 2002, S. 34)

Neben den regelmäßigen Stiftungsfesten lag eine zweite wichtige Quelle des guten Kontakts der Ringvereine zu angesehenen Angehörigen der bürgerlichen Gesellschaft – zu Bankiers, Unternehmern, Verlegern, Journalisten oder Professoren (vgl. Hartmann und Lampe 2008, S. 125) – darin, dass diese zu den regelmäßigen Gästen der von den Ringvereinen kontrollierten Bars, Bordellen und illegalen Glücksspiel-Plätzen zählten. Dadurch besaßen die Ringvereine einen großen Vorrat an diskreditierenden Informationen, durch die sie bei Bedarf Einfluss ausüben konnten, etwa um Geschäftsleute „durch sanften Druck für eine Zusammenarbeit“ zu gewinnen (Feraru 1995, S. 59), sei es, um Hehlerware zu vertreiben, um durch einen vorgetäuschten Einbruch Versicherungsbetrug zu begehen oder auch bloß, um ein Vereinsmitglied mit einem guten Arbeitsvertrag auszustatten.

3.6 Zum Verhältnis von Ringvereinen und Kriminalpolizei

Das Verhältnis der Berliner Kriminalpolizei zu den Ringvereinen in der Weimarer Republik ist auch deshalb interessant, weil es sich im Verlauf der kurzen Geschichte der Weimarer Demokratie deutlich verändert hat und ein wichtiges Thema gut dokumentierter polizeiinterner und massenmedialer Kontroversen war. Zu Beginn der 1920er Jahre kann dieses Verhältnis noch als eines der offenen Kooperation und Duldung beschrieben werden, wie ja auch die oben dargestellten Besuche ranghoher Polizeibeamter auf den Stiftungsfesten der Ringvereine nahelegen. Auch im Rahmen öffentlicher Gerichtsprozesse beschreiben Polizisten das Verhältnis ihrer Behörde zu den Ringvereinen als eines der „halboffiziellen Fühlung“ und rechtfertigen die Duldung der Aktivitäten der Vereine damit, dass diese „für Sicherheit und Ordnung im Kiez und auf der Straße“ sorgen würden (zitiert nach Pollak 1993, S. 60). In einem zeitgenössischen, von Polizeibeamten geschätzten Buch über den ‚Kampf der Kriminalpolizei‘ beschreibt der Jurist Curt Elwenspoek (1931, S. 110) die polizeiliche Strategie der Schonung von Zwischensystemen auf Grundlage von Fallakten und Interviews mit Polizisten folgendermaßen:

„Übrigens gibt es in jeder Großstadt ein paar Kneipen, die von der Kriminalpolizei grundsätzlich niemals gestört werden. Das sind kleine, ruhige, bürgerlich wirkende Lokale, in denen nie etwas vorkommt, wo aber die ganz schweren Jungen, die vielbeschossenen und vorsichtigen verkehren, sich mit ihren Hehlern treffen, mit ihren Kollegen und mit ihren Mädchen. Diese Lokale werden von einem Beamten nie betreten, aber die Polizei kennt sie genau. Sie geht nicht hin, um die Schwerverbrecher, die den ‚Kriminalen‘ sieben Meilen gegen den Wind wittern, nicht scheu zu machen. Es ist ihr wichtiger, zu wissen, wo diese Leute verkehren, als sie zu beunruhigen. In diese Wirtschaften werden nur ‚Vertrauensleute‘ geschickt – das häßliche Wort ‚Spitzel‘ findet sich nicht im Vokabularium der Kriminalpolizei – meist Vorbestrafte, die nicht rückfällig geworden sind und der Polizei schon gute Tipps gegeben haben. Durch diese Leute hält man sich auf dem Laufenden über den Gästekreis dieser Lokale, über regelmäßige und unregelmäßige Besucher, über Andeutungen und Anspielungen, die etwa fallen, und dergleichen mehr.“

Unter der Mehrheit der Kriminalpolizisten der frühen 1920er Jahre und so auch bei dem Leiter der Berliner Mordkommission Ernst Gennat galten deshalb zuweilen artikulierte Forderungen eines „vernichtenden Generalangriffs auf die Unterwelt“ als „absurd“ (zitiert nach Wagner 1996, S. 170). Auch der ehemalige Kriminalkommissar Ernst Engelbrecht (1931, S. 108) weiß zu berichten, dass die von Ringvereinsmitgliedern als Vereinslokale genutzten Kneipen „der Polizei willkommen“ waren, „denn sie gaben ihr häufig gute Gelegenheit, hier gesuchte Verbrecher zu ermitteln.“ Die Schonung der Ringvereine und der von ihnen genutzten Orte wurde dann auch zur offiziellen polizeilichen Strategie: 1923 ordnete das Berliner Polizeipräsidium an, der ‚Großen Streife‘ – der Fahndungsabteilung der Berliner Polizei – den Zugriff auf „sämtliche größere Verbrecherkneipen“ (Engelbrecht 1931, S. 109 f.) zu entziehen und den jeweiligen Spezialdezernaten – also den spezifisch etwa mit Wohnungseinbruch, Drogenhandel oder Prostitution befassten Ermittlern – die Entscheidung über mögliche Razzien zu überlassen. Die Folge war ein sofortiger und deutlicher Rückgang von Razzien und sonstigen Ermittlungsmaßnahmen im Milieu der Ringvereine (vgl. Wagner 1996, S. 94 f.).

Eine zentrale Erzählung, mit der die große Toleranz gegenüber den Ringvereinen öffentlich, aber vor allem auch innerhalb der Kriminalpolizei gerechtfertigt wurde, besagte, dass es sich bei den illegalen Aktivitäten der Ringvereine typisch um Straftaten ohne Opfer handeln würde. Gut dokumentiert sind diese legitimierenden Erzählungen für die 1920er Jahre für Straftaten im Zusammenhang mit Prostitution. So formulieren die von Elvenspoek befragten Hamburger und Berliner Ermittler eine Theorie organisierter Prostitution, der zufolge es sich um eine in der Regel nicht verfolgungswürdige Form der Kriminalität handelt, da es eigentlich keine Opfer geben würde (vgl. auch Wagner 1996, S. 155 f.). Angesprochen auf das Problem der Zwangsprostitution und des Menschenhandelns meint etwa der Leiter der Hamburger Kriminalpolizei:

„Gewiß, dergleichen kommt vor ... aber was für Mädchen sind das? Die Frauen, die sich in irgendein Nachtlokal nach Montevideo oder Buenos Aires oder Bukarest verpflichten, wissen genau, was sie tun. Daß ein anständiges, minderjähriges Mädchen jemals auf diesem Wege verkauft oder verschleppt worden sei, ist mir in meiner Praxis nie begegnet.“ (zitiert nach Elwenspoek 1931, S. 114 f.)

Neutralisierungsstrategien dieser Art helfen offensichtlich dabei, die polizeiliche Duldung organisierter Kriminalität mit dem Selbstbild der Polizisten und ihrer Organisation als Hüterin von Recht und Moral kompatibel und die faktische Machtlosigkeit der Polizei gegenüber den Ringvereinen der 1920er Jahre akzeptabel zu machen. Faktisch dürfte nicht ein Mangel an Opfern der Ringvereinkriminalität, sondern deren geringe Anzeigebereitschaft entscheidend dafür gewesen sein, dass die kooperative Haltung der Polizei gegenüber den Vereinen so lange aufrechterhalten werden konnte. Weder die Schutzgeld zahlenden Wirte, noch die Kokain konsumierenden Gäste, noch die von ihrem Zuhälter abhängigen Prostituierten waren in der Regel geneigt und in der Lage, eine Anzeige bei der Polizei zu erstatten oder die Aktivitäten der Ringvereine zu einem Thema der öffentlichen Diskussion zu machen. Um angesichts des Fehlens anzeigebereiter Opfer und unbeteiligter Zuschauer überhaupt einen Einblick in die von den Ringvereinen kontrollierten illegalen Märkte Berlins zu erhalten, war die Kriminalpolizei deshalb besonders stark von guten Kontakten zu einzelnen Vereinsmitgliedern abhängig.

Im Gegenzug zu der weitgehenden Duldung ihrer Aktivitäten durch die Polizei hatten die Ringvereine den Ermittlern im Wesentlichen zwei miteinander zusammenhängende Leistungen zu bieten: Zum einen die Regulierung illegaler Märkte und die damit einhergehende Vermeidung öffentlicher Aufmerksamkeit, zum anderen die regelmäßige Denunziation von nicht organisierten Straftätern. Polizei und Ringvereine teilten miteinander ein Interesse an einer geregelten, weitestgehend gewaltfreien Organisation von Drogenhandel und Prostitution. Deshalb – so auch die Beobachtung des Zeitgenossen Elwenspoek – sind für die Polizei nicht die organisierten, sondern die nicht-organisierten Straftäter das größte Problem, das sie aber in Zusammenarbeit mit den Ringvereinen gut bearbeiten können:

„Die schlimmsten Feinde der Gesellschaft sind zugleich auch die erbittertsten Feinde der Ringvereine. Das ist die junge Verbrechergeneration, die jetzt heranwächst. Diese Jugend, die im Jammer der Nachkriegszeit, in schmutzigem Elend groß wurde, ist skrupellos, unberechenbar und fern von jeder Ideologie. Sie ist durchaus nihilistisch gesonnen, sie verabscheut das bürgerliche Getue der Vereine, sie hat keinen Sinn für Stiftungsfeste oder Fahnenweihen, und der Verbrecher im Smoking ist ihr ein Gräuel. Diese Burschen morden kalt und sachlich um Pfennige, wurzeln nirgends und schrecken vor nichts zurück. Gegen diesen Feind, der sich in den dunkelsten Schlupfwinkeln der Unterwelt in Banden zusammenrottet, steht – sobald er erstarkt ist – der Kriminalpolizei der gefährlichste Kampf bevor.“ (Elwenspoek 1931, S. 170)

Wenn die Ringvereine regelmäßig nicht organisierte Straftäter bei der Polizei denunzierten, profitierten somit beide Seiten: Die Ringvereine erledigten sich unliebsamer Konkurrenz im Feld des Drogenhandelns, der Prostitution oder des Wohnungseinbruchs und die Polizei konnte regelmäßige Ermittlungserfolge vorweisen. Dass diese Kooperationsbeziehungen das Licht der Öffentlichkeit nicht scheuen mussten, zeigt sich etwa daran, dass der damalige Berliner Polizeipräsident Zörrgiebel noch 1929 vor Gericht äußert, dass die Informationen aus den Reihen der Ringvereine oft entscheidenden Anteil an der Aufklärung von Straftaten haben (vgl. Feraru 1995, S. 83 f.; Boegel 2018, S. 101). Die kooperative Haltung der Berliner Polizei gegenüber den Ringvereinen dürfte dabei auch durch das betont bürgerliche Auftreten der Ringvereine erleichtert worden sein, weshalb Elwenspoek (1931, S. 169) meint, die Ringvereine seien „gar keine Gegner der gesellschaftlichen Ordnung, sie wollen ja vielmehr auf Umwegen in diese Ordnung hinein.“ Gut zu der von der Polizei zu schützenden Ordnung passte der weitgehende Verzicht der Ringvereine auf öffentliche Gewalt, vor allem auf Gewalt gegen Polizisten, ebenso wie ihre konsequente Ächtung von Tötungsdelikten und Sexualstraftaten, zu deren Aufklärung regelmäßig Hinweise aus den Reihen der Ringvereine an die Polizei beigetragen haben (Pollak 1993, S. 129 f.; Liang 1977, S. 165).

