In der Einleitung zu diesem Buch habe ich seine disziplinäre Verortung innerhalb der soziologischen Theorie, der Organisationssoziologie und der Professionssoziologie skizziert. Dem Anspruch der Arbeit, Übersetzungsprozesse zwischen spezialistischer empirischer Polizeiforschung und allgemeiner Theoriebildung in den genannten Subdisziplinen der Soziologie zu leisten, entspricht der weitestgehende Verzicht auf Primäranalysen empirischer Daten – mit Ausnahme etwa der Analyse einiger historischer Primärquellen im Kapitel zur Geschichte polizeilicher Ermittlungsarbeit in Europa oder der Auswertung von Praktikerliteratur im Kapitel über die polizeiliche Beschuldigtenvernehmung. Die zentrale empirische Grundlage der Kapitel zur Soziologie der Polizei im dritten Teil dieses Buches sind nicht eigens für diese Arbeit erhobene und ausgewertete Daten, sondern die Sekundäranalyse von Darstellungen in vorliegenden Publikationen zu den verhandelten Themen, also zur Geschichte polizeilicher Ermittlungsarbeit in Europa, zum Einsatz von Informanten in der heutigen Polizeiarbeit, zur polizeilichen Beschuldigtenvernehmung und zur Berufsgruppensolidarität unter Polizisten.

Der Verzicht auf die Erhebung eigener Daten ist jedoch nicht mit dem Verzicht auf jegliche wissenschaftliche Methode identisch. Die zentrale Methode meiner Analysen ist der soziologische Äquivalenzfunktionalismus, wie er in einer frühen Form von Robert King Merton (1957, S. 17–82) und mit einigen Modifikationen von Niklas Luhmann (1962, 1964a, 2010a) entwickelt und vertreten worden ist. Im Gegensatz zu der üblichen Lesart des Äquivalenzfunktionalismus als einer Methode lediglich der Rekonstruktion empirisch verwirklichter Problem-Lösungszusammenhänge verstehe ich den Äquivalenzfunktionalismus in erster Linie als Denkmethode, als Methode der Theoriearbeit. Die These dieses Kapitels lautet, dass ein an Merton und Luhmann anschließender Äquivalenzfunktionalismus Grundlage nicht nur der empirischen Analyse (4.1), sondern auch der problembezogenen Begriffsbildung (4.2) sowie der soziologisch disziplinierten Sozialkritik (4.3) sein kann.

Die schlechte Presse des Funktionalismus und Mertons Rettungsversuch

Aktuelle Überblicksdarstellungen zum soziologischen Funktionalismus beginnen typisch mit dem Hinweis auf seine schlechte „Presse“ (Nassehi 2012, S. 83) oder seinen zumindest „zweifelhaften Ruf“ (Stark 2009, S. 161) im Fach. Die in der Fachgeschichte formulierten Kritiken am Funktionalismus lassen sich ihrerseits gut in formal-methodische einerseits und inhaltlich-theoretische Kritiken andererseits unterteilen. In methodischer Hinsicht wurde dem Funktionalismus vor allem vorgeworfen, dass seine Aussagen den Ansprüchen an eine wissenschaftliche Kausalerklärung nicht genügen würden, da sie gegenwärtiges (eine Struktur) durch zukünftiges (die zu bewirkende funktionale Leistung) zu erklären versuchen würden. Der inhaltlich-theoretische Vorwurf lautete dagegen, dass der Funktionalismus als Theorieansatz notwendigerweise zu einem unvollständigen und ideologisch gefärbten Bild der Sozialwelt führen müsse. In dieser Hinsicht wurde dem Strukturfunktionalismus in den 1950er und 1960er Jahren und vor allem Talcott Parsons als seinem wichtigsten Vertreter vorgeworfen, dass er das „Element der Bewegung, des Konflikts und Wandels“ (Dahrendorf 1955, S. 511) systematisch ausblende. Formen des Handelns und Erwartens, die wie beispielsweise Korruption oder radikale Sozialkritik den institutionalisieren Strukturen zuwiderlaufen, so der prominent von Ralf Dahrendorf vorgetragene Vorwurf, würden von den Funktionalisten entweder als Sonderfall de-thematisiert oder pathologisiert. In der Konsequenz seien funktionalistische Theorien des Sozialen nicht nur unvollständig, sondern sie tendierten auch dazu, politisch konservativ zu wirken: Indem sie die Reproduktion bestimmter institutionalisierter Strukturen zum Bezugsproblem ihrer Analysen erheben, unterschätzten sie die Möglichkeit und vielleicht die Notwendigkeit des Wandels und der Kritik dieser Strukturen.

Robert King Merton und Niklas Luhmann zählen zu denjenigen Soziologen, die sich vor dem Hintergrund dieser breiten Kritik am Strukturfunktionalismus um die Ausarbeitung einer neuen Variante des soziologischen Funktionalismus bemüht haben. Prägnant hat Merton bereits in den 1950er Jahren benannt, welche Thesen ein solcher neuer, durch die Kritik aufgeklärter Funktionalismus aufgeben muss. Erstens muss er im Widerspruch zum „Postulat der funktionalen Einheit“ der Gesellschaft betonen, dass Aussagen über Funktionen immer der Angabe der sozialen Einheit bedürfen, für die eine fragliche Struktur funktional oder dysfunktional sein soll (Merton 1957, S. 33). Ohne die Angabe einer solchen Systemreferenz ist eine funktionalistische These unvollständig, weil es der Normalfall ist, dass eine fragliche Struktur nur für bestimmte soziale Einheiten funktional, für andere dagegen dysfunktional und für dritte ohne Bedeutung ist. Zweitens verabschiedet sich der durch die Kritik aufgeklärte Funktionalismus von dem „Postulat des universalen Funktionalismus“, demzufolge jede institutionalisierte Sozialstruktur irgendeine Funktion haben müsse, akzeptiert also die Möglichkeit funktionsloser und dysfunktionaler Strukturbildung. Und drittens widerspricht der neue Funktionalismus dem „Postulat der Unentbehrlichkeit“, demzufolge eine in der Analyse als funktional ausgezeichnete Sozialstruktur als für den Fortbestand der fraglichen sozialen Einheit unentbehrlich ist. In Widerspruch zu dieser These geht der neuere Funktionalismus davon aus, dass die faktisch realisierte Struktur nur eine von mehreren Möglichkeiten der Problemlösung ist, dass es also zu einer bestimmten funktionalen Systemstruktur typisch „funktionale[] Alternativen, Äquivalente oder Substitute“ gibt (Merton 1957, S. 33). Für Luhmann war dieser Gedanke von so zentraler Bedeutung, dass er seine Version des soziologischen Funktionalismus unter dem Titel des Äquivalenzfunktionalismus entwickelt hat.

1 Äquivalenzfunktionalismus als Methode empirischer Rekonstruktion

Luhmann (1962, 1964b, 2010a) und die an ihn anschließende Literatur präsentieren diesen Äquivalenzfunktionalismus typisch als eine Methode der Rekonstruktion empirisch verwirklichter und möglicher Problem-Lösungszusammenhänge. Die übliche Darstellung der funktionalen Analyse betont, dass es sich um eine „mit der Theorie sozialer Systeme assoziierte wissenschaftliche Methode“ handelt, die es erlaubt, „jedes Phänomen und jedes Gegebene als kontingent und mit anderem vergleichbar zu erfassen“. Die Methode erreiche diesen Erkenntnisgewinn durch Vergleich, indem sie „jedes Phänomen zu einem Problem“ erklärt, das so, aber auch anders bearbeitet werden kann. „Die Analyse beschreibt die Beziehung zwischen den Problemen und ihren möglichen Lösungen: Die Daten sind die Ausgangsprobleme, die angebotenen Lösungen sind kontingent und könnten auch anders ausfallen“ (Baraldi 1997, S. 61).

Ein Beispiel für diese Verwendung des Äquivalenzfunktionalismus bei Luhmann ist seine Analyse zur Funktion von Reputation in der Wissenschaft, die ich zur Veranschaulichung kurz rekonstruiere. In dem Aufsatz „Selbststeuerung der Wissenschaft“ arbeitet Luhmann zunächst die multifunktionale Bedeutung von Reputation für die Wissenschaft als soziales System heraus: Reputationsordnungen dienen nicht nur als Mechanismus der Motivation von Forschern, sondern sie bieten auch Orientierung innerhalb der Disziplin und für Kontakte mit Umweltpartnern. Anschließend stellt Luhmann die für äquivalenzfunktionalistische Analysen charakteristische Frage, ob die innerwissenschaftliche „Orientierung an Reputationssystemen“ (Luhmann 1968a, S. 244) – was soll man lesen, welche Themen bearbeiten – durch etwas anderes ersetzt werden kann. Luhmanns Hypothese lautet, dass die innerwissenschaftliche Orientierungsfunktion alternativ auch von einer fachuniversellen und breit anerkannten Theorie erfüllt werden könnte, einer Theorie also, die die wesentlichen Themen des jeweiligen Fachs umfasst und im Kontakt mit Kollegen als bekannt und anerkannt unterstellt werden kann. Wo es eine solche Theorie gibt, können sich einzelne Forscherinnen bei ihren Entscheidungen über zukünftige Forschungsprojekte an ihr orientieren. Da die Naturwissenschaften in deutlich höherem Maße als die Sozial- und Geisteswissenschaften über fachuniverselle und breit anerkannte Theorien verfügen, sind sie Luhmanns These zufolge weniger stark auf die Orientierungsfunktion des Reputationssystems angewiesen. Dementsprechend sei die Forschung in den Naturwissenschaften auch weniger stark durch die Folgeprobleme der Orientierung an Reputationssystemen belastet, namentlich durch einen „zu raschen Wechsel der Modethemen, … unerledigtes Liegenlassen vielbehandelter Probleme, … Oberflächendifferenzierung der Terminologien, … Verschlüsselung von Banalitäten“ (Luhmann 1968a, S. 243). In Hinblick auf das sich jeder wissenschaftlichen Disziplin stellende Problem der „Vorsortierung des Informationsflusses“ (Luhmann 1968a, S. 245) hält Luhmann die Orientierung an Theorien und an personenbezogener Reputation also für funktional äquivalent, während sich die beiden Problemlösungen sowohl in Hinblick auf ihre anderen Funktionen – Reputationsordnungen dienen im Unterschied zu Theorien auch der Motivation von Forschern – als auch in Hinblick auf ihre Folgeprobleme unterscheiden.

