In diesem Kapitel diskutiere ich mit den Begriffen „Grenzrolle“ und „Grenzsystem“ zwei für dieses Buch zentrale soziologische Konzepte. Die Konzepte zielen auf die Analyse der Aktivitäten solcher Mitglieder eines sozialen Systems, die im Auftrag ihres Entsendesystems, zum Beispiel einer Polizeibehörde, in Kontakt mit Nichtmitgliedern des Systems treten, zum Beispiel mit Bürgern während einer Verkehrskontrolle oder einer Beschuldigtenvernehmung. In Bezug auf formale Organisationen meint der Begriff der „Grenzrolle“ („boundary role“) also Organisationsmitglieder mit regelmäßigem Publikumskontakt, während der Begriff des „Grenzsystems“ den sei es einmaligen, sei es auf Wiederholung angelegten Kontakt der Grenzrolle zu ihrem Gegenüber erfassen soll.

Ich beginne mit einigen begrifflichen Klärungen und dem programmatischen Vorschlag, „Grenzstellen“ (Luhmann 1964b, S. 220–239) als den auf formal organisierte Sozialsysteme bezogenen Sonderfall eines breiter gefassten Begriffs von „Grenzrollen“ zu verstehen (3.1). Ausgehend von einem Blick zurück auf einige klassische Texte aus der organisationstheoretischen Literatur behandele ich die Doppelmitgliedschaft von Grenzrollen in ihrem Entsendesystem und dem Grenzsystem als zentrales Strukturmerkmal von Grenzrollen (3.2) und die aus Sicht der Grenzrolle problematische Freiheit ihres Publikums zum Verzicht auf Kooperation als zentrales Strukturmerkmal von Grenzsystemen (3.3). Im zweiten Teil des Kapitels schlage ich mit Bezug auf zahlreiche empirische Studien zunächst vor, vier für Grenzrollen zentrale Funktionen zu unterscheiden, nämlich den Vollzug von Systemleistungen an und vor Nichtmitgliedern sowie Informationsgewinnung, Repräsentation und Vermittlung (3.4). In Form einer „Zwischenbetrachtung in generalisierender Absicht“ wird in Abschnitt 3.5 die These formuliert, dass viele Grenzrollen wie Diplomaten oder Polizisten zwar ihrer manifesten Rollenbeschreibung zufolge als Abgesandte ihres Entsendesystems in ein Grenzsystem eintreten, dass die Anforderungen an ihr Rollenhandeln im Grenzsystem sie aber dazu disponieren, ihre Loyalität faktisch symmetrischer zu verteilen, als dies gemäß ihres manifest asymmetrischen Auftrags geboten wäre. Anschließend diskutiere ich Charakteristika und Handlungsprobleme von Grenzrollen in Grenzsystemen, etwa ihre gespaltene Loyalität, ihr oft widerspenstiges oder jedenfalls unberechenbares Publikum, das an sie oft von beiden Seiten gerichtete Misstrauen oder die Aussicht auf den Gewinn eines formal nicht vorgesehenen Einflusses innerhalb ihres Entsendesystems (3.6).

Wenngleich dieses Kapitel nicht in erster Linie auf die Formulierung von als innovativ beworbenen Großthesen zielt, so gibt es doch eine übergreifende programmatische These, die zu Beginn vorgestellt und dann schrittweise entfaltet wird. Sie lautet, dass das in der organisationstheoretischen Literatur zur Analyse von Mitgliedschaftsrollen formaler Organisationen entwickelte Konzept der Grenzstelle gewinnbringend auch auf zwei weitere Kategorien von Rollen angewandt werden kann: Zum einen auf Nichtmitglieder im Dienst formaler Organisationen wie beispielsweise Informanten im Dienst der Polizei, zum anderen auf Rollen an den Grenzen nicht formal organisierter Sozialsysteme wie Familien, Protestbewegungen oder Kleingruppen. Die Überführung dieser These in ein Forschungsprogramm setzt die am Ende des Kapitels (3.7) skizzierte Behandlung der „Grenzschärfe“ (Luhmann 2017, S. 193) sozialer Systeme als einer Variable voraus, die im Fall formaler Organisationen ihre höchste Ausprägung erfährt.

1 Konzeptionelle Ausgangspunkte: Grenzrollen und Grenzstellen, Grenzsysteme und Kontaktsysteme

Grenzrollen wie Verkäufer, Vertriebsleiterin, Diplomat, Ärztin oder Verhandlungsführer unterscheiden sich von anderen Rollen wie etwa Fließbandarbeiterinnen oder Ingenieuren im Produktionsbetrieb, der Juristin im Innendienst eines Ministeriums oder den im Labor tätigen Mitarbeitern einer Arztpraxis dadurch, dass sie im Dienst oder Auftrag ihres ‚Entsendesystems‘ bzw. ‚Heimatsystems‘ regelmäßig in Kontakt mit Personen treten, die nicht Mitglieder dieses Systems sind. Diese allgemeine Eigenschaft regelmäßiger und normativ erwarteter Grenzkontakte mit Nichtmitgliedern teilen Rollen in sehr unterschiedlichen Bereichen miteinander. Neben den bereits genannten Grenzrollen gilt dies etwa auch für die Lehrerin im Kontakt mit Schülern und Eltern (Becker 1953), den Kellner im Kontakt mit seinen Gästen (Whyte 1949), den Musiker bei einem Aufritt vor Publikum (Becker 1951), den Mitarbeiter im Callcenter im Telefongespräch mit (potenziellen) Kunden (Holtgrewe und Kerst 2002) oder die Polizistin im Kontakt mit Bürgern während einer Verkehrskontrolle oder einer Vernehmung (Lipsky 1970).

Die genannten und zahlreiche weitere Kontakte zwischen einer Grenzrolle und ihrem Gegenüber sind durch die Kombination von zwei Merkmale miteinander verbunden. Erstens sind Grenzrollenträger Mitglieder (Abgesandte, Agenten, Boten, Beauftragte, Repräsentanten, Kundschafter, Sprecher, Vertreter) ihres Entsendesystems und sie werden auch von den anderen am Handlungszusammenhang beteiligten Akteuren oft entsprechend beschrieben und behandelt. Abstrakter gesehen lässt sich die Systemmitgliedschaft der Grenzrollen daran erkennen, dass sie im Grenzkontakt unter Berücksichtigung von Verhaltenserwartungen handeln, die in dem System, dessen Vertreterin sie sind, als normative Erwartungen institutionalisiert sind – sei es auf Grundlage von expliziten Entscheidungen oder impliziter Übereinkunft. Das Verhalten der Grenzrolle wird aufgrund ihres Mitgliedschaftsstatus nicht oder jedenfalls nicht in erster Linie der sie bekleidenden Person, sondern primär dem jeweiligen Entsendesystem zugerechnet, beispielsweise ihrer Organisation, Familie, Protestbewegung oder Kleingruppe. Die Rollenspielerin an der Grenze tritt also als Mitglied ihres Entsendesystems in Kontakt mit Personen, die nicht Mitglieder ihres Entsendesystems sind.

Zweitens bearbeiten Grenzrollen im Kontakt mit Nichtmitgliedern ihres Entsendesystems Problemlagen des Entsendesystem. Dieser Bearbeitung von Systemproblemen im Grenzkontakt muss nicht notwendigerweise ein manifester Auftrag zu Grunde liegen. Oft hat die funktional auf Systemprobleme bezogene Grenztätigkeit auch einen eher diffusen Charakter, zum Beispiel, wenn sie darin besteht, dass eine Grenzrolle sich einen Eindruck von der allgemeinen Stimmung in einem für das Entsendesystem relevanten Umweltsegment zu verschaffen sucht. Die Minimalbedingung ist jedoch, dass andere Mitglieder des Entsendesystems das Handeln der Grenzrolle an der Erwartung messen, einen Beitrag zu der Bearbeitung von Problemlagen des Entsendesystems zu leisten.

Als Grenzrollen können mithin solche einem sozialen System zurechenbaren Rollen bezeichnet werden, an die regelmäßig die Erwartung gestellt wird, im Auftrag, Dienst oder Interesse ihres Systems in einen „Verkehr mit Außenstehenden“ (Luhmann 1964b, S. 220) zu treten. Grenzrollen können diese Aufgabe übernehmen, weil und insofern sie über einen irgendwie privilegierten oder gar exklusiven Zugang zu dem jeweiligen Umweltsegment verfügen. Grenzstellen – so mein konzeptioneller Vorschlag – sind ein wichtiger Sonderfall von Grenzrollen, nämlich Grenzrollen formaler Organisationen, die in eine durch organisationale Entscheidung hervorgebrachte Stellenordnung eingefügt sind.Footnote 1

Ausdifferenzierung und Ausdehnung von Grenzsystemen als Variablen und das Gesetz des Wiedersehens in Kontaktsystemen

Während der Begriff der Grenzrolle Anwendung auf einzelne Mitglieder sozialer Systeme findet, bedarf es eines anderen Begriffs, um die Situation des Kontakts zwischen dem Träger einer Grenzrolle und seinem Gegenüber zu bezeichnen – also etwa eine Schulstunde, Pressekonferenz oder Verkehrskontrolle. Diese Systemgrenzen überschreitenden Kontakte bezeichne ich im Folgenden wahlweise als Grenzkontakt oder GrenzinteraktionFootnote 2 oder Grenzsystem.

Verschiedene Typen von Grenzsystemen lassen sich gut entlang von zwei Gruppen von Gesichtspunkten unterscheiden. Die erste Gruppe von Gesichtspunkten betrifft das jeweilige Gegenüber der Grenzrolle, das manchmal als Einzelpersonen in das Grenzsystem eintritt, etwa im Fall des Kunden im Ladengeschäft, in anderen Fällen aber seinerseits auch ein Vertreter eines anderen Sozialsystems ist, etwa im Fall der Klassensprecherin als Vertreterin der Schulklasse gegenüber der Lehrerin. In beiden Fällen hängt die Möglichkeit der Ausdifferenzierung des Grenzsystems – also etwa eines Verkaufsgesprächs oder einer Aushandlung zwischen Lehrerin und Klassensprecherin – wesentlich davon ab, ob und wie stark das Gegenüber der Grenzrolle in seinem Handeln durch sein Entsendesystem oder seine vergangene persönliche Selbstdarstellung gebunden ist. Wenn das Gegenüber der Grenzrolle in seinem eigenen Verhalten vorab stark festgelegt ist, wie im Fall des Beschuldigten bei der Polizei, der aufgrund starker Loyalitätsbindungen zu anderen Beschuldigten jede Aussage in der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung vermeidet oder im Fall der Verhandlungsführerin einer Tarifpartei, die jedes noch so kleine Zugeständnis an die Gegenseite zunächst innerhalb ihres Entsendesystems bewilligen lassen muss, dann sind der Entstehung eines ausdifferenzierten und relativ autonomen Grenzsystems enge Grenzen gesetzt.

Die zweite Gruppe von Gesichtspunkten zur Unterscheidung verschiedener Typen von Grenzsystemen betrifft ihre zeitliche Ausdehnung. Viele Grenzsysteme, zum Beispiel Verkehrskontrollen oder Verkaufsgespräche, können als einmalige Grenzkontakte bezeichnet werden, da die an ihnen beteiligten Personen bei der jeweils aktuellen Durchführung keine Wiederholung des Kontakts antizipieren und deshalb keinen Grund haben, ihr Verhalten in Hinblick auf zukünftige Kontakte zu disziplinieren. Andere Grenzkontakte wie diejenigen zwischen dem Einkaufsleiter einer Supermarktkette und der Verkaufsleiterin eines diese Supermarktkette regelmäßig beliefernden Unternehmens und institutionalisierte Grenzsysteme wie beispielsweise die im Jahr 2006 erstmals durchgeführte Deutsche Islamkonferenz unter Beteiligung von Vertretern der organisierten Muslime, der staatlichen Verwaltung und diverser zivilgesellschaftlicher Organisationen, werden von den Interaktionsteilnehmern dagegen als Episode einer zeitlich ausgedehnten Kette von Grenzkontakten erlebt und behandelt.

Ein wichtiger Sondertyp dieser auf Wiederholung angelegten und deshalb unter dem „Gesetz des Wiedersehens“ stehenden Grenzkontaktketten kann mit Luhmann (1969b, S. 75) als Kontaktsystem bezeichnet werden. Die Besonderheit von Kontaktsystemen ist, dass die Einfluss- oder Durchsetzungschancen der an ihnen beteiligten Personen von Interaktion zu Interaktion variieren. Die Mitglieder von Kontaktsystemen wählen ihr aktuelles Verhalten deshalb immer auch unter Berücksichtigung vergangener und zukünftiger Interaktionen, zeigen sich also etwa in der jeweils gegenwärtigen Verhandlung oder Diskussion kompromissbereiter, als sie es der Sache und den je aktuellen Einflusschancen nach müssten. Die gute Beziehung zu ihrem Gegenüber erscheint ihnen als solche „als nützlich und erhaltenswürdig“, da sie erwarten, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt, etwa bei einer Verhandlung zu einem anderen Thema, ebenfalls auf die Kompromissbereitschaft ihres Gegenübers angewiesen sein werden (Luhmann 1969b, S. 77). Auf Wiederholung angelegte Kontakte zwischen Journalisten oder Polizisten und ihren Informanten sind gute Beispiele für solche Kontaktsysteme zwischen einem Organisationsmitglied und einer Einzelperson. Kontaktsysteme können aber auch wichtige Funktionen für das Zusammenwirken von Organisationen erfüllen, wie etwa Nils Ellebrecht (i.E.) anhand der Zusammenarbeit von Rettungssanitätern und Feuerwehrleuten bei Großeinsätzen gezeigt hat.

„Boundary roles“: Ausgangspunkte einer Theorie des Handelns an den Grenzen mehr oder weniger stark formalisierter Sozialsysteme

Die in diesem Kapitel vorgelegte Explikation der Strukturmerkmale, Funktionen und Charakteristika von Grenzrollen in Grenzsystemen schließt vor allem an Überlegungen an, die seit den 1960er Jahren in organisationstheoretischen Beiträgen mit Begriffen wie „boundary-spanning roles“ (Thompson 1962; Adams 1976), „boundary positions“ (Kahn et al. 1964, S. 99–124), „Grenzstelle“ (Luhmann 1964b, S. 220–239), „boundary activities“ (Adams 1980), „contact men“ (Wilensky 1967, S. 10) oder „Kontaktstelle“ (Crozier und Friedberg 1979, S. 95 ff.) formuliert worden sind.Footnote 3 Im Nebenertrag zeigt meine Interpretation der Forschungsliteratur auch, dass unter verschiedenen Begrifflichkeiten und in unterschiedlichen disziplinären Kontexten sehr ähnliche Überlegungen zu Grenzrollen angestellt worden sind. Die in der deutschsprachigen Soziologie enge Kopplung des Konzepts an ein Kapitel aus Niklas Luhmanns frühem organisationstheoretischem Buch „Funktionen und Folgen formaler Organisation“ (1964b, S. 220–239) kann so durch Verweise auf die Arbeiten etwa von James D. Thompson (1962) oder Michel Crozier und Erhard Friedberg (1979) einerseits relativiert werden. Andererseits sollte deutlich werden, dass die Explikation des Grenzrollenbegriffs innerhalb der Systemtheorie davon profitiert, dass diese Theorie als Universaltheorie des Sozialen angelegt ist. Dies erleichtert die kontrollierte Generalisierung des Konzepts der organisationalen Grenzstellen zu einem Konzept von Grenzrollen in sozialen Systemen überhaupt und es erlaubt die Thematisierung von Zusammenhängen etwa zwischen Grenzrollen und Macht (vgl. Luhmann 1969a, 1975c, 2012) oder Grenzrollen und Vertrauen (vgl. Luhmann 1968c, 2001) innerhalb einer Theoriesprache.

In einer frühen Darstellung des Konzepts organisationaler Grenzrollen hat der US-amerikanische Organisationstheoretiker James D. Thompson darauf hingewiesen, dass es in fast jeder Organisation zahlreiche „boundary-spanning roles linking organization and environment through interaction between member and non-member“ gibt. Thompson (1962, S. 309) versteht organisationale Grenzrollen vor allem als „output roles“, welche die Leistungen der Organisation an deren Kunden verteilen oder an ihren Klienten erbringen und dadurch einen zentralen Beitrag zur Anpassung der Organisation an ihre Umwelt leisten. Wie viele spätere Arbeiten betont schon Thompsons Beitrag an den Interaktionen zwischen Grenzrollen und Nichtmitgliedern, also an Grenzkontakten bzw. Grenzsystemen, die Grenze ihrer Organisierbarkeit. Insbesondere, wenn die Tätigkeiten der Grenzrolle nicht durch standardisierte Routineprogramme angeleitet werden können und das Nichtmitglied nicht zuverlässig zur Kooperation verpflichtet werden kann, ist es eine anspruchsvolle Daueraufgabe für die Organisation, die Rahmenbedingungen der Grenzinteraktion so zu gestalten, dass diese nicht entgleist oder abgebrochen, sondern in den Dienst organisationaler Ziele gestellt wird. Thompson (1962, S. 322) konzipiert die Grenzinteraktion dabei als ein „three-person game“, an dem neben der Grenzrolle und dem Nichtmitglied auch organisationale Stellen mit dem Auftrag der Programmierung und Kontrolle der Grenzrollenarbeit beteiligt sind. Das zentrale Anliegen dieser systeminternen Stellen liegt darin, dass die primäre Loyalität der Grenzrolle ihrer Organisation und nicht dem Klienten oder Kunden gilt.

Auch der für die bisherige deutschsprachige Diskussion zentrale Text zum Thema ist im Rahmen einer Organisationstheorie formuliert worden. In einem Kapitel seines organisationstheoretischen Frühwerks „Funktion und Folgen formaler Organisation“ bezeichnet Niklas Luhmann organisationale Grenzrollen als „Grenzstellen“ und betont an ihnen in Übereinstimmung mit der englischsprachigen Literatur einerseits ihre Eigenschaft, regelmäßig in Interaktion mit Nichtmitgliedern der Organisation zu treten und andererseits die an sie adressierte Erwartung, diese Interaktionen im Sinne organisationaler Ziele durchzuführen und so einen Beitrag zur Gestaltung der Beziehung der Organisation zu einem für sie bedeutsamen Umweltsegment zu leisten. Grenzrollen gelten mithin auch Luhmann (1964b, S. 221) als „herausspezialisierte Funktionen“ eines (organisierten) Sozialsystems „für den Verkehr mit einem bestimmten Umweltsektor“.