3.7 Polizeiliche Strategiedebatten: Bekämpfung oder Kontrolle des Verbrechens?

Vor dem Hintergrund der Erfahrungen der 1920er Jahre charakterisiert Elwenspoek deshalb treffend die Strategie vor allem der Berliner Polizei als eine, die nicht auf eine Bekämpfung, sondern auf eine Kontrolle und Beobachtung von Devianz abzielt:

„Niemand weiß besser als die Kriminalpolizei, daß die brodelnde Unterwelt unausrottbar ist. Hier kann man nur eindämmen und überwachen. Gegenüber den unerschöpflichen, sich täglich erneuernden Reservoirs des Verbrechertums wäre der Gedanke an einen vernichtenden Generalangriff absurd. Die Kriminalpolizei ist auf einen Stellungskrieg angewiesen, der sich auf sorgfältige Beobachtung des Feindes, auf Patrouillenkämpfe und Teilunternehmungen beschränkt.“ (Elwenspoek 1931, S. 106 f.)

Anfang der 1930er Jahre, als Elwenspoek sein Buch über den „Kampf der Kriminalpolizei“ veröffentlicht, gilt diese Diagnose allerdings nur noch mit starken Einschränkungen und nur noch für denjenigen Teil der Kriminalpolizisten, den Wagner (2002, S. 40 f.) als „Kriminalisten der alten Schule“ bezeichnet hat. Diese Kriminalpolizisten gehen davon aus, dass die Polizei prinzipiell nicht dazu in der Lage ist, das Niveau der (organisierten) Kriminalität wesentlich zu beeinflussen oder gar Kriminalität insgesamt zu beseitigen, da sie die zentralen Ursachen von Kriminalität in gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen verorten. Angesichts dieser von ihnen akzeptierten relativen Machtlosigkeit der Polizei halten sie den Zusammenschluss der Mehrfachtäter zu eingetragenen Vereinen für das kleinere Übel.

Dass diese traditionelle Position polizeiintern Anfang der 1930er Jahre in die Defensive gerät, hängt auch mit einem Umschwung der öffentlichen Meinung zusammen. Während die Ringvereine in der Presse zuvor eher mit einer gewissen Neugierde und Faszination beschrieben worden waren, nehmen nun Berichte zu, die wie ein Artikel aus der Vossischen Zeitung vom Januar 1929 skandalisieren, dass „das üble Gewerbe der Mackie Messer in Berlin überhaupt nicht polizeilich verfolgt wird und daß die Behörde somit eine asoziale Organisation duldet, die lediglich dazu da ist, Verbrechen zu ermöglichen“ (o. A. 1929). Neben der Presse nehmen sich nun auch politische Parteien der Thematik an, vor allem demokratie- und republikfeindliche rechte Parteien. In den Sitzungsberichten zu Plenardebatten des Berliner Landtags vom 5. und 6. März 1929 werden etwa Abgeordnete der Deutschnationalen Partei mit der Behauptung zitiert, es sei in den letzten Monaten ein „Zusammenbruch der Justiz“ zu beobachten und es sei nun an der Zeit, das „Gewerbs- und gewohnheitsmäßige Verbrechertum“ endlich „unschädlich zu machen“. Skandalisiert wird neben dem Einfluss der Ringvereine auch, dass „dieses Berufsverbrechertum so frech, so schamlos“ auftritt und es wagt, in aller Öffentlichkeit und bürgerlicher Manier mitten in Berlin ihre Feste zu feiern und ihren Besitz zu zeigen: „da ist es Zeit, daß fest zugepackt wird“ (zitiert nach Wagner 1996, S. 166). Dass sich das Thema eines vermeintlich zu nachsichtigen Vorgehens der Berliner Polizei um 1930 in der medialen Öffentlichkeit etabliert, zeigt auch eine Rundfunkansprache des Berliner Polizeipräsidenten Albert Grzesinski im Jahr 1931, in der er den Zeitungen zustimmt, die von einem „Unterweltskandal“ berichten und fordern, „dass die Polizei Ringvereinterror nicht mehr dulden dürfe“ (zitiert nach Boegel 2018, S. 112 f.).

Dieser Umschwung der öffentlichen Meinung begünstigt innerhalb der Polizei den zunehmenden Einfluss einer zweiten Gruppe von Kriminalisten, die Liang (1977, S. 165) als „Strategen der Verbrechensbekämpfung“ bezeichnet hat, weil sie sich mit der von ihren traditionell eingestellten Kollegen hingenommenen Beschränkung der Polizeiarbeit auf Einzelfälle nicht zufrieden geben wollen. Ihr Ziel ist nicht die Einhegung des Verbrechens, sondern dessen konsequente Bekämpfung. Sie glauben an die Möglichkeit, „die Berliner Unterwelt mit Stumpf und Stiel auszurotten“ (zitiert nach Wagner 2002, S. 51), oder, etwas vorsichtiger mit den Worten des Historikers: Sie vertreten die Überzeugung, „die Kriminalpolizei sei als hochmoderner, mit wissenschaftlicher Präzision arbeitender Apparat dazu befähigt, Kriminalität auf eine minimale Restgröße zu reduzieren. Daß das Phänomen Kriminalität um 1930 rapide zunahm, statt zu verschwinden, führten sie darauf zurück, daß der Weimarer Rechtsstaat die Kriminalisten zu Ohnmacht verdammte, statt ihnen die Chance zur Realisierung ihrer Allmachtsphantasien zu geben“ (Wagner 2002, S. 52). Die von den „Kriminalisten der alten Schule“ (Wagner 2002, S. 40) geschätzten guten Kontakte zu den Ringvereinen lehnen die „Strategen der Verbrechensbekämpfung“ (Liang 1977, S. 165) als Kooperation mit dem ‚Feind’ ab und sehen etwa in der Praxis, die Stiftungsfeste der Vereine zu besuchen, eine Anbiederung an die organisierte Kriminalität (Engelbrecht 1931, S. 90; Malzacher 1970, S. 57; Liang 1977, S. 181; Wagner 2002, S. 42).

Diese zweite Gruppe innerhalb der Kriminalpolizei unterscheidet sich schon sozialstrukturell von der ersten Gruppe, insofern sie einen überdurchschnittlichen Anteil an jüngeren Beamten mit politisch eher rechten und nicht-demokratischen Gesinnungen aufweist. Größer ist in dieser Gruppe somit auch der Anteil an Kriminalisten, die schon vor 1933 Mitglied der NSDAP und in der im Frühjahr 1932 gegründeten Fachschaft Kriminalpolizei innerhalb der Nationalsozialistischen Beamten-Arbeitsgemeinschaft waren. Der Einfluss dieser Gruppe innerhalb der Polizeibehörden wird auch daran deutlich, dass sie bei den im Dezember 1932 stattfindenden Wahlen zum Beamtenausschuss des Berliner Polizeipräsidiums alle sieben für höhere Kriminalbeamte vorgesehenen Sitze einnehmen konnten (Wagner 2002, S. 50 f.). Zentrale Figuren dieser Gruppe waren etwa Erich Liebermann von Sonnenberg, ab 1935 Leiter der Berliner Kriminalpolizei oder Arthur Nebe, ab 1937 Leiter des Reichskriminalpolizeiamtes. Beide pflegten schon 1932 gute Kontakte zu Kurt Daluege, ab 1936 Stellvertreter Heinrich Himmlers als Chef der Deutschen Polizei und zugleich Chef der Deutschen Ordnungspolizei. Die drei Männer und die weiteren Anhänger dieser Strömung entwickelten mithin schon in den späten Jahren der Weimarer Republik die ideologischen Grundlagen für eine dann ab 1933 rasch umgesetzte Strategie der Verbrechensbekämpfung, der zufolge die „Hauptaufgabe der Kriminalpolizei“, so Daluege in einem Brief an den späteren Staatssekretär Ludwig Grauert im Februar 1933, „eine auf Vernichtung abzielende scharfe Bekämpfung des Berufsverbrechertums“ sei (zitiert nach Wagner 2002, S. 56). Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten hatten sich somit ‚Strategen der Verbrechensbekämpfung‘ gegen die ‚Kriminalisten der alten Schule‘ durchgesetzt, die wenige Jahre zuvor noch die Jahresbälle der Männer besuchten, deren Vernichtung ihnen nun von den neuen Leitern ihrer Behörde zur Aufgabe gemacht wurde. So heißt es in einem vom 1933 ernannten neuen Polizeipräsidenten Berlins Magnus von Levetzow veröffentlichten Text in den ‚Kriminalistischen Monatsheften’ (Nr. 7, 1933, hier S. 73), er werde seine Beamten bei der ihnen aufgetragenen „Vernichtung des gewerbsmäßigen Berliner Verbrechterums […] gegen alle Anfeindungen decken und schützen“ (zitiert nach Wagner 2002, S. 57).

