Das in diesem Kapitel entwickelte Konzept „misstrauischer Sozialsysteme“ soll zur Bezeichnung und Analyse eines Typs sozialer Systeme dienen, die wie zum Beispiel kriminalpolizeiliche Abteilungen, investigativ-journalistische Recherchekollektive, Geheimdienste, Organisationsabteilungen für interne Ermittlungen und andere mit Kontrollaufgaben betraute Sozialsysteme nicht nur funktional auf die Gewinnung von Informationen über bestimmte Umweltsachverhalte spezialisiert sind, sondern für die darüber hinaus gilt, dass die gesuchten Informationen nicht einfach unkritisch eingesammelt, sondern im Modus der Geheimnisaufklärung gewonnen werden müssen, weil das ermittelnde System damit rechnet, dass im fraglichen Umweltsegment Prozesse des Verbergens und Täuschens ablaufen mit dem Ziel, die Informationsgewinnung durch das ermittelnde System zu behindern. Auf Grund dieser Lage können die ermittelnden misstrauischen Sozialsysteme ihr Ziel der Gewinnung zutreffender InformationenFootnote 1 nur erreichen, wenn sie dem ihnen jeweils zugänglichen ersten Eindruck nicht vorbehaltlos trauen, sondern ein überdurchschnittliches Maß an Skepsis und Misstrauen gegenüber den ihnen zugänglichen Informationen und Informanten praktizieren und institutionalisieren.

Das damit knapp und abstrakt skizzierte Konzept „misstrauischer Sozialsysteme“ entwickle ich in den folgenden Abschnitten anschließend an verschiedene Stränge soziologischer Theoriebildung, vor allem Georg Simmels (1908a) Soziologie des Geheimnisses, Niklas Luhmanns (1968c, 2001) Unterscheidung von Vertrauen und Misstrauen als zwei zueinander funktional äquivalente Mechanismen der Reduktion sozialer Komplexität sowie Erving Goffmans (1969) Theorie strategischer Interaktionen. Aus der neueren Literatur verarbeite ich darüber hinaus einige der Thesen, die Luc Boltanski (2013) im Zuge seiner Analyse der Kriminal- und Spionageromane formuliert hat. Ich beginne die Entwicklung des Konzepts „misstrauischer Sozialsysteme“ mit der Unterscheidung von Informationsgewinnung als elementarem Problem aller sozialen Systeme einerseits (2.1) von Geheimnisaufklärung als spezifischem Problem misstrauischer Sozialsysteme andererseits (2.2), diskutiere dann die Unterscheidung von Vertrauen und Misstrauen als zwei zueinander funktional äquivalenter generalisierter Umwelteinstellungen (2.3) und beende die Darstellung mit einigen Thesen zu misstrauischen Sozialsystemen als Systemtyp mit typischen Systemproblemen (2.4).

1 Informationsgewinnung als elementares Systemproblem

„Alle Organismen benutzen auf ihre je verschiedene Art Informationen, die sie aus ihrer unmittelbaren Umgebung aufnehmen und aufgrund derer sie angemessen auf das reagieren können, was um sie herum vorgeht und wahrscheinlich vorgehen wird (…) Bei den höheren Organismen, insbesondere beim Menschen, reicht der Instinkt nicht aus, es kommt vielmehr zu bewußten zielgerichteten Bemühungen um Informationsgewinnung (…) Man kann hier davon sprechen, daß der Betreffende sich ein Bild von seiner Situation macht, wozu die Gewinnung von Information wie auch ihre Verwendung bei Entscheidungen gehört.“ (Goffman 1969, S. 17 f.)

Personen, die – sei es als Einzelperson, sei es in ihrer Rolle als Mitglied eines sozialen Systems – Entscheidungen treffen und Handlungen ausführen, tun dies auch auf Grundlage von Überzeugungen über die Beschaffenheit der Welt. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei diesen Entscheidungen um praktisch brauchbare und vielleicht sogar rationale Entscheidungen handelt, steigt, wenn es sich bei den der Entscheidung zugrundeliegenden Informationen um zutreffende Informationen handelt. Daher ist die Gewinnung zutreffender Informationen über die für ein System bedeutsamen Umweltsegmente ein elementares Problem aller sozialen und psychischen Systeme. Als solches eignet es sich gut als Ausgangspunkt einer äquivalenzfunktionalistischen Analyse,Footnote 2 die darauf abzielt, strukturell verschiedenartige Sachverhalte, zum Beispiel die Anwerbung eines Systeminsassen als Geheimnisverräter einerseits, die Entsendung eines verdeckt ermittelnden Spions andererseits, als zueinander funktional äquivalente Lösungen eines abstrakt formulierten Bezugsproblems, zum Beispiel Geheimnisaufklärung, zu interpretieren und sie in Hinblick auf ihre jeweiligen Folgeprobleme miteinander zu vergleichen.

Für die meisten Personen ist es in den meisten Situationen leicht, Zugang zu den für ihr Handeln und ihre Entscheidungen bedeutsamen Informationen zu erhalten und die Zuverlässigkeit oder Brauchbarkeit dieser Informationen mit einer für praktische Zwecke hinreichenden Wahrscheinlichkeit zutreffend einzuschätzen. Wir vertrauen in der Regel unserer eigenen Erinnerung und Wahrnehmung und weichen, falls eigene Anschauungen nicht zur Verfügung stehen, auf die Befragung von Gelegenheitsinformanten aus, etwa, wenn wir uns bei Passanten nach dem kürzesten Weg zum Bahnhof erkundigen, Kollegen um die Beurteilung der aktuellen Stimmung des gemeinsamen Vorgesetzten bitten oder Ärzte nach ihrem Urteil bezüglich der Nebenwirkungen eines Medikamentes fragen. Das Vertrauen in Informanten dieser Art kann seinen Grund in der Rolle des Gegenübers (Arzt, Polizist, Wissenschaftler) oder in seiner Person (dieser Kollege, mein Arzt) haben oder sich einer noch stärker generalisierten Zuversicht bezüglich des Wissens und der Zuverlässigkeit anderer Menschen verdanken, etwa, wenn wir annehmen, dass eine uns unbekannte Personen keinen Grund hat, uns bei der Frage nach dem kürzesten Weg zum Bahnhof ihr Unwissen zu verschweigen oder uns gar absichtlich unzutreffende Informationen mitzuteilen.