In den 1960er bis 1990er Jahren folgen einige weitere Überblicksdarstellungen zum Konzept der „boundary roles“, in denen Thompsons Überlegungen reformuliert, um Verweise auf empirische Studien ergänzt und im Detail modifiziert werden. So weisen Robert L. Kahn et al (1964, S. 99–124, hier S. 101) darauf hin, dass auch die Kontakte zwischen Vertretern verschiedener Abteilungen einer Organisation als Grenzkontakte analysiert werden können, während Howard Aldrich und Diane Herker (1977) das zunehmende Interesse an einer Differenzierung verschiedener Formen von Grenzrollenarbeit artikulieren und Adams (1980; siehe für einen Anschluss in der deutschsprachigen Literatur Tacke 1997) vorschlägt, die Analyse zunächst auf der Ebene einer Klassifikation von „organizational boundary activities“ anzusetzen, um der empirischen Vielfalt von Grenzrollen besser Rechnung tragen zu können. Diesem Ziel verpflichtet ist auch der Hinweis Raymond Friedmans und Joel Podolnys (1992), dass die bisherige Forschung zwar detailliert die verschiedenen Funktionen von Grenzrollen unterschieden, aber zu selten gesehen hat, dass diese Funktionen keineswegs notwendigerweise von einer einzigen Grenzrolle erfüllt werden müssen, sondern auch auf verschiedene Rollen aufgeteilt werden können. Die damit grob skizzierten Diskussionen werden vor allem in US-amerikanischen Fachzeitschriften der interdisziplinären Organisations- und Managementforschung geführt. Auch die an ihr beteiligten Autoren (siehe etwa Adams 1976, S. 1180) artikulieren zuweilen Unzufriedenheit einerseits mit dem Mangel an Anschlüssen an allgemeinere Theorieentwürfe und andererseits mit der zu geringen Zahl von Arbeiten, die mit Mitteln qualitativer Sozialforschung das Wissen um die konkreten Handlungsprobleme von Grenzrollen erweitern.

2 Doppelmitgliedschaft als Strukturmerkmal von Grenzrollen

Schon aus dem bislang erläuterten Begriff der Grenzrolle ergibt sich, dass Grenzrollen als Teilnehmerinnen an zwei voneinander unterscheidbaren Sozialsystemen beschrieben werden müssen. Zum einen sind sie Mitglied des Systems, dessen Vertreter sie sind: Der Organisation, als deren Pressesprecher sie vor Vertreter der Medien treten, der Belegschaft, als deren Vertreterin sie in Verhandlungen mit Vertretern der Organisationsleitung treten oder der Protestbewegung, als deren Vertreterin sie mit den Vertretern anderer Protestbewegungen über die gemeinsame Anmeldung einer Demonstration beraten. Zum anderen handelt es sich auch bei dem Kontakt zwischen der Grenzrolle und ihrem Publikum um ein eigenständiges und relativ autonomes Sozialsystem. Bei diesen Grenzsystemen kann es sich um das flüchtige Gespräch zwischen Polizist und Ladenbesitzerin handeln oder auch um stärker typisierte Interaktionen wie Schulstunde, Beschuldigtenvernehmung, Presserunde oder Verkaufsgespräch. Variabel ist auch die Frage, ob die Interaktion auf eine Wiederholung des Kontakts ausgelegt ist oder nicht, ob es sich also um einmalige Grenzkontakte, institutionalisierte Grenzsysteme oder Kontaktsysteme handelt.Footnote 4 All diese Fälle verbindet, dass das „Mitglied an der Grenze … dann unversehens Mitglied in zwei Systemen“ (Luhmann 1964b, S. 226) wird: seinem Entsendesystem einerseits, dem Grenzsystem andererseits.

Erwartungskonflikte im Grenzkontakt

Eine grundlegende Folge dieser Doppelmitgliedschaft der Grenzrollen ist, dass aus der Eigenlogik des Grenzsystems, also etwa der Schulstunde, der Personenkontrolle oder dem Beratungsgespräch heraus Normen und Verhaltensweisen der Grenzrolle als sinnvoll erscheinen können, die innerhalb ihres Entsendesystems als mehr oder weniger illegitim gelten. Was im Entsendesystem des Rollenträgers geboten ist, trifft im Grenzsystem nicht allein schon deshalb auf Verständnis und umgekehrt. Diese allgemeine Einsicht gilt für Zwischenvorgesetzte in Organisationen (Kahn et al. 1964, S. 99–124) ebenso wie für Kellner (Whyte 1949), Lehrer (Becker 1953) und andere „street level bureaucrats“ (Lipsky 1980) wie Polizisten oder Mitarbeiter der Stadtverwaltung mit Bürgerkontakt. Aus diesem Grund ist in der Theorie der Grenzrollen stets betont worden, dass Rollenspieler an Systemgrenzen in höherem Maße als Rollen ohne Publikumskontakt Rollenkonflikten ausgesetzt sind, da sie mindestens zwei „Kommunikationsnetzen angehören, die ganz verschiedene Anforderungen“ an sie stellen (Luhmann 1964b, S. 210). Grenzrollen sind „strukturell … doppelgesichtig und müssen mit den daraus folgenden Widersprüchen leben“ (Crozier und Friedberg 1979, S. 96).

Grenzrollen in sehr unterschiedlichen Bereichen verbindet daher miteinander, dass sie „in der Lage sein müssen, mehrsprachig und gegebenenfalls nach doppelter Moral zu handeln, ohne daß das Teilsystem [ihr Entsendesystem, M.W] selbst seinen autonomen Charakter und seine spezifische Leistungsfähigkeit dadurch einbüßt“ (Luhmann 2010b, S. 140 f.). Ein Beispiel dafür ist eine Lehrerin, die als Abgesandte ihrer Schule zur universalistischen Behandlung ihrer Schüler verpflichtet ist, in Abweichung von dieser normativen Erwartung an ihr Handeln jedoch die Selbstdarstellung des Meinungsführers in der Klasse besonders taktvoll behandelt, also eine partikularistische Tauschbeziehung mit ihm eingeht, so seine Sympathie und dadurch bessere Kontrolle über die Schulklasse gewinnt. Ein zweites Beispiel sind Polizisten, die als Abgesandte eines ebenfalls universalistisch programmierten Rechtssystems im Streifendienst nach Kriterien, die sich innerhalb ihrer Berufsgruppe eingelebt haben, von der gesellschaftlichen Rechtsordnung her gesehen aber als illegitim gelten müssen, in bestimmten Fällen auf konsequente Rechtsdurchsetzung verzichten, um ihre Ressourcen für aus ihrer Sicht bedeutsamere Einsätze zu schonen (klassisch Bittner 1967; aktuell Buvik 2014). Ein drittes und letztes Beispiel für die strukturell nahegelegte Devianz im Grenzkontakt ist ein Straßensozialarbeiter, der für das deviante Verhalten seiner Klienten, also zum Beispiel für Diebstahl, Drogenkonsum oder Gewaltanwendung, regelmäßig mehr Verständnis aufbringt, als dies in den von seiner Entsendeorganisation festgelegten Richtlinien vorgesehen ist, da er seine Chancen auf die zukünftige Kooperation seiner Klienten nicht verspielen will.

Kleine Illoyalitäten als Problemlösung? Plädoyer für eine Beweislastregel für Urteile über „brauchbare Illegalität“ und „funktionale Devianz“

Diese drei Beispiele sollen lediglich illustrieren, in welcher Art von Situationen Grenzrollen gegenüber ihrem Publikum eine Art „milieubezogenes Kontaktverständnis“ herausbilden (Luhmann 1972, S. 279 f.). Fälle dieser Art stellen offensichtlich ein von der manifesten normativen Struktur des Entsendesystems her gesehen abweichendes Verhalten der Grenzrollen dar. Die in diesem Buch eingenommene systemtheoretisch-funktionalistische Perspektive kann sich jedoch nicht mit der bloßen Feststellung eines normabweichenden Verhaltens begnügen, sondern stellt darüber hinaus auch die Frage, ob und in welchen Hinsichten die strukturierte und also für Kennerinnen des jeweiligen Handlungszusammenhanges erwartbare Devianz des Handelns von Grenzrollen ihrerseits Funktionen für das jeweilige Entsendesystem erfüllt. Konkreter: Liegen die Gründe für das normabweichende Handeln der Grenzrollen beispielsweise in den drei oben geschilderten Fällen ausschließlich oder in erster Linie in der mangelnden Professionalität der Grenzrollenträger, handelt es sich also schlicht um schlechte Lehrer, Polizistinnen oder Sozialarbeiter – oder müsste eine komplexitätsadäquate Würdigung der sich den Grenzrollen stellenden Problemlagen eher zu dem Ergebnis kommen, dass auch die aus Sicht des Entsendesystems bestmögliche Ausführung der Grenzrollentätigkeit bestimmte Formen des Verstoßes gegen die normative Struktur des Entsendesystems beinhalten muss? Mit Luhmann (1964b, S. 304–314) formuliert: Unter welchen Bedingungen und in welchen Hinsichten ist das deviante Handeln der Grenzrolle nicht nur ein Fall von Illegalität, sondern von „brauchbarer Illegalität“?

Wenngleich die vorliegende Literatur zuweilen einen anderen Eindruck erweckt, sind Antworten auf diese Frage nach der Systemfunktionalität devianten Handelns (von Grenzrollen) nur in Bezug auf bestimmte empirische Fallkonstellationen möglich und können auch hier in der Regel nicht eindeutig ausfallen. Auf dem Abstraktionsniveau einer allgemeinen Theorie der Grenzrollen ist zunächst der Hinweis wichtig, dass Urteile über Systemfunktionalität die Explikation einer Systemreferenz erfordern. Wer über brauchbare Illegalität urteilen will, muss also benennen, ob er über die Brauchbarkeit von beispielsweise Whistleblowing in Polizeibehörden für die einzelne Dienstgruppe, für die lokale Polizeibehörde, für das zuständige Innenministerium oder für ein umfassenderes gesellschaftliches Rechtssystem sprechen will. Offensichtlich erfüllt das Schweigen und Lügen von Polizisten zugunsten ihrer Kollegen Funktionen für die Binnensolidarität ihrer Dienstgruppe (vgl. Westley 1956 und Kapitel 9 dieses Buches), aber natürlich folgt daraus nicht, dass ihr Lügen und Schweigen auch nach einem Wechsel der Systemreferenz auf die Ebene der Organisation oder des Rechtssystems der Gesellschaft noch vorbehaltlos als Fall brauchbarer Illegalität bezeichnet werden kann.

Dies vorausgesetzt, kann auf dem hier eingenommenen Abstraktionsniveau die oben an drei Beispielen veranschaulichte Hypothese begründet werden, dass das von den normativen Strukturvorgaben des Entsendesystems abweichende Handeln der Grenzrollen unter bestimmten Bedingungen eine für das gute Funktionieren des Entsendesystems geeignete Problemlösung sein kann. Die Schwierigkeit liegt dann darin, in Hinblick auf einzelne (Typen von) Grenzkontakte(n) zu unterscheiden, ob die Devianz an der Grenze nur dem Grenzrollenträger oder auch seinem Entsendesystem nützt. Sollte letzteres der Fall sein, muss darüber hinaus die ebenso wenig triviale Frage beantwortet werden, ob es legale funktionale Äquivalente zu der praktizierten systemdienlichen Illegalität gibt.

In Abschnitt 4.3 zum Äquivalenzfunktionalismus als Methode soziologisch disziplinierter Sozialkritik schlage ich in Hinblick auf das damit angesprochene (systemtheoretische) Theorem „brauchbarer Illegalität“ bzw. „funktionaler Devianz“Footnote 5 eine Beweislastregel vor mit dem Ziel, die Aufstellung von Behauptungen über die Funktionalität von Regelbrüchen zu disziplinieren: Die Pflicht zur Begründung, dass die fraglichen Systemprobleme nur oder jedenfalls am besten auf dem Weg des stabilisierten Widerspruchs zwischen manifester Struktur und latent gehaltenem Normbruch zu lösen sind, sollte bei den Kritikerinnen konsequenter Regeleinhaltung und widerspruchsfreier Sozialität liegen. Nur so scheint mir verhindert werden zu können, dass im Rahmen der systemtheoretischen Soziologie jede Illegalität als in irgendeiner Hinsicht brauchbar etikettiert werden kann, wodurch das Konzept „brauchbarer Illegalität“ seinen analytischen Gehalt verlieren würde.

3 Die Freiheit des Publikums als Strukturmerkmal von Grenzsystemen

Grenzrollen bearbeiten Problemlagen ihres Entsendesystems im Kontakt mit Nichtmitgliedern des Entsendesystems. Eine erfolgreiche Problembearbeitung ist ihnen in vielen Fällen nur möglich, wenn sich ihr Gegenüber kooperativ verhält, also bereit ist, einen Teil zur Problemlösung beizutragen: Der Anwalt kann seinen Klienten nur erfolgreich verteidigen, wenn dieser ihm alle für den Fall relevanten Informationen offenlegt, die Quartiersmanagerin Projekte im Stadtteil nur unter Mitarbeit der Bewohner entwickeln und umsetzen, der Arzt zur Gesundung des Patienten nur beitragen, wenn der Patient den Anweisungen des Arztes Folge leistet und die Kriminalpolizistin einen Beitrag zur Aufklärung eines Mordfalls durch die Vernehmung eines Beschuldigten nur leisten, wenn dieser nicht jede Aussage verweigert.

Für eine vergleichende Analyse der Kontakte zwischen Grenzrollen und ihrem Publikum scheinen mir zwei Fragen zentral zu sein. Erstens: Wie bedeutsam ist welche Form der Kooperation des Nichtmitglieds dafür, dass die Grenzrolle ihre Funktionen im Grenzkontakt erfüllen kann? Zweitens: Welche Mechanismen stehen der Grenzrolle zur Verfügung, um die die Kooperationsbereitschaft ihres Gegenübers wahrscheinlicher zu machen? Welche Unterstützung erhält sie dabei von ihrem Entsendesystem, in welchen Hinsichten ist sie auf gesamtgesellschaftliche Einrichtungen wie Moral oder schichtspezifischen Status und in welchen Hinsichten auf die Eigenmittel der Interaktion angewiesen?

3.1 Das Problem: Der Bedarf an generalisiertem Einfluss innerhalb der Grenzen sozialer Systeme und über Systemgrenzen hinweg

Jede beliebige Sozialbeziehung und also auch der Kontakt zwischen einer Rollenspielerin an einer Systemgrenze und ihrem jeweiligen Gegenüber kann darauf befragt werden, auf welchen Grundlagen die an ihr Beteiligten zur Kooperation bereit sind, oder: Welches die „Motive“ von Ego sind, „sich einem Einfluß“ von Alter „zu unterwerfen“ (Luhmann 1964b, S. 132). Wenngleich die faktischen Motive für Kooperationsbereitschaft vielfältig sind, macht es für Alters Kooperationsbereitschaft doch einen wesentlichen Unterschied, ob Alter und Ego Mitglieder eines Sozialsystems, also zum Beispiel einer Organisation, Kleingruppe oder Familie sind und es bleiben wollen – oder nicht. Ich erläutere diesen Gedanken zunächst am Beispiel organisierter Sozialsysteme und beziehe ihn anschließend vergleichend auf andere Typen sozialer Systeme.

An Beziehungen unter Mitgliedern einer Organisation, also an dem Kontakt eines Organisationsmitglieds mit seinen Kollegen oder Vorgesetzten, wird in der Soziologie häufig das vergleichsweise hohe Maß an Kooperationsbereitschaft betont. Organisationsmitglieder sind in der Regel innerhalb gewisser „Indifferenzzonen“ (Barnard 1938, S. 168 ff.) bereit, die ihnen zugewiesenen Aufgaben auch ohne jede persönliche Sympathie für Auftraggeber oder Auftrag zu übernehmen. Die Vorgesetzte muss ihre Mitarbeiter im gewöhnlichen Arbeitsalltag daher nicht dauerhaft zur Kooperation motivieren und kann sich bei der Delegation von Aufgaben in höherem Maße an sachlichen Gesichtspunkten orientieren (Luhmann 1964b, S. 209 f.). Der Grund dafür liegt auf der Hand: In formalen Organisationen kann der Erhalt der Mitgliedschaft an die Beachtung einer „Regelordnung“ gebunden werden, die eine Person „mit ihrem Beitritt akzeptiert hat“ (Mayntz 1963, S. 106). Wer Organisationsmitglied werden und bleiben will, muss die prinzipielle Bereitschaft zur Akzeptanz eines mehr oder weniger stark explizierten Sets normativer Verhaltenserwartungen zeigen, die Luhmann als formale Erwartungen bezeichnet. Für diese Verhaltenserwartungen besteht innerhalb der Organisation „erkennbar Konsens darüber […], daß die Nichtanerkennung oder Nichterfüllung dieser Erwartung mit der Fortsetzung der Mitgliedschaft unvereinbar ist“ (Luhmann 1964b, S. 38). Oder, wie Luhmann (1975a, S. 50) an anderer Stelle prägnant formuliert: „Nur wer die Regeln anerkennt, kann eintreten. Wer sie nicht mehr befolgen will, muß austreten.“ Zu diesen eng mit der Mitgliedschaftsrolle verbundenen formalen Erwartungen zählt insbesondere die Darstellung von Akzeptanz bezüglich der Zwecke der Organisation sowie der organisationalen Entscheidungen über Personal, Rangordnung und Regeln für richtiges Verhalten (vgl. Luhmann 1964b, S. 38; für eine knappe Darstellung auch Kühl 2011, S. 30 ff.). Wer mit Kolleginnen und Kollegen im Rahmen formaler Organisation kooperieren will, kann deshalb unterstellen, dass die formalisierten Verhaltenserwartungen auch vom Gegenüber akzeptiert werden und muss sich in der Regel wenig Gedanken darüber machen, wie er die anderen Organisationsmitglieder zu kooperativem Handeln motivieren kann.