Bis zum Ende der Weimarer Republik beschränkten sich die beobachtbaren Folgen des kriminalpolizeilichen Strategiewechsels ab Ende der 1920er Jahre jedoch auf eine Zunahme von Razzien (Pollak 1993, S. 156 f.) und einige Verbote von Ringvereinen, die aber in der Regel nach kurzer Zeit von Gerichten wieder aufgehoben wurden (Feraru 1995, S. 126, S. 135). Ein gutes Beispiel für die Ohnmacht der Ermittler gegenüber den Ringvereinen bieten die Ermittlungen nach der sogenannten ‚Schlacht am Schlesischen Bahnhof’ Ende Dezember 1928, einer gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen einem Ringverein und einer Gruppe Hamburger Zimmerleute, die eine von dem Ringverein kontrollierte Kneipe ‚übernehmen‘ wollten. Angesichts des großen öffentlichen Interesses hatte der Polizeipräsident in der Presse verkündet, „dem organisierten Treiben dieser Elemente des dunkelsten Berlins ein Ende zu bereiten“ (zitiert nach Wagner 2002, S. 36) und ließ dieser Ankündigung auch rasch Taten folgen. Am 8. Januar 1929, also etwa eine Woche nach den Ereignissen, spricht das Polizeipräsidium ein Verbot der beiden wichtigen Vereine ‚Immertreu’ und ‚Norden’ aus, in der Nacht vom 15. auf den 16. Januar folgt eine groß angelegte Razzia in Lokalitäten um den Schlesischen Bahnhof unter Beteiligung von 1.300 Polizeibeamten.

Die Ergebnisse waren jedoch ernüchternd, weshalb Wagner (2002, S. 36) von einer bloßen „Machtdemonstration“ der Polizei spricht, die heutige Leser an Polizeirazzien im Zusammenhang mit der so genannten ‚Clankriminalität’ erinnern könnte. Zwar wurden 200 Personen festgenommen, von denen bis auf zwölf auf der Fahndungsliste geführten Personen jedoch alle schnell wieder entlassen werden mussten. Beweismaterial konnte nicht sichergestellt werden und auch auf Zeugenaussagen konnte die Polizei bei ihren weiteren Ermittlungen nicht bauen. Den Grund dafür vermerkten die Kommissare schon in ihrem ersten Bericht zu den Ermittlungen nach der Straßenschlacht vom 2. Januar mit der Bemerkung, „daß aus Angst vor Reibereien das Publikum mit seinen Aussagen sehr zurückhält und daß eine Reihe von Zeugen überhaupt keine Aussage zu machen wagt, weil sie nach ihrer Angabe die Rache der Belasteten zu fürchten haben“ (zitiert nach Wagner 2002, S. 36; vgl. Hartmann und Lampe 2008, S. 129 f.). Auch vor Gericht fanden sich dann keine Zeugen zu einer Aussage gegen die insgesamt neun angeklagten Vereinsmitglieder bereit, nicht einmal die Hamburger Zimmerleute, die sich außergerichtlich mit den Ringvereinen geeinigt hatten. Die einzig verfügbare Informationsquelle der Polizei, anonyme Spitzelaussagen von Milieuinsassen, wollte das Gericht nicht berücksichtigen. Ohne gerichtsfeste Beweise bezüglich der kriminellen Aktivitäten der Vereine musste der unter großem öffentlichen Interesse stattfindende Prozess zu einer „Blamage für die Kripo“ (Wagner 2002, S. 36) werden: Ein Angeklagter wurde zu fünf, ein zweiter zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt, die übrigen sieben Vereinsmitglieder wurden freigesprochen. Nicht nur im Gericht, auch in der öffentlichen Meinung gingen die Ringvereine somit letztlich als Gewinner aus der Auseinandersetzung mit der Polizei hervor.Footnote 20

Gegen Ende der Weimarer Republik gewannen die „Strategen der Verbrechensbekämpfung“ (Liang 1977, S. 165) also zwar an behördeninternem Einfluss, konnten aber kriminalpolizeilich keine nennenswerten Erfolge nachweisen. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 ändert sich dann rasch die gesellschaftliche Umwelt, in der in Deutschland Polizeiarbeit vollzogen wird. Drei zentrale Aspekte dieses Wandelns mit gleichsinnigen Folgen sind erstens eine Verschärfung des Straf- und Polizeirechts zu Ungunsten derjenigen Personen, die von der Polizei einer Straftat oder einer ‚kriminellen Veranlagung’ verdächtigt wurden (vor allem die Sicherungsverwahrung und die vorbeugende Polizeihaft), zweitens die Entlassung eher liberal gesonnener Richter, die ihren im Amt verbliebenen Kollegen die Richtung der politisch gewünschten Rechtsprechung signalisierte und drittens ein öffentliches Klima, in dem die während der Weimarer Republik übliche Kritik polizeilicher Maßnahmen schlicht nicht mehr formuliert wurde (Wagner 2002, S. 56 f.). Diese Veränderungen in Recht, Justiz und Öffentlichkeit boten der Polizei schon ab 1933 ein Arbeitsumfeld, in dem es auf die Darstellung der Rechtmäßigkeit polizeilichen Handelns immer weniger ankam und in dem zugleich immer mehr zuvor rechtswidrige polizeiliche Maßnahmen nun in Einklang mit den weit gefassten Befugnissen der Polizei standen.

Auch in Bezug auf die Ringvereine gingen die Nationalsozialisten schnell und konsequent vor und erließen am 1.1.1934 ein Verbot der Ringvereine (Hartmann und Lampe 2008, S. 131; vgl. mit Fokus auf Zuhältervereine in Bremen Hörath 2020). Am 23.2.1937 befiehlt Himmler eine Verhaftung aller noch in Freiheit lebenden ehemaligen Vereinsmitglieder. Den Vereinen wird nun ihre in der Weimarer Republik nützliche Fassade zum Verhängnis: Dank ordentlich geführter Mitgliedschaftslisten ist es für die neuen Machthaber leicht, die Mitglieder der Vereine zu identifizieren und zu verhaften (Feraru 1995, S. 175). Die meisten Mitglieder der Ringvereine sterben im Laufe der NS-Zeit in Konzentrationslagern oder durch ‚Erschießen auf der Flucht‘ (Feraru 1995, S. 174; Ruland 1985, S. 222; Hartmann und Lampe 2008, S. 131). Kriminalität ist durch diese Maßnahmen der Nationalsozialisten entgegen der Behauptung der nun diskursprägenden Kriminalisten natürlich nicht verschwunden, sondern in erster Linie weniger öffentlich sichtbar geworden. Wie Wagner (2002, S. 69) festhält, war dieser Strukturwandel krimineller Milieus jedoch keineswegs zum Vorteil der Ermittler: „Vielmehr verschwanden mit den offen erkennbaren Strukturen auch Informationsquellen für die Kriminalisten, die bis dahin so fleißig gesammelten Daten über Zusammenhänge in den Subkulturen wurden wertlos.“

3.8 Zum Beispiel: M – Eine Stadt sucht einen Mörder

Viele der bislang thematisierten Facetten des Verhältnisses der Berliner Kriminalpolizei zu den Ringvereinen und der öffentlichen Wahrnehmung dieses Verhältnisses in der vergangenen Gegenwart lassen sich gut an Fritz Langs Spielfilm „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ aus dem Jahr 1931 veranschaulichen. Der Film erzählt in Anlehnung an Ereignisse aus dem Jahr 1930 die Geschichte einer polizeilichen Fahndung nach einem Serientäter, der bereits einige junge Mädchen entführt, vergewaltigt und ermordet hat. Die Polizei sucht mit großem Aufwand nach dem Täter, bleibt dabei aber gänzlich erfolglos. Auch die Polizisten selbst glauben kaum an einen Erfolg ihrer Routinemaßnahmen, also Befragungen im Umfeld der Opfer, Tatortuntersuchungen, verstärkte Präsenz im öffentlichen Raum oder Razzien in den Vereinslokalen der Ringvereine. Die in Fällen von Mordermittlungen ansonsten so erfolgreichen Routinen der Polizei versagen, da – so ein Kommissar im Film – Opfer und Täter nur durch das Moment des Zufalls zusammengeführt worden sind.

Die Ermittlungsmaßnahmen der Polizei führen also nicht zu Hinweisen auf den Täter, aber aufgrund der von der Polizei durchgeführten Razzien zu einem deutlichen Besucherrückgang in den von den Ringvereinen kontrollierten Bars und Bordellen. Deshalb, und vielleicht auch, weil Mord und Vergewaltigung dem in den Ringvereinen gepflegten Ehrenkodex widersprachen, beschließt eine Versammlung des Dachverbandes ‚Ring Groß-Berlin‘, eigene Ermittlungen aufzunehmen. Die Mitglieder der im Dachverband organisierten Vereine erhalten deshalb den Auftrag, sich über das Stadtgebiet zu verteilen und Ausschau nach verdächtigen Personen zu halten. Schon nach wenigen Tagen fällt einem von den Ringvereinen instruierten Schnürsenkelverkäufer ein Mann auf, der einem Mädchen auf der Straße Süßigkeiten anbietet, es an die Hand nimmt und sich mit ihm entfernt. Der Schnürsenkelverkäufer informiert Mitglieder eines Ringvereins, die umgehend Verstärkung rufen und die Verfolgung des Mannes aufnehmen. Sie hören einen Schrei aus einer verlassenen Industriehalle, laufen hinein und treffen den Mann mit dem bereits entkleideten Mädchen an. Das Mädchen wird nun zu einer Polizeiwache gebracht, der Mann hingegen zu einer Lagerhalle im Hafen Moabit. Um zu verhindern, dass der Mann vor Gericht als schuldunfähig eingestuft wird, machen die Ringvereine ihm selbst den Prozess. Das Todesurteil wird nach kurzer Verhandlung noch am Gerichtsort vollstreckt (Boegel 2018, S. 110 f.; Feraru 1995, S. 158 ff.).

Von diesen Ereignissen liest Fritz Lang 1930 in den Berliner Zeitungen und trifft sich daraufhin mit Vertretern des Dachverbandes ‚Ring Groß-Berlin‘, um seine Filmpläne zu diskutieren (Hartmann und Lampe 2008, S. 130; Feraru 1995, S. 160). Das Ergebnis ist ein Film, der den Kindermörder als das absolut Böse zeichnet, das gleichermaßen von den Ordnungskräften der Ober- und der Unterwelt bekämpft wird. Die gewöhnliche Kriminalität der Ringvereine wird von dieser bösartigen Form der Kriminalität abgegrenzt und die Kooperation von Polizei und organisierter Unterwelt als unverzichtbares Mittel zur Kontrolle dieser schwerwiegenderen Form der Kriminalität dargestellt. In vielen Hinsichten betont Lang dabei Parallelen zwischen Polizei und Unterwelt, etwa in der Darstellung der von Ringvereinen einerseits und Polizei andererseits abgehaltenen Konferenzen: Betont männlich inszenierte Männer sitzen an einem großen Tisch, rauchen exzessiv und besprechen ihre jeweiligen Fahndungsstrategien (vgl. Kracauer 1947, S. 219 f.; Linder 1999, S. 188 f.). Polizist-Sein wird ebenso wie Verbrecher-Sein nicht als Berufsrolle, sondern als Eigenschaft der jeweiligen Personen charakterisiert: Der Polizist Lohmann scheint in seinem Büro zu leben, ist Tag und Nacht im Einsatz, Hinweise auf andere Rollen finden sich nicht.