In diesen und ähnlich gelagerten Fällen bewährt es sich zumeist, dem Informanten und den von ihm erhaltenen Informationen zu vertrauen, also die jeweils erhaltenen Informationen in eigenen Entscheidungen ohne weitere Prüfung als zutreffend zu behandeln und den Vertrauensvorschuss in die Zuverlässigkeit des Informanten erst im Fall von (wiederholten) Enttäuschungen zurück zu nehmen. Diese praktische Notwendigkeit von Vertrauen – von Georg Simmel als „Hypothese“ etwa über den Zustand der Welt oder das Handeln eines anderen Menschen und somit als „ein mittlerer Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen“ (Simmel 1908a, S. 393) charakterisiert – ist ein in der Geschichte der Philosophie und Soziologie oft behandeltes Thema. Auch die Anhänger der erkenntnistheoretischen Position des radikalen Skeptizismus müssen als Handelnde und erst recht als Handelnde im Kontakt mit anderen Handelnden die komplexitätsreduzierenden Leistungen von Vertrauen (Luhmann 1968c) in Anspruch nehmen und akzeptieren, dass (soziales) Handeln nur als „Kreditwirtschaft“ (Simmel 1908a, S. 398) möglich ist. Deshalb muss auch Sextus Empiricus (1993, 99 f.) in seinem im 2. Jahrhundert verfassten „Grundriß der pyrrhonischen Skepsis“, der zu einem Gründungsdokument des radikalen Skeptizismus werden sollte, seinen Schülern die Empfehlung aussprechen, in praktischen Dingen auf die Brauchbarkeit von Sitte und Gesetz zu vertrauen, ohne an deren Wahrheit zu glauben.

„Information“ als systemrelative Differenz von Ereignis und Erwartung – und ein Exkurs zu der Frage, wie konstruktivistisch soziale Systeme sein können

Bislang habe ich den Informationsbegriff verwendet, ohne ihn zu erläutern. Dies sollte der Verständlichkeit der bisherigen Ausführungen nicht geschadet haben, da ich den Informationsbegriff in einem relativ alltagsnahen Sinn verwende, der auch in der wissenschaftlichen Literatur weit verbreitet ist und in der Charakterisierung von Information als „difference that makes a difference“ Gregory Bateson (1972) zugeschrieben wird. Informationen sind diesem Begriff zufolge (im Unterschied zu Daten) immer Informationen für ein bestimmtes System, keine an sich existierenden Sachverhalte in der Welt. Dieser Informationsbegriff bezeichnet alles als Information, was die Erwartungsstruktur oder den Wissenshaushalt eines Systems verändert, also die systemrelative Differenz zwischen Erwartung und Ereignis. Der ‚Inhalt‘ einer Mitteilung oder Beobachtung hat für ein spezifisches System „als Ereignis einen Informationswert, wenn und soweit“ er „etwas Unerwartetes, Überraschendes mitteilt – was einschließen soll: einen Erwartungsrahmen konkret ausfüllt. […] Der Informationsbegriff ist also stets relativ auf einen aktuell gegebenen Kenntnisstand“ eines Systems (Luhmann 1970a, S. 184).

Information kann mit diesem Begriff mithin als ein „Ereignis, … das Systemzustände auswählt“ (Luhmann 1984, S. 102, vgl. auch S. 68 f.) verstanden werden – aber kein Ereignis ist an sich Information oder informativ, sondern es ist dies immer für ein bestimmtes beobachtendes System und nur dann, wenn das Bekanntwerden des Ereignisses einen Unterschied für das schon zuvor vorliegende Wissen oder die schon zuvor vorliegenden Erwartungen eines Systems macht. Dieser Informationsbegriff ist deshalb auch leicht operationalisierbar: Lässt sich nach dem Bekanntwerden eines Sachverhaltes im System eine „Umstrukturierung einer vorhanden Wissenslage“ (Luhmann 1984, S. 448) oder der etablierten Erwartungen beobachten, dann hat der fragliche Sachverhalt Informationswert für das System – und sonst nicht.

Der deutlichste Fall einer gut umgrenzten Informationseinheit liegt vor, wenn in einem Sozialsystem oder durch eine Person Informationen gezielt gesucht werden als Antwort auf eine explizit vorliegende Frage, etwa die Frage, ob sich Joseph Eichmann in Argentinien oder in Indien aufhält. Informativ ist in Bezug auf diese Frage dann jedes Indiz (oder das Ausbleiben von erwarteten Indizien), das die Wahrscheinlichkeit der Wahrheit einer der möglichen Antworten auf diese Frage verändert, neue mögliche Antworten hervorbringt, die Frage modifiziert oder obsolet werden lässt. Das zeigt, dass Egos Erwerb neuer Informationen nicht zwingend Ereignisse oder Veränderungen in Egos Umwelt voraussetzt, da auch das Ausbleiben eines Ereignisses für Ego eine Information sein kann, wenn es sich dabei deshalb um eine „Differenzerfahrung“ (Luhmann 1984, S. 69) handelt, weil das fragliche Ereignis von Ego erwartet worden war. Und schließlich gibt es auch den Fall, dass ein Beobachter Informationen erwirbt zu Sachbereichen, von deren bloßer Existenz er zuvor nichts wusste: „Man wußte vorher nicht, daß es Avocados gibt. Jetzt ist der Horizont des Eßbaren entsprechend erweitert, und man kann lernen, daß es sie sogar bei Karstadt gibt“ (Luhmann 1984, S. 448).

Wenn ich hier und im Weiteren von der Gewinnung zutreffender Informationen als elementarem Systemproblem sozialer und psychischer Systeme spreche, hoffe ich auf Leser, die in dieser Formulierung kein Bekenntnis zur erkenntnistheoretischen Position eines naiven Realismus vermuten. Als Soziologe interessiert mich die Frage, wie ein informationssuchendes System sich „ein Bild von seiner Situation“ (Goffman 1969, S. 18) macht, nach welchen Kriterien es auswählt, welche Informationen es in welcher Form in seine „Weltsicht“ (Luhmann 1984, S. 448) aufnimmt. Die Rede von zutreffenden Informationen ist also lediglich eine abkürzende Formulierung dafür, dass Informationen in der Sozialwelt als zutreffend oder wahr behandelt werden – durch das beobachtende System selbst oder auch (nur) durch seine Umwelt. Zutreffende Informationen in diesem Sinne hat der Polizist gesammelt, wenn sein Bericht eines Polizeieinsatzes von Kollegen, Vorgesetzten, Gerichten, involvierten Bürgern und einer breiteren Öffentlichkeit akzeptiert wird, ihm also zumindest sozial und vielleicht darüber hinaus auch psychisch abgenommen wird – unabhängig davon, wie adäquat die Schilderung im Bericht den faktischen Ablauf der Interaktion wiedergibt.Footnote 3

Die von ermittelnden Sozialsystemen wie einer kriminalpolizeilichen Abteilung erzeugten Weltsichten müssen ihnen nun allerdings nicht lediglich von Umweltpartnern abgenommen werden, sondern sie müssen regelmäßig auch eine brauchbare Grundlage systeminterner Entscheidungen sein. Eine lokale Polizeibehörde muss etwa zutreffend wissen, in welcher Kneipe sich die Mitglieder einer kriminellen Vereinigung versammeln, um deren Aktivitäten beobachten und Informanten anwerben zu können (Kapitel 5 und 6) und der Polizist als Vernehmer muss zutreffend wissen, dass es für den Aufenthaltsort des Beschuldigten in der Tatnacht einen Augenzeugen gibt, von dem der Beschuldigte weiß, dass es ihn gibt, um den Beschuldigten mit der Mitteilung dieser Information in Zugzwang bringen zu können (Kapitel 8). Schon dieser doppelte Verwendungskontext der von ermittelnden Sozialsystemen ermittelten Informationen – ihre Weitergabe an Umweltpartner einerseits, ihre Verwendung für die weitere eigene Ermittlungsarbeit andererseits – diszipliniert die meisten ermittelnden Systeme in den meisten Situationen dazu, sich um das Finden von Informationen über die Welt zu bemühen, statt Informationen ohne Umweltkontakt zu erfinden.