Meine These in diesem Kapitel ist, dass diese Funktion des Äquivalenzfunktionalismus, realisierte und mögliche Problem-Lösungszusammenhänge in der Sozialwelt zu rekonstruieren und miteinander zu vergleichen, nur eine von drei Funktionen des soziologischen Äquivalenzfunktionalismus ist. Die anderen beiden Funktionen, die problembezogene Begriffsbildung einerseits und die soziologisch disziplinierte Kritik der Sozialwelt andererseits, kommen in der soziologischen Systemtheorie zwar breit zur Anwendung, werden aber in der Selbstdarstellung der Theorie und ihrer methodologischen Reflexion latent gehalten. Da auch ich den Funktionalismus in diesem Buch in den drei genannten Funktionen – Analyse, Begriffsbildung, Kritik – verwende, erläutere ich in den folgenden Abschnitten die beiden in der vorliegenden Literatur kaum behandelten Aspekte der Verwendung des Äquivalenzfunktionalismus als Instrument der Konstruktion problembezogener Begriffe (4.2) und als Instrument der Formulierung soziologisch disziplinierter Sozialkritik (4.3).

2 Äquivalenzfunktionalismus als Methode problembezogener Begriffsbildung

Als Methode der Begriffsbildung bietet der Funktionalismus eine Alternative zu der nicht nur in den Wissenschaften üblichen Form, Sachverhalte durch die Angabe von für sie wesentlichen Merkmalen zu bestimmen: Ein Stuhl ist ein Möbelstück mit Sitzfläche und Rückenlehne, Säugetiere sind Tiere mit einem Fell aus Haaren, die ihren Nachwuchs mit Milch säugen, der Mensch ist ein vernunftbegabtes Lebewesen auf zwei Beinen, Organisationen sind soziale Gebilde mit Mitgliedern, Zwecken und Hierarchien, Berufe sind eine Kombination von Tätigkeiten, deren Ausübung ein „Mindestmaß von Schulung“ voraussetzt und „Grundlage einer kontinuierlichen Versorgungs- oder Erwerbschance ist“ (Weber 1920, S. 80).

Im Unterschied zu dieser üblichen und nützlichen Technik der Begriffsbildung durch Merkmalslisten bestimmt die funktionalistisch-problembezogene Begriffsbildung die Identität eines Begriffs durch die Angabe eines Problemgesichtspunktes, als dessen Formen der Bearbeitung die fraglichen Phänomene dann beschrieben und analysiert werden. Wie breit diese Technik der funktionalistischen Begriffsbildung in der soziologischen Systemtheorie zur Anwendung kommt und welche analytischen Gewinne mit ihr verbunden sind, soll in diesem Abschnitt an einigen zentralen Felder soziologischer Forschung gezeigt werden. Ich beginne mit dem Feld der Gesellschaftstheorie und gehe dann über zu den auch für diese Arbeit bedeutsamen funktionalistisch-problembezogenen gebildeten Begriffen formal organisierter Sozialsysteme und professioneller Arbeit.

2.1 Recht, Wirtschaft, Politik: Funktionssysteme als Problemsysteme

In der systemtheoretischen Gesellschaftstheorie kommt der Funktionalismus an zentraler Stelle als Technik der Begriffsbildung zum Einsatz, nämlich (unter anderemFootnote 1) bei der Bestimmung der primären gesellschaftlichen Funktion gesellschaftlicher Teilsysteme wie Recht, Wirtschaft, Politik, Massenmedien, Wissenschaft oder Erziehung und damit bei der Bestimmung der Einheit des jeweiligen Kommunikationszusammenhanges. Um nur drei Beispiele für Luhmanns Vorschläge zur Explikation des jeweils zentralen Bezugsproblems eines gesellschaftlichen Funktionssystems herauszugreifen: Das Problem (die Funktion) der Politik besteht Luhmann zufolge darin, auf Gesellschaftsebene Kapazitäten zu kollektiv bindendem Entscheiden bereitzustellen (Luhmann 2000a, S. 84), das Problem (die Funktion) des Rechts darin, normative Verhaltenserwartungen auch im Fall von abweichendem Verhalten zu stabilisieren (Luhmann 1993a, S. 124–164, 1972, 40 ff.) und das Problem (die Funktion) der Wirtschaft in der gegenwärtigen Sicherstellung der Befriedigung zukünftiger Bedürfnisse (Luhmann 1970b).

Diese und die weiteren Versuche Luhmanns, die Identität gesellschaftlicher Teilsysteme begrifflich zu fixieren und zu explizieren, teilen miteinander die Kombination einer gesellschaftsübergreifend konstanten Funktionsangabe mit einer Offenheit für die jeweils realisierte Form der Bearbeitung der jeweiligen Funktion. Vorausgesetzt wird durch diesen Ansatz also, dass jede menschliche Gesellschaft die genannten Problemlagen (gegenwärtige Sicherstellung zukünftiger Bedürfnisbefriedigung, Stabilisierung normativer Verhaltenserwartungen usw.) irgendwie bearbeiten muss. Die zentrale Frage einer historisch und regional vergleichenden Theorie des Wirtschaftens, der Politik oder des Rechts ist dann, in welcher Form dies geschieht: Gibt es ausdifferenzierte Rollen für Produzenten und Konsumenten, für Richter und Angeklagte, gibt es Märkte oder zentrale geplante Produktion, wie wird die Legitimation kollektiv bindender Entscheidungen erzeugt? Ähnlich reflektiert Luhmann die hinter seiner Begriffsbildung stehende Theorietechnik, wenn er „Anforderungen an die Definitionen der Funktionsformel der Funktionssysteme“ benennt: „Die Formel muß so gefaßt werden, daß sie einerseits spezifisch auf ein und nur ein System zugeschnitten ist und andererseits als Rahmenformel für den Austausch aller Problemlösungen in diesem System dienen kann“ (Luhmann 2000a, S. 83).

In der systemtheoretischen Gesellschaftstheorie wird die Einheit und Identität der gesellschaftlichen Teilsysteme also nicht über bestimmte Strukturen oder Institutionen konzipiert (etwa das Recht über Gerichtsverfahren oder Ermittlungsbehörden, Wirtschaft über Märkte oder die Politik über Staatlichkeit und Monopolisierung legitimer Gewalt), sondern über je ein zentrales Bezugsproblem. Dieses Verständnis von Recht, Politik oder Wirtschaft setzt dann nicht voraus, dass in jeder Gesellschaft ausdifferenzierte rechtliche, politische oder wirtschaftliche Rollen und Institutionen existieren, sondern behandelt die Form der jeweiligen Funktionserfüllung als eine in empirischen Untersuchungen zu bestimmende Variable. Ich komme darauf in Kapitel 5 über die Geschichte der Strafverfolgung in Europa zurück, die ich als eine Geschichte der Organisationswerdung und Ausdifferenzierung rekonstruiere.

2.2 Formale Organisationen als Konsensmaschinen

Der systemtheoretische Organisationsbegriff ist mein zweites Beispiel dafür, dass zentrale Begriffe der Systemtheorie funktionalistisch-problembezogen gebildet und verwendet werden. Luhmanns Organisationsbegriff ist konsequent an der Frage orientiert, welche Funktion die Formalisierung von Verhaltenserwartungen für das entsprechende Sozialsystem hat. Welches Problem wird also dadurch gelöst, dass „Verhaltenserwartungen und Mitgliedschaften als disponibel behandelt und zueinander in Beziehung gesetzt werden“ (Luhmann 2017, S. 185) auf eine Weise, die besagt, dass zwar keine Person durch die umfassende Sozialwelt darauf verpflichtet ist, Mitglied des formalisierten Sozialsystems zu werden oder zu bleiben – dass aber, wenn eine Person Mitglied des formalisierten Sozialsystems werden oder bleiben will, sie die Menge der durch organisationale Entscheidung formalisierten Verhaltenserwartungen anerkennen muss?

Die Antwort auf diese Frage nach der Funktion der Formalisierung von Verhaltenserwartungen lautet, dass die Verknüpfung der Anerkennung von Verhaltenserwartungen mit einer kontingenten Mitgliedschaft, für die Personen in der Regel durch Geldzahlung generalisiert motiviert werden, organisierten Sozialsystemen ein ansonsten nicht erreichbares Ausmaß an Erwartungssicherheit (in Hinblick auf die Folgebereitschaft von Mitgliedern) und Flexibilität (in Hinblick auf Strukturänderungen) zugleich ermöglicht. Die Formalisierung von Verhaltenserwartungen, d. h. ihre Auszeichnung als für Systemmitglieder anerkennungspflichtig, in Kombination mit einer generalisierten Mitgliedschaftsmotivation versorgt die Organisation mit der gegenwärtigen Sicherheit, dass zukünftige Verhaltenserwartungen die Unterstützung ihrer Mitglieder finden werden – auch wenn aktuell noch gar nicht bekannt ist, welche Verhaltenserwartungen dies sein werden, wer etwa der neue Vorgesetzte sein wird, dessen Anweisungen zu befolgen sind oder was das neue Produkt sein wird, mit dessen Entwicklung und Vermarktung die Mitarbeiter beschäftigt sein werden. In dem Maße, in dem eine Organisation eine „homogenisierte Mitgliedschaftsmotivation“ (Luhmann 1964b, S. 42) erzeugen und dann voraussetzen kann, kann sie die an ihre Mitglieder gerichteten Erwartungen dann ins Unwahrscheinliche steigern und gegen einzelne Abweichungen immunisieren.