Im Unterschied zu diesen Interaktionen innerhalb einer Organisation haben es Grenzrollen in ihren Grenzkontakten nicht mit Mitgliedern des gleichen Systems zu tun. Der soeben in Bezug auf Organisationen skizzierte Mechanismus der Erzeugung einer generalisierten Kooperationsbereitschaft durch Formalisierung von Verhaltenserwartungen steht ihnen nicht ohne Weiteres zur Verfügung, da die Kooperation eines Nichtmitglieds offensichtlich nicht durch den drohenden Entzug einer gar nicht vorhandenen Mitgliedschaft motiviert werden kann. Diesen Aspekt haben schon die frühen Texte zum Konzept der Grenzrolle hervorgehoben, so etwa Kahn et al. (1964, S. 123) mit dem Hinweis auf die fehlende Weisungsbefugnis der Grenzrollen gegenüber dem Klienten oder Kunden, oder Thompson (1962), der in dem Grad der faktischen Freiheit des Nichtmitglieds, sich der Kooperation mit der Grenzrolle zu entziehen, eine der zentralen Strukturvariablen des Handelns an Systemgrenzen sieht.Footnote 6 Grenzrollen wie Verkäufer, Lehrerinnen, Sozialarbeiter oder Ärztinnen können sich also zunächst nicht auf eine generelle Kooperationsbereitschaft ihres Gegenübers verlassen – und sind für das Gelingen der Grenzinteraktion doch auf dessen Kooperation angewiesen.Footnote 7

3.2 Die Lösung: Die (unvollkommene) Formalisierung von Verhaltenserwartungen in Grenzsystemen und anderen mitgliedschaftsbasierten Sozialsystemen

Prinzipielle Folge- und Kooperationsbereitschaft also im Fall von Interaktion in Organisationen einerseits, absolute Ungebundenheit des Handelns von Nichtmitgliedern wie Kunden, Patientinnen, Bürgern oder Schülerinnen in Grenzkontakten andererseits? Diese Gegenüberstellung wäre offensichtlich zu einfach und sie ist in mindestens zwei Hinsichten ergänzungsbedürftig. Erstens ist auch in Bezug auf formale Organisationen die Formalisierung von Verhaltenserwartungen allein nicht ausreichend, um gelingende Kooperationen unter Mitgliedern erwartbar zu machen. Die Formalisierung ausgewählter Verhaltenserwartungen bewirkt lediglich, dass jede Person, die Systemmitglied sein und bleiben will, diese Erwartungen als legitime Erwartungen an das eigene Verhalten akzeptiert und sich in ihrem Handeln entsprechend präsentiert. Was damit noch nicht geleistet ist, ist die „Motivation zur möglichst guten Leistung“ (Luhmann 1964b, S. 104), die Bereitschaft, formal nicht verlangbare, aber aus Sicht der Organisation sinnvolle Handlungen auszuführen oder in der Formalordnung nicht antizipierte Ausnahmesituationen gemäß der Organisationsziele zu bearbeiten. Im Vergleich zu der in der Regel durch Geldzahlung hervorgebrachten Teilnahmemotivation ist die Leistungsmotivation der Mitglieder weniger erfolgssicher zu erreichen und auf zusätzliche Mechanismen wie kollegialen Druck, KarriereambitionenFootnote 8 oder die starke persönliche Identifikation der Mitglieder mit ihrer Tätigkeit oder dem Organisationszweck angewiesen (vgl. Luhmann 1964b, S. 104–108).

Die zweite notwendige Ergänzung ist, dass der Mechanismus der Erzeugung von Kooperationsbereitschaft durch Formalisierung von Verhaltenserwartungen nicht vorschnell als exklusives Merkmal formaler Organisationen behandelt werden sollte. Dieser Mechanismus lässt sich – wie auch Luhmann (1964b, S. 38) angedeutet hatFootnote 9 – auch in Bezug auf andere Typen sozialer Systeme beobachten, in denen der Ausschluss oder auch nur der substantielle Statusentzug dessen möglich ist, der die Anerkennung bestimmter Verhaltenserwartungen verweigert. Ich denke etwa an terroristische Vereinigungen, Protestbewegungen, Netzwerke von (ehemaligen) Gefängnisinsassen, Berufsvereinigungen, eine Skatrunde, wissenschaftliche Schulen oder Fachgemeinschaften, Freundeskreise oder eine nur schwach organisierte Gruppe von Hobbyfußballern.

Natürlich variiert von Fall zu Fall der Umfang der formalisierten und formalisierbaren Erwartungen ebenso wie das Maß ihrer Bestimmtheit und Konsensfähigkeit und die Frage, in welchem Maß die Unterscheidung zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern sachlich eindeutig, zeitlich stabil und sozial konsentiert ist. Für die genannten und andere „mitgliedschaftsbasierte Sozialsysteme“ (Kühl 2015) gilt jedoch im Prinzip ebenso wie für formale Organisationen, dass in ihnen Mitglied nur sein und bleiben kann, wer in seinem Reden und Handeln Unterstützung für bestimmte Verhaltenserwartungen zu erkennen gibt: Die Akzeptanz oder Ablehnung von Gewalt gegen Personen als Mittel der Durchsetzung politischer Ziele, die Verweigerung der Kooperation mit Strafverfolgungsbehörden, die Zustimmung zu einem berufsspezifischen Ethikcodex, die Akzeptanz bestimmter Spielregeln, Fairnessnormen, eingelebter Hierarchien oder was immer sonst.Footnote 10 Allgemeiner formuliert lautet mein konzeptioneller Vorschlag, den skizzierten „Organisationsmechanismus“ (Luhmann 2017, S. 211) als den für formale Organisationen spezifischen, besonders leistungsfähigen und in höchstem Maße funktional spezifizierbaren Sonderfall eines allgemeineren Mitgliedschaftsmechanismus zu verstehen, der die Möglichkeit, ein unumstrittenes Mitglied in einem sozialen System wie einer Kleingruppe, einer Kollegenclique oder einer Protestbewegung zu werden und zu bleiben, an die Darstellung der Akzeptanz bestimmter Verhaltenserwartungen knüpft.

Die damit vorgeschlagene Erweiterung des organisationstheoretischen Blicks auf die Generalisierung von Verhaltenserwartungen in nicht oder schwach formalisierten mitgliedschaftsbasierten Sozialsystemen ist instruktiv auch für eine Theorie der Grenzsysteme. Das Gegenüber der Grenzrolle, zum Beispiel der Kunde, Klient, Informant, Antragssteller oder Patient wird im Zuge des Kontakts mit der Grenzrolle Mitglied in einem – sei es flüchtigen, sei es auf Wiederholung angelegten – Grenzsystem. Sofern das Gegenüber der Grenzrolle ein Interesse an dem Erhalt seiner Mitgliedschaft im Grenzsystem, aber kein gegenüber Dritten einklagbares Recht darauf hat, kann sich die Rollenspielerin an der Systemgrenze den oben skizzierten Mitgliedschaftsmechanismus zunutze machen und die Fortsetzung des Grenzkontaktes explizit oder implizit an die Bedingung knüpfen, dass ihr Gegenüber in seinem Handeln die Akzeptanz bestimmter Verhaltenserwartungen zu erkennen gibt. Allgemeiner formuliert: Auch Grenzsysteme und unter ihnen insbesondere die auf Wiederholung des Kontaktes angelegten „Kontaktsysteme“ (Luhmann 1969b, S. 75) sind ein Fall der von Stefan Kühl (2015) thematisierten „mitgliedschaftsbasierten Sozialsysteme“ und können deshalb auf ihre je eigene Form der „Konditionierung von Mitgliedschaft und Erwartungsanerkennung“ (Luhmann 2017, S. 186) befragt werden.

3.3 Grenzstellen als Sonderfall von Grenzrollen: Die Formalisierung mitgliedschaftsbasierter Sozialsysteme als Variable

Mit diesem Vorschlag, den Mitgliedschaftsmechanismus – die Institutionalisierung von Verhaltenserwartungen durch die Konditionierung von Mitgliedschaft – auch auf Grenzsysteme zu beziehen, steht ein geeignetes Instrument zur Verfügung, um die Einsichten der organisationstheoretischen Literatur für ein allgemeineres Konzept von Grenzrollen zu nutzen. Den Bedarf für eine solche Erweiterung des organisationstheoretischen Konzepts der Grenzstelle hat beispielsweise Stefanie Büchner (2018, S. 156) in Ihrer Arbeit zu Organisationen der sozialen Hilfe artikuliert und dabei zugleich ein Beispiel für eine Grenzrolle in Familien genannt: „Wäre der Begriff der Grenzstelle nicht für Organisationen als soziale Systeme reserviert, ließen sich Eltern als Grenzstellen der Familie für den Umgang mit der Umwelt des Jugendamts begreifen“. Gleichermaßen plausibel scheint mir zu sein, Mitglieder von Gruppen als Grenzrolle gegenüber anderen sozialen Systemen oder Einzelpersonen zu beschreiben. So fungiert ‚Doc‘ als Anführer der ‚Norton Street Gang‘ in William F. Whytes (1943) gleichnamiger Studie zu einer Gruppe junger arbeitsloser Männer im Boston der 1930er Jahre beispielsweise als Grenzrolle gegenüber anderen ‚Gangs‘ und potenziellen Arbeitgebern. Ein weiteres Beispiel für Grenzrollen nicht organisierter sozialer Zusammenhänge sind medial besonders sichtbare Vertreter einer wissenschaftlichen Disziplin als Grenzrollen dieser Disziplin gegenüber einer breiteren Öffentlichkeit (vgl. Osrecki 2019). Für Protestbewegungen denke ich schließlich an Personen, die faktisch als Repräsentanten der Bewegung in den Massenmedien (vgl. Freeman 1972) oder als Kontaktstellen etwa zu anderen Bewegungen oder politischen Parteien fungieren.

Die zentrale Herausforderung für die in diesem Kapitel vorgeschlagene Erweiterung des Konzepts der organisationalen Grenzstellen auf Nichtmitglieder im Auftrag formaler Organisationen sowie auf Grenzrollen nicht organisierter SozialsystemeFootnote 11 wie Familien, wissenschaftliche Disziplinen, Protestbewegungen, Kleingruppen oder Berufsgruppen liegt darin, zu klären, was genau es heißen soll, dass eine Person in einer spezifischen Situation als Mitglied und im Dienst ihres Entsendesystems handelt. In Bezug auf Mitglieder in formalen Organisationen sind diese Fragen zumeist leicht zu beantworten. Bei Trägern organisationaler Mitgliedschaftsrollen wie der uniformierten Polizistin im Streifendienst, dem Sachbearbeiter hinter einem Schreibtisch in der Stadtverwaltung oder der Universitätsprofessorin in der Vorlesung ist für alle kompetenten Beobachter offensichtlich, dass die Personen gerade in ihrer Mitgliedschaftsrolle auftreten – und mögliche Zweifel lassen sich durch die einfache Frage klären, ob die Person sich gerade ‚im Dienst‘ befindet oder nicht. Ebenso klar und kompetenten Beobachtern zumindest in groben Umrissen bekannt sind in der Regel die Verhaltenserwartungen, die eine Person mit der Einnahme der organisationalen Mitgliedschaftsrolle übernimmt: „Es gehört zur Rolle als Mitglied, sich auf die Seite der formalen Erwartungen zu stellen“ (Luhmann 1964b, S. 127), weshalb eine Polizistin im Dienst für Irritationen sorgt, wenn sie ihren Kollegen oder Bürgern auf der Straße mitteilt, dass sie die Polizei für ein Instrument korrupter Eliten hält und das Strafgesetzbuch ebenso wie die Straßenverkehrsordnung als für ihre eigene Berufspraxis unverbindlich ansieht.

In Bezug auf Nichtmitglieder im Dienst formaler Organisationen wie den Informanten der Polizei oder in Bezug auf Mitgliedschaftsrollen in nicht organisierten Sozialsystemen wie Familien oder Protestbewegungen ist es dagegen oft weniger leicht zu erkennen, ob eine Person in einer spezifischen Situation im Auftrag eines sozialen Systems agiert und welche spezifischen Verhaltenserwartungen mit der Übernahme der jeweiligen Rolle verbunden sind. So zählt es zu den grundlegenden Einsichten der Forschung zu sozialen Bewegungen (vgl. etwa Neidhardt 1985), dass sich auch in Bezug auf soziale Bewegungen zwar mit einiger Plausibilität davon sprechen lässt, dass diese über Mitglieder verfügen, die dann nochmal nach dem Grad ihrer Aktivität etwa in einen aktiven Kern, Mitläufer und Sympathisanten unterschieden werden können, dass es aber in sozialen Bewegungen keine Instanz gibt, die kollektiv bindende Entscheidungen über die Vergabe und den Entzug von Mitgliedschaften treffen und durchsetzen kann.

Soziale Bewegungen wie die internationale 68er Bewegung, ‚Fridays for Future‘ oder ‚PEGIDA‘ bringen zwar regelmäßig Personen hervor, die in den Massenmedien faktisch als ‚Gesichter‘ oder ‚Sprecher‘ der jeweiligen Bewegung behandelt werden und viele Gruppen von Fußballfans verfügen ebenso wie Freundeskreise über Personen, die in spezifischen Situationen faktisch die Möglichkeit haben, kollektiv bindende Entscheidungen etwa bezüglich des angemessenen Auftretens der Gruppe beim nächsten Auswärtsspiel oder bezüglich der Abendgestaltung zu treffen. Der zentrale Unterschied zu einem Vorgesetzten oder Pressesprecher in einer formalen Organisation liegt jedoch darin, dass die informalen Anführerinnen von sozialen Bewegungen und Kleingruppen in deutlich geringerem Ausmaß über die Möglichkeit verfügen, die Vergabe und den Entzug von Systemmitgliedschaften explizit an die Akzeptanz bestimmter Verhaltenserwartungen zu binden. Der informalen Gruppenführerin und der informalen Repräsentantin fehlt deshalb die Möglichkeit, Konflikte bei Bedarf durch Verweis auf ihre formale Autorität rasch zu beenden. Eine typische Folge ist, dass der Führungsstil informaler Führerinnen in nicht oder schwach formalisierten Sozialsystemen stärker darauf bedacht ist, nicht in zu große Spannung zu den Interessen der statusniedrigeren Gruppenmitglieder und den im System institutionalisierten Verhaltenserwartungen zu geraten.Footnote 12

Für die Mitglieder wenig grenzscharfer sozialer Systeme wie Protestbewegungen und Kleingruppen ergibt sich ebenso wie für ihre sozialwissenschaftlichen Beobachter das Problem, dass nicht ohne weiteres klar ist, welche Teilnehmer beispielsweise einer Demonstration oder Versammlung in welcher Hinsicht als Repräsentanten einer sozialen Bewegung anzusehen sind. Die Herausforderung für eine auch auf Handlungszusammenhänge jenseits formaler Organisationen anwendbare Theorie der Grenzrollen liegt vor diesem Hintergrund erstens darin, durch die Analyse von Grenzfällen Gespür dafür zu entwickeln, wann und inwiefern eine Person in einer Situation als Mitglied eines Sozialsystems auftritt und dabei auch Fälle zu berücksichtigen, in denen diese Frage unter kompetenten Beobachterinnen umstritten ist. Zweitens und daran anschließend ist für diese Konstellationen danach zu fragen, welche Verhaltenserwartungen die Mitglieder des jeweiligen Entsendesystems als für die Grenzkontakte ihrer Mitglieder verbindlich ansehen, bei dem Verstoß gegen welche Verhaltenserwartungen die Mitglieder des Systems mithin die Frage zu stellen beginnen, ob der Familienvater, die Sprecherin einer Protestbewegung oder das Mitglied eines Freundeskreises noch als Vertreterin ihres Systems oder im Dienst anderer Interessen agiert, zum Beispiel ihrer eigenen.

Die skizzierten theoretischen und empirischen Herausforderungen sind also nicht Ausdruck analytisch-konzeptioneller Unzulänglichkeiten, sondern eine Auskunft über die Differenz stark und schwach formalisierter (organisierter) Sozialsysteme. Dass innerhalb einer Gruppe von Fußballfans oder einer Familie Unklarheit oder auch Streit darüber herrscht, wer ihre Interessen auf welche Weise gegenüber Polizei oder Jugendamt vertreten soll, spricht keineswegs dagegen, die Grenzkontakte von Gruppen oder Familien mit einer Theorie der Grenzrollen zu analysieren, sondern dafür, die besonderen Eigenschaften der Vertreter von Gruppen oder Familien auf die Eigenschaften der von ihnen vertretenen Sozialsysteme zurückzuführen. Die Frage, welchen Unterschied die organisationsspezifische Formalisierung von Mitgliedschaftsrollen für das Handeln an Systemgrenzen macht, wird so zu einer der Leitfragen einer systemtypen-vergleichend ansetzenden Soziologie des Handelns an den Grenzen sozialer Systeme.

Ohne diese Frage hier erschöpfend behandeln zu können, scheint mir ein wichtiger Ausgangspunkt die Beobachtung zu sein, dass die für Grenzrollen zentralen Problemlagen im System-Umwelt-Verhältnis in vielen nicht oder nur schwach formalisierten, intern kaum differenzierten Sozialsystemen mit oft wenigen Mitgliedern wie Familien, Schulklassen, Freundeskreisen oder Bands (vgl. Wilbers i.E.) in der Regel nicht von eigens dafür ausdifferenzierte Teilsystemen oder Rollen bearbeitet werden. Welches Mitglied des Systems sich als Vermittler eignet, richtet sich eher nach den von den Systemstrukturen her gesehen zufälligen Fähigkeiten oder personalen Rollenkombinationen der Mitglieder: Ein Mitglied der Clique von Schülerinnen ist bei einer Lehrerin beliebt und wird von ihrer Clique deshalb als Vermittlerin in ein Konfliktgespräch mit der Lehrerin entsendet, ein Mitglied einer Familie im Frankreichurlaub spricht französisch und wird deshalb als Vermittler im Streit mit einem schimpfenden Verkehrsteilnehmer ausgewählt. Personale Rollenkombinationen können auch Grundlage längerfristiger Vermittlungstätigkeiten sein, zum Beispiel, wenn ein Mitglied einer lokalen Bürgervereinigung der Schwager des Bürgermeisters ist und diesen deshalb zuweilen für die Anliegen der Vereinigung zu sensibilisieren versucht. Die Ausdifferenzierung spezifischer Rollen für Vermittlungsleistungen wie der auf die Beziehung zu einer bestimmten Personengruppe spezialisierte Kontaktbeamte der Polizei ist also der für formale Organisationen und organisationsähnliche Gruppen spezifische Versuch, den Vermittlungsbedarf des Systems in höherem Maße unabhängig von dem in der modernen Gesellschaft mehr und mehr zufälligen Anfallen personaler Rollenkombinationen zu bedienen.Footnote 13

3.4 Mechanismen zur Reduzierung der faktischen Freiheit von Nichtmitgliedern in Grenzsystemen

Für Grenzsysteme als Fall nicht formal organisierter Sozialsysteme gilt, dass sie typisch nur einen kleinen Teil der aus Sicht der an ihnen beteiligten Entsendesysteme wünschenswerten Verhaltenserwartungen formalisieren können: Kunden, denen mitgeteilt würde, dass sie ihr Eintritt in das Interaktionssystem des Verkaufsgesprächs zum Kauf des Produktes verpflichtet, würden in der Regel eben deshalb auf Gespräch und Kauf verzichten. In anderen Fällen, beispielsweise im Grenzkontakt zwischen Vernehmer und Beschuldigtem bei der Polizei, sind auf Gesellschaftsebene Rechtsnormen institutionalisiert, die dem Nichtmitglied die Möglichkeit des Kooperationsverzichts explizit zusichern. Die in diesem Kapitel als zentrales Strukturmerkmal von Grenzsystemen herausgearbeitete Freiheit des Publikums zum Kooperationsverzicht kann durch die in das Grenzsystem entsendeten Grenzrollen nicht aus der Welt geschafft, sondern nur mehr oder weniger erfolgreich bearbeitet und reduziert werden.