Selbstverständlich schließt all dies nicht aus, dass ein Polizeibericht neben erlebten auch erfundene Informationen beinhalten kann. Diszipliniert wird der Erfindungsreichtum der Polizei und anderer Sozialsysteme jedoch durch den soeben skizzierten doppelten Verwendungskontext der von ihr zusammengetragenen Informationen im Kontakt mit Umweltpartnern einerseits und als Grundlage systeminterner Operationen andererseits. Die Formulierung, dass soziale Systeme und ihre Mitglieder zutreffende Informationen zu gewinnen suchen, reflektiert also lediglich den Sachverhalt, dass sie dies in einer Welt tun, in der auch andere Beobachter und Ermittler Weltsichten erzeugen und diese Weltsichten miteinander konfrontiert werden. Der einem Richter vorgelegte Polizeibericht, der das Aufbrechen einer Wohnungstür eines Verdächtigen als ‚Gefahr in Verzug‘ nachträglich legitimieren soll, kann das Legitimationsproblem des Polizeieinsatzes prinzipiell unabhängig von der Frage lösen, ob aus der Wohnung des Verdächtigen tatsächlich laute Schreie zu hören waren – aber wenn dies der Fall war, mag doch die Wahrscheinlichkeit steigen, dass die im Polizeibericht formulierte Weltsicht Bestätigung durch Dritte erfährt und der Organisation sozial abgenommen wird. Erlebte und erhandelte Informationen können also zwar abstrakt zueinander in einem Verhältnis funktionaler Äquivalenz stehen – in den meisten Fällen unterscheidet sich ihre Fähigkeit, Probleme von Personen und Sozialsystemen zu lösen, jedoch erheblich.

2 Geheimnisaufklärung als zentrales Problem misstrauischer Sozialsysteme

„Es pflegt Situationen zu geben, in denen ein Beobachter auf das angewiesen ist, was er von einem Beobachteten erfahren kann, weil es keine ausreichenden anderen Informationsquellen gibt, und in denen der Beobachtete darauf aus ist, diese Einschätzung zu hintertreiben (…). Es kommt zu einem Wettkampf um die Einschätzung.“ (Goffman 1969, S. 18)

In diesem Buch interessiere ich mich vor allem am Beispiel kriminalpolizeilicher Ermittlungsarbeit für Typen von Rollen und Sozialsystemen, für die das allgemeine Handlungs- bzw. Systemproblem der Gewinnung und Auswertung von zutreffenden Informationen über spezifische Umweltsegmente zum einen eine besondere Bedeutung hat und zum anderen unter erschwerten Bedingungen bearbeitet werden muss. Genauer: Für (Kriminal-)Polizeien und (Kriminal-)Polizisten als Beispiel eines Typus von Sozialsystemen und Rollen, die funktional auf die Gewinnung von Informationen bzw. auf die Konstruktion eines für praktische Zwecke brauchbaren ‚Bildes‘ eines Umweltsegmentes spezialisiert sind und für die darüber hinaus gilt, dass die Bearbeitung dieses zentralen System- bzw. Handlungsproblems deshalb unter erschwerten Bedingungen erfolgt, weil in den beobachteten Umweltsegmenten ein Interesse daran besteht, die gefragten Informationen vor dem ermittelnden Sozialsystem zu verbergen oder die Ermittler gar durch Täuschungen in die Irre zu führen.

Die erste Bedingung – funktionale Spezialisierung auf Informationsgewinnung – trifft beispielsweise auf jede Form des Journalismus und auf wissenschaftliche Forschung ebenso zu wie auf Institute für Markt- und Meinungsforschung, aber auch auf das Familienmitglied, das von der Familie mit Recherchen über das Zielland des gemeinsamen Sommerurlaubes beauftragt wird. Nur für einen Teil dieser auf Informationsgewinnung spezialisierten sozialen Systeme (und Rollen) gilt jedoch, dass innerhalb der von ihnen beobachteten Umweltsegmente Prozesse des Verbergens und Täuschens ablaufen, die dem informationssuchenden System die Gewinnung zutreffender Informationen deutlich erschweren. Ich nenne diesen besonderen Typus informationssuchender Systeme „misstrauische Sozialsysteme“ und denke etwa an Geheimdienste (vgl. Goffman 1969), Kriminalpolizeien und anderen Instanzen der Strafverfolgung, an das auf Informationsgewinnung spezialisierte Personal krimineller Vereinigungen und politischer Widerstandsgruppen im Untergrund (vgl. Aubert 1965), an die von Journalisten, Wissenschaftlern oder Privatdetektiven vorgenommenen Nachforschungen zu gesamtgesellschaftlich illegitimen oder illegalen Praktiken, an Industriespionage oder das Ausspähen von Konkurrenten in anderen Bereichen wie dem Profisport, an Gefängniswärter, die damit beauftragt sind, Informationen über illegale Tauschgeschäfte unter Insassen zusammentragen oder an Abteilungen für interne Ermittlungen in Organisationen (vgl. Mulcahy 1995).

Misstrauische Sozialsysteme als auf die Ermittlung von Informationen in feindlichen Umwelten spezialisierte Sozialsysteme können sich im Unterschied zu anderen sozialen Systemen nicht damit begnügen, die von ihnen benötigten Informationen unkritisch einzusammeln und so lange auf die Brauchbarkeit der zugänglichen Informationen zu vertrauen, wie sich ihnen keine abweichenden Informationen aufdrängen. Eine durch Vertrauen in die Selbstdarstellung der beobachteten Umweltsegmente charakterisierte Einstellung wäre im Fall misstrauischer Systeme eine irrationale und dysfunktionale Einstellung, da diese ermittelnden Systeme mit dem Problem konfrontiert sind, ein Wissen zu erlangen, das andere intentional vor ihnen verbergen, also mit der Aufklärung eines von anderen gehüteten Wissens, kurz: mit Geheimnisaufklärung. Mein begrifflicher Vorschlag lautet also: Informationssuchende Systeme sind Systeme, die funktional auf die Gewinnung von Informationen über einen ausgewählten Umweltausschnitt spezialisiert sind. Misstrauische Sozialsysteme sind ein besonderer Typus informationssuchender Systeme, für den charakteristisch ist, dass die zu gewinnenden Informationen nur im Modus der Aufklärung eines von anderen gehüteten Geheimnisses gewonnen werden können. Manchmal bezeichne ich diese misstrauischen Sozialsysteme auch als ermittelnde Systeme und ihre Mitglieder mit einem Wort Luc Boltanskis (2013, S. 449) als „Informationsspezialisten“, ohne dadurch in der Sache einen Unterschied markieren zu wollen.