Luhmann (1964b, S. 57 ff.) spricht in diesem Zusammenhang von einer Generalisierung der Verhaltenserwartungen in zeitlicher, sachlicher und sozialer Hinsicht. Zeitlich generalisiert sind Verhaltenserwartungen in dem Maße, in dem sie enttäuschungsfest stabilisiert sind, also auch dann aufrechterhalten werden, wenn Handelnde (regelmäßig) gegen sie verstoßen; sachlich generalisiert sind Verhaltenserwartungen in dem Maße, in dem sie als Element in einen breiteren Kontext (zum Beispiel eine Rolle und diese in ein Sozialsystem) integriert sind und die Einzelerwartung durch diesen Kontext gestützt wird; und sozial generalisiert sind Verhaltenserwartungen in dem Maße, in dem ihre Unterstützung bei im Einzelnen unbekannten, anonymen Dritten vorausgesetzt werden kann, in dem Maße also, in dem sie als institutionalisiert gelten können.

Luhmanns Argument ist nun, dass außerhalb formaler Organisationen die Generalisierung einer Verhaltenserwartung in einer der genannten Dimensionen typisch die Generalisierung in den beiden anderen Dimensionen behindert. Sachlich anspruchsvolle, also verschiedene Situationen und Themen übergreifende und trotzdem widerspruchsfreie Erwartungsbildung führt typisch zu weniger Konsens (sozial) und weniger normativer Stabilität (zeitlich). Zeitstabile Generalisierung von Verhaltenserwartungen fällt dagegen leichter, wenn in der Sozialdimension die relevante Bezugsgruppe klein gehalten und der fragliche Komplex von Verhaltenserwartungen sachlich wenig anspruchsvoll ist. Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen sozialtheoretischen These eines spannungsreichen Verhältnisses der drei Dimensionen der Generalisierung von Verhaltenserwartungen expliziert Luhmann (1964b, S. 59) dann die spezifische „Funktion der Formalisierung“ von Verhaltenserwartungen: „Sie ermöglicht für einen Teil des sozialen Systems – eben die formalisierten Erwartungen – ein Höchstmaß an Generalisierung in allen drei Richtungen zugleich“, oder, ähnlich: „Um in all diesen Richtungen ein Höchstmaß an Erwartungssicherheit zu erreichen, kann man bestimmte Erwartungen formalisieren, das heißt: ihre Anerkennung zur Mitgliedschaftsbedingung machen“ (Luhmann 1964b, S. 60).

Der damit skizzierte problembezogen-funktionalistische Organisationsbegriff betont also die Leistung formaler Organisationen, bei ihren Mitgliedern zuverlässig und erwartbar Folgebereitschaft gegenüber und dargestellten Konsens mit anspruchsvollen und bei Bedarf rasch veränderbaren Verhaltenserwartungen erzeugen zu können. Formale Organisationen sind solche Sozialsysteme, die das Problem der Stabilisierung anspruchsvoller Verhaltenserwartungen lösen, indem sie zunächst ihre (potenziellen) Mitglieder generalisiert zur Einnahme der Mitgliedschaftsrolle motivieren und dann die Vergabe und den Erhalt der Mitgliedschaftsrolle (unter anderem) an die Akzeptanz der formalisierten Erwartungen binden.

Welcher analytische Gewinn mit dieser funktionalistisch-problembezogenen Bildung des Organisationsbegriffs einhergeht, wird durch den Vergleich mit einem in der heutigen Organisationsforschung prominenten Begriffsvorschlag von Göran Ahrne und Nils Brunsson deutlich. Ahrne und Brunsson haben vorgeschlagen, „complete organizations“ durch das Zusammentreffen von fünf Merkmalen zu bestimmen: „membership, hierarchy, rules, monitoring and sanctions“ (Ahrne und Brunsson 2011b, S. 84). Wenn einem sozialen Phänomen nun eines oder einige dieser Merkmale fehlen, bezeichnen die Autoren das fragliche Phänomen als „partial organization“: Kundenkarteien von Unternehmen mit Vorteilen für registrierte Personen werden von den Autoren als Beispiel genannt, weil es hier zwar keine Hierarchie und keine Weisungs- und Sanktionsbefugnis des Unternehmens gegenüber den Kunden gibt, aber eben doch eine klare Unterscheidung zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern; und auch Rankings sollen ein Beispiel für „partial organizations“ sein, da die Autoren an ihnen das Merkmal des „monitoring“ wiederfinden: Universitätsrankings messen und dokumentieren die Leistungen von Universitäten (vgl. Ahrne und Brunsson 2011b, S. 87). Den Gewinn dieser Begriffsbildung dürften die Autoren darin sehen, auf diese Weise Übergänge von einem Phänomen zum anderen – eine nicht formal organisierte Protestbewegung wird zu einer organisierten Partei, aus einem Freundeskreis heraus wird ein Unternehmen gegründet – erfassen zu können. So nachvollziehbar das Interesse an einer konzeptionellen Erfassung solcher Übergangsphänomene ist, so unbefriedigend scheint es mir, nicht organisierte Sozialsysteme nicht in ihrer Eigenart, sondern primär als defizitäre Organisationen, als noch nicht komplett organisiert zu beschreiben. Darüber hinaus bleibt unklar, warum das ‚Wesen‘ formaler Organisation in der Kombination gerade dieser fünf Merkmale liegen sollte. Auffällig ist vor allem, dass mit Ziel- oder Zweckorientierung ein zentraler Aspekt formaler Organisationen nicht angesprochen wird (vgl. zur Kritik auch Tacke 2015, 285 ff.; Apelt et al. 2017).

Statt diese Kritik an dem Konzept der „partial organization“ hier zu vertiefen, genügt mir die These, dass der soeben skizzierte funktionalistisch-problembezogene Organisationsbegriff die von Ahrne und Brunsson erhoffte Leistung – konzeptionelle Erfassung der Übergänge von anderen Systemtypen zu formalen Organisationen und umgekehrt – erbringen kann, ohne die theorietechnischen Defizite der Definition von Organisation über eine mehr oder weniger willkürliche Auflistung von Merkmalen mit sich zu bringen. Der oben skizzierte funktionalistisch-problembezogene Organisationsbegriff erfasst diese Übergänge nicht durch Addition oder Subtraktion von Merkmalen, sondern, indem er den Grad der Formalisierung eines Sozialsystems als Variable behandelt: Je größer der Anteil formalisierter Erwartungen an einem Sozialsystem ist, je stärker also formalisierte Erwartungen die gesamte Erwartungsstruktur bestimmen, desto höher ist der Organisationsgrad des Sozialsystems. Dieser Begriffsgebrauch unterscheidet also zwischen der Formalstruktur eines Sozialsystems und dem Sozialsystem selbst, wobei konzeptionell vorausgesetzt wird, dass auch stark formalisierte Sozialsysteme immer auch nicht formalisierbare Erwartungen herausbilden und benötigen:

„[V]ielmehr wäre ein voll formalisiertes System gar nicht lebensfähig. Zur Orientierung einer Handlung gehören eine Fülle der verschiedensten Erwartungen, allgemeine kulturelle Typen ebenso wie kurzfristige, situationsgebundene Vermutungen, Kontinuitätserwartungen ebenso wie Erwartungen von Änderungen, Erwartungen, die auf Kenntnis allgemeiner Regeln und solche, die auf Kenntnis individueller Personen beruhen, Erwartungen über den Fortbestand einer sachlichen Umwelt von Gebäuden und ihren Einrichtungen und Erwartungen über die Verläßlichkeit menschlicher Einstellungen, Vertrauen in die Haltbarkeit von Knöpfen und in die Langsamkeit der Entwertung des Geldes. Diese Fülle orientierungsnotwendiger Erwartungen läßt sich nicht in einem System formalisieren.“ (Luhmann 1964b, S. 27 f.)

Der Bedarf eines sozialen Systems an der Formalisierung seiner Erwartungsstruktur wird also als variabel behandelt. In seiner Einführung des Organisationsbegriffs skizziert Luhmann (1964b, S. 21) diese Formalisierung einer Teilmenge der in einem sozialen System institutionalisierten Verhaltenserwartungen als einen Vorgang, „der sich aus elementaren menschlichen Kontakten heraus entwickelt, großartige neue Möglichkeiten des Systembaues eröffnet, dadurch aber Folgeprobleme auslöst.“ Man kann etwa an die Gruppe von Freunden denken, die ein Unternehmen gründen und nun nach und nach feststellen, welche ihrer Verhaltenserwartungen aneinander sie als Teil ihrer Rollen als Miteigentümer eines Unternehmens formalisieren wollen und müssen; oder an die Gruppe von Hobbyfußballern, die sich als Mannschaft für einen Spielbetrieb in einer Liga anmeldet und nun festlegen muss, dass die weitere Mitgliedschaft in der zuvor kaum formalisierten Gruppe an die Zahlung von Mitgliedschaftsbeiträgen oder die Anwesenheit bei Trainingseinheiten gebunden ist; oder an die lokale Bürgerinitiative, die einen Bedarf an einer koordinierten Außendarstellung gegenüber der Presse und politischen Entscheidern entwickelt und sich deshalb für die Vergabe von Mitgliedschaftsrollen entscheidet, die denjenigen vorbehalten ist, die unabhängig von ihrer je privaten Position zur Sache öffentlich einen bestimmten Forderungskatalog unterstützen; oder an eine Menge von Einzelpersonen, die als so genannte ‚Thief-Taker‘ im England des 17. und 18. Jahrhunderts im Auftrag der Opfer von Eigentumsdelikten auf dem Feld der Strafverfolgung aktiv sind, sich dann zu Gruppen zusammenschließen und ihre Zusammenarbeit schrittweise so weit formalisieren, dass im Laufe des 18. Jahrhunderts in England erste Organisationen entstehen, die als Vorläufer staatlicher Anklage- und Ermittlungsbehörden, also von Staatsanwaltschaften und Polizeien, angesehen werden können (siehe dazu Abschnitt 5.1).