Aus dieser Problembeschreibung ergeben sich zwei übergreifende Fragestellungen für den Vergleich und die Analyse von Grenzkontakten. Erstens: Wie groß ist die faktische Freiheit des Nichtmitglieds, die Kooperation mit der Grenzrolle zu verweigern? Diese Freiheit kann durch institutionalisierte Werte oder (Rechts-)Normen auf Gesellschaftsebene ebenso eingeschränkt sein wie durch Monopolbildung auf Märkten. Zweitens: Wie gelingt es der Grenzrolle, die Kooperations- und Folgebereitschaft ihres Gegenübers situationsspezifisch oder zeitlich generalisiert herzustellen und dadurch ihre nicht von ihrem Entsendesystem schon garantierte „Einflusssicherheit“ (Luhmann 1964b, S. 132) auf das Nichtmitglied zu erhöhen? Antworten auf diese Fragen können zum einen in der Analyse einzelner Typen von Grenzkontakten gesucht werden. Zum anderen und anschließend an Untersuchungen dieser Art lassen sich auch typenübergreifend einige zentrale Mechanismen der Herstellung von Kooperationsbereitschaft von Nichtmitgliedern in Grenzkontakten unterscheiden und auflisten. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit scheint mir eine solche Liste zumindest die folgenden Einträge umfassen zu müssen:

  1. i)

    Rückgriff auf „Drohmacht“ (Luhmann 1974, S. 224) in dem Sinne, dass dem Gegenüber im Fall von Kooperationsbereitschaft der Verzicht auf eine für ihn ungünstige Handlung in Aussicht gestellt wird, zum Beispiel auf eine Strafanzeige oder Gewaltanwendung.

  2. ii)

    Ein Sonderfall des Einsatzes von Drohmacht in Grenzkontakten ist die oben skizzierte Verwendung des Mitgliedschaftsmechanismus durch die Grenzrolle. Ego, die Grenzrolle, kann Alters Mitgliedschaft im Grenzsystem an Alters Akzeptanz bestimmter Verhaltenserwartungen knüpfen, also mit dem Entzug der Mitgliedschaft im Grenzsystem drohen für den Fall, dass Alter zum Beispiel der ärztlichen Therapieanweisung oder der polizeilichen Anweisung zur Verschwiegenheit bezüglich des Status als Informant nicht Folge leistet.

  3. iii)

    Tauschförmige Motivation des Gegenübers, etwa im Fall einer Bezahlung des Polizeiinformanten oder eines Rabattangebots an den Kunden.

  4. iv)

    Rückgriff auf den gesellschaftlichen oder organisationalen Status oder personenbezogene Merkmale der Grenzrollenträger, im Sinne der Hoffnung, die Kooperationsbereitschaft des Publikums durch die Zugehörigkeit der Grenzrollenträgerin beispielsweise zu einer bestimmten Schicht, Geschlechtskategorie, Religionsgemeinschaft, Organisation oder Berufsgruppe zu erhöhen.

  5. v)

    Rückgriff auf die gesamtgesellschaftlichen Institutionen der Wahrheit (wer nicht folgt, wird aus der Gemeinschaft der Vernünftigen auszuschließen versucht) oder der Moral (der Arzt kann die Eltern nicht zwingen, ihr Kind impfen zu lassen, aber er kann darauf hoffen, dass als unverantwortlich gilt, wer es nicht tut).

  6. vi)

    Nutzung der Eigenmittel der Interaktion. Beispiele dafür sind die Etablierung eines personenbezogenen Vertrauens oder die Erzeugung kommunikativer Zugzwänge, beispielsweise im Verkaufsgespräch zwischen Beraterin und Kunde oder in der Vernehmung zwischen Polizistin und Beschuldigtem.

4 Funktionen und Leistungen von Grenzrollen in Grenzsystemen

Soziologische Beiträge zu Grenzrollen thematisieren typisch zumindest implizit die Frage, welche Funktionen oder LeistungenFootnote 14 Grenzrollen für das System erfüllen, als dessen Mitglied sie in den Kontakt mit Außenstehenden treten. Schon die bloße Anzahl der in der Literatur voneinander unterschiedenen Leistungen von Grenzrollen variiert dabei stark. Am unteren Spektrum findet sich häufig eine Zweierunterscheidung nach Richtung der Aktivität: Repräsentation des Systems nach außen, Gewinnen und Vermitteln von Informationen nach innen (so etwa Aldrich und Herker 1977; Friedman et al. 1992; Büchner 2018, S. 154–156). Autoren, denen diese Unterscheidung zu grob oder unvollständig erscheint, unterscheiden stattdessen bis zu 15 „external activities“ von Grenzrollen (so Ancona und Caldwell 1992, S. 637 ff. in einer viel zitierten Untersuchung zu Produktentwicklungsteams). Die Vor- und Nachteile der sehr detaillierten Unterscheidung typischer funktionaler Leistungen an den Grenzen sozialer Systeme lassen sich knapp benennen: Einerseits wird so verhindert, sachlich verschiedenartige Leistungen wie beispielsweise die Beschaffung gesellschaftlicher Legitimität und die Akquise neuer Kunden begrifflich vorschnell zusammenzufassen und dadurch in empirischen Analysen ungenau zu beschreiben. Andererseits erschwert es eine bloße Auflistung empirisch beobachtbarer Aktivitäten von Grenzrollen, den Zusammenhang und die Spannungen zwischen den für Grenzrollen charakteristischen Problemlagen zu begreifen.

Luhmann thematisiert in seinen Ausführungen zwar verschiedene „Seiten[n]“ des „Auftrags“ (Luhmann 1964b, S. 224) von Grenzrollen, interessiert sich aber nicht für eine systematische Unterscheidung der von Grenzrollen erfüllten Funktionen. In losem Anschluss an Luhmann (1964b), Adams (1980) und Tacke (1997) scheint mir eine auch für empirische Arbeiten ergiebige Vorgehensweise darin zu bestehen, zunächst im Sinne einer Heuristik zentrale Aspekte der Leistungserbringung von Grenzrollen für soziale Systeme zu unterscheiden, ohne deshalb zu behaupten, dass jede Grenzrolle notwendigerweise jede dieser Leistungen erbringt. Plausibler scheint mir die These, dass die meisten Grenzrollen zwar mehrere der im Folgenden unterschiedenen Funktionen für ihr Entsendesystem erfüllen, dabei aber oft auf eine dieser Funktionen hin spezialisiert sind. Mein Vorschlag ist, die folgenden vier Funktionen voneinander zu unterscheiden, die Grenzrollen für das Entsendesystem erfüllen, als dessen Mitglied sie in den Kontakt zu Außenstehenden treten: (i) Der Vollzug systemspezifischer Leistungen an und vor Nichtmitgliedern, (ii) Beiträge zur Informationsgewinnung über ein für das System bedeutsames Umweltsegment, (iii) Beiträge zur Repräsentation des Systems nach außen und schließlich (iv) die Vermittlung zwischen System und Umweltsegment durch Übersetzung der Perspektiven (Problemlagen, Relevanzen, Selbstverständlichkeiten, Tabus usw.) des Systems für das Umweltsegment und des Umweltsegments für das System.

In Anschluss an diese wie ich hoffe nur auf den ersten Blick etwas steril wirkende Unterscheidung verschiedenartiger Formen problemlösender Leistungen von Grenzrollen diskutiere ich zwei Problemkomplexe, die auf den Zusammenhang dieser Funktionen abzielen und die mir für die soziologische Theorie der Grenzrollen zentral zu sein scheinen. Zunächst charakterisiere ich in einem Zwischenfazit „Grenzrollen als multifunktionale Einheiten mit widersprüchlichem Auftrag“ und veranschauliche die Spannungen zwischen den zuvor analytisch voneinander unterschiedenen „Seite[n]“ des „Auftrags“ (Luhmann) von Grenzrollen anhand von Callcenter-Mitarbeitern und Streifenpolizisten. Im darauffolgenden Abschnitt (3.5) formuliere ich die These, dass Grenzrollen aufgrund ihrer Doppelmitgliedschaft in Entsendesystem und Grenzsystem typisch dazu neigen, ihre Loyalität faktisch abweichend von ihrem manifesten Auftrag zu verteilen. Typisch ist, dass Grenzrollen wie Polizistinnen oder Verhandlungsführer manifest eindeutig als Abgesandte einer Partei programmiert sind, es aufgrund der sich ihnen im Grenzkontakt stellenden Problemlagen dann aber zu einer faktischen Symmetrisierung ihres manifest asymmetrischen Auftrags kommt.

4.1 Vollzug von Systemleistungen an und vor Nichtmitgliedern: Grenzrollen als ausführende Organe des Systems

Wenn eine Lehrerin in einer Unterrichtsstunde ihre Schüler unterrichtet, ein Polizist eine Todesnachricht überbringt, eine Gerichtsvollzieherin einen Schuldner aufsucht, um dessen Besitz zu schätzen oder ein Vertreter einer Einzelhandelskette mit Vertretern eines Zulieferbetriebes über einen Vertragsabschluss verhandelt, dann vollziehen diese Grenzrollen im direkten Kontakt mit Nichtmitgliedern Handlungen, die entweder selbst zentrale Leistungen ihrer Organisation oder notwendige Voraussetzung für deren Erfüllung sind. In vielen Fällen ist die Durchführung systemspezifischer Leistungen an, vor und gegebenenfalls mit Nichtmitgliedern als Form der „Behandlung der Umwelt nach festgelegten Entscheidungsprogrammen“ (Luhmann 1964b, S. 223) die primäre und manifeste Funktion von Grenzrollen. Während Thompson (1962) diese Funktion von Grenzrollen zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen gemacht hat, ist sie in der übrigen Literatur zumeist eher als selbstverständlich vorausgesetzt und nicht explizit bezeichnet worden. Thompson betont, dass es für das Verständnis einer Grenzinteraktion zwischen Mitglied und Nichtmitglied zentral ist, die folgenden beiden Variablen zu bestimmen:

Erstens: Die Freiheit der Grenzrolle. Wie konkret kann das Entsendesystem das Handeln ihrer Grenzrolle programmieren? Kann es die Grenzrolle mit Routineprogrammen ausstatten, die unabhängig von dem Verhalten des Publikums Auskunft darüber geben, welches Handeln der Grenzrolle richtig und welches falsch ist, oder kann die Grenzrolle nur mit einem eher unspezifischen Ziel in die Grenzinteraktion geschickt werden, mit der Freiheit, die Wahl der Mittel auch an das Verhalten des Publikums anzupassen? Thompson (1962, S. 310) unterscheidet anhand dieser Frage „programmed“ von „heuristic roles“, seine Überlegungen lassen sich auch mit Luhmanns (1964c, S. 118 ff.) Unterscheidung von „Konditionalprogrammen“ und „Zweckprogrammen“ reformulieren.

Zweitens: Die Freiheit des Publikums. Wie frei ist das Nichtmitglied, sich der Kooperation mit der Grenzrolle zu entziehen? Ist das Nichtmitglied jenseits radikaler Verweigerung zumindest zu einer grundsätzlichen Kooperation mit der Grenzrolle verpflichtet, wie im Fall von Schülern im Kontakt mit Lehrern unter der Bedingung gesetzlicher Schulpflicht, Bürgern in Kontakt mit dem staatlichen Erzwingungsstab oder Gefängnisinsassen im Kontakt mit dem Aufsichtspersonal? Ist das Gegenüber der Grenzrolle zwar nicht zur Kooperation verpflichtet, aber aufgrund eigener Interessen typisch dazu disponiert, etwa im Fall des Kunden auf Märkten mit Monopolbildung? Oder muss die Rollenspielerin an der Grenze jederzeit mit dem Abbruch der Grenzinteraktion durch das Nichtmitglied rechnen und es entsprechend umwerben und ihm taktvoll begegnen? Beispiele für ein weder formal zur Kooperation verpflichtetes noch typisch schon aufgrund eigener Interessen zur Kooperation disponiertes Nichtmitglied sind der Beschuldigte in der Vernehmung bei der Polizei, der Kunde auf einem Markt ohne Monopolbildung oder Personen, die sich ohne formalisierte Mitgliedschaft ehrenamtlich für Vereine, lokale Bürgerinitiativen oder Wohlfahrtsverbände engagieren.

4.2 Informationsgewinnung: Grenzrollen als Sammler, Filter und Träger von Informationen

Grenzrollen erfüllen, zweitens, regelmäßig auch Funktionen für die Konstitution eines systeminternen Bildes eines bestimmten Umweltsegments, dienen metaphorisch gesprochen also als Augen oder „Antennen zur Warnung des Systems“ (Luhmann 1964b, S. 224). Sie sammeln Informationen über die Beschaffenheit des Umweltsegments, interpretieren diese Informationen, fügen sie zu einem innerhalb ihres Systems verständlichen Bild zusammen und vermitteln dieses Bild an systeminterne Stellen. In einigen Fällen ist die Funktion der Beschaffung, Selektion, Interpretation und Weitergabe von Informationen die primäre und manifeste Funktion von Grenzrollen, so etwa im Fall des Geheimdienstmitarbeiters im Außendienst oder im Fall der Polizistin, die als Kontaktbeamtin Informationen über die Entwicklungen innerhalb einer urbanen Subkultur zusammentragen soll. Aber auch in den vielen Fällen, in denen zunächst andere Leistungen für das System im Vordergrund zu stehen scheinen, müssen Grenzrollen ihre im Kontakt mit Nichtmitgliedern gemachten Erfahrungen daraufhin prüfen, ob sie Informationen beinhalten, die Relevanz für die Abläufe in ihrem System haben. So wird von Mitarbeitern eines Unternehmens, die als Unternehmensberaterinnen, Friseure oder Staubsaugervertreterinnen in erster Linie für die Durchführung oder den Absatz von Leistungen ihres Unternehmens und dessen adäquate Außendarstellung zuständig sind, natürlich gleichwohl erwartet, ihre Vorgesetzten über Stimmungen und Veränderungen in der Kundenumwelt zu informieren, falls diese etwa für die Produktentwicklung, Preispolitik oder Öffentlichkeitsarbeit des Unternehmens bedeutsam sind.

Die Einrichtung vieler Grenzrollen lässt sich mithin als eine Form der Reaktion sozialer Systeme auf das Problem begrenzten Wissens über die für es relevanten Umweltsegmente interpretieren. Um einen Beitrag zur Lösung dieses Problems zu leisten, müssen Grenzrollen – etwa Mitarbeiter in Notrufzentralen (Bergmann 1995; Ley 1995; Garcia und Parmer 1999) oder ‚Key Account Manager‘ zur Betreuung wichtiger Kunden (Gediga 2009) – jedoch Selektionsentscheidungen treffen, können also nicht einfach alle ihnen zugänglichen oder auch nur alle an sie herangetragenen Informationen an Stellen innerhalb ihres Systems weiterreichen. Der Verzicht auf Selektivität in der Interpretation und Weitergabe verfügbarer Informationen würde zu einem „information overload“ innerhalb des Systems führen (Aldrich 1979, S. 249). Nicht nur die schiere Anzahl, sondern auch die zunehmende Mehrdeutigkeit und Inkonsistenz der gesammelten Informationen würde es dem System erschweren, diese als Grundlage systemeigener Entscheidungen zu verwenden (Tacke 1997, S. 26 f.). Einig ist sich die Literatur zu Grenzrollen dementsprechend darin, dass Grenzrollen nicht bloß Sammler von Informationen, sondern auch „information filters“ sein müssen, die anfallende Informationen auswählen, interpretieren, zusammenfassen, gewichten und verknüpfen, um sie in eine für ihr eigenes System „usable form“ zu bringen (Aldrich und Herker 1977, S. 218 f.): „Information about the external world must be obtained, filtered, and processed into a central nervous systems of sorts, in which choices are made“ (Weick und Daft 1984, S. 285).

Luhmann (1964b, S. 210) hat diese Überlegungen auf den Zwischenvorgesetzten als systeminterne Grenzrolle zwischen verschiedenen Teilsystemen einer Organisation bezogen und dabei dessen „Flaschenhalsfunktion“ betont. Der Zwischenvorgesetzte als Angehöriger zweier Kommunikationsnetze „verdichtet die Informationen des einen Netzes so, daß sie in dem anderen gebraucht werden können“. Die von Zwischenvorgesetzten und anderen Grenzrollen geleistete Unsicherheitsabsorption liegt dabei nicht nur in dem Inhalt der weitergeleiteten Informationen, sondern vor allem in dem Weglassen aller anderen Informationen:

„Die Grenzstellen interpretieren die Umwelt für das System. Sie müssen Umweltinformationen sichten und sieben und sie in eine Sprache bringen, die im System verstanden und akzeptiert wird. Ihre Verantwortung besteht nicht nur in der Richtigkeit der Informationswiedergabe, sondern vor allem in der Negativgarantie: daß nichts weiter los ist; denn zur Unsicherheitsabsorption an den Grenzen ist es notwendig, die Informationen, die in das System hineingegeben werden, so auszuwählen, daß das System sich auf die Bearbeitung dieser spezifischen Informationen beschränken und alles andere vernachlässigen kann.“ (Luhmann 1964b, S. 224)

Durch ihren regelmäßigen Kontakt zu Nichtmitgliedern ihres Entsendesystems sind Grenzrollen häufiger als Rollen ohne regelmäßigen Publikumskontakt mit Informationen konfrontiert, die nicht ohne weiteres zu den Annahmen und Selbstverständlichkeiten ihres Entsendesystems passen. Sie empfangen die „Verhaltenserwartungen, welche die Umwelt an das System adressiert, sozusagen im Rohzustand und unverfälscht, bevor also die Information durch mehrere Hände gelaufen ist und sich den im System herrschenden Annahmen über die Umwelt angeglichen hat, bevor alles Verfängliche daraus weginterpretiert ist“ (Luhmann 1964b, S. 221) und stellen deshalb früher als andere Mitglieder fest, wenn in der Vergangenheit adäquate und erfolgreiche Entscheidungsprämissen des Systems bezüglich des Umgangs mit Nichtmitgliedern an Angemessenheit verloren haben (Aldrich und Herker 1977, S. 220). In diesen Situationen stehen Grenzrollen vor der Alternative, entweder die in Spannung zu bisherigen Annahmen und Entscheidungen ihres Systems stehende Information zu ignorieren und dadurch dem System die „Chance zum Lernen“ zu nehmen (Tacke 1997, S. 26 f.) oder sich „zum Status quo, zur entschiedenen Politik des Systems in Widerspruch zu setzen, Unruhe zu stiften“ (Luhmann 1964b, S. 224). Da eine solche Initiative vom System her gesehen konkret immer unerwartet sein muss, ist sie durch systemeigene Regeln nur sehr begrenzt programmierbar. Zwar kann den Grenzrollen die Weiterleitung und Formulierung von Kritik an den Systemstrukturen explizit zur Aufgabe gemacht werden, aber welche Kritik als hilfreiche Information und welche als lästige Störung aufgefasst werden wird, lässt sich im Vorfeld nicht mit Sicherheit sagen. Es bleibt daher eine schwer technisierbare Funktion von Grenzrollen, eine für ihr System brauchbare „Balance zwischen Ignoranz und Offenheit“ gegenüber neuartigen, von bisherigen Systemerwartungen abweichenden Informationen zu halten (Tacke 1997, S. 30).