Das in diesem Kapitel entwickelte Konzept „misstrauischer Sozialsysteme“ schließt unter anderem an die Soziologie des Geheimnisses an, deren wesentliche Einsichten schon Georg Simmel in seinen Ausführungen zum Geheimnis und den geheimen Gesellschaften festgehalten hat. Als „Geheimnis“ bzw. „geheimes Wissen“ bezeichne ich mit Simmel (1908a) und der an ihn anschließenden Literatur (Hahn 1997; 2011; Bergmann 2018) ein Wissen, das nicht nur faktisch nicht sozial inklusiv zugänglich ist, sondern für das darüber hinaus gilt, dass die Träger des Wissens dieses Wissen gegenüber Nichtwissenden intentional verbergen und in ihrem Verbergen Normen der Geheimhaltung folgen, die in dem jeweiligen System oder in der Gruppe der Geheimnisträger institutionalisiert sind. Die für die Soziologie des Geheimnisses zentrale These, dass ein Geheimnis das zwischen seinen Trägern gespannte soziale Band festigt, ist einer der Ausgangspunkte meiner Analyse der polizeilichen Dienstgruppe als einer durch wechselseitiges Wissen um die Rechtsfehler der Kollegen und also durch wechselseitige Abhängigkeiten integrierten „Versicherungsgemeinschaft“ (Kapitel 9). Die weiteren Kapitel zur Soziologie der Polizei thematisieren dagegen Polizeien und Polizisten als Informationsspezialisten im Modus der Geheimnisaufklärung, die etwa in der Interaktion mit dem Beschuldigten in der Vernehmung (Kapitel 8) oder unter Nutzung von Informanten aus Milieus mehr oder weniger stark organisierter Kriminalität (Kapitel 5 und 6) Informationen zu gewinnen versuchen, die von den jeweiligen Umweltsystemen mehr oder weniger intensiv und geschickt zu verbergen versucht werden.

3 Vertrauen und Misstrauen als generalisierte Umwelteinstellungen

Das in diesem Kapitel entwickelte Konzept „misstrauischer Sozialsysteme“ basiert neben den bereits genannten Arbeiten Simmels und Goffmans wesentlich auch auf der in diesem Abschnitt in Anschluss an Überlegungen Luhmanns (1968c, 2001) explizierten Unterscheidung von Vertrauen und Misstrauen als zwei zueinander funktional äquivalenter Formen generalisierter Umwelteinstellungen. Funktional äquivalent sind Vertrauen und Misstrauen zueinander als Haltungen Egos (einem Handelnden oder einem entscheidungsfähigen Sozialsystem) gegenüber Alter (einer von Ego als entscheidungsfähig behandelten Entität) insofern, als nicht nur Vertrauen, sondern auch Misstrauen Ego mit einer Hypothese über das zukünftige Handeln Alters und dadurch mit Sicherheiten bezüglich seines eigenen, auf Alter bezogenen, Erwartens und Handelns versorgen kann. Wer damit rechnet, dass ein Fremder das Angebot zur Probefahrt des wertvollen Fahrrads als günstige Gelegenheit zu dessen Diebstahl nutzen könnte, wird dieses Angebot nur machen wollen, wenn der Fremde ihm etwa ein Ausweisdokument als Sicherheit hinterlässt. Wer dem Fremden dagegen frei von Misstrauen begegnet, dem wird das Versprechen der baldigen Rückgabe genügen, um sein Eigentum ohne entsprechende Sicherheiten aus der Hand zu geben.

Die Vertrauens- und die Misstrauenshypothese Egos unterscheiden sich also inhaltlich voneinander, teilen miteinander aber die Fähigkeit, ein zukünftiges Handeln Alters zu prognostizieren, an dem sich Ego gegenwärtig orientieren kann. Die damit skizzierte Konzeption von Vertrauen und Misstrauen als zueinander funktional äquivalenter Handlungsgrundlagen erläutere ich, indem ich zunächst (i) Luhmanns Vertrauensbegriff rekonstruiere, dann (ii) einen dazu passenden, bei Luhmann jedoch eher implizit mitlaufenden, Begriff von Misstrauen expliziere und schließlich (iii) die typischen Grenzen und Probleme misstrauischer Umwelteinstellungen erläutere.

3.1 Vertrauen als riskante Vorleistungen und Reaktion auf ein Informationsproblem

Zentral für Luhmanns Ansatz ist die Überlegung, dass der Bedarf an Vertrauen wesentlich mit einer nicht aufhebbaren Ungewissheit verbunden ist, mit einem nicht aufhebbaren „Informationsproblem“ (Luhmann 1968c, S. 47) von Personen oder entscheidungsfähigen Sozialsystemen.Footnote 4 Vertrauen wird von Luhmann allerdings nicht als Reaktion auf Ungewissheit schlechthin, sondern als Reaktion auf diejenige Ungewissheit verstanden, „die durch die Freiheit des anderen Menschen in die Welt kommt“ (Luhmann 1968c, S. 38). Genauer: Vertrauen reagiert auf Egos Ungewissheit bezüglich der Frage, ob Alter seine Handlungsfreiheit auf eine Weise nutzen wird, die Ego Schaden zufügt. Wo und wann auch immer wir mit anderen Menschen in Kontakt treten, nie können wir mit Sicherheit wissen, wie unsere Handlungspartner zukünftig handeln werden und zugleich ist es für die Möglichkeit eigenen Handelns unverzichtbar, viele der dem Gegenüber möglichen Handlungen für unwahrscheinlich zu erklären und etwa davon auszugehen, dass unser Gegenüber zumindest in etwa das tun wird, was er uns versprochen hat oder in der Vergangenheit getan hat. Vertrauen reagiert also als Problemlösungen auf das Problem doppelter Kontingenz, das prominent und wirkmächtig von Talcott Parsons formuliert worden ist: „since the outcome of ego’s action is contingent on alter’s reaction to what ego does, ego becomes oriented not only to alter’s probable overt behavior but also to what ego interprets to be alter’s expectations relative to ego’s behavior, since ego believes that alter’s expectations will influence alter’s behavior“ (Parsons und Shils 1951, S. 105) .Footnote 5

Wichtig für Luhmanns Ansatz ist mithin die Konzeption von Vertrauen als Handlungsgrundlage: Vertrauen ist Bestandteil solcher Verhaltenserwartungen, „auf die hin man sich mit eigenem Handeln engagiert und bei deren Enttäuschung man das eigene Verhalten bereuen würde“ (Luhmann 1968c, S. 29). „Vertrauen“, so Luhmann (1964b, S. 72) an anderer Stelle, „erschöpft sich nicht im rein kognitiven, mehr oder weniger sicheren Erwarten zukünftigen Verhaltens; vielmehr ist zugleich ein Prozeß gegenwärtiger Motivation involviert. Vertrauen ist die Erwartung einer künftigen Befriedigung, die zum Motiv für eigenes, sich festlegendes Verhalten wird.“ Wenn wir einen Fremden im Zug darum bitten, unser Gepäck zu beaufsichtigen oder einen Freund in ein Geheimnis einweihen, so wissen wir, dass wir unser Gegenüber in eine Situation bringen, in der er uns Schaden zufügen kann. Vertrauen zu erweisen heißt dann, diese Möglichkeit durch eigenes Handeln als unwahrscheinlich zu behandeln, ohne dafür zwingende Gründe angeben zu können.