Die Formalstruktur als Teilstruktur formalisierter Systeme, die Formalisierung sozialer Systeme als Variable und der Bedarf an Formalisierung als Reaktion auf allgemeinere Systemprobleme: Diese konzeptionellen Grundlagen des systemtheoretischen Organisationsbegriffs ermöglichen es, Übergänge von einem Systemtyp zu einem anderen Systemtyp – etwa von einer Gruppe oder Protestbewegung zur Organisation – zu beschreiben und in ihren Voraussetzungen und Folgeproblemen zu analysieren, ohne die Gruppe oder die Protestbewegung primär als unvollständige Organisationen, als noch nicht organisiert zu beschreiben. Funktionalistisch ist dieser Organisationsbegriff, weil er „Organisation“ als spezifische Problemlösung des allgemeineren Problems der Stabilisierung anspruchsvoller Verhaltenserwartungen einführt und nach den mit dieser Problemlösung einhergehenden Folgeproblemen fragt.

2.3 Problemzusammenhänge statt Merkmalslisten: Professionelle Arbeit als riskantes Handeln unter Handlungszwang

Mein drittes und letztes Beispiel einer problembezogen-funktionalistischen Begriffsbildung ist der Begriff der Professionen bzw. der professionellen Arbeit. Die in der Soziologie übliche Art der Einführung des Professionsbegriffs besteht darin, Professionen als Sonderform von Berufen zu bezeichnen (vgl. als Überblicksdarstellungen etwa Schützeichel 2007; Voß und Hagen 2010; Pfadenhauer und Sander 2010). Von Berufen überhaupt werden Professionen dann durch eine Liste von Merkmalen unterschieden, die als für professionelle Berufe spezifisch angesehen werden. Zu diesen Merkmalen zählen vor allem eine akademische Ausbildung und ein hoher gesellschaftlicher Status, die Arbeit an als gesellschaftlich besonders bedeutsam eingeschätzten Problemlagen wie Gesundheit, Rechtsschutz oder Seelenheil, die Unterdrückung von Konkurrenz innerhalb der Berufsgruppe, ein hohes Maß an Selbstorganisation der Berufsgruppe in eigenen Berufsverbänden, Grenzen der Standardisierbarkeit der Tätigkeit sowie die hohe Autonomie der Berufsgruppe gegenüber Laien ebenso wie gegenüber den Organisationen, in denen die professionellen Praktiker angestellt sind, also beispielsweise gegenüber dem Krankenhaus, der Kirche oder dem Gericht. Die klassischen Beispiele für Professionen sind Ärzte, Geistliche und Juristen, typische Beispiele für Ergänzungen der Liste professioneller Berufe sind Lehrer, Sozialarbeiter oder Wissenschaftler.

Diesen Ansatz, Professionen durch die Angabe der für sie spezifischen Merkmale von anderen Berufen zu unterscheiden, halte ich aus zumindest zwei Gründen für problematisch. Eine erste Schwäche dieser Begriffsbildung fällt schon bei dem Versuch auf, die Merkmale auf einzelne Berufe zu beziehen: Wann genau ist ein Status einer Berufsgruppe als hoch anzusehen? Wieviel Standardisierung einer Tätigkeit ist mit ihrer Bezeichnung als professioneller Arbeit kompatibel? Werden Krankenpfleger dadurch zu einer Profession, dass in Zeiten von Pandemien ihr gesellschaftliches Ansehen steigt oder Polizisten dadurch, dass ihre Ausbildung im Rahmen eines Bachelorstudiums vollzogen wird? Eine zweite Schwäche der Definition über eine Merkmalsliste liegt darin, dass die verschiedenen Einträge in diese Liste im Laufe der Themengeschichte bloß additiv angehäuft worden sind, ohne angeben zu können, warum gerade diese Merkmale das Wesen professioneller Arbeit ausmachen sollen. Deshalb kann der Merkmalsansatz auch keine Auskunft darüber geben, wie die verschiedenen Merkmale von Professionen miteinander zusammenhängen.

Der über die Angabe von Merkmalen gebildete Professionsbegriff dient so bestenfalls dazu, Berufe als Profession, Semi-Profession und Nicht-Profession zu kategorisieren (vgl. Etzioni 1969, 1964, S. 87 ff.). Möglich sind dadurch Rekonstruktionen der Veränderungsprozesse eines Berufs als Professionalisierung oder Deprofessionalisierung, womit in der Regel allerdings nicht viel mehr gemeint ist als – im Fall der Professionalisierungsdiagnose – die Akademisierung des Berufs oder – im Fall der Deprofessionalisierungsdiagnose – Verluste an Autonomie der beruflichen Praxis gegenüber der Organisation, dem Markt, dem Staat oder dem Laienpublikum.Footnote 2 Nicht geleistet wird auf diese Weise jedoch, mit der Begriffsbildung auch eine analytische Perspektive auf die Tätigkeiten der Professionellen, auf das Unterrichten des Lehrers, die Krankenbehandlung des Arztes oder die Verfolgungsfahrt des Polizisten zu entwickeln. Der Merkmalsbegriff von Professionen bleibt der professionellen Arbeit selbst oft äußerlich und dient in erster Linie zu einer Kategorisierung von Berufsgruppen nach mehr oder weniger kontingenten Merkmalen. Mir scheint auch mit Blick auf die aktuelle Literatur die von Fritz Schütze (1992) formulierte Diagnose zutreffend zu sein, dass sich weite Teile der professionstheoretischen Literatur mit dieser diffusen Gleichsetzung von Profession und Expertentum abgefunden haben und darauf verzichten, ihre Analysen in einem theoretisch gehaltvollen Begriff professioneller Arbeit zu fundieren.

Oevermann, Hughes, Luhmann: Die Probleme professioneller Arbeit

Die Möglichkeit, den Professionsbegriff problembezogen und in unmittelbarem Bezug auf die Ebene professionellen Handelns zu bilden, ist von Vertretern verschiedener Theorieschulen angedeutet worden. Besonders instruktiv erscheinen mir in dieser Hinsicht erstens Ulrich Oevermanns krisentheoretischer Zugang zu professioneller Arbeit, zweitens die Arbeiten aus der Reihe des symbolischen Interaktionismus bzw. der Chicago School, vor allem die Arbeiten von Everett C. Hughes und schließlich drittens die wenigen und bislang erst teilweise publizierten Texte Niklas Luhmanns zum Thema.

Ulrich Oevermann hat seine „revidierte Theorie professionalisierten Handelns“ (Oevermann 1996; vgl. Oevermann 1997, 2013; aus der Sekundärliteratur Garz und Raven 2015, S. 107–135) zumindest implizit am Modell der Psychotherapie entwickelt. Ausgangspunkt der Darstellung bei Oevermann sind typisch ‚Krisen‘ einer individuellen Lebenspraxis, die zu der freiwilligen Entscheidung der Person führen, die Hilfe eines Professionellen aufzusuchen. Die von Oevermann angesprochene Beschädigung der ‚Autonomie der Lebenspraxis‘ soll eine Situation beschreiben, in der die Person (zeitweise) nicht mehr in der Lage ist, die Krisen ihrer Lebenspraxis eigenständig zu bearbeiten und deshalb auf professionelle Unterstützung angewiesen ist. Stellvertretend ist diese Krisenbewältigung, weil der Professionelle seine Praxis an dem Ziel orientiert, die beschädigte Autonomie der Lebenspraxis wiederherzustellen – er vertritt sozusagen die zeitweise abwesende Autonomie des Laien, leistet Hilfe zur Selbsthilfe. Diese Hilfe zur Selbsthilfe kann auch beinhalten, im Sinne des langfristigen Interesses des Laien gegen sein kurzfristiges Interesse zu entscheiden, so etwa im Fall der Zwangsbehandlung in einer geschlossenen Psychiatrie. Zentral für Oevermanns Modell der Beziehung zwischen Professionellem und Laien, die er als „professionelles Arbeitsbündnis“ bezeichnet, ist also eine nicht-kontingente Sequenz: ​

  1. 1.

    Leidensdruck des Laien (des Patienten, des Klägers, des Gläubigen, …)

  2. 2.

    Dadurch freiwilliges Aufsuchen professioneller Hilfe

  3. 3.

    Dadurch Selbstverpflichtung des Laien, sich am Arbeitsbündnis zu beteiligen, sich gegenüber dem Professionellen zu öffnen und ihm zu vertrauen

Oevermanns Argument lautet also, dass die Freiheit des Laien, das Arbeitsbündnis zu verlassen, dazu führt, dass der Verbleib im Arbeitsbündnis dem Laien als eigene Entscheidung zugerechnet werden kann und dies wiederum mit der Erwartung an ihn einhergeht, sich mit eigenem Engagement am Arbeitsbündnis zu beteiligen. Wenn der Laie dagegen nicht durch eine eigene Entscheidung in das Arbeitsbündnis eintritt, kommt es laut Oevermann allenfalls zu einer teilweisen und defizitären Realisierung des professionellen Arbeitsbündnisses. Beispiele dafür sind die ärztliche Zwangsbehandlung, Schulen mit Schulpflicht,Footnote 3 die Verteidigung durch einen zugewiesenen Pflichtverteidiger im Strafprozess oder das Aufsuchen eines Therapeuten als Bewährungsauflage.