Ein Beispiel für das Misslingen dieses Balanceakts zwischen Ignoranz und Offenheit lässt sich Andreas Glaesers (2003, 2011) Analyse des Verhältnisses des Ministeriums für Staatssicherheit in der DDR (kurz: Stasi) zu seinen inoffiziellen Mitarbeitern in den 1980er Jahren entnehmen, die ich oben (Abschnitt 2.4.2) diskutiert habe. Die unsichere Stellung der inoffiziellen Mitarbeiter als Grenzrollen der Stasi führte dazu, dass diese die von ihnen gemachten Beobachtungen nicht möglichst neutral und ungefiltert an ihre Kontaktpersonen bei der Stasi weiterleiteten, sondern sie so vorinterpretierten, dass die Mitteilungen zu der institutionalisierten Staatsideologie passten. Auf Umwegen hatte das übermäßige Misstrauen der Stasi in ihre Grenzrollen also zur Folge, dass der Nachrichtendienst im Zuge der Beobachtung seines Umweltsegments der Friedens- und Bürgerrechtsbewegung in erster Linie zu sehen bekam, was in der Parteizentrale als Prämisse bezüglich der ideologischen Motivation der Oppositionellen gesetzt war. Mit- und Zuarbeiter von Geheimdiensten und anderen misstrauischen Sozialsystemen sind jedoch nur eines von vielen Beispielen dafür, dass Grenzrollen in Rahmen der Sammlung, Auswahl, Interpretation und Vermittlung von Informationen stets mit der Frage konfrontiert sind, ob und in welcher Form aus ihren Erfahrungen an der Grenze des Systems Informationen für die übrigen Mitglieder des Systems werden sollen. Wie auch immer die Entscheidung ausfällt, immer handelt es sich um eine Form der Unsicherheitsabsorption für das System, um die Übernahme von Verantwortung im Sinne Luhmanns:

„Ein solches Verhalten, das Bruchstücke zusammenfügt und interpretiert, Annahmen in Tatsachen verwandelt und Hoffnungen in Voraussagen, ist in einem elementaren Sinne verantwortungsvoll. Dabei liegt die Verantwortung nicht allein in der Übernahme des Risikos, sondern darin, daß das Risiko anderen abgenommen wird. Ein Arzt, der zur Operation rät, die Nachbarin, die über das Innenleben Dritter berichtet, der Einheimische, der einem Fremden ein Hotel empfiehlt, sie alle verdichten unzureichende Informationen zu einer Darstellung, die einem anderen eine Handlungs- oder Orientierungsgrundlage bietet, ohne daß er diesen informativen Hintergrund selbst kontrolliert. Man kann Verantwortung daher als einen sozialen Prozeß der Informationsverarbeitung beschreiben, der zugleich der Absorption von Unsicherheit und der Bewußtseinsentlastung dient. In diesem Prozeß ersetzt die Verantwortung fehlende Informationen und schafft damit ein Gewißheitsäquivalent.“ (Luhmann 1964b, S. 173 f.; vgl. ähnlich Aldrich 1979, S. 261)

Wie im Fall der oben thematisierten Funktion des Vollzugs systemspezifischer Leistungen an und vor Nichtmitgliedern gilt auch für die Funktion des Sammelns, Filterns, Interpretierens und Weitertragens von Informationen, dass sie durch Entscheidungen im Entsendesystem mehr oder weniger stark programmiert werden kann. In hohem Maße programmiert ist die Informationssuche immer dann, wenn im Entsendesystem eine spezifische Frage definiert ist, die durch die Informationsgewinnung an der Grenze beantwortet werden soll: Plant der Konkurrenzbetrieb die Eröffnung eines neuen Standorts? Freuen sich die entfernten Verwandten in der attraktiven Urlaubsregion wirklich über den mehrwöchigen Besuch der Großfamilie? War der Verdächtige zum Tatzeitpunkt an seinem Arbeitsplatz oder nicht?

Neben diesen spezifischen Fragen, auf die Grenzrollen mit einer fokussierten Suche antworten können, haben viele Sozialsysteme auch Bedarf an Informationen, deren Beschaffung sie ihren Mitgliedern nicht konkret als Auftrag übergeben können, weil es sich um aus Sicht des Systems unvorhergesehene und dennoch bedeutsame Ereignisse handelt. Beispiele dafür sind Sicherheitsbehörden, die sich auch für ihnen bislang unbekannte Bedrohungslagen öffentlicher Sicherheit interessieren müssen oder größere Unternehmen, die Abteilungen für ‚Zukunftsforschung‘ einrichten, deren Aufgabe gerade darin liegt, die Organisation darüber zu informieren, welche ihr gegenwärtig noch unbekannten oder als bedeutungslos erscheinenden Entwicklungen zukünftig an Relevanz gewinnen könnten. Bei Adams (1980, S. 343 f.) finden sich Metaphern für diese beiden Formen des Suchens nach Informationen: Einerseits die Suche mit einem Fernrohr, das auf ein bestimmtes Objekt gerichtete ist, das vielleicht schwer zu erkennen, aber prinzipiell bekannt ist, andererseits die Suche mit einem Radar, mit dessen Hilfe die gesamte (Um-)Welt abgesucht wird, ohne genau zu wissen, ob es überhaupt etwas für das System Bedeutsames zu finden gibt.

4.3 Repräsentation: Grenzrollen als Gesichter und Boten des Systems

Die dritte zentrale Funktion von Grenzrollen sind ihre Beiträge zur Repräsentation des Systems nach außen, also zu der günstigen Darstellung ihres Entsendesystems gegenüber Nichtmitgliedern (vgl. dazu statt vieler Aldrich und Herker 1977, S. 218; Aldrich 1979, S. 253). Auch in Bezug auf diese Funktion gibt es einerseits Rollen wie diejenige des Pressesprechers einer Organisation (vgl. Perrow 1961) oder der Diplomatin im Staatsdienst (vgl. Halperin 1974, Kap. 14), die offensichtlich auf diese Funktion hin spezialisiert sind. Andererseits gibt es Rollen wie diejenige des Arztes im Krankenhaus und der Streifenpolizistin, die falsch beschrieben wären, würde man die günstige Außendarstellung als ihren wichtigsten Beitrag zur Bearbeitung der sich ihrem System stellenden Problemlagen charakterisieren. Und doch gilt natürlich auch für den Arzt und die Streifenpolizistin, dass sie im Kontakt mit Nichtmitgliedern „in besonderer Weise verpflichtet sind, nach außen einen guten Eindruck zu machen“ (Luhmann 1964b, S. 221), die Ziele des Systems als wertvoll und seine Entscheidungen als sinnvoll zu bewerben.Footnote 15

Beiträge zur günstigen Darstellung des Systems scheinen mithin zu den Funktionen zu zählen, die fast alle Träger von Grenzrollen sozusagen nebenbei erfüllen: Während sie an oder vor Nichtmitgliedern agieren, erzeugen sie eine Darstellung, die von Nichtmitgliedern als Information über das von den Grenzrollen vertretene System gedeutet werden kann. Mit Talcott Parsons (1951, S. 66) kann der Begriff der „representative role“ für solche Grenzrollen reserviert werden, deren primäre und manifeste Funktion in der Pflege der Beziehungen eines Systems zu Nichtmitgliedern dieses Systems liegt. Beispiele dafür finden sich wiederum am prägnantesten in Bezug auf formale Organisationen, die spezialisierte Stellen für die Repräsentation des Systems schaffen können und bestimmte Stellen mit dem formalen Recht ausstatten können, im Namen des Systems zu sprechen und zu handeln, also mit einer Kommunikation nicht oder jedenfalls nicht in erster Linie sich selbst, sondern das von ihnen vertretene Sozialsystem zu binden. Beispiele unter anderen sind die Mitglieder der Presseabteilung (vgl. Perrow 1961), sogenannte Key Account Manager, die besonders bedeutsame Kunden eines Unternehmens betreuen (vgl. Gediga 2009) oder Fanbeauftragte professioneller Fußballvereine, die für die Pflege der Beziehung insbesondere zu organisierten Fanvertretern zuständig sind. Aber auch in Gruppen, Protestbewegungen oder Familien können einzelne Mitglieder in besonderem Maße für die Repräsentation des Systems gegenüber einem für es bedeutsamen Umweltausschnitt zuständig sein, so etwa ein Elternteil für die Pflege des Kontakts zu den Bildungseinrichtungen der Kinder oder einzelne Mitglieder einer Gruppe von Fußballfans für die Pflege des Kontakts etwa zu Vertretern der Massenmedien, des Vereins, anderer Fangruppierungen oder der Polizei.

Von Fall zu Fall variiert dabei das Maß, in dem die Nichtmitglieder des Systems die konkrete Grenzrollenträgerin als Repräsentantin ihres Systems ansehen und akzeptieren, ihre Kommunikationen also als Kommunikationen behandeln, die nicht oder jedenfalls nicht in erster Linie sie selbst, sondern das von ihr vertretene Sozialsystem binden. Um dieser Beobachtung Rechnung zu tragen, bietet es sich an, Repräsentation als graduellen Sachverhalt zu konzipieren: Ein Rollenträger repräsentiert faktisch das Umweltsegment für das System oder das System für das Umweltsegment in dem Maß, in dem die jeweils andere Seite die von dem Rollenträger vertretene Interpretation unkritisch übernimmt, in dem Maß also, in dem die Grenzrolle faktisch „Unsicherheitsabsorption“ leistet und „Verantwortung“ im oben erläuterten Sinn übernimmt (vgl. auch Luhmann 1964b, S. 172–190). In dieser Hinsicht machen in formalen Organisationen Innendienstmitarbeiter alles richtig, wenn sie die Informationen der Grenzrollen ohne erneute Prüfung für wahr halten und als Prämisse eigenen Handelns verwenden, ebenso wie Journalisten die Ankündigung eines Vorstandsvorsitzenden als für das von ihm vertretene Unternehmen verbindlich ansehen und dementsprechend darüber berichten. Aber auch jenseits formaler Organisationen gibt es Beispiele für eine hohe Ausprägung der Variable ‚Repräsentation‘, etwa, wenn die Äußerungen von Einzelpersonen in den Massenmedien als Äußerungen einer wenig grenzscharfen Protestbewegungen behandelt werden oder, wenn eine Klassenlehrerinnen unterstellt, dass die von ihr mit einem Erziehungsberichtigten ihres Schülers getroffene Vereinbarung auch für die übrigen Erziehungsberechtigten verbindlich ist.

Eine zweite in Hinblick auf Systemvertretung zentrale Vergleichsdimension betrifft die Frage der Selektion des Repräsentanten. Wie und durch wen wird der Repräsentant als Repräsentant ausgewählt? Zunächst kann grob zwischen Selbstselektion (die Schulklasse wählt ihren Klassensprecher) und Fremdselektion (die Massenmedien wählen ein eloquentes und medienaffines Mitglied einer politischen Partei als ‚Gesicht‘ einer bestimmten Strömung dieser Partei aus; vgl. dazu klassisch Freeman 1972) unterschieden werden, wobei empirisch natürlich auch Mischformen vorliegen. Die Selektion eines Repräsentanten muss dabei nicht notwendigerweise eine Folge expliziter Entscheidungen sein, sondern kann sich schlicht aus Zufällen oder seltenen und im jeweiligen Kontext brauchbaren personalen Rollenkombinationen ergeben, etwa, wenn nur ein Familienmitglied italienisch spricht und deshalb für die Pflege des Kontakts der Familie zu italienischen Verwandten zuständig ist.

4.4 Vermittlung: Grenzrollen als Übersetzer und Schlichter

Schließlich agieren Grenzrollen, viertens, häufig auch als „Übersetzer in beide Richtungen“ (Kieserling 2017, S. 22), die sich darum bemühen, „das System der Umwelt und die Umwelt dem System verständlich“ zu machen (Luhmann 1964b, S. 223). Der Mitarbeiter der Stadtverwaltung, der diese vor einer Versammlung aufgebrachter Stadtteilbewohner vertritt, muss den Bürgern einerseits die Perspektive seines Entsendesystems plausibel zu machen versuchen: Dass es der Stadtverwaltung aus rechtlichen oder finanziellen Gründen nicht möglich ist, auf eine finanzielle Beteiligung der Hauseigentümer an der Sanierung einer Straße, auf den Bau von Sozialwohnungen, auf die Umwidmung eines Wohngebiets in ein Gewerbegebiet oder auf die Schließung einer Grundschule zu verzichten. Insofern die Stadtverwaltung jedoch Interesse an einem „Frieden an der Grenze“ (Luhmann 1964b, S. 223) hat, wird sie sich von ihrer Grenzrolle auch Informationen zu der Frage erhoffen, an welchen für die Anwohner bedeutsamen Aspekten der Stadtverwaltung ein Entgegenkommen möglich ist.

Diese „Rolle eines Vermittlers und Übersetzers zwischen verschiedenen, oft sogar widersprüchlichen Handlungslogiken“ (Crozier und Friedberg 1979, S. 52) spielen innerhalb von Organisationen beispielsweise auch informale Gruppenführer mit hohem Ansehen sowohl in der Gruppe der statusgleichen Kollegen als auch unter den Vorgesetzten. Den Einsatz ihres Einflusses auf die Kollegen im Sinne organisationaler Ziele können sie implizit oder explizit an die Bedingung knüpfen, dass die Vorgesetzten der Belegschaft in anderen Hinsichten wohlwollend begegnen. Informale Anführer von Cliquen in Organisationen können so die vermittelnde Funktion von Grenzrollen zwischen verschiedenen Hierarchiestufen erfüllen, ohne dazu durch die formale Stellenordnung berufen zu sein.

4.5 Zwischenfazit: Grenzrollen als multifunktionale Einheiten mit widersprüchlichem Auftrag

Die bisherige Darstellung hat gezeigt, dass Grenzrollen für ihr Entsendesystem verschiedenartige Problemlagen bearbeiten, die auf das Verhältnis des Systems zu einem für es bedeutsamen Umweltsegment bezogen sind. Ich habe vorgeschlagen, diesbezüglich vier Aspekte zu unterscheiden: (i) den Vollzug systemspezifischer Leistungen an und vor Nichtmitgliedern, (ii) Beiträge zur Informationsgewinnung über ein für das System bedeutsames Umweltsegment, (iii) Beiträge zur Repräsentation des Systems nach außen und schließlich (iv) Beiträge zur Vermittlung zwischen System und Umweltsegment. Selbstverständlich ist es möglich und je nach Forschungsinteresse sinnvoll, diese Funktionen auf andere Weise zu unterscheiden und zu bezeichnen. Der mit der vorgeschlagenen Unterscheidung verbundene Anspruch ist jedoch, dass die genannten funktionalen Leistungen das wesentliche Spektrum der von Grenzrollen manifest oder latent bearbeiteten Problemlagen abdecken und es zugleich erlauben, verschiedene Grenzrollen miteinander zu vergleichen und Spannungen zwischen ihren verschiedenen Funktionen zu beleuchten.

Zum Beispiel: Das Callcenter als Grenzsystem zwischen einem Unternehmen und seinen Kunden

Um diesen Anspruch durch Anschauung zu plausibilisieren, beziehe ich die von mir vorgeschlagene Unterscheidung der vier zentralen Funktionen von Grenzrollen exemplarisch auf das in einem Aufsatz von Ursula Holtgrewe und Christian Kerst (2002) zusammengestellte empirische Material zu Callcentern, die in der Sprache meiner Analyse als Grenzsysteme zwischen dem Unternehmen, in dessen Auftrag telefoniert wird und seiner Kundenumwelt bezeichnet werden können. Die von den Autoren beschriebenen Organisationsmitglieder vollziehen erstens das operative Geschäft der Organisation, in deren Auftrag sie telefonieren, indem sie tun, was sie tun, zum Beispiel Kunden beraten oder Verträge abschließen. Zweitens filtern die Mitarbeiter Informationen aus der Kundenumwelt beispielsweise über typische Probleme bei der Nutzung der Produkte der Organisation und haben den oft eher vagen Auftrag, die von ihnen als relevant angesehenen Informationen an entsprechende Stellen der Organisation weiterzuleiten. Drittens repräsentieren sie das Unternehmen gegenüber dem Kunden. Die interviewten Mitarbeiter haben in dieser Hinsicht den Eindruck, dass die Kunden typisch den Einfluss ihrer Gesprächspartner am Telefon auf organisationale Entscheidungen deutlich überschätzen und das telefonierende Mitglied so behandeln, als sei es mit der Organisation identisch. Und schließlich vermitteln die Callcenter-Arbeiter viertens zwischen den divergierenden Interessenslagen von Kunden und Unternehmen durch die Moderation von Konflikten, etwa, indem sie dem Kunden zu erklären versuchen, warum eine Entscheidung des Unternehmens so ausgefallen ist, wie sie ausgefallen ist oder, indem sie dem Kunden (vermeintliche) Sonderkonditionen anbieten, um einen Konflikt beizulegen.Footnote 16

Von Callcenter zu Callcenter variabel ist gemäß der Studie von Holtgrewe und Kerst (2002, S. 152) das Ausmaß an Standardisierung der Grenzrollenarbeit im Callcenter. Typisch ist, dass die Mitarbeiter mit Leitfäden zur Gesprächsführung versorgt und manchmal auch in Schulungen auf ihre Arbeit vorbereitet werden. Die dort artikulierten Verhaltenserwartungen werden von den telefonierenden Grenzrollen im Gespräch mit Nichtmitgliedern ihres Entsendesystems jedoch eher im Sinne eines Drehbuchs mit Lizenz zur Improvisation verstanden. Wie zu erwarten, nimmt mit zunehmender Komplexität des Gesprächsinhalts die Standardisierung ab, ist also etwa die Aufnahme einer Bestellung im Versandhandel normativ und faktisch stärker standardisiert als die Beratungsleistung für Finanzprodukte.