Deshalb handelt es sich bei jedem Einsatz von Vertrauen um „ein Wagnis“ (Luhmann 1968c, S. 31) und eine „riskante Vorleistung“ (Luhmann 1968c, S. 27). Riskant heißt dabei keinesfalls irrational oder unbegründet; vielmehr haben wir in den meisten Fällen durchaus Gründe, bestimmten Personen in bestimmten Hinsichten unser Vertrauen zu schenken, etwa unsere vergangenen Erfahrungen mit der Person, mit anderen Personen in gleichen Situationen oder Rollen oder auch nur unseren ersten optischen Eindruck vom Fremden im Zug als vertrauenswürdig. Was auch immer unsere Gründe sind, sie sind nie mehr als „Anhaltspunkte“: Informationen, die „durch Willen“ ergänzt und überzogen werden müssen, um als „Sprungbasis für den Absprung“ in eine „begrenzte und strukturierte Ungewißheit“ dienen zu können (Luhmann 1968c, S. 40).

Typische Anhaltspunkte für das Egos Vertrauen in Alter sind die von der Signaling TheoryFootnote 6 hervorgehobenen sichtbaren Signale für unsichtbare Eigenschaften, zum Beispiel Alters beobachtbare Zugehörigkeit zu einem sozialen Kreis oder sein beobachtbarer Habitus als Signale für seine Schichtzugehörigkeit (Goffman 1951), Alters Bildungsabschluss als Signal für seine Qualifikation (Spence 1973), die Polizeiuniform Alters als begrenzt zuverlässiges Signal dafür, dass Alter formal legitimiert ist, in der Berufsrolle des Polizisten zu handeln, oder – als zwar unzuverlässiges, aber im Alltag unverzichtbares Signal – das allgemeine äußere Erscheinungsbild und Interaktionsverhalten einer Person als Signal für ihre allgemeine Vertrauenswürdigkeit. Bedeutsam für Egos Vergabe von Vertrauen und Misstrauen in Alter sind darüber hinaus auch Egos Hypothesen über Alters „Motivstruktur“ (Luhmann 1968c, S. 41): Hat Alter mehr Vorteile oder mehr Nachteile, wenn er das Vertrauen von Ego missbraucht? Welche Möglichkeiten hat Ego, Alter für einen Vertrauensbruch zu sanktionieren – und kennt Alter diese Möglichkeiten Egos? Ich komme darauf in Kapitel 6 anhand der Frage zurück, welche Motive Polizisten ihren Informanten zuschreiben und welche dieser Motive von ihnen als Anlass für eine eher vertrauensvolle Haltung, welche dagegen als Anlass für eine eher misstrauische Haltung gegenüber dem Informanten genommen werden.

Sobald Alter für Ego kein Fremder mehr ist, weil er entweder über eigene Erfahrungen mit Alter verfügt oder über entsprechende Berichte, die er für glaubwürdig hält, basiert Egos Vertrauen wesentlich auf den ihm vorliegenden Informationen über Alters vergangenes Verhalten. Personenbezogenes Vertrauen beruht im Fall wiederholten Kontakts also auf einer Kontinuitätshypothese, auf der Annahme, dass ein anderer Mensch auch in Zukunft auf eine Weise handeln wird, die zu seiner „Persönlichkeit“ passt, „die er als die seine dargestellt und sozial sichtbar gemacht hat. Vertrauenswürdig ist, wer bei dem bleibt, was er bewußt oder unbewußt über sich selbst mitgeteilt hat“ (Luhmann 1968c, S. 48). Der Aufbau persönlichen Vertrauens folgt – darauf komme ich vor allem in Kapitel 8 über den Interaktionstyp der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung nochmals zurück – dabei typisch dem ‚Prinzip der kleinen Schritte‘. Vertrauen wird also schrittweise aufgebaut, und zwar, indem das Risiko eigenen Engagements nach und nach erhöht wird. Eine notwendige Sequenz im Aufbau persönlichen Vertrauens ist dabei ein Punkt, an dem Alter die Möglichkeit und ein für Ego erkennbares Interesse daran hat, Egos Vertrauen zu enttäuschen oder gar zu missbrauchen – und es nicht tut:

„Zunächst muß ein Anlaß gegeben sein, Vertrauen zu erweisen. Der Vertrauende muß eine Situation definieren, in der er auf seinen Partner angewiesen ist. Sonst kommt das Problem gar nicht auf. Er muß sich sodann in seinem Verhalten auf diese Situation einlassen und sich einem Vertrauensbruch aussetzen. Er muß, mit anderen Worten, das einbringen, was wir oben riskante Vorleistung‘ genannt haben. Der Partner muß, als Rahmenbedingung, die Möglichkeit haben, das Vertrauen zu enttäuschen, und nicht nur die Möglichkeit, sondern auch ein gewichtiges Interesse daran. Er darf nicht schon von sich aus, in eigenem Interesse, auf der Vertrauenslinie laufen. Er muß sodann in seinem Verhalten das Vertrauen honorieren und sein anderes Interesse zurückstellen. Die Zurückstellung muß, um das Vertrauen bestätigen zu können, eine gewisse Faktizität erreichen – also sich als eine Art verpaßte Gelegenheit darstellen und nicht nur als ein vorläufiger Aufschub des Vertrauensbruchs. Dies zusammen wäre eine erste Sequenz der Vertrauensbildung. An ihr läßt sich ein wichtiges Ergebnis schon ablesen: daß der Prozeß einen beiderseitigen Einsatz erfordert und nur dadurch erprobt werden kann, daß beide Seiten sich auf ihn einlassen; und zwar in nichtumkehrbarer Reihenfolge: zuerst der Vertrauende und dann der, dem vertraut wird.“ (Luhmann 1968c, S. 53 f.)

Wenngleich sich also das Erweisen von Vertrauen oder Misstrauen mit Luhmann durchaus als ein Prozess rekonstruieren lässt, in dem Handelnde nach Hinweisen suchen, um Vertrauen oder Misstrauen begründet erweisen zu können, gilt doch, dass die ‚Objekte‘ unseres Vertrauens oder Misstrauens nie als solche vorgeben können, in welchen Hinsichten ihnen ein rationaler Akteur vertrauen oder misstrauen sollte. Anders als etwa James Coleman (1990; vgl. Junge 1998) charakterisiert Luhmann (2001, S. 148) den Einsatz von Vertrauen und Misstrauen weniger als „eine Frage rationaler Berechnung“, sondern eher als den durch die sich nur so bietenden Handlungsmöglichkeiten motivierten Entschluss, angesichts der Unmöglichkeit rationaler Berechnung ein Risiko in Kauf zu nehmen.