Beide Welten werden darüber hinaus als organisierte Welten beschrieben: Nicht nur die Polizisten, auch die Verbrecher agieren in einer Welt mit Hierarchie, Weisungsbefugnis, rationaler Planung und arbeitsteiliger Erledigung von Aufgaben. Nicht nur die Fahndungsarbeit der Polizei, sondern auch diejenige der organisierten Unterwelt ist dabei durch Handlungsprogramme strukturiert: Die Mitglieder der Ringvereine verteilen sich systematisch in der Stadt und beobachten jedes Kind, das sich allein im öffentlichen Raum aufhält – in der Hoffnung, so den Täter bei der Tat zu ertappen. Jedes Mitglied hat so ein einfach und ohne Rücksprache mit der Fahndungszentrale zu verfolgendes Handlungsprogramm, das in der Summe zu Erfolg führt. Und schließlich: Nicht nur die Welt der Polizei, sondern auch die Welt der Ringvereine ist eine Welt des Rechts, weshalb der Film mit einem Gerichtsprozess, dem ‚Tribunal der Unterwelt‘ endet, in dem die Ringvereine Normen Rechnung tragen, die auch in der bürgerlichen Gesellschaft auf Zustimmung hoffen können. Während also in der wirklichen Welt die Kooperationsbeziehungen von Ringvereinen und Polizei bereits brüchig geworden sind, rekonstruiert Langs Film von 1931 noch einmal zentrale Mechanismen, die sie über lange Zeit stabilisiert haben, vor allem das geteilte Interesse an erwartbaren und für eine breitere Öffentlichkeit wenig sichtbaren Formen der Kriminalität.

3.9 Schluss: Kampf und Kooperation am Beispiel der Berliner Ringvereine

Das in diesem Abschnitt rekonstruierte und analysierte Verhältnis von Ringvereinen und Kriminalpolizei in Berlin in den 1920er Jahren ist ein gutes Beispiel dafür, dass Polizeiarbeit entgegen ihrer Selbstbeschreibung oft nicht auf eine konsequente Bekämpfung, sondern eher auf eine Kontrolle von Kriminalität abzielt. Im Fall der Berliner Polizei der 1920er Jahre erleichtert der Erhalt einer von den Ringvereinen kontrollierten und strukturierten ‚Zwischenwelt‘ der Polizei zum einen den Zugang zu Informationen, da der Polizei im Großen und Ganzen bekannt ist, welche Personen an welchen Orten der Stadt etwa den Markt für Drogenhandel, Prostitution oder illegales Glücksspiel kontrollieren. Zum anderen ist die Kontrolle dieser illegalen Märkte durch die Ringvereine ein Garant dafür, dass ein gewisses Niveau öffentlich sichtbarer Normbrüche nicht überschritten wird. Das gemeinsame Interesse von Ringvereinen und Polizei an einem geringen Niveau öffentlich sichtbarer Gewalt und an der Bekämpfung nicht-organisierter Formen der Kriminalität war mithin die Basis für ein langjähriges Verhältnis wechselseitiger Duldung und Unterstützung.

Anhand der oben rekonstruierten Strategiedebatte innerhalb der Berliner Polizei der 1920er Jahre ist sichtbar geworden, dass Teile der Polizei die in diesem Abschnitt herausgearbeiteten kooperativen Elemente im Verhältnis zu den Ringvereinen akzeptierten und zu nutzen wussten, während andere Gruppen innerhalb der Polizei an die Möglichkeiten einer konsequenten Bekämpfung und Beseitigung von Kriminalität glaubten. Diese von den „Strategen der Verbrechensbekämpfung“ (Liang 1977, S. 165) formulierte kriminalistische Utopie sollte sich auch im Nationalsozialismus nicht erfüllen: Das Verbot der Ringvereine änderte nichts am Niveau der Kriminalität in Berlin, entzog der Kriminalpolizei aber bewährte Ansatzpunkte für ihre Ermittlungsverfahren. Die Offenheit, mit der die Weimarer Kriminalpolizisten die guten Beziehungen zu den Mitgliedern der Ringvereine pflegten und auch in der Öffentlichkeit nicht bestritten, ist für heutige Polizeiarbeit nicht mehr vorstellbar. Daraus kann jedoch offensichtlich nicht der Schluss gezogen werden, dass Kriminalpolizeien mittlerweile keinen Bedarf mehr an kooperativen und langfristigen Kontakten zu Personen haben, die durch ihre Einbettung in entsprechende Kontexte über zuverlässige Informationen über geplante und begangene Straftaten verfügen. Plausibler scheint mir die These, dass weite Teile der Kontaktpflege der Polizei zu ihren Informanten im Verlauf des 20. Jahrhunderts in den Latenzbereich verschoben worden sind, die Informantenrolle aber zugleich auch einen Prozess notwendigerweise unvollständiger Formalisierung durchlaufen hat. Die Kontakte heutiger Polizeiorganisationen zu ihren Informanten sind das Thema von Kapitel 6.

4 Exkurs zur Begriffs- und Organisationsgeschichte der Polizei (in Preußen)

Die Geschichte der Polizei ist ein in der soziologischen Literatur selten behandeltes Thema. Am häufigsten wird diese Geschichte noch als Geschichte des Polizeibegriffs behandelt. Der folgende Abschnitt zur Begriffs- und Organisationsgeschichte der Polizei (insbesondere im Heiligen Römischen Reich bzw. Preußen) trägt diesem Schwerpunkt der soziologischen Literatur Rechnung und vertieft einige der empirischen Themen des voransehenden Kapitels, ohne dabei eng mit der zentralen Argumentation dieses Buches verbunden zu sein. Er steht deshalb als Exkurs am Ende des Kapitels und richtet sich nur an Leserinnen, die sich für seinen empirischen Gegenstand interessieren.

Von „Policey“ zu „Polizei“? Zur Geschichte des Polizeibegriffs und der öffentlichen Sicherheitsverwaltung

Rudolf Stichweh ist einer der wenigen Soziologen im deutschsprachigen Raum, die sich etwas ausführlicher zur Geschichte des Polizeibegriffs geäußert haben, und zwar im Rahmen seiner Arbeit über den ‚frühmodernen Staat und die europäische Universität‘. Stichweh betont in seiner Darstellung vor allem die zentrale Entwicklung des Polizeibegriffs in Europa in den vergangenen sechs Jahrhunderten: Ab dem 15. Jahrhundert bezeichnet ‚Policey‘ die innere Ordnung des Gemeinwesen in einem sehr breiten Sinne und schließt dabei insbesondere auch die wirtschaftliche Wohlfahrt dieses Gemeinwesens ein (Stichweh 1991, S. 224). Um 1750, so Stichwehs Datierung, zeichnet sich zunehmend eine Neudefinition oder Eingrenzung dessen ab, was mit ‚Polizei‘ bis heute wesentlich gemeint ist, nämlich die Bearbeitung von Problemlagen, die die „innere Sicherheit eines Staates oder einer Stadt“ betreffen (Stichweh 1991, S. 229). Nicht mehr die Bewahrung der ‚guten Ordnung‘ schlechthin, sondern die Gewährleistung innerer Sicherheit also wird Aufgabe der Polizei im modernen Sinn.Footnote 21

Es lohnt sich, diese keineswegs lineare Entwicklung des Polizeibegriffs etwas genauer zu rekonstruieren, da viele der in dieser Begriffsgeschichte verhandelten Problemlagen auch für die bis heute thematisierten Abgrenzungsschwierigkeiten der Polizeiaufgaben von den Aufgaben anderer Zweige der öffentlichen Verwaltung bedeutsam sind. Einen guten Überblick zur etwa fünfhundertjährigen Geschichte des Polizeibegriffs im deutschen Sprachraum bietet Knemeyers Eintrag in den Geschichtlichen Grundbegriffen (Knemeyer 1978). Wenngleich die von Knemeyer rekonstruierte Geschichte eine uneinheitliche und komplizierte Geschichte ist, die viele Beispiele für die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen aufweist, lässt sich doch mit Sicherheit festhalten, dass ‚Polizei‘ in Europa im Jahr 1520 etwas deutlich anderes meint als im Jahr 2020. Während dieser 500 Jahre war zumeist stark umstritten, was Polizei als Begriff und Polizei als Aufgabe oder Einrichtung des Staates heißen kann und soll. Aussagen, die ‚den‘ Polizeibegriff ‚des‘ (europäischen) 17. oder 18. oder 19. Jahrhunderts auf einen einheitlichen Nenner zu bringen versuchen, sind deshalb zwangsläufig einheitlicher als die in den Quellen dokumentierte vergangene Gegenwart.

Wo es mir sinnvoll erscheint, verweise ich in der folgenden Darstellung deshalb auf gegenläufige Tendenzen, ohne dadurch den Anspruch aufzugeben, die Geschichte des Polizeibegriffs und der Polizei als Organisation (in Europa) als eine Geschichte mit einem relativ klaren Ausgangspunkt und einem relativ klaren (vorläufigen) Endpunkt zu erzählen, die zwar einige Um-, Ab- und Parallelwege kennt, aber sich doch im Großen und Ganzen als eine Geschichte erzählen lässt: Von ‚Policey‘ als Bezeichnung für einen Zustand der guten Ordnung des Gemeinwesens zu ‚Polizei‘ im modernen und engen Sinne als Bezeichnung einer besonderen Organisation der staatlichen Verwaltung, deren Aufgaben auf den Bereich der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Ordnung und der Verfolgung von Straftaten konzentriert sind.