Zum Beispiel: Grenzsysteme in der Polizeiarbeit

In Hinblick auf das Verhältnis der verschiedenen Funktionen von Grenzrollen zueinander ist im Zuge der bisherigen Darstellung bereits deutlich geworden, dass die Anforderung sozialer Systeme an ihre Grenzrollen, die „Umwelt nach festgelegten Entscheidungsprogrammen“ zu behandeln (Luhmann 1964b, S. 223), faktisch oft inkompatibel mit der Bearbeitung anderer Problemlagen an der Systemgrenze ist. Die typische Ursache dieser Spannungen ist, dass Grenzrollen häufig auf die nicht erzwingbare Kooperationsbereitschaft von Nichtmitgliedern ihres Systems angewiesen sind, etwa, um Zugriff auf Informationen im Besitz von Nichtmitgliedern zu erlangen, deren Verständnis für die Perspektive des Systems zu erhöhen oder Erfolge in der Vermittlung zwischen System und Umweltsegment zu erreichen. Ein zentrales und oft unverzichtbares Mittel der Herstellung dieser nicht erzwingbaren Kooperationsbereitschaft der Nichtmitglieder ist die Kompromissbereitschaft der Grenzrollen in Form des Verzichts auf eine rigide Durchsetzung systemeigener Programme.

Ein anschauliches Beispiel für diese Spannung zwischen ‚rigider Programmanwendung‘ und ‚Herstellung einer nicht erzwingbaren, aber systemdienlichen Kooperationsbereitschaft von Nichtmitgliedern‘ lässt sich einer älteren Darstellung des US-amerikanischen Soziologen William F. Whyte entnehmen. Whyte beschreibt das Verhältnis von Streifenpolizisten in Boston zu Inhabern von Geschäften und Bars, in deren Hinterzimmern zuweilen illegales Glücksspiel betrieben wird. Whyte meint nun, dass es zwei grundlegend verschiedene Möglichkeiten gibt, Polizeiarbeit in diesem Viertel zu betreiben. Der Polizist könne entweder eine konsequente Rechtsdurchsetzung anstreben oder für sich um Konfliktregulierung im Viertel bemühen:

„The policemen who takes a strictly legalistic view of his duties cuts himself off from the personal relations necessary to enable him to serve as a mediator of disputes in his area. The policemen who develops close ties with local people is unable to act against them with the vigor prescribed by the law.“ (Whyte 1974, S. 125)

Whytes These lässt sich gut mit der in diesem Kapitel diskutierten Theorie der Grenzrollen und Grenzsysteme explizieren: Die Grenzrolle in Gestalt des Polizisten, der vor allem darauf bedacht ist, die Normen seines Entsendesystems, in diesem Fall die Normen des Strafrechts, durchzusetzen, wird von ihrem Gegenüber nicht als möglicher Kooperationspartner, sondern als lästige Störung wahrgenommen und hat keine Chance auf den Aufbau einer guten Beziehung. Eine solche gute Beziehung ist jedoch erforderlich, um zwei der anderen oben genannten Funktionen von Grenzrollen zu erfüllen: Die Beschaffung bedeutsamer Informationen und die Gewährleistung von Frieden an der Grenze. Die Polizistin, die auf eine rigide Durchsetzung des Glückspielverbots verzichtet, mag im Austausch dafür vom Geschäftsinhaber über bedrohliche Entwicklungen im Viertel und vertrauliche Gespräche im Hinterzimmer informiert werden und kann diese Informationen einsetzen, um aus ihrer Sicht bedeutsamere Straftaten zu verhindern oder aufzuklären. Die von Whyte beschriebenen Polizisten müssen also wählen, ob sie in erster Linie gemäß ihres manifesten Auftrags als konsequente Rechtsanwender und Repräsentanten des Rechts, oder ob sie in vorsichtiger Abweichung von ihrem manifesten Auftrag in erster Linie als Streitschlichter und Lieferanten schwer zugänglicher Informationen agieren wollen.Footnote 17 Wie in allen anderen Fällen von Grenzrollenarbeit ist diese Wahl weniger durch die individuellen Vorlieben der Rechtsanwenderin, sondern vielmehr durch die sozial institutionalisierten Normen in ihrem Entsendesystem bestimmt, in diesem Fall also neben den manifesten Rechtsnormen auch durch die informal institutionalisierten Normen im Kreis der Vorgesetzten und Kollegen im Streifendienst.

5 Zwischenbetrachtung in generalisierender Absicht: Zur faktischen Symmetrisierung eines manifest asymmetrischen Auftrags von Grenzrollen in Grenzsystemen

In den Abschnitten zu „Repräsentation“ und „Vermittlung“ als wichtigen Funktionen von Grenzrollen habe ich darauf hingewiesen, dass Grenzrollen typisch als Übersetzer zwischen zwei Welten agieren. Ihre Stellung disponiert sie dazu, sich regelmäßig zu bemühen, nicht nur die Perspektiven, Wünsche und Empfindlichkeiten ihres Entsendesystems für das Umweltsegment, sondern auch umgekehrt die Eigenarten des Umweltsegments für ihr Entsendesystem zu plausibilisieren. Diese symmetrische Grundeinstellung lässt sich auch bei vielen Grenzrollen beobachten, die der offiziellen und manifesten Rollenbeschreibung nach eindeutig Abgesandte der einen Seite sind. Ein Beispiel dafür ist der Betriebs- oder Personalrat in Unternehmen oder Verwaltungen, der seiner offiziellen und auch rechtlich fixierten Aufgabenbeschreibung nach für die bestmögliche Vertretung der Interessen der Arbeitnehmer zuständig ist, faktisch aber auch gegenüber der Belegschaft die Perspektiven der Organisationsleitung repräsentiert und sein Ziel oft in einer Vermittlung zwischen den beiden Seiten sieht (Fürstenberg 1958; Kretschmar 1994, S. 68 ff.). Dieses Ziel kann er allerdings kaum erreichen, wenn er gegen jede Entscheidung der Organisationsleitung protestiert, die negative Folgen für Teile der Belegschaft hat, sondern nur dann, wenn er zuweilen auch Kompromissbereitschaft zeigt. Als vermittelnde Einrichtung zwischen Belegschaft, Gewerkschaft und Unternehmensführung kann der Betriebsrat den Erwartungen seiner Umweltpartner jeweils nur selektiv nachkommen und kann seine eigene Position gerade durch die Initiierung von Kompromissen zwischen auf den ersten Blick nicht zu vereinbarenden Positionen der Umweltpartner stärken (vgl. Luhmann 2018b, S. 265 f.).

Diese Überlegung lässt sich am besten in Bezug auf Grenzrollen formaler Organisationen generalisieren, die explizit und manifest mit einem asymmetrischen Auftrag ausgestattet sind: Handelsreisende (Dreyfuss i.E.[1933]) und andere Mitarbeiter im Vertrieb eines Unternehmens, die in dessen Auftrag Produkte verkaufen sollen, Polizistinnen, die im Auftrag der Staatsanwaltschaft Beschuldigte vernehmen oder Diplomaten, die im Auftrag des Außenministeriums an einer Veranstaltung teilnehmen, sind Abgesandte eines sozialen Systems, handeln also in dessen Auftrag und nicht etwa gleichermaßen im Auftrag ihres Gegenübers im Grenzsystem oder im Auftrag anderer sozialer Systeme, deren eigene Abgesandte an dem Grenzsystem beteiligt sein mögen. Eine generalisierbare These der Soziologie von Grenzrollen lautet nun, dass Grenzrollen in Grenzsystemen – also im Gespräch mit dem potenziellen Kunden oder Informanten oder im Kontakt mit Diplomaten anderer Staaten – in Abweichung von diesem manifesten Auftrag zu einer Symmetrisierung ihres asymmetrischen Auftrags neigen. Rollenspieler an Systemgrenzen nehmen in Grenzkontakten und vor allem in auf Dauer angelegten Kontaktsystemen etwa zu Informanten der Polizei oder Vertretern von Zulieferorganisationen eines Produktionsbetriebs eine besondere Rolle ein und diese Rollenübernahme im Grenzkontakt macht die oft als „going native“ mehr beklagte als erklärte Tendenz der Grenzrollen zur Entfremdung von ihrem Entsendesystem verständlich. Kurz: Die strukturelle Einbettung des Grenzkontakts versorgt Grenzgänger in allen Bereichen der Sozialwelt regelmäßig mit Gründen, ihre Loyalität faktisch symmetrischer zu verteilen, als dies gemäß ihres manifest asymmetrischen Auftrags geboten wäre.

6 Going native, misstrauische Entsendesysteme und die Aussicht auf Machtgewinn: Charakteristika und Handlungsprobleme von Grenzrollen in Grenzsystemen

Ergänzend zu der bisherigen Darstellung finden sich in der vorliegenden Literatur zum Agieren von Grenzrollen in Grenzsystemen zumindest drei weitere Themenschwerpunkte, die ich in diesem Abschnitt darstelle und auf ihren Zusammenhang befrage. Ich beginne mit der Beobachtung, dass Grenzrollen sich im Laufe ihrer Grenztätigkeit häufig den Normen des jeweiligen Umweltsegments annähern, gehe dann über zu dem auch deshalb an sie adressierten Misstrauen seitens des Entsendesystems und diskutiere schließlich die Frage, warum Grenzrollentätigkeit in der soziologischen Literatur als eine „erstrangige Autoritätsquelle“ (Luhmann 2000b, S. 210) gilt. Hinter meiner Darstellung steht die These, dass diese und weitere in der Literatur seit den 1960er Jahren in der Regel bloß aufgelisteten Merkmale des Handelns an den Grenzen sozialer Systeme als Folge der in den Abschnitten 3.2 und 3.3 rekonstruierten Strukturmerkmale von Grenzrollen und Grenzsystemen interpretiert werden können, nämlich der Doppelmitgliedschaft der Grenzrolle in Entsendesystem und Grenzsystem sowie der Angewiesenheit der Grenzrolle auf die Kooperation eines formal nicht zur Kooperation verpflichteten Publikums.

6.1 Kleine Illoyalitäten: Devianz und Misstrauen an der Grenze

Grenzrollen wie Lehrer, Vernehmerinnen, Verhandlungsführer, Journalistinnen oder Feldforscher sind, das habe ich oben ausführlich herausgearbeitet, für die erfolgreiche Bearbeitung der sich ihnen stellenden Problemlagen auf die nicht erzwingbare Kooperationsbereitschaft von Nichtmitgliedern ihres Entsendesystems angewiesen. Daraus folgt, dass Grenzrollen dazu disponiert sind, die Sensibilitäten und Erwartungen ihres Publikums im Blick zu behalten und diese Erwartungen nicht ohne Not und nicht dauerhaft zu enttäuschen. Viele Handlungen, mit denen Grenzrollen um die Gunst ihres Publikums zu werben versuchen, erscheinen aus Sicht ihres Entsendesystems allerdings als zumindest „kleine Illoyalitäten“ (Luhmann 1964b, S. 226), als Handlungen also, die von den im Entsendesystem an die Grenzrolle gerichteten normativen Erwartungen nicht voll gedeckt sind. Ein Beispiel dafür ist die Verhandlungsführerin einer Konfliktpartei, die Informationen über Meinungsverschiedenheiten unter den Mitgliedern der anderen Partei nicht an ihr Entsendesystem weiterleitet, obwohl diese Informationen die Verhandlungsposition ihrer Partei stärken würden. Oder umgekehrt: Ein Verhandlungsführer, der der anderen Partei – sei es tatsächlich, sei es nur dem Schein nach – mehr Informationen über interne Entscheidungsprozesse seiner Partei zukommen lässt, als ihm gemäß seines Auftrags erlaubt ist. In beiden Fällen zeigt die Grenzrolle der Gegenseite ihren guten Willen und bemüht sich darum, deren Kooperationsbereitschaft mit dem Verstoß gegen die Normen des eigenen Entsendesystems zu erhöhen.

Interessant ist vor diesem Hintergrund die Beobachtung, dass der Verstoß gegen die Normen ihres Entsendesystems insbesondere für solche Grenzrollen ein naheliegendes Mittel der Problemlösung ist, die in ihren Außenkontakten mit einem hohen Maß an Misstrauen rechnen müssen und deshalb besondere Maßnahmen ergreifen müssen, um das Vertrauen ihrer Kontaktpartner zu gewinnen. Beispielsweise muss ein verdeckt zu Reichsbürgern recherchierender Journalist den Reichsbürgern bei der Planung ihrer nächsten Aktion zumindest irgendwie behilflich sein, will er sie dazu bringen, ihn an ihren Geheimnissen teilhaben zu lassenFootnote 18 und gerät dadurch in eine Spannung zum Ideal der möglichst unbefangenen und unbeteiligten Beobachtung. Gleichsam ist eines der stärksten Signale, das verdeckte Ermittler der Polizei in kriminellen Milieus für ihre vermeintliche Vertrauenswürdigkeit senden können die Durchführung von Handlungen, die ihnen formal verboten sind, also das Begehen schwerer Straftaten (vgl. Gambetta 2009a).

Die Doppelmitgliedschaft der Grenzrollen und ihre Angewiesenheit auf die nicht erzwingbare Kooperationsbereitschaft von Nichtmitgliedern lassen sich also als strukturelle Gründe für die „Gefahr des Abtrünnigwerdens oder der Nachgiebigkeit gegenüber fremden Einflüssen“ (Luhmann 1964b, S. 223) interpretieren. „Beinah unausweichlich“, so Crozier und Friedberg, würden Grenzrollen „beim Vollzug Ihrer Aufgaben … dazu verleitet sein, sich mit den Bedürfnissen, Problemen, ja den ‚Mentalitäten‘ der jeweiligen Umweltsegemente zu identifizieren, mit denen Sie guten Kontakt halten sollen, und diese gegenüber den internen Funktions- und Leistungsanforderungen ihrer Organisation zu privilegieren“ (Crozier und Friedberg 1979, S. 95). Diese recht allgemein gehaltene Auskunft lässt sich spezifizieren, wenn verschiedene Formen der Grenzrollenarbeit in Bezug auf zwei Fragen miteinander verglichen werden, nämlich erstens die Frage nach dem Ausmaß, in welchem der Erfolg der Arbeit an der Grenze von der Kooperationsbereitschaft des Nichtmitglieds abhängig ist – je mehr, desto wahrscheinlicher das ‚going native‘ der Grenzrollenträger. Und zweitens die Frage nach dem Ausmaß, in dem die Arbeit an der Grenze standardisiert und seitens der Heimatorganisation einsehbar ist – je mehr, desto unwahrscheinlicher das ‚going native‘ der Grenzrollenträger.

Gegenmaßnahmen des Entsendesystems: Standardisierung, Kontrolle und Rotation

Nicht nur die Gefahr des Abtrünnigwerdens, die „Versuchung […], das System von seinem festgesetzten Kurs zu zerren“ (Luhmann 1964b, S. 238), verbindet verschiedene Grenzrollen miteinander, auch die zur Eindämmung dieser Gefahr seitens der Entsendesysteme ergriffenen Gegenmaßnahmen ähneln einander (vgl. dazu auch Aldrich und Herker 1977, S. 226). Die wichtigsten dieser Gegenmaßnahmen sind die Standardisierung von Arbeitsabläufen, die Kontrolle von Arbeitsabläufen beispielsweise durch die Einführung von Dokumentationspflichten und schließlich Rotationsverfahren, also ein regelmäßiger Austausch der Mitglieder im Außendienst.

Die Grenzen und Folgeprobleme dieser Maßnahmen liegen auf der Hand. Viele Formen des Handelns an Systemgrenzen wie die investigative Recherche eines Journalisten, der Einsatz verdeckter Ermittler im Bereich organisierter Kriminalität und das Führen einer Koalitionsverhandlung entziehen sich in weiten Teilen der Programmierbarkeit durch Konditionalprogramme. Dokumentationspflichten bringen einen in der Regel aus Sicht des Grenzpersonals unsinnigen Zusatzaufwand mit sich und führen deshalb oft nicht zu einer regelkonformeren Praxis, sondern zu einer stärkeren Entkopplung der Praxis von ihrer Darstellung (vgl. Bernstein 2012). Und schließlich verhindert der regelmäßige Austausch von Personen in Grenzrollen den Aufbau persönlicher Vertrauensbeziehungen und intensiver Milieukenntnisse, die für die erfolgreiche Arbeit an der Grenze oft unverzichtbar sind. Dieses Dilemma angesichts der nicht gegeneinander aufrechenbaren Vorzüge und Unkosten von Rotationsverfahren im Außendienst hat Jonathan Rubenstein (1978, S. 140) anhand von Polizeibehörden herausgearbeitet: Einerseits nützt es der Behörde, wenn ihre Beamten lange in einem Viertel eingesetzt sind, sich dort auskennen, frühzeitig Warnung über bedenkliche Entwicklungen weitergeben können und wissen, bei wem sie welche Informationen erhalten. Andererseits und zugleich macht der Verzicht auf regelmäßige Rotation auch die Entstehung von Korruptionsbeziehungen wahrscheinlicher und führt dazu, dass die Leistungsfähigkeit und -bereitschaft der Grenzarbeiter schwer einzuschätzen ist, da der Vergleich mit den Leistungen von Vorgängern fehlt.

Auch Fälle wie die Debatte um die ethnographische Forschung Alice Goffmans (2009, 2015) oder der Skandal um den Spiegel-Journalisten Claas RelotiusFootnote 19 veranschaulichen die hier thematisierte Problematik gut: Die Freiheit in der Grenzarbeit ist einerseits eine notwendige Arbeitsgrundlage der Forscherin und des Journalisten im Feld, deren Möglichkeiten zu sehr beschnitten wären, würde ihre Redaktion oder Berufsethik sie darauf verpflichten, Gespräche mit Informanten aufzuzeichnen oder nur in Begleitung von Kollegen zu führen. Andererseits ermöglicht eben diese Freiheit auch den Verstoß gegen die Normen des Entsendesystems, hier in Gestalt des Erfindens von Informanten und Informationen. Angesichts dieser nicht aufhebbaren Spannungen hat schon Thompson (1962, S. 322) darauf hingewiesen, dass es eine anspruchsvolle und ihrerseits schwer technisierbare Daueraufgabe des Entsendesystems ist, die primäre Loyalität der Grenzrollen auf ihrer Seite zu halten. Die zur Verfügung stehenden Mittel sind diejenigen, die von Organisationssoziologen (vgl. Kühl 2011, S. 37 ff.) in Hinblick auf die Frage nach Mitteln zur Herstellung einer generalisierten Mitgliedschaftsmotivation unterschieden werden, insbesondere: Gute Bezahlung; Aussicht auf Beförderung oder andere Gratifikationen; Maßnahmen zur Steigerung der Identifikation mit dem Zweck des Entsendesystems; Maßnahmen zur Steigerung der Solidarität unter Kollegen, sofern diesen durch Illoyalitäten an der Grenze Nachteile entstehen.