Situationen, in denen Vertrauens- und Misstrauensfragen zentral sind, können als „Risikosituationen“ (Luhmann 2001, S. 148) charakterisiert werden. Mit Risikosituationen sind Situationen gemeint, in denen Ego – ein Handelnder oder ein entscheidungsfähiges Sozialsystem – eine Situation als Entscheidungssituation erlebt oder definiert und für die darüber hinaus gilt, dass die Folgen der Entscheidung für Ego wesentlich davon abhängen, ob Alter – eine von Ego als entscheidungsfähig behandelte individuelle oder kollektive Einheit – sich in einer zukünftigen Gegenwart als vertrauenswürdig erwiesen haben wird. Man kann die Kinder allein zu Hause lassen oder einen (welchen?) Bekannten darum bitten, auf die Kinder aufzupassen oder darauf verzichten, alleine mit seiner Partnerin auszugehen; man kann eine freie Stelle entweder einer formal ordentlich qualifizierten Bewerberin oder dem Bewerber anbieten, der zwar über keine formale Qualifikation, aber dafür über die nachdrückliche Empfehlung geschätzter und zuverlässiger Kollegen verfügt oder die Entscheidung vertagen; man kann einem Freund eine größere Geldsumme in gutem Glauben an eine baldige Rückzahlung leihen oder sich die Rückzahlung zu einem bestimmten Zeitpunkt schriftlich zusichern lassen oder nach Möglichkeiten suchen, diese Entscheidung dadurch zu umgehen, dass der Freund sich ohne explizite Zurückweisung anderweitig mit Geld versorgt; man kann die knappen Ermittlungsressourcen entweder, wie es sich in der Vergangenheit bei Mordermittlungen oft bewährt hat, zunächst in Ermittlungen im Umfeld des Opfers investieren oder den Mitteilungen eines neu rekrutierten Informanten Glauben schenken, die Täter seien im Umfeld einer rechtsterroristischen Vereinigung zu finden.

Diese Konstellationen sind Beispiele für Vertrauens- und Misstrauenssituationen, weil in ihnen zwei Aspekte miteinander kombiniert werden, die sich in Anschluss an Luhmann als Kern von Vertrauen und Misstrauen bezeichnen lassen. Der erste Aspekt des Kerns von Vertrauens- und Misstrauenssituationen ist Egos Definition der Situation der Entscheidung zwischen drei Alternativen: Vertrauen in Alter, Misstrauen in Alter oder Verzicht auf die Handlung, die nur durch das Erweisen von Vertrauen oder Misstrauen in Alter möglich wäre. Das Beispiel der Hypothesenbildung bezüglich der Vertrauenswürdigkeit von Informanten in der polizeilichen Ermittlungsarbeit zeigt allerdings, dass dieser Verzicht auf eine nur durch das Erweisen von Vertrauen oder Misstrauen in Alter mögliche Handlung seinerseits je nach Kontext der „Risikosituation“ erschwert ist. Von den Ermittlern wird eine Fortführung der Untersuchung erwartet und deshalb würde ihnen auch ihr Verzicht auf eine Entscheidung zwischen der Vertrauens- und Misstrauenshypothese bezüglich ihres Informanten als Entscheidung zugerechnet. Entsprechend gilt, dass Ego, wenn er von Alter explizit um eine Probefahrt mit dem Fahrrad gebeten wird, einige kommunikative Geschicklichkeit und wohlwollende Beobachter benötigt, um seine Reaktion so zu gestalten, dass sie von Alter und Dritten nicht als Entscheidung zwischen Vertrauen und Misstrauen in Alter gedeutet wird. Der zweite Aspekt des Kerns von Vertrauens- und Misstrauenssituationen ist, dass Ego das zukünftige Handeln Alters als Risiko wahrnimmt. Ego muss also eine zumindest vage Vorstellung einer zukünftigen Gegenwart haben, in der Alter so gehandelt haben wird, dass Ego seine Vergabe von Vertrauen oder Misstrauen in Alter bereut haben wird, weil ihm dadurch ein Schaden entstanden ist. Im Fall der misstrauischen Handlungsalternative kann dieser Schaden schon darin bestehen, dass Alter sich durch das ihm von Ego erwiesene Misstrauen gekränkt zeigt und sich aus der sich anbahnenden Kooperation zurückzieht oder darin, dass Ego sich in seiner Nachbarschaft den Ruf des Misstrauischen erwirbt, auf den er lieber verzichtet hätte. In beiden Fällen bereut Ego, in einer vergangenen Gegenwart Misstrauen gezeigt, statt Vertrauen geschenkt zu haben.

Vertrauen und Misstrauen in diesem engen Sinn einer auf das zukünftige Handeln Alters bezogenen gegenwärtigen Handlung Egos unterscheidet Luhmann von zwei anderen Formen der Haltung Egos zu seiner Umwelt (vgl. dazu auch Kieserling 2012b). Zum einen von Systemvertrauen als dem Vertrauen in die Funktionsfähigkeit größerer und aus Egos Sicht unpersönlicher sozialer Zusammenhänge, also etwa dem Vertrauen in die Weltwirtschaft und die zukünftige Verwendbarkeit von Geld als Zahlungsmittel, in wissenschaftliche Wahrheiten oder in die von den Massenmedien erzeugten Weltbeschreibungen (Luhmann 1968c, S. 60 ff.). Zum anderen unterscheidet Luhmann diese beiden Formen des Ver- und Misstrauens – in Personen einerseits, in größere soziale Zusammenhänge andererseits – von einer nochmals deutlich grundlegenderen Haltung der Zuversicht (Luhmann 2001): Dass die Sonne auch morgen aufgehen wird, dass das entgegenkommende Auto sich gemäß den von der Straßenverkehrsordnung vorgezeichneten Bahnen bewegen und nicht auf die eigene Fahrbahn fahren wird oder dass vor unserer Haustür niemand darauf wartet, uns anzugreifen und auszurauben. Dass Erwartungen dieser Art grundlegend für unser Handeln sind, zeigt die Überlegung, was wir tun würden, wenn wir das jeweilige Gegenteil erwarten würden: Es wäre dann rational, sich für den Weg zum Bäcker zu bewaffnen und den meisten Menschen wäre es zu riskant, am Straßenverkehr teilzunehmen. Zuversicht zeigen wir in den genannten und ähnlichen Situationen, weil wir einen bestimmten Fortgang der Welt als selbstverständlich behandeln, ohne ganz sicher wissen zu können, ob der faktische Fortgang der Welt unseren uns selbst gar nicht bewussten Hoffnungen entsprechen wird.

Im Gegensatz zu den breiteren Phänomenen der Zuversicht bezüglich des Fortgangs der Welt und des Vertrauens und Misstrauens gegenüber unpersönlichen sozialen Zusammenhängen setzen Vertrauen und Misstrauen im engeren Sinne – so Luhmanns Begriffsvorschlag – immer eine „Risikosituation“ (2001, S. 148) voraus, in der Ego durch eigenes Handeln sein Vertrauen oder Misstrauen in Alter zu erkennen gibt. Vertrauen und Misstrauen sind dabei Problemlösungen mit Folgeproblemen: Einerseits gewinnt Ego durch die vertrauensvolle ebenso wie durch die misstrauische Hypothese bezüglich Alters zukünftiger Handlungen an gegenwärtigen Möglichkeiten rationalen Handelns, aber andererseits erkauft sich Ego diesen Vorteil, indem er das Risiko eingeht, das Erweisen von Vertrauen oder Misstrauen in einer zukünftigen Gegenwart zu bereuen. Diese gegenwärtige Antizipation der Möglichkeit zukünftiger Reue ist konstitutiv für das Erweisen von Vertrauen und Misstrauen.