Mir kommt es an dieser Stelle nicht auf eine umfassende Diskussion der Oevermannschen Professionstheorie an, sondern nur darauf, dass Oevermanns Begriff professioneller Arbeit als stellvertretender Krisenbewältigung in einem professionellen Arbeitsbündnis ein gutes Beispiel für die analytischen Vorzüge funktionalistisch-problembezogener Begriffsbildung ist. Wie andere problembezogenen Begriffe leistet Oevermanns Begriff professioneller Arbeit mehr als die bloße Subsumtion eines Phänomens, zum Beispiel Krankenbehandlung oder Rechtsberatung, unter den Begriff. In Oevermanns Begriff professioneller Arbeit ist vielmehr bereits das Instrumentarium für die Analyse des professionellen Handelns eingeschrieben: Der krisenhafte Leidensdruck der Laien und der Grad der Freiwilligkeit ihrer Beteiligung am Kontakt mit dem Professionellen werden als die beiden zentralen Variablen postuliert, die erklären können sollen, ob und in welchem Maß die Konstitution eines professionellen Arbeitsbündnisses gelingt oder nicht gelingt.

Eine zweite Möglichkeit, den Begriff professioneller Arbeit – und von ihm abgeleitet den Begriff der Profession – nicht durch die Angabe von Merkmalen, sondern durch die Explikation spezifisch professioneller Problemlagen zu bilden, lässt sich in Anschluss an Texte von Everett C. Hughes und Niklas Luhmann erarbeiten. Da ich diesen an Hughes und Luhmann anschließenden Professionsbegriff in Kapitel 9 im Rahmen der Analyse der Berufsgruppensolidarität unter Polizisten ausführlich entwickle und verwende, sei hier nur auf ein aus dem Nachlass veröffentlichtes Manuskript Luhmanns verwiesen, das die Technik problembezogener Begriffsbildung gut veranschaulicht. In einem kurzen Abschnitt aus der „Systemtheorie der Gesellschaft“ analysiert Luhmann professionelle Berufsrollen als ein „Lösungsmuster“ (Luhmann 2017, S. 404) einer spezifischen Problemkonstellation: Das „Bezugsproblem“ professioneller Arbeit sieht er in der Arbeit an Problemlagen mit „hoher Mißerfolgswahrscheinlichkeit und hoher Relevanz“. Diese Kombination – für die der behandelnde Arzt bei einer komplizierten Operation und der Strafverteidiger in einem Strafprozess paradigmatische Beispiele sind – führe dazu, dass „mit dem sachlichen Risiko“ des Scheiterns „auch das soziale Risiko des Handelns“ wächst, „nämlich die Gefahr, daß ein Scheitern in der Sache zur Bestrafung, Ausstoßung oder Ablehnung dessen führt, der gehandelt hat und dadurch Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte“ (Luhmann 2017, S. 403).

Der von Luhmann hier angedeutete problembezogen-funktionalistische Begriff professioneller Arbeit sieht in dem sozialen Risiko der Verantwortlichkeit für Fehlleistungen also das zentrale Problem, auf das die Ausdifferenzierung und Institutionalisierung professioneller Berufsrollen und Berufsgruppen als Lösungsmuster reagiert: Als Mitglied einer professionellen Berufsgruppe mit Lizenz und Mandat zur Ausübung bestimmter Tätigkeiten (Hughes 1958) ist der Handelnde nicht mehr für alle möglichen Misserfolge seines Handelns persönlich verantwortlich. Persönlich verantwortlich gemacht werden kann der Professionelle nur für eine Teilmenge erfolglosen Handelns, nämlich nur dann, wenn ihm ein eindeutiger Kunstfehler nachgewiesen werden kann: „Der Arzt haftet nicht für den Tod seines Patienten, der Anwalt nicht für den verlorenen Prozeß – es sei denn, daß ihm ein schuldhafter Verstoß gegen Regeln der Berufsausübung nachgewiesen wird“ (Luhmann 2017, S. 405; vgl. Hughes 1951). Professionsbildung sozialisiert mithin die sozialen Risiken des Handelns unter Bedingungen hoher Mißerfolgswahrscheinlichkeit und macht dadurch die Bereitschaft zur Übernahme entsprechender Berufsrollen wahrscheinlicher. Professionsbildung bearbeitet damit ein Problem, auf das in anderer Weise auch das Handeln in der Rolle als Mitglied eines formal organisierten Systems reagiert: sie dient der „Entlastung von einem persönlich untragbaren Risiko im Bereich des sozialen Handelns, wo man den Erfolg selten alleine in der Hand hat“ (Luhmann 1964b, S. 61).

Professionalisierungsbedürftig – um ein Wort von Ulrich Oevermann (u. a. 2002) aufzugreifen – sind aus Sicht von Hughes und Luhmann also solche Tätigkeiten, denen gesellschaftlich hohe Relevanz zugeschrieben wird und deren Ausübung mit einem hohen Risiko persönlich zurechenbarer Fehlleistungen einhergeht. Krankenbehandlung und die Durchführung polizeilicher Einsätze sind Beispiele unter anderen. Vor dem Hintergrund dieser problembezogenen Perspektive auf professionelles Handeln, zu der Oevermann, Hughes und Luhmann auf verschiedene Weise beigetragen haben, werde ich in Kapitel 9 über die polizeiliche Dienstgruppe als einer solidarischen „Versicherungsgemeinschaft“ den Vorschlag ausarbeiten, dass professionelle Arbeit in ihrem Kern mit einer spezifischen Problemkonstellation konfrontiert ist: Entscheidungszwang (Krise) auf sachlogisch notwendig unsicheren Handlungsgrundlagen (Technologiedefizit) mit Folgen, die gesamtgesellschaftlich als hochgradig bedeutsam eingeschätzt werden. Unabhängig von diesem spezifischen Begriffsvorschlag kam es mir an dieser Stelle zunächst allerdings nur darauf an, zu zeigen, dass eine problembezogene Definition des Begriffs professioneller Arbeit den Vorzug hat, mit der Begriffsbildung zugleich eine instruktive Analyseperspektive bereitzustellen: Von Oevermann aus gesehen ein Fokus auf Krisen der Lebenspraxis als Katalysator des professionellen Arbeitsbündnisses, von Luhmann und Hughes aus gesehen ein Fokus auf die Frage, wie das Risiko persönlich zurechenbaren Misserfolgs durch Professionsbildung sozialisiert wird.

2.4 Zwischenfazit: Problembegriffe als Instrumente systemtheoretischer Forschung

In diesem Abschnitt habe ich drei Beispiele für die Theorietechnik funktionalistisch-problembezogener Begriffsbildung diskutiert: Zunächst die Bestimmung der Identität gesellschaftlicher Teilsysteme über ein für sie zentrales Bezugsproblem und anschließend die konzeptionelle Fassung formaler Organisationen und professioneller Berufsgruppen als im Zuge gesellschaftlicher Evolution entwickelte Lösungsmuster zur Generierung von Erwartungssicherheit in Bezug auf hochgradig unwahrscheinliche Verhaltenserwartungen einerseits, zur Steigerung der Bereitschaft von Personen zur Übernahme von Aufgaben mit hohem Risiko des persönlich zurechenbaren Misserfolgs andererseits. In allen drei Fällen scheint mir ein theorietechnischer und forschungspraktischer Vorzug dieser Art der Begriffsbildung darin zu liegen, dass er Klarheit und Einfachheit des Begriffs verbindet mit einer Offenheit für die mit ihm beschreibbaren empirischen Phänomene. Der problembezogene Begriff der Wirtschaft als gegenwärtiger Sicherstellung der Befriedigung zukünftiger Bedürfnisse erfasst das Wirtschaften in wenig differenzierten Stammesgesellschaften ebenso wie die kapitalistische Markt- und die sozialistische Planwirtschaft; und der problembezogene Begriff professioneller Arbeit ist nicht an den kontingenten Merkmalen der „stolzen Berufe“ (Hughes 1970) abgelesen und kann deshalb genutzt werden, um auch bislang nicht im Fokus der Professionssoziologie stehende Tätigkeiten wie diejenige der Polizisten mit dem Instrumentarium der Professionssoziologie zu analysieren.

Neben dieser Kombination von konzeptioneller Klarheit und gegenstandsbezogener Offenheit ist der zweite Vorzug, dass funktionalistisch-problembezogene Begriffe mehr leisten als die bloße Klassifikation empirischer Phänomene etwa als „partial organization“ (Ahrne und Brunsson 2011b) oder „semi-profession“ (Etzioni 1964, S. 87 ff., 1969). Die primäre Funktion funktionalistisch gebildeter Begriffe liegt nicht in klassifikatorischer Sortierleistung, sondern darin, eine spezifische analytische Perspektive an das fragliche Phänomen heranzutragen, es also unter dem Blickwinkel einer theoretisch angereicherten Fragestellung zu betrachten. Um dafür weitere Beispiele zu nennen, sei hier nur auf zwei Fragestellungen verwiesen, die ich in diesem Buch behandeln werde: Der problembezogene Organisationsbegriff eröffnet in Kapitel 5 die Frage, auf welches gesellschaftliche Problem die allmähliche Verorganisierung der Strafverfolgung in England im 17. und 18. Jahrhundert reagiert. Und der problembezogene Professionsbegriff eröffnet in Kapitel 9 die Frage, wie polizeiliche Dienstgruppen das für professionelle Arbeit spezifische Problem des Handlungszwangs unter Unsicherheit bearbeiten und wie sie das mit ihrer Arbeit verbundene Risiko des Misserfolgs sozialisieren.