Wichtig ist zunächst der Hinweis, dass das Wort ‚Polizei‘ (das zahlreiche alternative Schreibweisen kennt, namentlich: Policey, Pollicey, Pollicei, Policei, Pollizey, Pollizei, Polluzey) seit dem 15. Jahrhundert in drei gut voneinander unterscheidbaren Kontexten gebraucht worden ist. Erstens und zuerst in Rechtstexten ab Mitte des 15. Jahrhunderts, zweitens in einem breiteren intellektuell-wissenschaftlichen Diskurs ab dem 16. und 17. Jahrhundert, der vor allem durch theologische und humanistische Literatur geprägt ist, und drittens in der sich formierenden ‚Polizeiwissenschaft‘ ab dem 17. und 18. Jahrhundert. In den Rechtstexten ab etwa 1450 konnte ‚Polizei‘ dabei sowohl den Zustand der guten Ordnung des Gemeinwesens meinen als auch die Summe der Rechtssätze, die als Mittel zur Erreichung dieses Zustandes verfasst wurden (vgl. Türk et al. 2006, S. 58). Erreicht war Polizei als Zustand gemäß der Begriffsverwendung in diesem Diskurs dort und dann, „wo der Bürger oder Untertan sich ordentlich, züchtig, gesittet, ehrbar verhielt, wo das menschliche Zusammenleben im Gemeinwesen geordnet war“ (Knemeyer 1978, S. 877). Diese Wortbedeutung verschwindet keineswegs mit dem Aufkommen der anderen Wortbedeutungen, sondern wird bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts tradiert, prominent etwa durch den Polizeiwissenschaftler Justus Christoph Dithmar, der 1745 in seiner ‚Einleitung in die oeconomische Policei- und Cameral- Wissenschaft‘ formuliert, „Policei“ bestehe „in guter Ordnung und Verfassung der Personen und Sachen eines Staates“ (zitiert nach Knemeyer 1978, S. 879).

Passend zu dieser sehr breiten Fassung des Polizeibegriffs wurden in den Polizeigesetzen inhaltlich alle möglichen Gebiete rechtsförmig zu normieren versucht, beispielsweise standesgemäße Kleidung und standesgemäßes Verhalten beim Kirchgang ebenso wie wirtschaftliche Fragen (Zölle, Preise, Monopole), Maß- und Gewichtseinheiten oder Fragen, die heute im Vertrags- oder Erbrecht behandelt werden (vgl. Knemeyer 1978, S. 880 f.). Typisch für das 18. Jahrhundert ist eine bei Rudolf Stichweh (1991, S. 229) zitierte Anordnung an einen neuen ‚Oberaufseher‘ der Pariser Polizei, den Marquis d´Argenson, von 1764: „Der König, mein Herr, fordert Sicherheit, Reinigkeit und wohlfeile Preise von ihnen“ – eine Formulierung mit Übergangscharakter, die den Fokus zwar bereits auf den Aspekt öffentlicher Sicherheit legt, dabei aber auch noch Bereiche des wirtschaftlichen Lebens und der Hygiene zu den polizeilichen Aufgaben zählt.

Rückblickend liegt die zentrale Leistung des frühen Polizeibegriffs in der Bezeichnung eines neu geschaffenen breiten Handlungsraums staatlicher Instanzen, die nun in immer mehr Sachbereichen aus eigener Initiative regulierend eingreifen, ohne von Konfliktparteien oder den Ständen angerufen zu werden (vgl. Stichweh 1991, S. 202). Das Aufkommen und die Verbreitung des Konzeptes der ‚Policey‘ signalisiert, dass die von der (staatlichen) Obrigkeit als ordnungsbedürftig angesehenen Bereiche zunehmend auch Fragen umfassen, deren Beantwortung zuvor der Kirche, den Zünften oder der Tradition überlassen worden war – etwa das Auftreten der Bürger im Gottesdienst, die Verhinderung von Monopolbildung oder Regelungen zum Verhältnis von Gastwirt und Gästen (vgl. Türk et al. 2006, S. 59). ‚Policey‘ steht mithin für den Anspruch staatlicher Instanzen auf eine umfassende Regulierung des öffentlichen Lebens und letztlich auf die Monopolisierung legitimer Gewalt. Im Heiligen Römischen Reich (Deutscher Nation) wird dieser Anspruch insbesondere nach Ende des dreißigjährigen Kriegs 1648 vertreten und führt dann auch rasch zu einer „Akkumulation von Herrschaftsrechen durch die Landesfürsten“, denen es zunehmend gelingt, konkurrierende Machtansprüche – städtische Freiheitsrechte, Privilegien von Adel und Zünften – zu beschränken (Türk et al. 2006, S. 56; vgl. zur Geschichte Preußens auch unter diesem Gesichtspunkt statt vieler Clark 2007). Sichtbar wird die Durchsetzung zentralisierter fürstlicher Machtansprüche vor allem an zwei modernen Einrichtungen: Dem Steuerstaat im Sinne einer im Großen und Ganzen erfolgreichen „Durchsetzung einer dauerhaften Besteuerung der Untertanen bzw. Stände“ einerseits und der „Konzentration der militärischen Gewalt in den Händen des Landesherrn durch die Einrichtung eines stehenden Heeres“ (Türk et al. 2006, S. 56; vgl. Tilly 1985). Man sieht leicht, dass sich beide Aspekte zentralisierter Herrschaft wechselseitig voraussetzen: Ohne erfolgreiche Besteuerung würden die Mittel zum Unterhalt eines stehenden Heeres fehlen, ohne Konzentration militärischer Gewalt im stehenden Heer würde die Drohmacht fehlen, mit der Besteuerung erfolgreich durchgesetzt werden kann.

Im Laufe des 16. Jahrhunderts taucht das Wort ‚Polizei‘ dann zusätzlich im intellektuell-wissenschaftlichen Diskurs auf und meint hier nochmals breiter als in den Rechtstexten einerseits das Gemeinwesen insgesamt (vor allem Staat, Stadt und Verfassung) und andererseits die gute innere Ordnung dieses Gemeinwesens. Wo Theologen sich mit Fragen der ‚Policey‘ beschäftigen, versuchen sie, vor allem auf Grundlage des Alten Testaments zu ermitteln, was die Grundlagen eines gut geordneten Gemeinwesens, einer „Biblischen Policey“ sind (so ein wichtiger Titel aus dem Jahr 1593, verfasst von Reinkings) (vgl. Knemeyer 1978, S. 883). Schließlich wird ‚Polizei‘ drittens nochmals 100 Jahre später namensgebend für die im 17. Jahrhundert aufkommende ‚Polizeiwissenschaft‘, deren zentrale Fragestellung diejenige nach den Zwecken des Staates und den zu ihrer Erreichung geeigneten Mitteln ist und die diese Frage vor allem in Form der Suche nach Möglichkeiten des Erhalts der ‚guten Ordnung‘ durch den Staat verfolgt.

Polizeiwissenschaft also als eine vom Staat her gedachte und für den Staat denkende Ordnungswissenschaft, die, mit einer Formulierung aus Justis 1756 veröffentlichter Schrift ‚Grundsätze der Policey-Wissenschaft‘ gesprochen, den „Endzweck der Policey“ … darin sieht, „die innere Macht und Stärke des Staates zu vergrößern“ (zitiert nach Knemeyer 1978, S. 885). Ein starker und mächtiger Staat gilt dabei in der Regel als notwendiges Mittel zur Erreichung eines noch höheren Zweckes, der typisch umschrieben wird als „Beförderung der gemeinen Wohlfahrt“ (J.C. Mayer, zitiert nach Knemeyer 1978, S. 885). Das Auftreten des Ordnungsdenkens als Polizeiwissenschaft signalisiert dabei den für moderne Herrschaftsformen charakteristischen Anspruch, staatliche Normierungen des öffentlichen Lebens nicht mit Verweis auf Tradition, sondern mit Verweis auf Rationalität zu begründen. Polizeiwissenschaft also als Diskurs, in dem darüber debattiert wird, welche staatlichen Maßnahmen geeignet sind, Glück und Wohlfahrt des Staatsvolkes zu befördern, die wiederum als Voraussetzungen für einen starken und stabilen Staat angesehen werden. Um diesem Anspruch Genüge zu tun, interessiert sich die neue Polizeiwissenschaft auch für die ‚Bevölkerung‘ und versucht sie vor allem statistisch zu erfassen: Geburten- und Sterberaten, Informationen über Krankheiten und Ernährungsweisen werden in der Hoffnung erhoben, diese und andere Aspekt mit Hilfe staatlicher Maßnahmen und im Sinne eines allgemeinen Staatsinteresses beeinflussen zu können (Türk et al. 2006, S. 60).

Die diskursübergreifende Einheit dieser vielfältigen Geschichte des Polizeibegriffs liegt in einem gemeinsamen Problem, nämlich dem Problem der Herstellung und Bewahrung einer guten Ordnung des Gemeinwesens. Von heute aus gesehen lässt sich dann feststellen, dass die vom 15. bis zum 18. Jahrhundert als für die Erreichung dieser guten Ordnung als zentral angesehenen Bereiche in etwa den Bereichen der ‚Gefahrenabwehr‘ (für den heute die staatlichen Polizei- und Ordnungsbehörden zuständig sind) und der ‚Wohlfahrtspflege‘ im heutigen Sinne entsprechen (vgl. Knemeyer 1978, S. 856 f.). Vorbereitet wird diese Unterscheidung innerhalb der polizeiwissenschaftlichen Literatur des 18. Jahrhunderts in Form einer wirkmächtigen Begrenzung des Polizeibegriffs, der dann zunehmend nicht mehr die Tätigkeit des Staates oder die gute Ordnung und die zu ihrem Erhalt notwendigen Mittel insgesamt bezeichnet, sondern abgegrenzt wird vor allem vom Bereich des Militärischen, der äußeren Staatsgeschäfte und der Staatsfinanzen. Entscheidend für die von der Polizeiwissenschaft ausgehende und dann in den allgemeinen Sprachgebrauch übergehende Eingrenzung des Polizeibegriffs ist eine für uns heute selbstverständlich Begriffsverschiebung zu Beginn des 18. Jahrhunderts: ‚Polizei‘ wird zunehmend in einem institutionell-organisatorischen Sinne gebraucht als Bezeichnung für „eine bestimmte Behörde und deren einzelne Mitglieder“ und nicht mehr wie zuvor als Bezeichnung für die Ziele und Mittel der öffentlichen Verwaltung im heutigen Sinne insgesamt (Knemeyer 1978, S. 887). Die Verengung und Begrenzung des Polizeibegriffs ist also eng verbunden mit der strukturellen Ausdifferenzierung spezialisierter Verwaltungszweige.