„Distrust cycle“: Misstrauen als self-fulfilling prophecy

Mehr oder weniger unabhängig von der Frage der faktischen (Il)Loyalität der Grenzrollenträger ist der immer mögliche Verdacht, dass sie nicht exklusiv im Dienst des Entsendesystems, sondern zumindest auch im Dienst anderer Interessen agieren könnten (vgl. Luhmann 1964b, S. 238). Wenn eine Verhandlungsführerin – beispielsweise einer politischen Partei in Koalitionsgesprächen, der Belegschaft in Tarifverhandlungen oder einer Einzelhandelskette in Verhandlungsgesprächen mit einem Zulieferer – ihrem Entsendesystem eine Mitteilung über das ‚wirklich letzte Angebot‘ der Gegenseite macht, stellt sich für die Mitglieder im Innendienst des Entsendesystems regelmäßig die Frage, ob ihre Vertreterin tatsächlich das bestmögliche Ergebnis erzielt hat oder möglicherweise gar im Tausch gegen persönliche Vorteile auf harte Verhandlungen verzichtet hat.

Eine Konsequenz des immer möglichen Misstrauens in die Loyalität der Träger von Grenzrollen hat John Stacy Adams (1980) mit seinem Konzept des distrust cycle dargestellt. Der Ausgangspunkt der Misstrauensdynamik ist, dass das strukturell angelegte Misstrauen bezüglich der Loyalität der Grenzrollen für das Entsendesystem ein Motiv zur Überwachung und Kontrolle der Aktivitäten an den Systemgrenzen ist. Die Grenzrollen reagieren darauf häufig ihrerseits mit der Darstellung einer möglichst systemkonformen und unnachgiebigen Haltung, so zum Beispiel die damalige SPD-Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles vor der Aufnahme der Koalitionsverhandlungen mit den Unionsparteien im Jahr 2018 mit der Ankündigung, zu „verhandeln, bis es quietscht“. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass auf eine solche dargestellte Unnachgiebigkeit des einen Grenzrollenträgers auch die Gegenseite mit Unnachgiebigkeit reagiert,Footnote 20 was ein Scheitern der Kooperation wahrscheinlicher werden lässt und dann seinerseits zu einer Zunahme des Misstrauens in die Loyalität und Fähigkeit der Grenzrollenträger führt. Kurz: Misstrauen führt zu Überwachung und Kontrolle, diese zur Darstellung besonders unnachgiebiger Loyalität der Grenzrollen zu ihrem Entsendesystem, diese zu Unnachgiebigkeit des Publikums, diese zum Scheitern der Kooperation, diese zu Misstrauen in die Loyalität der Grenzrolle, usw. (Adams 1980, S. 333–335; vgl. Friedman et al. 1992, S. 30).

Auch dieses Argument lässt sich auf die Arbeit von Journalisten mit Informanten beziehen: Wenn eine Redaktion von ihren recherchierenden Mitarbeitern im Außendienst aus Misstrauensgründen die konsequente Dokumentation ihrer Arbeit einfordert und etwa die Aussagen von Interviewpartnern nur dann abdruckt, wenn das Interview als Tondokument mitgeschnitten worden ist, erschwert sie ihren Grenzrollen damit zugleich den Aufbau von Kooperationsbeziehungen zu Nichtmitgliedern. Ein Informant, der einem Journalisten im vertraulichen Hintergrundgespräch Informationen zukommen lässt, wird diese nicht in jedem Fall wiederholen, wenn seine Aussage aufgezeichnet wird. Eine Redaktion, die ihren Mitarbeitern im Außendienst nicht vertraut und sie deshalb durch Standardisierung, Dokumentationspflichten oder Rotation zu kontrollieren versucht, mag vor Betrug besser geschützt sein, erschwert ihren Mitarbeitern aber zugleich die Gewinnung von Informationen, die nur unter Bedingungen persönlichen Vertrauens gewonnen werden können.

Das zu erwartende Maß an Misstrauen in die Grenzrolle variiert wiederum mit dem Grad der Programmierbarkeit ihrer Tätigkeit (je höher, desto geringer das Misstrauen) und darüber hinaus auch mit dem Maß, in dem das Entsendesystem seine Umwelt als feindlich wahrnimmt. Misstrauische Sozialsysteme, die wie Geheimdienste und Polizeien gute Gründe haben, damit zu rechnen, dass Akteure in ihrer Umwelt sie täuschen wollen, haben eben deshalb auch gute Gründe zu befürchten, dass die Loyalität ihrer Grenzrollen von eben diesen feindlichen Mächten umworben wird. Auf Seiten der Grenzrolle entspricht dem die „anxiety about how he is perceived ‚back home‘“ (Adams 1976, S. 1176). Gelingt es dem Entsendesystem nicht, den Übergang von Misstrauen in Paranoia zu verhindern und der Grenzrolle nicht, die durch das Misstrauen in sie erzeugte eigene Unsicherheit zu kontrollieren, drohen die von Adams mit dem Konzept des „distrust cycle“ formulierten Konsequenzen: Das nicht hinreichend begrenzte Misstrauen des Entsendesystems in seine Grenzgänger macht es diesen unmöglich, ihren Auftrag im Sinne des Entsendesystems zu erfüllen. Weitere Anschauung für diese Misstrauensdynamik findet sich in den oben diskutierten Analysen Andreas Glaesers (2003, 2011) zu der Beziehung zwischen dem Ministerium für Staatssicherheit und ihren inoffiziellen Mitarbeitern in der DDR: Das übermäßige Misstrauen der Stasi in ihre Informanten führte auf Umwegen dazu, dass die Informanten in ihren Berichten die in der Behörde institutionalisierten Überzeugungen wiederholten, statt sie durch eigene Beobachtungen zu irritieren.

6.2 Macht: Gute Beziehungen, wertvolle Informationen und begehrtes Wissen als Machtquellen der Grenzarbeit

Ich komme nun zu dem letzten Thema meiner Darstellung der Theorie der Grenzrollen in Grenzsystemen, und zwar zu der Rekonstruktion und Interpretation der Beobachtung, dass das Agieren an den Grenzen sozialer Systeme häufig mit einem Gewinn an Macht oder Einfluss verbunden ist. Der folgende Abschnitt zeigt, welche Machtquellen in besonderem Maße mit dem Handeln an den Grenzen sozialer Systeme verbunden sind, also nur hier oder hier in einer spezifischen Form auftreten und soll so die Frage beantworten, warum die Verortung einer Rolle an Systemgrenzen in der soziologischen Literatur als eine „erstrangige Autoritätsquelle“ (Luhmann 2000b, S. 210) gilt. Wenngleich die Vielfalt der empirisch beobachtbaren Formen von Grenzkontakten auch in dieser Hinsicht Generalisierungen erschwert, gilt doch für einen Großteil von Grenzrollen, dass ihre Träger systeminterne Macht im Sinne eines generalisierten Einflusses auf die Verhaltensprämissen anderer SystemmitgliederFootnote 21 vor allem aus drei voneinander unterscheidbaren Quellen gewinnen können, nämlich aus (i) guten Beziehungen zu Personen in für das Entsendesystem bedeutsamen Umweltsegmenten, aus (ii) einem Zugang zu wertvollen Informationen aus dem Umweltsegment und (iii) aus einem spezifischen Wissen über das Umweltsegment.

Zu Machtquellen werden gute Beziehungen, Informationszugang und Wissen jedoch nur in dem Maß, in dem sie an die konkrete Person des Grenzrollenträgers gebunden sind und ihre Übertragbarkeit auf andere Personen problematisch ist. Prinzipiell unmöglich ist eine Übertragung dieser Ressourcen auf andere Personen nur selten. Typisch aber ist, dass die Weitergabe von Beziehungen und Wissen einigen Aufwand und vor allem die nicht erzwingbare Kooperationsbereitschaft des Grenzrollenträgers erfordert. Nicht ohne Weiteres vom Entsendesystem erzwingbar ist beispielsweise die Bereitschaft eines aus dem Dienst ausscheidenden Grenzstelleninhabers, seine Nachfolgerin nicht nur über den offiziellen Stand der Verhandlungen mit einem Umweltkontakt zu informieren, sondern darüber hinaus auch über bewährtes Erfahrungswissen im Umgang mit besonders wichtigen Kontaktpersonen zu berichten oder seinem Nachfolger nicht nur den Zugang zu seinen zukünftigen offiziellen Ansprechpartnern im Umweltsegment zu ermöglichen, sondern ihn darüber hinaus auch in informalen Kontaktnetzwerken als vertrauenswürdig zu empfehlen. Nicht erzwingbar ist die Weitergabe dieser Ressourcen häufig schon deshalb nicht, weil ihre Existenz im Entsendesystem nicht (offiziell) bekannt ist.

(Gute) Beziehungen als Machtquelle

Das von einem Grenzrollenträger angesammelte „Kapital an externen Beziehungen“ (Crozier und Friedberg 1979, S. 52) kann wiederum verschiedenartige Grundlagen haben. Zum einen sind hier die von der manifesten Rollenbeschreibung her gesehen zufälligen, aber doch im Dienst des Entsendesystems einsetzbaren personalen Rollenkombinationen zu nennen, also etwa persönliche Bekanntschaften zwischen einer Grenzrollenträgerin und ihrem Gegenüber, die zuweilen dazu führen, dass die Kooperationsbereitschaft des Gegenübers zunimmt und die Interaktion dann leichtgängiger auch im Sinne des Entsendesystems gestaltet werden kann. Ein Beispiel dafür ist der Angehörige einer lokalen Bürgerinitiative, der mit einer Lokaljournalistin befreundet ist und deshalb bessere Aussichten hat, sie zu einer (positiven) Berichterstattung über die Anliegen der Bürgerinitiative zu bewegen.

Eine andere Grundlage der guten Beziehung eines Grenzrollenträgers zu einem Umweltsegment ist sein ‚guter Ruf‘, also die personengebundene Reputation eines Grenzrollenträgers in einem für sein Entsendesystem bedeutsamen Umweltsegment, den der Grenzrollenträger in der Regel durch vergangene Leistungen in Grenzkontakten erworben hat. Ein Beispiel dafür ist der Journalist, der im Bundeskanzleramt als vertrauenswürdig und seriös gilt und dem deshalb brisante Informationen etwas früher zugespielt werden als seinen Kollegen, wofür er sich seinerseits mit einer auch aus Sicht des Bundeskanzleramtes ausgewogenen Berichterstattung erkenntlich zeigt. Ein anderes Beispiel ist die in einem Krankenhaus angestellte Ärztin, der ein wohlhabender Patient für eine komplizierte Behandlung persönlich dankbar ist und deren Vorschlag, das Krankenhaus durch Spenden zu unterstützen, deshalb Einfluss auf den wohlhabenden Patienten hat. Selbst dann, wenn die Beziehungen einer Grenzrollenträgerin zu bedeutsamen Segmenten der Systemumwelt nicht besonders gut, sondern bloß vorhanden sind, sind sie als Quelle systeminternen Einflusses nicht zu vernachlässigen. Personen, die in einer Organisation etwa Zugriff auf relevante Adresslisten oder Zugang zu relevanten Netzwerken haben, über die Informationen verbreitet oder gewonnen werden können, können aus diesem Zugriff auch dann systeminternen Einfluss gewinnen, wenn sie in dem fraglichen Netzwerk nicht beliebt, sondern bloß bekannt sind.

Worauf auch immer die (guten) Beziehungen eines Grenzrollenträgers beruhen und was auch immer im Einzelnen durch sie erreicht werden kann: Sie werden zu einer im Entsendesystem einsetzbaren Quelle von Macht in dem Maße, in dem der Grenzrollenträger seine Beziehungen in den Dienst des Entsendesystems stellen kann und diese Beziehungen nicht ohne Weiteres von seiner Person ablösbar, mithin „Arbeitsmittel im notwendigem Privatbesitz“ sind (Luhmann 1968e, S. 98). Sofern beides gilt, kann der ‚Besitzer‘ guter Beziehungen „von seiner Grenze aus alle Vorgesetzten überspielen und sich kraft seiner Außenbeziehungen einen inneren Status aufbauen …, der die hierarchische Ordnung durcheinanderbringt“ (Luhmann 1964b, S. 238; vgl. auch Kühl 2011, S. 75). Dieser Gedanke spielt auch in der von Crozier und Friedberg (1979, S. 52) formulierten Organisationstheorie eine wichtige Rolle:

„Und die Individuen und Gruppen, die durch ihre vielfältigen Verbindungen, ihr Kapital an Beziehungen zu diesem oder jenem Segment der Umwelt, diese Ungewißheitszone, zumindest teilweise, zum Vorteil der Organisation beherrschen können, werden in deren Rahmen ganz natürlich über sehr viel Macht verfügen. Dies ist die Macht des sogenannten ‚marginal-sécant‘, das heißt, eines Akteurs, der mehreren in Beziehung zueinander stehenden Handlungssystemen angehört und daher die unerläßliche Rolle eines Vermittlers und Übersetzers zwischen verschiedenen, oft sogar widersprüchlichen Handlungslogiken spielen kann. Beispiele unter anderen wären hier der Handlungsreisende, mit seinem Kapital an externen Beziehungen, sowie auch die gleichzeitig als Vertrauensleute tätigen Mitglieder einer Belegschaft, deren Verhalten für den Ausbruch eines Streiks entscheidend sein kann.“

Privilegierter Zugang zu wertvollen Informationen und Fachwissen als Machtquelle

Der privilegierte Zugang zu Informationen aus einem für das Entsendesystem bedeutsamen Umweltsegment ist auch deshalb eine wichtige zweite Machtquelle von Grenzrollen, weil er mit der oben diskutierten Tätigkeit der selektiven Weitergabe dieser Informationen verbunden ist. Mit der von Luhmann (1984, S. 111 ff.) vorgeschlagenen Unterscheidung der drei Sinndimensionen lässt sich formulieren, dass die Macht von Grenzrollenträgern auch in ihrer Fähigkeit begründet liegt, die in ihrem Heimatsystem verfügbaren Informationen in allen drei Dimensionen zu beeinflussen: sachlich beeinflussen sie, welche Inhalte in welcher Form weitergeleitet werden, zeitlich beeinflussen sie den Zeitpunkt des Bekanntwerdens der Information im System und sozial beeinflussen sie, welche Stellen im System (zuerst) informiert werden. Das Handeln an den Grenzen sozialer Systeme geht also typisch mit der Möglichkeit einher, zu beeinflussen, welche Informationen aus dem Umweltsegment welchen Mitgliedern des Entsendesystems zu welchem Zeitpunkt in welcher Form bekannt werden (siehe zu diesem Aspekt auch Crozier und Friedberg 1979, S. 52 f.; und für Fallstudien Spekman 1979; Pettigrew 1972).Footnote 22

Die Möglichkeiten der zeitlich, sachlich und sozial selektiven Weiterleitung von Informationen sind vielfältig. So kann eine Grenzrolle in Bezug auf die Sachdimension Einfluss nehmen, indem sie eine aus ihrer Sicht strategisch ungünstige Information schlicht verschweigt oder indem sie die Empfänger der Information im Heimatsystem durch die Weitergabe sehr vieler Informationen überlastet und die aus ihrer Sicht strategisch ungünstige Information so zu ‚verstecken‘ versucht. Die in der Fähigkeit zur selektiven Weitergabe von Informationen begründete Macht der Grenzrollen neutralisiert die Macht im Inneren des Entsendesystems nicht, kann aber die Anwendung dieser systeminternen Macht stark beeinflussen, insofern sie die Entscheidungsprämissen im Inneren des Entsendesystems beeinflusst:

Der im allgemeinen Machtüberlegene, etwa der Vorgesetzte in einer formalen Organisation, „mag seine Macht behalten, er weiß nur nicht, wie und wofür er sie benutzen soll. Man kann demnach vermuten, dass mit der Diffusion von Unsicherheit im System die in der formalen Hierarchie organisierte Macht nicht obsolet wird, aber die Form ihrer Praxis ändert. Sie wird nicht durch Macht von unten oder durch horizontal auf sie einwirkende Macht neutralisiert; sie wird nur zu einer Unsicherheitsquelle eigener Art, mit der man sich arrangieren muss. Wenn Verständigungen in Kraft gesetzt werden sollen, muss man den zuständigen Vorgesetzten auf der entsprechenden Ebene dafür gewinnen.“ (Luhmann 2000b, S. 212)

Eine dritte wichtige Grundlage der spezifischen Macht von Grenzrollen sind schließlich „die detaillierten Fakten- und Umweltkenntnisse“ (Luhmann 1968e, S. 98) desjenigen, der sich als einziges oder als eines von wenigen Mitgliedern eines Systems, etwa einer lokalen Polizeibehörde, mit einem bestimmten Umweltsegment, etwa der Lokalpresse oder der Fußballfanszene, über einen längeren Zeitraum intensiv beschäftigt hat. Die Grenzrolle mit einem Wissensmonopol bezüglich der in einem relevanten Umweltsegment herrschenden Zustände und Sensibilitäten kann den Einsatz ihres Wissens im Sinne des Entsendesystems in eine Steigerung ihres systeminternen Status zu transformieren suchen.

Variablen mit Einfluss auf den Machtgewinn an der Grenze

Offensichtlich ist, dass nicht jeder Grenzrollenträger, etwa ein Verkäufer im Supermarkt, aus seiner Tätigkeit an der Grenze des Systems in nennenswertem Umfang Macht innerhalb des Systems schöpfen kann. Eine Theorie der Grenzrollen muss deshalb auch angeben können, unter welchen Bedingungen Grenzarbeit eine Quelle von Macht ist. Mir scheinen dafür drei Variablen zentral zu sein, wobei immer gilt, dass eine stärkere Ausprägung der Variable einen Gewinn an systeminterner Macht wahrscheinlich werden lässt.