3 Äquivalenzfunktionalismus als Methode soziologisch disziplinierter Sozialkritik

Die dritte Funktion des Äquivalenzfunktionalismus, so meine in diesem Kapitel vertretene These, liegt in der Bereitstellung eines Vokabulars und eines Verfahrens zur soziologisch disziplinierten Bewertung verwirklichter und möglicher Problem-Lösungszusammenhänge. Luhmann hat das normative Potenzial des Äquivalenzfunktionalismus in seinen Analysen zwar durchgehend zur Anwendung gebracht, aber nur in seinen frühen Arbeiten explizit thematisiert, besonders instruktiv und pointiert an einer Stelle aus seiner „Theorie der Verwaltungswissenschaft“:

„Systemkonzeption und Methode [gemeint ist der Äquivalenzfunktionalismus, M.W.] tragen zusammen dazu bei, die Kluft zwischen empirisch-feststellender und rational-normierender Betrachtungsweise zu überbrücken. Der skizzierte Forschungsansatz läßt sich keiner dieser Perspektiven einordnen. Er ist ihrer Trennung vorgelagert und läßt sich für beide Arten von Zielsetzungen verwenden: zur Untersuchung der empirischen Frage, welche Handlungsmöglichkeiten bestimmte Funktionen mit welchen Folgeproblemen erfüllen oder erfüllen können; und zur Beantwortung der Frage, welche Handlungen in bestimmten konkreten Systemen systemrational sind, das heißt: als Beitrag zur Lösung der Probleme dieses Systems empfohlen werden können.“ (Luhmann 1966b, S. 111 f.)

Die neuere Diskussion über die soziologische Systemtheorie hat diese zuvor nicht nur ignorierte, sondern explizit bestrittene normative Seite der Theorie Luhmanns herausgearbeitet.Footnote 4 Vor dem Hintergrund dieser breiteren Diskussion ist es der Anspruch dieses Abschnittes, den bisher erreichten Stand der Diskussion auf das empirische Feld der Polizeiarbeit zu beziehen und so die Möglichkeiten und Grenzen systemtheoretischer Sozialkritik anschaulich zu explizieren.

3.1 Überlegungen zur Methodologie systemtheoretischer Kritik anhand der Frage, ob und wann die (Kriminal-)Polizei das Recht brechen sollte, um es durchzusetzen

Soziologisch disziplinierte Sozialkritik, etwa in ihrer hier vertretenen äquivalenzfunktionalistisch-systemtheoretischen Variante, tritt mit dem Anspruch auf, die bereits vorhandenen, gewissermaßen vorsoziologischen Bewertungen sozialer Sachverhalte ihrerseits zu bewerten und diesen Bewertungen bei Bedarf eigene Bewertungen hinzuzufügen (vgl. ausführlich Weißmann 2020). Als in einem beobachteten Feld sozialer Handlungen, etwa dem Feld der Polizeiarbeit, selbst nicht durch Handlung involvierte Beobachter können sich Soziologinnen und Soziologen beispielsweise um eine eigenständige Antwort auf die Frage bemühen, ob und inwiefern die Regelbrüche eines Handelnden, etwa eines Polizisten, in konkreten Fällen nicht bloß Regelbrüche sind, sondern von der Funktion des die deviante Handlung umfassenden Sozialsystems, etwa der lokalen Polizeibehörde oder des Rechtssystems einer Gesellschaft, her gesehen sinnvolle und vielleicht sogar unverzichtbare Regelbrüche. Um Fragen dieser Art stellen und bearbeiten zu können, müssten die soziologischen Beobachter die Brauchbarkeit einer Illegalität allerdings nach Kriterien beurteilen können, die weder exklusiv der Sicht des Handelnden noch exklusiv derjenigen der manifesten Rechtsordnung entnommen sind.

In seiner „Rechtssoziologie“ traut Luhmann sich in Bezug auf Polizeiarbeit ein Urteil dieser Art zu. Zunächst entwickelt er ausgehend von den auch für meine Arbeit anregenden Arbeiten von Jerome H. Skolnick (1966; Skolnick und Woodworth 1967) die Hypothese einer systematischen Spannung zwischen ‚Regeltreue‘ und ‚Erfolg‘ in der Polizeiarbeit. Gemeint ist damit, dass Polizisten und Polizeien in Rechtsstaaten systematisch mit zwei zueinander spannungsreichen Erwartungstypen konfrontiert sind: Einerseits mit der Erwartung, dass ihre Maßnahmen in Einklang mit den in Polizeirecht, Strafprozessordnung und Polizeidienstvorschriften festgelegten Normen stehen und andererseits mit der Erwartung, die sich ihnen stellenden ordnungs- und kriminalpolizeilichen Problemlagen effizient zu bearbeiten.

„Wie SKOLNICK beobachtet hat, gewinnt die Polizei in dieser Problemlage ein eigenes System-, Arbeits- und Grenzbewußtsein, von dem aus die Welt des geschriebenen Rechts, namentlich des Verfahrensrechts, als Umwelt behandelt und moralisch neutralisiert werden kann. Der Arbeitserfolg, an dem die Polizei in der Öffentlichkeit gemessen wird, vor allem die Eindämmung ernsthafter Kriminalität und die Herstellung eines öffentlichen Anscheins von Ordnung, suggeriert zum Teil außerlegale, wenn nicht rechtswidrige Mittel, vor allem bei der Verfolgung eines noch ungewissen Verdachts und bei der Sicherstellung von Beweismitteln. Der Verzicht darauf wird als schwer verständliche, verständnislose Umweltforderung gebucht. Vom Standpunkt einer solchen Zweckorientierung aus drängt es sich auf, die Rechtsdurchführung, die als Zweck ohnehin nur teilweise erfüllt werden kann, auch taktisch selektiv zu behandeln.“ (Luhmann 1972, S. 277 f.)

Einige Absätze später formuliert Luhmann in Bezug auf ‚Deals‘ in der Rechtsdurchsetzung, also in Bezug auf den Verzicht des staatlichen Erzwingungsstabs auf die volle Härte des Rechts als Mittel der Erzeugung der Kooperationsbereitschaft des polizeilichen Gegenübers:

„Abstrakter formuliert handelt es sich hierbei um eine Mitdurchsetzung von erforderlichen, aber nicht erzwingbaren Aspekten des Rechtsdurchsetzungsprozesses, die mit einem quasi tauschförmigen Verzicht auf nicht (oder nicht so sehr) erforderliche, aber erzwingbare Aspekte erkauft werden." (Luhmann 1972, S. 279)

Formulierungen dieser Art zeigen, wie voraussetzungsreich soziologisch-funktionalistische Urteile über die (Un)Brauchbarkeit (il)legalen Handelns sind. Luhmanns Urteil setzt ein Urteil darüber voraus, welche Aspekte des „Rechtsdurchsetzungsprozesses“ verzichtbar sind und welche nicht. An dieser Stelle hält er die Gewinnung einer Information über Straftaten für unverzichtbar, die universalistische Anwendung des Rechts auf den Straftäter, der zugleich potenzieller Informant ist, dagegen für verzichtbar. Wie bei normativen Fragen auf diesem Abstraktionsniveau üblich, gibt es gute Gründe für Luhmanns Urteil ebenso, wie es gute Gründe gibt, den „Handel mit der Gerechtigkeit“ (Schumann 1977) negativer zu beurteilen.Footnote 5 Wenn an dieser für das Verfahren der Kritik zentralen Stelle also Dissens und Unsicherheit herrscht – wie ist systemtheoretische Kritik dann möglich?

3.2 Gütekriterien systemtheoretischer Kritik

Meine Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit soziologisch disziplinierter Kritik trotz fehlendem gesellschaftsweitem Konsens bezüglich normativer Maßstäbe beruht auf der Überlegung, dass die Leistung systemtheoretischer Kritik nicht oder jedenfalls nicht in erster Linie darin besteht, einzelne normative Sätze mit Wahrheitsanspruch zu begründen, sondern darin, eine soziologisch informierte Perspektive auf normative Fragen bereitzustellen. Anders formuliert: In Anschluss an eine soziologische Analyse einer empirischen Konstellation, etwa des Einsatzes von Informanten in der Polizeiarbeit (Kapitel 5 und 6) oder des polizeilichen Korpsgeistes (Kapitel 9) gewinnen bestimmte normative Urteile an Plausibilität, die aus Sicht etwa der in den Massenmedien prominenten Perspektiven auf das gleiche Phänomen wenig Plausibilität genießen – und umgekehrt. Diese Bereitstellung einer normativ instruktiven Perspektive durch soziologische Analysen kann allerdings nur gelingen, wenn die Analyse auch in normativen Fragen Distanz zu den Privatmeinungen der Analysierenden einnimmt, wenn sie sich mithin um eine fachliche Disziplinierung ihrer Wertungen bemüht. Die Praxis soziologisch-systemtheoretischer Kritik bedarf also einer vom einzelnen Autor ablösbaren Vorgehensweise, einer Methode. Eine methodisch kontrollierte systemtheoretische Kritik muss nach meinem Verständnis insbesondere die folgenden drei Gütekriterien erfüllen.

Erstens: Die Begrenzung aller Wertungen auf jeweils anzugebene Systemreferenzen oder Bezugsprobleme, deren Wahl zwar theoretisch angeleitet ist, der aber typisch auch außerwissenschaftliche Motive zu Grunde liegen. Dies schadet der Rationalität möglicher Wertungen prinzipiell nicht, sollte im Prozess der Kritik aber reflektiert werden. Die Systemreferenz im hier diskutierten Beispiel illegaler polizeilicher Maßnahmen ist das (nationalstaatliche) System der Rechtsanwendung – und nicht etwa nur eine einzelne Polizeibehörde oder ein einzelner Polizist, der seine Arbeit erledigen muss. Diese Forderung nach einer konsequenten Explikation der Systemreferenz, auf die normative Urteile bezogen werden, entspricht Mertons (1957, S. 33) oben erläuterter Kritik am „Postulat der funktionalen Einheit“.