3.2 Misstrauen als funktionales Äquivalent zu Vertrauen

Die Darstellung im voranstehenden Abschnitt hat implizit ein bei Luhmann angelegtes Verständnis von Misstrauen vorausgesetzt, das nun ausführlicher erläutert werden soll. Misstrauen ist dieser Konzeption zufolge nicht als bloßer Mangel an Vertrauen zu verstehen, sondern als ein funktionales Äquivalent zu Vertrauen, also als eine andere Lösung für das gleiche Problem. Das Problem, auf das Vertrauen und Misstrauen reagieren, liegt in Egos Bedarf an Sicherheit und Orientierung eigenen Handelns trotz der Freiheit seiner Handlungspartner, ihm mit ihrem Handeln Schaden zuzufügen. Sofern Ego davon ausgeht, dass sich das Verhalten Alters „in den eigenen Lebensführungsplan sinnvoll einfügen wird“ – dass Alter das geliehene Fahrrad also bald und in gutem Zustand zurückgeben und nicht etwa stehlen wird – schenken wir ihm Vertrauen, wenn wir von dem Gegenteil ausgehen, misstrauen wir ihm (Luhmann 1968c, S. 95). Die vertrauensvolle und die misstrauische Hypothese bezüglich des zukünftigen Verhaltens Alters unterscheiden sich natürlich inhaltlich – im ersten Fall geht eine Polizistin davon aus, dass ihr Informant in der terroristischen Vereinigung ihr möglichst gute Informationen zu liefern versucht, im zweiten Fall geht sie davon aus, dass sie ihr Informant gezielt täuschen will – aber beide Hypothesen können Ego als Grundlage eigener Entscheidungen dienen, indem sie seiner gegenwärtigen Zukunft Struktur verleihen.

Der von Luhmann im Vergleich zum Vertrauensbegriff weniger thematisierte Begriff des Misstrauens lässt sich komplementär zum Vertrauensbegriff explizieren. Misstrauen bezeichnet dann die Erwartung Egos, dass Alter zukünftig auf eine Weise handeln wird, die – sei es als bezwecktes Ziel, sei es als Nebenfolge – Ego schaden wird, wobei diese Schadenserwartung Egos für ihn zum Motiv für ein gegenwärtiges Verhalten wird, mit dem er für Alter und Dritte sichtbar wird als jemand, der ein für ihn schädliches Handeln Alters erwartet. Beispiele sind: Die Bahnfahrerin, die ihr Reisegepäck nach prüfendem Blick auf die übrigen Passagiere im Abteil lieber nicht unbeaufsichtigt zurücklässt; der Polizist, der durch seine Körperhaltung zu erkennen gibt, dass er die Zusicherung des Mannes, der schon bei den vergangenen Einsätzen wegen häuslicher Gewalt Einsatzkräfte mit körperlicher Gewalt am Betreten seiner Wohnung zu hindern versucht hat, sich diesmal kooperativ zu verhalten, nicht für glaubwürdig hält; die Käuferin eines Gebrauchtwagens, die sich nicht mit der bloßen Zusicherung des Verkäufers, der Wagen sei gerade erst mit einem neuen Motor ausgestattet worden, zufrieden gibt, sondern darauf besteht, diesen Sachverhalt durch eine Werkstattrechnung belegt zu sehen oder der Wohnungsmieter, der sich nicht auf das bloße Versprechen der Vermieterin verlassen will, die Miete in den kommenden Jahren nicht zu erhöhen und mit Sicherheit keinen Eigenbedarf anmelden zu wollen, sondern sich dies vertraglich zusichern lässt. Wie Vertrauen, so kann auch Misstrauen seine Anhaltspunkte auf verschiedenen Ebenen haben: In schlechten Erfahrungen, die man selbst oder andere, deren Berichterstattung man vertraut, mit der konkreten Einzelperson (dieser schlagende Ehemann, Gebrauchtwagenhändler oder Vermieter) gemacht hat, oder aber in auf Rollen bezogenen, mehr oder weniger erfahrungsbasierten Urteilen etwa über Ärzte, Bahnfahrer, Kinder, Verkäufer, Polizisten oder Wissenschaftler.

Die Frage, wie leicht und mit welchen Folgen ein konsequentes Misstrauen praktiziert werden kann, variiert mit der Ebene, auf der es stabilisiert wird. Konsequentes Misstrauen in einzelne Personen gemäß der Redewendung ‚wer einmal lügt, dem glaubt man nicht‘, ist oft ohne weitere Vorbereitungen und Folgewirkungen und im Zweifelsfall durch Abbruch des entsprechenden Kontaktes leicht zu praktizieren. Ein konsequentes Misstrauen in alle Träger einer Rolle ist zwar ebenfalls möglich, geht in vielen Fällen jedoch mit eigenen Risiken einher, zum Beispiel mit einem gesundheitlichen Risiko im Fall des Verzicht auf medizinische Behandlung als Folge eines konsequent praktizierten Misstrauens in Ärzte. Ein generalisiertes Misstrauen in alle Ärzte, in die Wissenschaft oder die Massenmedien ist deshalb – wie auch André Kieserling und Simone Rödder (2019) in einem kurzen Text angesichts der häufig diagnostizierten, aber selten belegten Vertrauenskrisen in ganze gesellschaftliche Teilbereiche betont haben – konsequent nur möglich mit dem Verzicht auf einen Großteil der Handlungen, die wir tagtäglich ausführen. Wir erweisen Systemvertrauen (Luhmann 1968c, S. 60 ff.) und zeigen Zuversicht (Luhmann 2001), wenn wir Gebrauchsgegenstände gegen Geld eintauschen oder für eine erst am Ende des Monats eintreffende Geldsumme täglich unseren Arbeitsplatz aufsuchen ebenso wie dann, wenn wir darauf vertrauen, dass Fahrstühle, Brücken und Flugzeuge, die auf Grundlage wissenschaftlichen Wissens über die Welt erbaut worden sind, uns bis zu unserem Ziel tragen werden. Wenn wir ein von irgendeinem Arzt verschriebenes Medikament einnehmen, vertrauen wir der ärztlichen Berufsgruppe ebenso wie der die Medikamente produzierenden und vertreibenden Organisation. Schlechte Erfahrungen mit bestimmten Fahrstühlen führen selten zu einem konsequenten Fahrstuhlverzicht und noch einmal deutlich seltener zu Misstrauen gegenüber Maschinen überhaupt. Die Beispiele zeigen: Je besser umgrenzt und je kleiner der soziale Kreis (Dr. Müller statt aller Chirurgen, statt aller Ärzte, statt aller Akademiker) oder Objektbereich (nur Fahrstühle statt Maschinen überhaupt) ist, desto leichter ist es, in Hinblick auf ihn konsequentes Misstrauen zu praktizieren.