Polizei als Organisation und Polizist (Polizeidirektor, Polizeikommissar, Polizeiinspektor, Polizeiknecht) als Beruf: Das sind die entscheidenden strukturellen Erfindungen in Preußen zu Beginn des 18. Jahrhunderts, die semantisch in einem enger gefassten Polizeibegriff reflektiert werden. Ab 1717 soll in jeder Stadt in Brandenburg-Preußen aus dem Kreis der Ratsmitglieder ein ‚Policey-Inspector‘ ernannt werden, 1742 beschließt Friedrich der Große die Errichtung einer staatlichen Behörde „für Sicherheit, Ordnung und Verkehr, insbesondere Verbrechensbekämpfung“ nach französischem Vorbild (Knemeyer 1978, S. 887). ‚Polizei‘ kann von nun an also nicht mehr lediglich auf öffentliche Aufgaben, sondern auch auf einen bestimmten Teil staatlicher Organisationen bezogen werden. Die von dieser neuen Polizei im organisational-institutionellen Sinne übernommenen Sicherungs- und Ordnungsaufgaben wurden den Magistraten der Städte entzogen und – je nach Größe der Stadt – auf „eigene, staatliche Polizeiverwaltungen oder auch auf einzelne Kommunalbeamte, die diese Aufgaben als staatliche Aufgaben wahrzunehmen hatten“, übertragen (Knemeyer 1978, S. 887). Rechtlich fixiert wird der neue, institutionell-organisationale Begriff von Polizei als einer eigenständigen staatlichen Behörde mit Aufgaben im Bereich der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Preußen dann im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 mit der unter Polizeihistorikern berühmten Formulierung:

„Die nötigen Anstalten zu Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung und zur Abwendung der dem publico oder einzelnen Mitgliedern desselben bevorstehenden Gefahren zu treffen, ist das Amt der Polizei.“ (zitiert nach Knemeyer 1978, S. 891)

Für Preußen ist somit das 18. Jahrhundert dasjenige Jahrhundert, in dessen Verlauf sich sowohl der Polizeibegriff als auch die Polizei als Organisation entscheidend an die uns heute selbstverständlichen Realitäten angenähert haben. Angenähert haben: Diese Einschränkung ist wichtig, da der im preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 formulierte enge Polizeibegriff sowohl für den allgemeinen Sprachgebrauch als auch für die organisational-institutionelle Verwirklichung von Polizei zunächst keine allzu große Verbindlichkeit hatte. Faktisch blieben auch im 19. Jahrhundert der breite Begriff von Polizei unter Einschluss des Zweckes der Förderung der allgemeinen Wohlfahrt und der enge Begriff von Polizei als auf Sicherheitsaufgaben fokussierte staatliche Einrichtung parallel nebeneinander in Gebrauch; und auch die faktischen Aufgaben von Polizeibehörden und Polizisten gingen in der Regel weit über das im engen Polizeibegriff anvisierte Aufgabenfeld hinaus (vgl. Reinke 1993). Für die Zeitgenossen scheinen auch einander offen widersprechende Formulierungen des Aufgabengebietes der Polizei in den Rechtstexten kein größeres Problem gewesen zu sein. So heißt es 14 Jahre nach der soeben zitieren Formulierung aus dem Allgemeinen Landrecht in einer Königlich Preußischen ‚Verordnung wegen verbesserter Einrichtung der Provinzial-Polizei und Finanzbehörden‘ vom 26.12.1809:

„Als Landes-Polizeibehörde haben die Regierungen die Fürsorge wegen des Gemeinwohls unserer getreuen Untertanen, sowohl in negativer als positiver Hinsicht. Sie sind daher so berechtigt als verpflichtet, nicht allein allem vorzubeugen, und solches zu entfernen, was dem Staate und seinen Bürgern Gefahr oder Nachteil bringen kann, mithin die nötigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung zu treffen, sondern auch dafür zu sorgen, daß das allgemeine Wohl befördert und erhöhet werde und jeder Staatsbürger Gelegenheit habe, seine Fähigkeiten und Kräfte in moralischer sowohl, als physischer Hinsicht auszubildenden, und innerhalb der gesetzlichen Grenzen auf die ihm zuträglichste Weise anzuwenden. Die Regierungen haben daher auch die Aufsicht über Volksbildung, den öffentlichen Unterricht und Kultus.“ (zitiert nach Knemeyer 1978, S. 888)

Man sieht also: Auch im frühen 19. Jahrhundert war für die Zeitgenossen ein Begriff von Polizei plausibel, der ihr Zuständigkeit für alle Aufgaben des Staates im Inneren zuspricht. Im historischen Rückblick auf vor allem die erste Hälfte das 19. Jahrhundert ist es deshalb „praktisch noch nicht möglich.., die Polizei von der übrigen inneren Verwaltung zu trennen“, da „in den meisten Verwaltungsbereichen Sicherungs- und Ordnungsaufgaben sowie Wohlfahrtsaufgaben ineinander über[gingen]“, eine Differenzierung dieser beiden Bereiche also über viele Jahrzehnte nur im Diskurs der Rechtstheorie (und auch dort nicht ohne Konkurrenz) vollzogen wurde, ohne dadurch direkte Relevanz für die organisationale Differenzierung der staatlichen Verwaltung selbst zu gewinnen (vgl. Knemeyer 1978, S. 892).

Große Relevanz hatte die Frage nach den Aufgaben von ‚Polizei‘ auch für die liberale Kritik am ‚Polizeistaat‘ im 19. Jahrhundert. Sie lässt sich rekonstruieren als Kritik an einem Staat, der Zwangsgewalt nicht nur im eng umkreisten Gebiet der Sicherheit und Ordnung, sondern in allen möglichen Bereichen zu seinen Aufgaben und Zuständigkeiten zählt – Kritik also an einer „Beglückungs- und Aufklärungspolizei“ (Aretin und Rotteck 1839, S. 166). Aufschwung erlebt die Kritik dieses als invasiv erlebten ‚Polizeistaates‘ im deutschsprachigen Raum vor allem vor und in der bürgerlichen Revolution von 1848: „Polizeistaat pflegt man im tadelnden Sinne einen solchen Staat zu nennen, in welchem die Handhabung der Polizei … bis zu einer so großen Ausartung gediehen ist, daß dieselbe sich in alle Handlungen des Bürgers einmischt und überall die Oberhand hat“ heißt es die Diskussion zusammenfassend in einem zeitgenössischen Lexikon (Manz, Bd. 8, S. 331, zitiert nach Knemeyer 1978, S. 893). Die Wirklichkeit und der Begriff von Polizei waren also im 19. Jahrhundert stark umkämpft – auch deshalb blieben der enge und weitere Begriff von Polizei während des gesamten Jahrhunderts nebeneinander in Gebrauch, wie der Eintrag im Meyer-Lexikon gegen Ende des Jahrhunderts gut belegt:

„Polizei ... im weitesten Sinn ist die gesamte staatliche Tätigkeit, welche im innern Staatsleben zur Sicherung und Förderung der Wohlfahrt des Staats und seiner Angehörigen entwickelt wird, also ... innere Staatsverwaltung mit Ausschluß der Rechtspflege ... Regelmäßig werden zwar diese Begriffe enger gefaßt, doch besteht in dieser Hinsicht keine Übereinstimmung. Manche stellen den staatlichen Zwang in den Vordergrund und verstehen unter Polizei die zwangsweise Förderung der öffentlichen Sicherheit und Wohlfahrt. Andere wollen die Tätigkeit der Polizei auf die Verhütung drohender Rechtsverletzungen (Sicherheitspolizei) beschränkt wissen, weshalb z. B. Mohl die Polizei Präventivjustiz nennt. Diejenigen dagegen, welche den Begriff Polizei in jenem weiten Umfang nehmen, pflegen dieselbe in Sicherheitspolizei und Wohlfahrtspolizei zu unterteilen. Andere wie z. B. Bluntschli wollen die letztere Regierungstätigkeit nur teilweise dem Gebiet der Polizei zugeteilt wissen, indem sie neben die Polizei eine sog. Pflege (Kultur- und Wirtschaftspflege) stellen. Eine zu weit gehende Wohlfahrtspolizei führt zu einem Zuvielregieren, zu einem polizeilichen Bevormundungssystem, welches man als Polizeistaat zu charakterisieren pflegt. Ihm steht gegenüber das Streben nach der Verwirklichung des Rechtsstaates, welches freilich zu weit geht, wenn die gesamte Tätigkeit des Staates und seiner Organe ausschließlich auf den Rechtsschutz beschränkt werden soll, aber insofern ein berechtigtes ist, als das Recht die Grundlage des Staats sein und das gesamte staatliche Leben in den Angeln des Rechts sich bewegen soll.“ (Meyer-Lexikon, 4. Auflage 1889, Bd. 13, S. 185, zitiert nach Knemeyer 1978, S. 893)

Dass uns heute der Bedeutungsgehalt des Wortes ‚Polizei‘ so eindeutig erscheint, liegt keineswegs daran, dass uns heute klarer ist, was genau die Aufgaben der Polizei von den Aufgaben des Staates insgesamt und den anderen Zweigen der öffentlichen Verwaltung unterscheidet. Eindeutigkeit und Klarheit hat das Wort ‚Polizei’ vielmehr durch die Konvention erlangt, nicht mehr Ziele, Zuständigkeiten oder Aufgaben des Staates zu bezeichnen, sondern nur noch eine besondere Gruppe von Organisationen aus dem Feld der inneren Verwaltung und deren Mitglieder. Sobald versucht wird, die Einheit dieses Organisationstyps über die Aufgabe der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu begründen, kehrt das altbekannte Abgrenzungsproblem zurück. Denn dieser Aufgabe gehen neben der Polizei in den Rechts- und Verwaltungsstaaten des 21. Jahrhunderts etwa auch kommunale Ordnungsämter oder die Feuerwehr nach. Dieses Abgrenzungsproblem lässt sich exemplarisch auch in der Darstellung der „Polizei als Organisationstyp“ bei Wilz (2012) erkennen und in der Verwaltungspraxis beobachten, wenn die Zusammenarbeit zwischen Polizeien (Land) und Ordnungsämtern (Kommune) ausgehandelt wird.Footnote 22

Preußen und die Berliner Polizei im 19. Jahrhundert

Das Aufkommen und die Verbreitung des Konzepts der ‚Policey‘ reflektiert und begleitet ab dem 15. Jahrhundert also zunächst den nach und nach durchgesetzten Anspruch der Landesfürsten auf Monopolisierung legitimer Gewalt im Inneren und die Ausdehnung der durch die Obrigkeit regulierten Handlungsbereiche. Die dann in Teilen der Polizeiwissenschaft seit dem 18. Jahrhundert vorbereitete und durch die Binnendifferenzierung der staatlichen Instanzen strukturell getragene Eingrenzung des Polizeibegriffs reflektiert dagegen die Spezialisierung der Verwaltung des Staates. Dieser Zusammenhang zwischen Sozialstruktur und Semantik lässt sich gut am Fall Preußen im 19. Jahrhundert veranschaulichen, also an dem Fall, in dem – so jedenfalls die Deutung von Klaus Türk (2006, S. 117) – „die Vorstellung des Staates als eines organisierenden Zentrums der Gesellschaft zum ersten Mal Gestalt annahm“.Footnote 23

Die der Eingrenzung des Polizeibegriffs korrespondierende Umstrukturierung der Staatsverwaltung besteht zunächst in einer Einrichtung von Fachministerien im Jahr 1808, die bis heute eine zentrale Stellung einnehmen: Außenpolitik, Finanzen, Inneres, Justiz und Kriegswesen (vgl. Türk et al. 2006, S. 119). ‚Polizei‘ als Teil der Inneren Verwaltung löst sich dann in den folgenden Jahrzehnten zunehmend von ihrem breiten Zweck der Wohlfahrtsförderung und erhält einen engeren Zuständigkeitsbereich, der primär auf „Sicherheits- und Überwachungsfunktionen“ bezogen ist, dabei aber auch noch die heute an spezielle Behörden übertragene Aufgabenbereiche wie denjenigen der Lebensmittelsicherheit umfasst (Türk et al. 2006, S. 151).