Zweitens: Normative Symmetrie in dem Sinne, dass soziale Sachverhalte (im Kontext bestimmter sozialer Systeme) konsequent auf ihre Funktionen und Dysfunktionen hin untersucht werden. Die Analyse steht dabei nicht in der Pflicht, am Ende zu einem eindeutigen Gesamturteil, zu einer von Merton (1957, S. 48) noch optimistisch in Aussicht gestellten Berechnung der „Nettobilanz der Gesamtfolgen“ des Sachverhalts zu kommen. In dem hier diskutierten Fall bedeutet dies, dass die soziologische Analyse die in Frage stehenden Rechtsbrüche der Polizei nur dann als „umsichtig lavierende Praxis“ loben sollte, wenn sie dabei nicht ausblendet, dass eben diese Praxis „stets in Gefahr ist, den Gleichheitsgrundsatz zu verletzen und mangels sicherer Kontrolle über Kausalverläufe in persönliche oder politische Willkür auszuarten“ (Luhmann 1972, S. 279). Abstrakter formuliert ist es ein Gütekriterium systemtheoretischer Kritik, eine Strukturwahl eines bestimmten Sozialsystems – etwa die Entscheidung zur Legalisierung von ‚Deals‘ in einem Justizsystem – dadurch zu beurteilen, dass sie mit anderen wirklich möglichen Strukturentscheidungen dieses Systems verglichen wird. Die erste und wichtigste Aufgabe der Kritik liegt dabei in der Konstruktion verschiedener ‚Pakete‘ von Problemlösungen, also in der Identifikation möglicher Strukturentscheidungen und ihrer jeweiligen Vorzüge und Folgeprobleme. Die theoretische Konstruktion und der Vergleich dieser Problem-Lösungs-Pakete kann zu einer Erweiterung und Strukturierung des Möglichkeitshorizontes des jeweiligen Sozialsystems beitragen.

Drittens: Ein mit dem Postulat normativer Symmetrie zusammenhängendes Selbstverständnis systemtheoretischer Kritik, demzufolge eine gewisse Unsicherheit aller Urteile über (Un)Brauchbarkeit, mithin Ambivalenz im Urteil, keine Schwäche, sondern eine spezifische Stärke wissenschaftlicher Kritik ist. Akademische Sozialkritik verdankt ihrer sozialen Verortung eine Lizenz zu nüchterner Kritik und die Erlaubnis, auf eindeutige Parteinahmen zu verzichten, wo ihr dies der Sache nach geboten erscheint. Dies ist sehr häufig der Fall, und zwar als soziologisch wiederum rekonstruierbare Folge der Mehrzahl der Folgen konkreter Selektionen und der Vielzahl der auch vom fraglichen Sozialsystem her gesehen sinnvollen Wertgesichtspunkte, an denen sie gemessen werden können. Prinzipiell dürfte gelten, dass die Unsicherheit und Ambivalenz normativer Urteile in dem Maße zunehmen muss, in dem die Analyse ihren Horizont zeitlich, sachlich und sozial ausdehnt, also auch langfristige Funktionen und Folgeprobleme von Strukturentscheidungen unter mehreren Wertgesichtspunkten und für mehrere oder komplexere Sozialsysteme zu berücksichtigen versucht.

Es ist hier nicht der Ort, die Methode systemtheoretischer Kritik im Detail zu diskutieren. Zentral für dieses Verfahren ist jedenfalls der Ausgangspunkt, das ansonsten oft in Werten wie Freiheit oder Gerechtigkeit gesuchte „begründende Absolute“ – das Kriterium oder der Maßstab der Kritik – nur noch in der „Funktionsfähigkeit der Systeme“ zu sehen (Luhmann 1965a, S. 216), an der gemessen das Maß der Brauchbarkeit von Selektionen (von Handlungen, Systemstrukturen, systemrelativen Umweltentwürfen), etwa auch das Maß rationaler Selbstwidersprüchlichkeit sozialer Systeme (vgl. dazu Weißmann 2017b), zu einer abhängigen Variable wird. „Funktionale Analysen“, so auch Luhmanns (1968a, S. 244) eigene Überlegung, geben „gerade der Kritik einen Maßstab, mit Hilfe dessen sie Pauschalverurteilungen ganzer ‚Systeme‘ vermeiden und unterscheiden kann, welche Leistungen in bestimmten Systemen gegen andere ausgewechselt werden können.“

In der oben zitierten Passage der Rechtssoziologie ist es Luhmanns Bestimmung der Funktion des Rechts, die ihn in seinen Urteilen über die Brauchbarkeit formaler Rechtsnormen, informaler Normen der Rechtsanwendung sowie einzelner rechtsanwendender Handlungen anleitet. In Bezug auf ‚Deals‘ (seien sie legal oder illegal) hat Luhmann also genau dann Anlass zu negativer Wertung, wenn die Durchführung der Deals die Funktionserfüllung des Rechts – Stabilisierung normativer Verhaltenserwartungen auch bei regelmäßigen Abweichungen – gefährdet:

„Es gibt Autoren [gemeint ist: Heinrich Popitz, M.W.], die darin eine Einschränkung der ‚Geltung‘ des Rechts sehen. Wir würden das Problem in möglichen Gefährdungen der Funktion des Rechts sehen, die durch die abstrakte, auf ein Entweder/Oder gestellte Geltungsvorstellung symbolisiert wird.“ (Luhmann 1972, S. 280)

Der „Handel mit der Gerechtigkeit“ (Schumann 1977) wird von Luhmann also erst dann negativ beurteilt, wenn er zu große Schäden am Vertrauen unbestimmter Dritter in den Universalismus des Rechts nach sich zieht. Der Gleichheitsgrundsatz kann zuweilen verletzt werden, so lange seine Verletzungen verborgen bleiben oder als Ausnahmen von der Regel plausibilisiert werden können.Footnote 6 Gelingt es nicht, die Abweichungen von den Versprechungen des Rechts zu verbergen oder zu legitimieren, könnte die Nichtdurchsetzung geltenden Rechts „antizipiert werden und … sich dann seuchengleich ausbreiten.“Footnote 7

3.3 Gegen zwei Selbsttäuschungen der zeitgenössischen Systemtheorie: Funktionalistische Kritik als normatives Projekt auf unsicheren Beinen

Luhmanns Beitrag zu der hier exemplarisch aufgeworfenen Frage, wann die (Kriminal-)Polizei das Recht brechen sollte, um es durchzusetzen, führt also zu einer eindeutigen, aber problematischen Antwort. Rechtsbrüche in der Rechtsanwendung erscheinen dem Systemtheoretiker als rational oder gar unverzichtbar, insofern sie der gesellschaftlichen Funktionserfüllung des Rechtssystems dienlich sind. So klar diese Antwort auch ist, so unmöglich sind in den nicht ohnehin eindeutigen und deshalb weniger interessanten Fällen überzeugende Antworten auf die Frage, ob im Einzelfall beispielsweise eine unrechtmäßige Wohnungsdurchsuchung oder die unrechtmäßige Androhung von Gewalt im Zuge der Vernehmung eines Beschuldigten (vgl. Luhmann 1993b, S. 228) in ihrer „Nettobilanz der Gesamtfolgen“ (Merton 1957, S. 48) zu einer irgendwie besseren Funktionserfüllung des Rechts führt oder nicht.

Zu einer Beurteilung solch spezifischer Fälle von (un)brauchbarer Illegalität hat die Systemtheorie nach meinem Eindruck wenig beizutragen. Der Gewinn systemtheoretischer Kritik liegt eher darin, normative Distanz zu den institutionalisierten Strukturen und Werthaltungen, vor allem zu einer Ideologie unbedingter Regeltreue, zu gewinnen. Statt Rechtsanwendung legalistisch exklusiv an Rechtsnormen zu messen, legt die systemtheoretische Perspektive ihren normativen Urteilen mit der Funktion des Rechts ein systemspezifisches, aber nicht mit der manifesten Systemstruktur identisches Kriterium zu Grunde. Das Konzept, in dem diese Kombination einer normativen Distanz zu der jeweiligen manifesten Systemstruktur mit einer für den Zeitraum der Analyse eingenommenen Haltung der Loyalität zu den „Gesamtbedürfnissen des Systems“ (Luhmann 1962, S. 19; vgl. Weißmann 2020) am prägnantesten zum Ausdruck kommt, hat Luhmann unter der Formel „brauchbarer Illegalität“ in seiner frühen Organisationssoziologie entwickelt. Das Konzept erfreut sich bis heute anhaltender Beliebtheit unter Systemtheoretikern (vgl. etwa Kieserling 2015b; Tacke und Kette 2015; Osrecki 2015; Kühl und Wallrabenstein 2018; Kühl 2020), wird aber nur selten als Anwendungsfall soziologischer Sozialkritik diskutiert und methodisch problematisiert. Für meine Arbeit mit dem Konzept brauchbarer Illegalität bzw. funktionaler Devianz sind zwei Auffassungen zentral, die in der vorliegenden Literatur oft nicht hinreichend gewürdigt werden:

Erstens gehe ich davon aus, dass es sich bei Urteilen über Funktionalität und Dysfunktionalität um wertende Urteile handelt, also um einen anderen Typ von Urteilen als etwa die Feststellung mit rein deskriptivem Anspruch, dass Interaktionen mit mehr als sechs (oder fünf oder neun) Teilnehmern dazu tendieren, in Subsysteme zu zerfallen. Das widerspricht der auch unter Systemtheoretikern vorherrschenden Selbstbeschreibung ihrer Theorie als werturteilsfreier Theorie, die Luhmann selbst nicht geteilt hat (vgl. dazu allgemein Weißmann 2015b, 2020). Diese Korrektur der Selbstbeschreibung der Theorie scheint mir eine Voraussetzung dafür zu sein, dem Vorwurf des ‚Krypto-Normativismus‘ durch die Explikation einer Methode systemtheoretischer Kritik begegnen zu können. Mit einer solchen Methode im Rücken ist es dann möglich, auf Wertungen nicht aus Angst vor dem Vorwurf des Normativismus zu verzichten oder sie als vermeintlich deskriptive Aussagen zu tarnen, sondern Wertungen reflektiert und diszipliniert durchzuführen, wozu natürlich auch gehört, Wertungen dosiert einzusetzen. Eine solche (selbst)bewusst praktizierte soziologische Kritik ist nach meinem Verständnis keine Ersetzung, sondern eine Ergänzung und Erweiterung des Kerngeschäfts der Disziplin, den Zustand der Sozialwelt zu beschreiben und zu erklären. Deshalb führt das Programm einer irgendwie auf ‚Kritik‘ spezialisierten „Kritischen Systemtheorie“ (Amstutz und Fischer-Lescano 2013) meines Eindrucks nach in eine für die Theorieentwicklung unproduktive Richtung, da die Theorie selbst nicht ‚kritisch‘ sein oder werden muss, um Grundlage und Werkzeug soziologisch disziplinierter Kritik zu sein: systemtheoretische Kritik also statt Kritischer Systemtheorie (vgl. Weißmann 2020).