Erstens: Die Bedeutsamkeit des Umweltsegments (der Beziehung zu dem Umweltsegment) für die Arbeit im operativen Kern des Entsendesystems. Dementsprechend gewinnt eine Kriminalpolizistin innerhalb ihrer Behörde an Macht, wenn sie gute Kontakte zu bedeutsamen Personen im kriminellen Milieu (Zuhälter, Drogenkuriere), in der Politik (Innenministerium) oder in der Presse hat. Das Maß des Machtgewinns korreliert positiv sowohl mit der Bedeutsamkeit des Umweltsegments als auch mit dem Status der Kontaktperson innerhalb des Umweltsegments. Zweitens: Der Grad der Exklusivität der Doppelmitgliedschaft in Entsendesystem und Grenzsystem, wobei ein Kontaktmonopol die stärkste Ausprägung dieser Variable ist. Beispielsweise gewinnt eine Journalistin mit guten Kontakten in das Bundeskanzleramt stärker an internem Einfluss in ihrer Redaktion, wenn die Quantität und Qualität ihrer Kontakte die ihrer Kollegen übertrifft. Drittens: Das Maß, in dem eine Rollenspielerin ihren Grenzkontakt vor anderen Systemmitgliedern verbergen kann. Je besser die Abschottung gelingt, desto höher die Freiheiten der Darstellung des Umweltsegments für das System und des Systems für das Umweltsegment. Ein Zwischenvorgesetzter, dessen Vorgesetzte keine eigene Anschauung über die aktuelle Arbeitssituation der Angestellten auf den unteren Hierarchieebenen haben, kann den Wert seines Einflusses auf die Angestellten bei Bedarf gegenüber seinen eigenen Vorgesetzten übertreiben.

Informationszugang, Kontakte und Wissen verhelfen einem Grenzrollenträger allerdings nur in dem Maß zu Machtgewinnen, in dem seine Ersetzbarkeit aus Sicht des Entsendesystems problematisch ist. Die Ersetzbarkeit der Person hängt dabei wiederum auch mit der Frage zusammen, in welchem Ausmaß die Arbeit an der Grenze in Routineprogramme übersetzt werden kann (vgl. dazu Aldrich und Herker 1977, S. 227). Grenzrollenträger gewinnen an Autonomie gegenüber den Strukturvorgaben ihres Entsendesystems und an Einfluss in ihm also, weil und insofern sie in ihrer „Rolle im Zwischensystem“ (Luhmann 1964b, S. 238) als Person nicht ohne negative Rückwirkungen auf das Entsendesystem ausgetauscht werden können.

Folgen des Machtgewinns an der Grenze für das Entsendesystem: Irritation der Hierarchie und ein Kontinuum des Interesses zwischen Grenzrolle und Umweltsegment

Wenn Träger von Grenzrollen aus der Arbeit an der Grenze Macht innerhalb des Systems gewinnen können, hat dies zwei bedeutsame Konsequenzen. Erstens übersteigt die faktische Macht der Grenzrollenträger ihre formal vorgesehene Macht.Footnote 23 Zweitens tendieren Grenzrollenträger, die durch ihre Grenztätigkeit Macht im Entsendesystem gewinnen, dazu, ein Interesse an dem Erhalt oder einer Steigerung der Bedeutsamkeit des jeweiligen Umweltsegments für das Entsendesystem zu entwickeln. Es bildet sich also ein Interessenskontinuum zwischen Grenzrolle und Umweltsegment heraus, das von der manifesten normativen Struktur des Heimatsystems her gesehen illegitim ist.

In diesem Sinne haben James March und Martha Feldmann (1990, S. 470) darauf hingewiesen, dass Ökologiebeauftragte in Organisationen schnell bemerken, dass ihr Status in der Organisation steigt, wenn die externe Kritik, für deren Absorption sie ursprünglich zuständig waren, an Bedeutsamkeit zunimmt. Die Grenzrolle und das Umweltsegment teilen also ein Interesse am Erhalt und an der Bedeutsamkeitssteigerung eines Themas, das aus Sicht des Entsendesystems ursprünglich als Ärgernis definiert worden war (vgl. dazu auch Tacke 1997, 33 f.). Ein ähnliches Kalkül können sich etwa auch Mitarbeiter von Polizeien oder Geheimdiensten zu eigen machen, die für die Beobachtung oder Kontrolle bestimmter Umweltsegmente wie einer Protestbewegung oder einer devianten Subkultur zuständig sind. Je bedrohlicher sie ihrer Entsendeorganisation die Lage im Umweltsegment schildern, desto größer ihr systeminterner Einfluss. Auch die in den oben diskutierten Arbeiten Andreas Glaesers (2003, 2011) beschriebenen inoffiziellen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit in der DDR lassen sich in dieser Perspektive analysieren: Dass sie die von ihnen beobachtete Friedens- und Bürgerrechtsbewegung entgegen der beobachtbaren Tatsachen, aber in Übereinstimmung mit der Ideologie der Staatsführung als radikale Antisozialisten dargestellt haben, sicherte ihnen die Aufmerksamkeit und das Lob ihrer Führungsoffiziere im Entsendesystem.

Crozier und Friedberg (1979, S. 97) weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es zwar richtig ist, dass Rollenspieler an Systemgrenzen aus ihren guten Beziehungen zu Kontaktstellen im Umweltsegment (Relais) gegenüber ihrem Entsendesystem eine „Machtposition“ und „gewichtige Erpressungsmöglichkeiten“ gewinnen können. Nicht übersehen werde dürfe aber die ebenso typische Abhängigkeit der Kontaktstellen im Umweltsegment (Relais) vom Entsendesystem und seinen Grenzrollen, „da ein mehr oder weniger wichtiger Teil ihrer Handlungsfähigkeit und ihrer Macht (und also ihrer Möglichkeit, ihre persönlichen Ziele zu verfolgen) gerade an ihre Funktion als Relais gebunden ist, das heißt, indirekt an die Existenz der Organisation, mit der sie so zumindest teilweise solidarisch werden.“ Crozier und Friedberg (1979, S. 97 f.) beschreiben die Beziehung zwischen Grenzrolle und Umweltkontakt also als Machtspiel, in dem diejenige Seite machtüberlegen ist, der es gelingt, der anderen Seite ihren „Willen zur Fortsetzung der Beziehung ‚so teuer wie möglich zu verkaufen‘“. Für zentral halten sie dabei die Strategie, sich für das Gegenüber unersetzbar zu machen, also ein Monopol zu etablieren und zugleich eigene Alternativen zu erhalten oder zu schaffen. Für Fälle stark einseitiger Machtbeziehungen sprechen Crozier und Friedberg von einer „Kolonialisierung der Organisation“, also des Entsendesystems, bzw. einer „Kolonialisierung des Relais“, also der Kontaktstelle im Umweltsegment.

7 Forschungsperspektiven: Funktionen und Folgen vager Mitgliedschaftsverhältnisse und die Grenzschärfe sozialer Systeme als Variable

Die in diesem Kapitel vorgelegte Interpretation der Forschungsliteratur zu (organisationalen) Grenzrollen hat neben begrifflichen Klärungen und einer Identifikation der für Grenzrollen in Grenzsystemen spezifischen Funktionen, Strukturmerkmale und Handlungsprobleme auch zentrale Fragestellungen einer Soziologie des Handelns an den Grenzen sozialer Systeme offengelegt. Dazu zählen insbesondere die folgenden Fragen: Welche der für Grenzrollen charakteristischen Funktionen erfüllt eine Grenzrolle für ihr Entsendesystem – sei es als Bestandteil eines manifesten Auftrags oder als latente Funktion? Welche Spannungen bestehen zwischen diesen funktionalen Leistungen und wie werden sie bearbeitet? In welchen Hinsichten ist das Entsendesystem auf die Kooperation des Nichtmitglieds angewiesen, mit dem die Grenzrolle in Kontakt tritt? Über welche Mechanismen verfügt die Grenzrolle, um die nicht erzwingbare Kooperationsbereitschaft des Nichtmitglieds wahrscheinlicher zu machen? Welche der dabei eingesetzten und von der normativen Struktur des Entsendesystems aus gesehen unterlegitimierten oder auch illegalen Mittel gelten im Entsendesystem als brauchbar, welche als Anzeichen der Illoyalität des Grenzrollenträgers? Inwiefern kommt es im fraglichen Grenzsystem zu einer faktischen Symmetrisierung des manifest asymmetrischen Auftrags der Grenzrolle? In welcher Form kontrolliert das Entsendesystem die Tätigkeit seines Abgesandten im Grenzkontakt? Welche Rolle spielt dabei Vertrauen, in welchen Hinsichten ist die Grenzrolle mit Misstrauen aus ihrem Entsendesystem konfrontiert und (wie) gelingt es dem Entsendesystem, eine Eskalation kontrollierten Misstrauens in Richtung einer unkontrollierten Paranoia zu verhindern?

Kafkas Geheimpolizei, Influencer, Polizeiinformanten und andere Fälle konstitutiv vager Mitgliedschaft an den Grenzen sozialer Systeme

Diese und ähnliche Fragen sind geeignet, die Forschung zu spezifischen Typen von Grenzkontanten anzuleiten, etwa meine Analysen zum Kontakt zwischen Polizisten und ihren Informanten (Kapitel 6) oder Beschuldigten (Kapitel 8). Zum Abschluss dieses Kapitels will ich aber noch auf ein in der vorliegenden Literatur selten behandeltes und für eine Theorie des Handelns an den Grenzen sozialer Systeme naheliegendes und ergiebiges Thema eingehen, und zwar auf Konstellationen, in denen eine Person Grenzrollenfunktionen für ein soziales System erfüllt, ohne eindeutig als Mitglied dieses Systems bezeichnet werden zu können. Um sich der spezifischen Funktionsweise dieser Grenzgänger ohne (vollen) Mitgliedschaftsstatus zu nähern, ist ein Blick auf Luc Boltanskis Analyse der in Franz Kafkas (1925) „Prozess“ beschriebenen Ermittlungsbehörde hilfreich, die sich unter anderem durch ihre für Außenstehende schwer erkennbaren Grenzen von gewöhnlichen (staatlichen) Organisationen unterscheidet:

„Die undurchsichtige und subversive Geheimorganisation hat nämlich im Unterschied ... zu legalen Organisationen keine klaren Grenzen. Sie nimmt die Form eines Netzwerkes mit verschwommenen Grenzen an ... und man kann nie genau wissen, ob diese oder jene Figur von ihr unabhängig ist oder aber insgeheim zu ihrem Funktionieren beiträgt, etwa als Informant oder Spion.“ (Boltanski 2013, S. 475 f.)

Boltanskis Beobachtung ist nicht nur für eine Analyse der Mitglieder wenig grenzscharfer Sozialsysteme wie Kafkas Geheimpolizei instruktiv, sondern auch für eine Analyse der langfristig eingesetzten Informanten ganz normaler staatlicher Polizeien und Geheimdienste in Rechtsstaaten. Diese Rollenträger unterhalten kontinuierliche Austauschbeziehungen zu der jeweiligen formalen Organisation und erfüllen zentrale Funktionen von Grenzrollen, ohne dadurch formales Mitglied der jeweiligen Sicherheitsbehörde zu werden. Was in Kafkas Romanwelt für den Kontakt mit Mitgliedern der Ermittlungsbehörde gilt, gilt in der Welt heutiger Polizeien und Geheimdienste für den Kontakt mit ihren Informanten: Es gehört zu den Funktionsbedingungen dieser Rollen, dass ihr jeweiliges Gegenüber nicht weiß, „ob sie Handlanger der staatlichen Organisation sind oder nicht“ (Boltanski 2013, S. 476).

Ein zweites Beispiel für diese funktional konstitutive Vagheit der Beziehung zwischen Grenzrolle und Entsendesystem entnehme ich mit dem Bereich des Wirtschaftens einem ganz anderen Sachbereich. Hier hat sich seit einigen Jahren die noch nicht klar umgrenzte, aber bei heutigen Schülern schon regelmäßig als Wunschberuf angegebene Rolle der ‚Influencer‘ etabliert. Diese Influencer, die auf Online-Videoplattform oder Websites teilweise mit großer Publikumsresonanz Kopfhörer, Nagellack oder Rennräder besprechen, sind formal offensichtlich keine Mitglieder des Unternehmens, dessen Produkte sie – je nach Interpretation – testen oder bewerben. Gleichwohl stehen viele erfolgreiche Influencer in einer kontinuierlichen Austauschbeziehungen zu dem jeweiligen Unternehmen, werden mit neuen Produkten versorgt, die sie gemäß der Wünsche des Unternehmens besprechen sollen und werden von dem Unternehmen zumeist erfolgsabhängig für ihre Arbeit bezahlt. Faktisch repräsentieren sie gemäß des oben vorgeschlagenen, breiten und gradualisierbaren Begriffs von Repräsentation das Unternehmen gegenüber seiner Kundenumwelt. Als Nichtmitglieder haben sie natürlich keinen formalen Einfluss auf Unternehmensentscheidungen, aber als nicht ohne weiteres austauschbare Gesichter des Unternehmens prägt ihre Kommunikation das Verhältnis des Unternehmens zu seiner Kundenumwelt. Nun besagt die im Entstehen begriffene Berufsethik für Influencer, dass der Influencer gegenüber den Wünschen der Unternehmen autonom sein soll und sich wie ein guter Produkttester zu verhalten hat und es dürfte gerade diese dargestellte Neutralität der Influencer sein, die sie als Werbeträger für Unternehmen so attraktiv macht. Oder, in der Sprache dieses Buches: Influencer können die Grenzrollenfunktionen, vor allem Repräsentation, aber zuweilen auch Informationsgewinnung oder Vermittlung, für das Unternehmen gerade deshalb so gut erfüllen, weil sie nicht formale Mitglieder des Systems sind, in dessen Auftrag sie faktisch oft handeln.Footnote 24

Mit diesem abschließenden Hinweis auf zwei Fälle funktional konstitutiver Nichtmitgliedschaft bzw. funktionaler Vagheit von Mitgliedschaft an den Grenzen sozialer Systeme soll nun allerdings gerade nicht der in Teilen der Sozialwissenschaften beliebten Erzählung das Wort geredet werden, dass in einer dann vielleicht als postmodern bezeichneten Gegenwartsgesellschaft Grenzen generell und also auch Organisationsgrenzen verschwimmen würden. Insbesondere für die Polizei als staatliche Organisation gilt, dass ihre Grenze in Gestalt der Unterscheidung zwischen ihren Mitgliedern und Nichtmitgliedern in der Regel eine eindeutige und stark institutionalisierte Grenze ist. Gleichwohl zeigt die Angewiesenheit der Polizei auf ihre Informanten, dass das Funktionieren auch grenzscharfer Organisationen systematisch auf den Einsatz von Personen in Grenzrollen angewiesen sein kann, die nicht formale Mitglieder der Organisation sind. Die Tätigkeit der Informanten der Polizei steht in einer engen Verbindung zum operativen Kern der Organisation und oft wird das Verhältnis zwischen Organisation und Nichtmitglied auch schriftlich fixiert in Form von Verträgen, die etwa die Bezahlung des Informanten regeln oder ihm einen spezifizierten Verzicht auf Strafverfolgung zusichern. Daraus folgt aber gerade nicht, dass die Informanten der zeitgenössischen Polizei zu Polizisten werden, wie es noch im Fall der Karriere Eugène François Vidocqs vom Gefängnisinsassen zum Polizeispitzel zum Leiter der Pariser Kriminalpolizei zu Beginn des 19. Jahrhunderts möglich war (siehe dazu Abschnitt 5.2). Das Verhältnis heutiger Polizeiorganisationen zu ihren Informanten veranschaulicht vielmehr exemplarisch, dass aus der systematischen Angewiesenheit einer formalen Organisation auf eine Kategorie von Nichtmitgliedern wie Informanten oder Werbeträgern nicht der Schluss gezogen werden sollte, dass die Grenzen der Organisation selbst verschwimmen würden. Die Informanten werden so wenig zu Polizisten, wie die Werbeträger zu Mitarbeitern eines Unternehmens werden – obwohl natürlich in beiden und ähnlichen Fällen die Interessen und Handlungen der Nichtmitglieder einen signifikanten Einfluss auf Organisationsentscheidungen und -erfolg haben können.

Neben den beiden von mir diskutierten Beispielen gibt es viele weitere Fälle von Beauftragten eines Systems ohne (vollen) Mitgliedschaftsstatus, zum Beispiel die von einem Unternehmen langfristig engagierte externe Beraterin, der Privatdetektiv im Auftrag einer Polizeibehörde, der im Auftrag einer Redaktion recherchierende freie Journalist oder die V-Person aus dem Milieu organisierter Kriminalität, die ebenso wie gewöhnliche Organisationsmitglieder generalisiert zur Zusammenarbeit mit der Organisation motiviert wird. In Bezug auf Rollen dieser Art haben auch Michel Crozier und Erhard Friedberg (1979, S. 98) die Alternative thematisiert, dass ein Umweltkontakt, der in ihrer Theoriesprache „Relais“ genannt wird, entweder als Nichtmitglied Aufträge für das Entsendesystem übernimmt oder als Mitglied in das System integriert wird. Als zentrale Differenz benennen die Organisationstheoretiker, dass eine in das Entsendesystem integrierte Grenzrolle sich in höherem Maß Regeln unterwerfen muss, die sie nicht selbst gestalten kann und ihre Machtposition tendenziell abnimmt. Ein Beispiel dafür ist der zunächst als freier Mitarbeiter einer Redaktion tätige Journalist, der aus Sicht der Redaktion leichter ersetzbar wird, sobald er als fester Mitarbeiter in die Redaktion eingetreten ist und ihr seine guten Kontakte zu Informanten und anderen Umweltpartnern zur Verfügung gestellt hat.

In Hinblick auf das Entsendesystem wäre diese Überlegung von Crozier und Friedberg zu ergänzen um den Hinweis, dass die formale Integration der Grenzrolle auch dazu führt, dass ihre Handlungen in höherem Maße und mit höherer Wahrscheinlichkeit auf das Entsendesystem zugerechnet werden.Footnote 25 Dass darin ein funktionaler Nachteil liegen kann, zeigt der oben thematisierte Fall der Influencer, die gerade als Nichtmitglieder des Unternehmens Kundennähe simulieren können, ebenso wie ein Blick auf das Feld der (Industrie-)Spionage oder auf Privatdetektive und V-Personen, die Aufträge für Sicherheitsbehörden übernehmen können, die ein Polizist nicht übernehmen kann, so lange der Auftrag als Auftrag nicht nachweisbar ist. Ein Beispiel dafür ist die in Kapitel 8 über die polizeiliche Beschuldigtenvernehmung analysierte Konstellation, dass Privatpersonen – etwa Privatdetektive oder Angehörige des Beschuldigten – im inoffiziellen Auftrag von Polizeibehörden vernehmungsähnliche Gespräche führen und aufzeichnen. Diese Gespräche sind im Gegensatz zu den von Polizisten durchgeführten Vernehmungen nicht durch die in der Strafprozessordnung festgehaltenen Rechte des Beschuldigten reglementiert. Manchmal ermöglichen also gerade der Verzicht auf formale Mitgliedschaft oder die strategische Ausnutzung vager Mitgliedschaftsverhältnisse erfolgreiches Handeln an den Grenzen sozialer Systeme.