Diese Gleichzeitigkeit von engem Polizeibegriff, Binnendifferenzierung der staatlichen Verwaltungen und vielerorts weiterhin sehr breiten Polizeiaufgaben lässt sich bis weit in das 20. Jahrhundert hinein belegen. Anschaulich hat Herbert Reinke das ‚Amt der Polizei‘ um 1900 rekonstruiert, indem er neben den entsprechenden Rechtstexten insbesondere auch Praktikerhandbücher und lokales Quellenmaterial ausgewertet hat. Er zeigt, dass das Aufgabenspektrum der Polizei auch um 1900 etwa noch die Überwachung der ordnungsgemäßen Müllentsorgung (Reinke 1993, S. 10), das Ausstellen von Ausweisdokumenten, von Berechtigungsscheinen zur Altersversicherung oder von Gewerbekonzessionen umfasst (Reinke 1993, S. 14 f.). Der in der soziologischen Literatur oft als Nachweis für die Existenz spezialisierter Verwaltungszweige im 19. Jahrhundert zitierte enge Polizeibegriff war mithin auch am Ende dieses Jahrhunderts nur eine Stimme unter vielen und selten verwirklichte Realität. Nicht nur im theoretischen Diskurs, sondern auch in den Städten und Gemeinden war typisch umstritten und unklar, wie weit Zuständigkeit und Mandat polizeilicher Instanzen reichten. Rechtswissenschaftler fordern zunehmend ein engeres Polizeimodell, das sich auf die Aspekte der Sicherheit und Gefahrenabwehr konzentriert; aus den Polizeien kommt Unterstützung für dieses Anliegen, da es einer einzelnen Behörde und ihren Mitgliedern nicht möglich sei, all die verschiedenen Ordnungsbereiche kompetent zu überblicken; und ‚vor Ort‘ bleibt dann etwa aushandlungsbedürftig, wer nun dafür zuständig ist, zu verhindern, dass zu schwer beladene Handkarren die gerade erst neu verlegten Gehwegplatten beschädigen – so eine von Reinke (1993, S. 12) rekonstruierte Klage der Wuppertaler Stadtverordneten.

Die für uns heute selbstverständliche „Entpolizeilichung des Wohlfahrtsbereiches“ (Reinke 1993, S. 16) und die komplementäre Fokussierung der Polizei auf ‚Sicherheit‘ beginnt zwar im 19. Jahrhundert, kommt aber hier keineswegs zu ihrem Ende. Nur, wer Gesetzgebung und Rechtsprechung mit polizeilicher Praxis gleichsetzt, könnte behaupten, Polizei sei schon im 19. Jahrhundert eine auf Sicherheit spezialisierte und begrenzte Spezialverwaltung gewesen. Faktisch realisiert wird dieses enge Verständnis von Polizei erst in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und die enge Bindung polizeilichen Handelns an konkrete Gefahren und konkreten Tatverdacht vollzieht sich in Deutschland letztlich erst nach Ende des Nationalsozialismus (Reinke 1993, S. 13; Bäuerle 2008, S. 16).

Vorreiter auf dem Weg zu einer Polizei als eigenständiger staatlicher Organisation im heutigen Sinne in Deutschland war Preußen und hier vor allem Berlin (Funk 1986, S. 55). An der Geschichte der Berliner Kriminalpolizei lässt sich die allmähliche Trennung von Polizei und Militär, der damit einhergehende sinkende Einfluss des Adels auf die staatliche Verwaltung im Inneren, die Binnendifferenzierung von Staatsverwaltung, Justiz und Polizei sowie die schrittweise Institutionalisierung universalistischer Rechtsdurchsetzung gut rekonstruieren.

Im frühen 19. Jahrhundert gibt es in Berlin zwar noch keine Teilbehörde mit dem Auftrag, begangene Verbrechen aufzuklären, aber schon eine Gruppe von fünf Männern, die als ‚Kriminaldeputation‘ am Berliner Stadtgericht tätig waren und zu deren Aufgaben neben der Aufnahme aller Strafanzeigen auch das Führen von Listen über als verdächtig kategorisierte Personen, gestohlene Gegenstände oder inhaftierte und geflohene Häftlinge zählten – also durchaus Aufgaben, die auch von heutigen Kriminalpolizeien übernommen werden, aber organisatorisch in der Justiz verortet und mit einem von heute aus gesehen kaum vorstellbar kleinen Personalbestand (Roth 1997, S. 36 f.). In den folgenden Jahren kommt es dann zu Maßnahmen, die ein steigendes Bedürfnis staatlicher Instanzen nach spezifisch kriminalpolizeilicher Tätigkeit erkennen lassen: Die Aufhebung der Uniformpflicht im Fall von Observationen im Jahr 1810, die Eingliederung des kriminalpolizeilich ermittelnden Personals in das Polizeipräsidium 1811 und damit einhergehend die Erweiterung kriminalpolizeilicher Befugnisse gegenüber der Justiz, vor allem die selbstständige Durchführung von Ermittlungen und die Möglichkeit, Verdächtige auf unbestimmte Zeit in Polizeihaft zu nehmen (Roth 1997, S. 38). Den Aufgabenbereich der Kriminalpolizei umreißt der preußische König Wilhelm III. dabei mit der Formulierung, dass sie „die Vermuthungen, welche es wahrscheinlich machen, daß ein Verbrechen begangen sey, sammelt und zusammenstellt und Spuren zur Entdeckung des Thäters verfolgt, ohne die ordentlichen Gerichte dabei zuzuziehen“ (zitiert nach Selowski und Dobler 2015, S. 13). Diese Maßnahmen ändern jedoch nichts an dem weiterhin geringen Personalbestand der Berliner Kriminalpolizei: 1830 gab es in Berlin acht Kriminalpolizisten, 1849 waren es nur drei mehr. Schon diese geringe Größe verhinderte eine für uns heute selbstverständliche interne Differenzierung der Kriminalpolizei.

Die Unruhen im Rahmen der (gescheiterten) Revolution von 1848 hatten deutlichen Einfluss auf das gesellschaftliche und politische Klima in Preußen, insbesondere auch auf die Frage nach den Erwartungen staatlicher Instanzen an ‚Polizei‘ als derjenigen Instanz, die neben dem Militär und mit wachsender Bedeutung für die Aufrechterhaltung der nun immer häufiger gestörten Ruhe und Ordnung zuständig sein sollte. Die Effekte der politisch unruhigen Zeiten waren die gleichen, die sich heute etwa nach terroristischen Anschlagsserien in westlichen Rechtsstaaten beobachten lassen: Die Stimmen, die eine stärkere, besser organisierte, mit mehr technischen Mitteln und rechtlichen Befugnisse ausgestattete Polizei forderten, gewannen an Einfluss im Diskurs derjenigen, die die Ruhe und Ordnung des Kaiserreichs schützen (und nicht in Richtung einer liberalen Demokratie überwinden) wollten. In diesem politischen Klima wird im November 1848 Karl Ludwig Friedrich von Hinckeldey zum Polizeipräsidenten von Berlin ernannt. Hinckeldey genießt das besondere Vertrauen des preußischen Königs und kann deshalb trotz formaler Unterordnung unter den Innenminister die Berliner Polizei mehr oder weniger uneingeschränkt und mit großem Einfluss führen. Das Ergebnis war die erste Deutsche Polizeibehörde mit dem Charakter eines „straff geführten, unter einheitlicher Leitung stehenden Machtapparats“ (Roth 1997, S. 40), einer Behörde also, die dem weberschen Idealtyp von (staatlicher) Bürokratie immerhin nahekam.

Wie Hinckeldeys Name mit der Geschichte der Berliner Polizei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbunden ist, so steht der Name Wilhelm Stieber für die Geschichte der Berliner Kriminalpolizei in diesem Zeitraum. Stieber trifft Reformentscheidungen, die entscheidend zur Ausdifferenzierung der Berufsrolle des Kriminalpolizisten beitragen: In jedem der nun insgesamt 36 lokalen Berliner Polizeireviere werden aus den Reihen des bestehenden Personals, also aus den Reihen der Schutzmänner, Personen ausgesucht, die für kriminalistische Arbeit besonders geeignet erscheinen. Ihre Aufgaben unterscheiden sich fortan deutlich von denen der Kollegen: Sie überwachen als verdächtig kategorisierte Personen ihres Bezirks, legen Akten über sie an und berichten täglich über kriminalistisch relevante Ereignisse des Bezirks. Vor allem wird das ausgewählte Personal nun geschult in der Hoffnung, so aus Schutzleuten Kriminalisten zu machen. Auf dem Lehrplan stehen in deutlichem Unterschied zur allgemeinen, stark am Militär orientierten Polizeiausbildung vor allem die sich allmählich entwickelnden Methoden der Kriminalistik und die Inhalte des preußischen Strafgesetzbuchs. Indiz und zugleich Motor der zunehmenden Ausdifferenzierung der Berufsrolle Kriminalpolizist ist dann die 1853 beschlossene Umbenennung des kriminalistischen Führungspersonals von ‚Leutnant‘ in ‚Criminal-Komissar‘ (vgl. Roth 1997, S. 40 f.).