Zweitens gehe ich davon aus, dass Urteile über Funktionalität per se auf unsicheren Beinen stehen und deshalb nicht als Verkündung der Wahrheit, sondern als (disziplinierte) Irritation ‚offizieller‘ oder weit verbreiteter Wertungen gelesen und formuliert werden müssen, in dem hier diskutierten Fall als soziologisch disziplinierte Irritation der juristischen oder in den Massenmedien prominenten Perspektive auf Rechtsanwendung. Dass diese ‚Unsicherheit der Kritik‘ in der Regel keine Schwäche, sondern eine Tugend systemtheoretischer Kritik ist, hängt mit der Vielzahl miteinander konkurrierender Wertgesichtspunkte in jedem Sozialsystem zusammen. Illegales Handeln mag etwa in einem konkreten Fall die Schwächen der Formalordnung ausgleichen und insofern brauchbar sein, ist aber zugleich aus verschiedenen Gründen auch unbrauchbar: Die Verheimlichung der Illegalität verbraucht Kapazitäten des Systems, illegales Handeln ist schwer zu rationalisieren und seine immer mögliche Aufdeckung und Skandalisierung kann schwer einkalkulierbare Folgekosten nach sich ziehen.Footnote 8 Angesichts dieser durch die Beschaffenheit der ‚Gegenstände‘ der Soziologie induzierten Unsicherheit rationaler Sozialkritik ist es ein Vorzug wissenschaftlich informierter Kritik, normative Ambivalenz nicht dezisionistisch zu verdunkeln, sondern Funktionen und Dysfunktionen kontingenter Selektionen gleichermaßen zu würdigen, ohne sie sogleich gegeneinander aufzurechnen.

Die damit formulierte Forderung, sich als Soziologe seines Lasterlobs in Form eines Lobs des Regelbruchs und der Devianz nicht zu sicher zu sein, dürfte in Bezug auf Rechtsbrüche in der polizeilichen Rechtsanwendung in besonderem Maß plausibel sein, da diese Rechtsbrüche mit teilweise intensiven Eingriffen in die Freiheitsrechte von Bürgern einhergehen, es mithin offensichtliche Gründe dafür gibt, in der durch Rigidität und Regeltreue ermöglichten Rechtssicherheit eine prinzipiell schützenswerte Sache zu sehen. Die Beweislast dafür, dass die durch Illegalität gelösten Probleme zentrale Systemprobleme sind, und, dass sie nicht auch auf legalem Weg zu lösen sind, muss deshalb – so mein Vorschlag für eine methodisch kontrollierte Praxis systemtheoretischer Kritik – bei dem Kritiker rigider Regeleinhaltung liegen. Wenn sich systemtheoretische Kritik auf diese Weise selbst zu disziplinieren vermag, dann liegt ihre primäre Leistung als Methode nicht in der Formulierung wissenschaftlich abgesicherter Werturteile, sondern darin, normative Fragen in Kontakt zu empirischer Forschung und soziologischer Theoriebildung überhaupt aufwerfen und diskutieren zu können, ohne dabei sofort den für die Diskussion von Regelbrüchen in den Massenmedien üblichen BlickbeschränkungenFootnote 9 unterworfen zu sein.

Ein gutes Beispiel dafür, dass die Leistung systemtheoretischer Kritik als einer besonderen Spielart soziologisch-funktionalistischer Kritik weniger in der Begründung einzelner normativer Sätze, sondern eher in der Bereitstellung einer normativ bedeutsamen Perspektive liegt, findet sich auch in Luhmanns späterer Rechtssoziologie an einer Stelle, an der er das Problem der Exklusion ganzer Bevölkerungsgruppen aus dem Recht thematisiert. Die gewöhnliche Thematisierung der Exklusion etwa bestimmter Ethnien oder Schichten würde diesen Sachverhalt als Verstoß gegen den Universalismus des Rechts und die Menschenrechte beklagen und deren Beachtung einfordern. Luhmann hingegen betont am Sachverhalt der Exklusion ganzer Bevölkerungsgruppen aus dem Recht vor allem ein Folgeproblem für die Funktionsfähigkeit des Rechts selbst: Der aus dem Recht exkludierten Bevölkerungsgruppe wird mit ihrer Exklusion jedes Motiv genommen, die Unterscheidung von Recht und Unrecht in ihrem Handeln in Rechnung zu stellen, wodurch die Funktionserfüllung des Rechts, normative Erwartungen auch bei abweichendem Handeln zu stabilisieren, gefährdet wird (Luhmann 1993a, S. 585). Die Funktion des in Frage stehenden Sozialsystems dient also auch in diesem Fall als Horizont der Kritik und eröffnet dadurch eine Perspektive, die erstens über den Abgleich von Norm und Wirklichkeit hinausführt und die sich zweitens von einer Wiederholung der Perspektive einzelner Teilnehmerinnen des in Frage stehenden Handlungszusammenhangs unterscheidet.

Auf die von Howard S. Becker (1967) aufgeworfene Frage, „whose side are we on?“ hat die systemtheoretische Soziologie als Analyse und Kritik des Sozialen also eine durchaus instruktive Antwort: Zumindest ihres Anspruchs nach steht sie auf Seiten des jeweiligen Sozialsystems, mit dessen zentralen Bezugsproblemen oder „Gesamtbedürfnissen“ (Luhmann 1962, S. 19) sie sich für den Kontext der jeweiligen Analyse (!) gemein macht. Um der plausiblen Forderung Howard S. Beckers zu genügen, die Leserinnen soziologischer Analysen darüber zu informieren, aus welchem „Blickwinkel“ (Becker 1967, S. 21) die jeweilige Analyse (und Kritik) verfasst worden ist, müsste die systemtheoretische Soziologie jedoch häufiger und deutlicher als bislang üblich herausarbeiten und reflektieren, dass diese Wahl von Systemreferenzen eine zwar nicht beliebige, aber doch kontingente Entscheidung ist, in die regelmäßig auch außerwissenschaftliche Werte einfließen (vgl. Weißmann 2020). Schließlich unterscheiden sich die Themen und Thesen einer soziologischen Analyse (und Kritik) beispielsweise von Polizeiarbeit deutlich in Abhängigkeit von der Frage, ob die zentrale (System-)Referenz der Analyse das Rechtssystem der Gesellschaft, eine lokale Polizeibehörde, die Interaktionssituation der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung oder bestimmte Kategorien von Nichtmitgliedern der Polizei sind, die etwa als Demonstranten, Beschuldigte, Informanten oder Opfer von Eigentumskriminalität in Kontakt mit Polizeibehörden geraten.

4 Schluss: Äquivalenzfunktionalismus als Methode soziologischer Forschung

Die These dieses Kapitels war, dass der von Niklas Luhmann in Anschluss unter anderem an Robert King Merton entwickelte Äquivalenzfunktionalismus als Methode der soziologischen Rekonstruktion empirisch realisierter Problem-Lösungszusammenhänge in der Sozialwelt unvollständig charakterisiert ist. Um der Breite der Verwendung des Äquivalenzfunktionalismus in der soziologischen Forschung Rechnung zu tragen, habe ich drei zentrale Funktionen des Äquivalenzfunktionalismus unterschieden: Methode der empirischen Analyse ist dieser Funktionalismus, insofern er empirisch realisierte Problem-Lösungszusammenhänge rekonstruiert und dabei die jeweils beobachtbare wirkliche Wirklichkeit als eine von mehreren Lösungsmöglichkeiten eines abstrakt formulierten Bezugsproblems thematisiert (4.1). Methode der Begriffsbildung ist dieser Funktionalismus, insofern er vorschlägt, soziale Sachverhalte, zum Beispiel formale Organisationen oder professionelle Berufsgruppen, aber auch Kommunikationsmedien wie Geld, Macht, Werte oder Liebe oder ganze gesellschaftliche Teilbereiche wie die Wirtschaft oder die Politik durch die Angabe des für den jeweiligen Sachverhalt spezifischen und zentralen Bezugsproblems zu definieren. Dieser Ansatz ermöglicht es dann zum Beispiel, mit dem Polizeiberuf einen Beruf als Fall professioneller Arbeit zu analysieren, der in der sonstigen Literatur angesichts fehlender Merkmale wie hohem Prestige und hoher formal zugestandener Autonomie in der Berufsausübung selten als Profession betrachtet wird (4.2 und als professionssoziologische Anwendung Kapitel 9). Methode der bewertenden Kritik ist der in diesem Kapitel diskutierte Äquivalenzfunktionalismus schließlich, insofern er eine Antwort auf die Frage sucht, inwiefern und warum die realisierte Struktur eines bestimmten Sozialsystems gemessen an den wirklichen anderen Möglichkeiten und der System-Umwelt-Lage dieses Systems als vergleichsweise rationale oder weniger rationale Lösung der zentralen Bezugsprobleme oder „Gesamtbedürfnisse“ (Luhmann 1962, S. 19; vgl. Weißmann 2020) dieses Systems angesehen werden kann.