Nicht nur auf der Ebene der Berufsrolle, sondern auch auf der Ebene der Verwaltungsstruktur vollzieht sich die Ausdifferenzierung der Kriminalpolizei nun in schnellen Schritten. 1854 kommt es zur Gründung einer eigenständigen Abteilung ‚Kriminalpolizei‘ innerhalb des Berliner Polizeipräsidiums, die nun organisatorisch von anderen Abteilungen unterschieden und mit ihnen auf eine Stufe gestellt wird, etwa den Abteilungen der ‚Schutzmannschaft‘ (der heute in etwa die Schutzpolizei entsprechen würde), der ‚Gewerbepolizei‘ (Aufgaben u. a. im Bereich eines heutigen Veterinäramtes und der Armenfürsorge) der ‚Baupolizei‘ (Aufgaben vor allem im Bereich der Bauaufsicht) oder der ‚Feuerwehr‘ (vgl. Funk 1986, S. 70 ff.). Bedeutsam für die Etablierung der Kriminalpolizei als eigenständiger Behörde in Preußen sind dann heftige Diskussion in den 1860er und 1870er Jahren zu der Frage, ob die originären Aufgaben der Kriminalpolizei – Aufklärung und Verhütung von Straftaten – überhaupt innerhalb der Polizei richtig angesiedelt, oder ob sie nicht wieder als ‚Gerichtspolizei‘ innerhalb der Justiz verortet werden müssten (Funk 1986, 241 ff., 1993, S. 61), eine Variante also des schon älteren und bis heute regelmäßig diskutierten Problems des Verhältnisses von Justiz (verkörpert primär durch die Staatsanwaltschaft) und Ermittlungsarbeit (verkörpert primär durch die Kriminalpolizei). In den 1870er Jahren, genauer: bei der Verabschiedung der Strafprozessordnung im Jahr 1877, setzten sich schließlich und bis heute folgenreich die Anhänger einer organisatorisch von der Justiz unabhängigen Kriminalpolizei durch.

Im Kaiserreich wächst die Zahl der Kriminalpolizisten stetig an. Das ermöglicht es der Behörde dann auch, mit der Gründung von drei Inspektionen im Jahr 1885 die bislang an einzelnen Personen hängende Spezialisierung von Ermittlungsarbeit nach Deliktfeldern als Prinzip organisationaler Differenzierung zu realisieren (Selowski und Dobler 2015, S. 161). Personalzuwachs, interne Differenzierung nach Deliktfeldern, eine eigenständige Berufslaufbahn für die Kriminalpolizei und technisch-kriminalistische Innovationen trugen dazu bei, dass der Berliner Kriminalpolizei im Kaiserreich eine „informelle Rolle als Zentralstelle der preußischen Kriminalpolizei zuwuchs“ (Funk 1986, S. 247). Symptom dieser Vorrangstellung der Berliner Kriminalpolizei ist auch, dass die Behörde typisch von ausländischen Behörden adressiert wird (Ullrich 1961, S. 55). Als maßgeblich für diesen rasanten Ausbau der Kriminalpolizei hält der Historiker Albrecht Funk (1986, S. 252) nicht die von den Zeitgenossen (unzutreffend) diagnostizierte „Kriminalitätslawine“, sondern „das zunehmende Verlangen des städtischen Bürgertums nach Polizei“.

Sozialkritik als Motor sozialen Wandels: Zur keineswegs grenzenlosen Kluft zwischen Norm und Faktizität der Polizeiarbeit in Preußen in den 1850er und 1860er Jahren

An der Berliner Kriminalpolizei dieser Zeit fällt im Vergleich zu heutigen Kriminalpolizeien auf, dass die Gesetzesbindung ihrer Arbeit deutlich weniger ausgeprägt und auch als öffentliche Erwartung deutlich weniger institutionalisiert war. Kriminalpolizisten war es deshalb leicht möglich, ihre breiten Befugnisse wie Verhaftungen ohne richterlichen Beschluss zu nutzen, um andere Interessen durchzusetzen als dasjenige einer universalistischen Rechtspflege, darunter insbesondere die Interessen von Adel und Militär. Wo ein verschuldeter Offizier von seinen Gläubigern belästigt wurde, konnte er oft darauf zählen, dass Kriminalpolizisten die gesamtgesellschaftliche Sonderstellung des Militärs (und damit indirekt des Adels) in Rechnung stellten und den Gläubiger zuweilen gar auf Wunsch des Königs „erst einmal in Haft“ nahmen, „um ihn dazu zu bewegen, auf seine Forderung zu verzichten“ (Roth 1997, S. 42). Die Kriminalpolizei agiert in dieser Zeit also als Institution, die regelmäßig und für die Zeitgenossen erwartbar physische Zwangsgewalt im Interesse gesamtgesellschaftlich statushoher Gruppen und Personen zur Anwendung bringt auch dann, wenn der illegale Charakter dieses Einsatzes für alle kundigen Beobachter offensichtlich war. In ihrer täglichen Praxis und den von ihr durchgeführten Ermittlungsverfahren weist die preußische Kriminalpolizei der 1850er und 1860er Jahre mithin nur ein geringes Maß an Autonomie auf und erscheint von heute aus gesehen eher als eine Behörde im Auftrag des Königs und einzelner gesellschaftlicher Gruppen.

Nicht weniger bedeutsam ist jedoch, dass diese Praxis in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer stärker in die Kritik gerät: Parallel zu der partikularistischen Praxis der Polizei gewinnt die Norm einer universalistisch programmierten, nur an das Recht gebundenen und ohne Ansehen der Person des polizeilichen Gegenübers agierenden Polizei auch innerhalb von Polizei und Justiz an gewichtigen Fürsprechern. Auffällig ist nicht nur, dass die Berliner Staatsanwaltschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts regelmäßig unrechtmäßige Polizeimaßnahmen beklagen und auch einige Disziplinarverfahren gegen Polizeibeamte auf den Weg bringen, sondern auch, dass die von den Staatsanwaltschaften artikulierte Norm einer universalistisch-rechtsgebundenen Polizei auch innerhalb der Polizei nicht durchgehend als ‚systemfremde‘ Störung behandelt wird. Dies zeigt sich etwa daran, dass sich mit dem neuen Berliner Polizeipräsident im Jahr 1856 der höchste Repräsentant der Berliner Polizei öffentlich von einer Praxis der von Stieber geleiteten Kriminalpolizei distanziert, die seines Eindrucks nach ihre Tätigkeiten „über die durch das Gesetz vorgezeichneten und in der Natur ihres Berufs liegenden Grenzen hinaus, vielfältig ausgedehnt hat …“ (v. Zedlitz, zitiert nach Roth 1997, S. 42). Gesetzesbindung und universalistische Orientierung polizeilichen Handelns also nicht nur als positiv gesatzte Norm, sondern als zentrales Merkmal der ‚Natur‘ des Polizeiberufs und die vom neuen Polizeichef deutlich zugestandene partikularistische Praxis der Polizei also nicht nur als rechtswidrig, sondern auch als Verstoß gegen die ‚Berufsethik‘ des Polizeiberufs.

Natürlich gab es also eine deutliche Kluft von Norm und Faktizität im Bereich (kriminal)polizeilichen Handelns im Kaiserreich. Dass diese Kluft nicht unendlich groß werden konnte, zeigt neben den Konflikten zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft, bei denen dann zuweilen auch das Innenministerium mit der Anweisung an die Polizei intervenieren musste, zukünftig die Buchstaben des Gesetzes ernster zu nehmen, anschaulich auch die Karriere des Leiters der Berliner Kriminalpolizei, Wilhelm Stieber. In der Summe führten die vielen in der Regel nicht endgültig aufgeklärten Vorwürfe wegen Amtsmissbrauchs gegen ihn und seine Mitarbeiter doch dazu, dass er sein Amt aufgegeben musste (Roth 1997, S. 43 f.). Die rechtliche Unbestimmtheit polizeilichen Handelns in Preußen Mitte des 19. Jahrhunderts war also zwar groß, hatte aber deutlich erkennbare Grenzen. In leichter Abweichung des Fazits von Roth (1997, S. 45) müsste man also wohl formulieren, dass die Berliner Staatsanwaltschaft nur gemessen an ihren eigenen, noch höheren Ambitionen in den 1850er und 1860er Jahren letztlich „mit dem Versuch gescheitert“ ist, „der Kriminalpolizei Zügel anzulegen“, dass sie aber allein durch ihre – durchaus auch behördenpartikularistisch motivierten – Interventionen eben doch einen wichtigen Beitrag dazu geleistet hat, den rechtlich vorgesehenen Schranken polizeilichen Handelns zu einer gewissen Wirksamkeit zu verhelfen.

Eine Folge der staatsanwaltschaftlichen und öffentlichen Kritik an hohen polizeilichen Ermessensspielräumen waren dann auch diverse Reformen in den 1860er Jahren: Das Innenministerium beanspruchte mehr Einblicke in die Arbeit der Kriminalpolizei, die Abteilung Kriminalpolizei wurde als eigenständige Abteilung wieder aufgelöst und mit der Abteilung ‚Sittenpolizei‘ zusammengelegt und der Kriminalpolizei wurde ab 1860 die Pflicht auferlegt, die von ihr durchgeführten Ermittlungsverfahren in einer Akte zu dokumentieren und dabei auch einzelne Maßnahmen wie Vernehmungen und Hausdurchsuchungen zu protokollieren (Roth 1997, S. 46). Im historischen Rückblick auf die 1850er und 1860er Jahre wird deutlich, dass es sich um eine Phase des Experimentierens mit Vorzügen und Folgeproblemen verschiedener Formen und Grade der Rechtsbindung polizeilichen Handelns handelte: Mal hatten die Kritiker der Polizei und ihrer hohen Ermessensspielräume größere diskursive Resonanz, dann die sich als erfahrene Praktiker legitimierenden Sprecher, die klagten, dass eine zu enge rechtliche Bindung polizeilichen Handelns die Polizei hindere, ihr übergeordnetes und gesellschaftlich bedeutsames Ziel der ‚Verbrechensbekämpfung‘ effektiv und effizient zu verfolgen. An dieser grundlegenden Struktur der öffentlichen Debatten um Polizeiarbeit hat sich bis heute wenig geändert.