Die Wahl, ob Ego Alter mit Vertrauen oder Misstrauen begegnet, kann typisch nicht das Ergebnis rationaler Kalkulation sein. Als Entscheidungsalternative ist die Alternative von Vertrauen und Misstrauen in der Regel überdeterminiert, weil es zumeist Indizien für beides gibt. Deshalb müssen Personen oder entscheidungsfähige Sozialsysteme einzelnen dieser Indizien eine symptomatische Bedeutung zuschreiben und sie als Grund für eine dann generalisierte vertrauensvolle oder misstrauische Haltung zu anderen Sozialsystemen oder Personen behandeln. In diesem Sinne formuliert Luhmann, dass es sich bei Vertrauen und Misstrauen um „symbolisch vermittelte, generalisierte Haltungen“ handelt, „die nicht mit spezifisch angebbaren objektiven Ursachen variieren, sondern durch subjektive Prozesse der vereinfachenden Erlebnisverarbeitung gesteuert werden“ (Luhmann 1968c, S. 99). Die Vergabe von Vertrauen und Misstrauen ist also das Ergebnis kontingenter systeminterner Verarbeitungsprozesse, nicht das Ergebnis eines Erkenntnisprozesses, der bei richtiger Durchführung eindeutig zu einer eher vertrauensvollen oder eher misstrauischen Einstellung zum Gegenüber führen müsste und von außenstehenden Beobachtern in Bezug auf die in der vergangenen Gegenwart liegende „Risikosituation“ (2001, S. 148) als eindeutig richtige oder falsche Vergabe von Vertrauen oder Misstrauen beurteilt werden könnte.

Übergänge von Vertrauen zu Misstrauen und von Misstrauen zu Vertrauen bleiben dabei natürlich möglich, treten aber – da es sich eben um generalisierte Haltungen handelt – nicht kontinuierlich, sondern abrupt, als Schwellenphänomen auf: Nicht jede kleinere Enttäuschung zerstört das Vertrauen, sondern es gibt Grenzen, an denen die Erleichterung des Handelns und Erlebens durch Vertrautheit, Zuversicht und Vertrauen abrupt aufgegeben und durch Misstrauen als einer anderen Form der „vereinfachenden Erlebnisverarbeitung“ ersetzt werden, „wo Vertrauen oder Vertrautheit abrupt in Mißtrauen umschlagen“ (Luhmann 1968c, S. 97). Jenseits dieser hohen Schwellen für ein Umschlagen von Vertrauen in Misstrauen lassen sich typisch selbstverstärkende Effekte einer einmal etablierten vertrauensvollen oder misstrauischen Einstellung zu einem Handlungspartner beobachten – auch dies ermöglicht dadurch, dass viele Ereignisse in der Welt je nach Sichtweise als Indizien für ein begründetes Vertrauen oder ein begründetes Misstrauen interpretiert werden können.

3.3 Probleme und Grenzen misstrauischer Umwelteinstellungen

Fragt man ausgehend von dieser an Luhmann (1968c, 2001) anschließenden Konzeption von Vertrauen und Misstrauen nach den Problemen und Grenzen misstrauischer Umwelteinstellungen, so scheinen mir drei Gedanken zentral zu sein. Erstens können weder Vertrauen noch Misstrauen zu „universelle[n] Einstellungen“ einer Person oder eines Sozialsystems werden. Fragen von Vertrauen und Misstrauen sind immer auf spezifische Handlungspartner oder spezifische Situationen bezogen und sie stellen sich immer vor dem Hintergrund einer als ansonsten unproblematisch vorausgesetzten Welt. Zweitens ist einer misstrauischen Einstellungen zu zunächst bestimmten Handlungspartnern dennoch eine expansive Tendenz zu eigen, die „inhärente Tendenz, sich im sozialen Verkehr zu bestätigen und verstärken“ (Luhmann 1968c, S. 98).

Soziale Systeme wie die in diesem Buch vor allem am Beispiel von Kriminalpolizeien behandelten ermittelnden Sozialsysteme, in denen misstrauische Haltungen typisch und häufig sind – im Fall der Polizei etwa gegenüber Informanten, Beschuldigten oder Teilnehmern einer Demonstration – benötigen daher immer auch Mechanismen, die das vorhandene Misstrauen begrenzen. Typisch sind in misstrauischen Sozialsystemen deshalb normative Erwartungen institutionalisiert, die nur bestimmten Systemmitgliedern in bestimmten Situationen Misstrauen in bestimmten Hinsichten erlauben oder als Rollenpflicht auferlegen. Diese Mechanismen zur Eingrenzung von Misstrauen hält auch Luhmann für notwendig, um zu verhindern, „daß ein soziales System an wachsendem Mißtrauen unter seinen Teilnehmern sogleich zugrunde geht“ (Luhmann 1968c, S. 99):

„Ungeachtet dieser Offenheit und Unsicherheit des Wissens im einzelnen läßt sich jedoch mindestens eine weitreichende systemtheoretische Hypothese formulieren: Ein soziales System, das mißtrauisches Verhalten seiner Teilnehmer für bestimmte Funktionen benötigt oder nicht vermeiden kann, braucht zugleich Mechanismen, die verhindern, daß das Mißtrauen überhand nimmt, daß es zurückgegeben wird und sich durch Prozesse wechselseitiger Steigerung ins Zerstörerische wendet. Vor allem muß es individuelle Verhaltensstrategien und sozial anerkannte, leicht verständliche Typen geben, die vom System her gesehen ‚zufällige‘ oder unwesentliche Mißtrauensakte, also funktionslose Entgleisungen, abfangen und neutralisieren. Dazu dienen vor allem gewisse Formen der Darstellung oder der nachträglichen Erläuterung von Mißtrauensakten als unfreiwillige Handlungen, als sachlich interessierte Interventionen, als Fehler, als extern bedingte Störungen oder als aufgetragene Rollenpflichten – also Auslegungen, welche die Durchführung von mißtrauischen Handlungen ermöglichen, aber das Mißtrauen als Einstellung wegfingieren. Weiter sind Institutionen des Strafens, Büßens und Verzeihens hierherzurechnen. Sie haben viele Funktionen, darunter wesentlich die, Endzeitpunkte zu fixieren, mit denen eine Affäre abgeschlossen wird und dann keinen legitimen Anlaß zu Mißtrauen mehr bietet. Ferner hat die Zentralisierung des Strafmonopols im System die Funktion, in ‚schweren‘ Fällen den Zirkel wachsenden Mißtrauens zu unterbrechen.“ (Luhmann 1968c, S. 100 f.)

Drittens ist Misstrauen im Vergleich zu Vertrauen eine Haltung, die im System mehr Ressourcen der Informationsverarbeitung beansprucht und das System anfälliger für Täuschungen macht: „Wer mißtraut, braucht mehr Informationen und verengt zugleich die Informationen, auf die er sich zu stützen getraut. Er wird von weniger Informationen stärker abhängig. Damit gewinnt die Möglichkeit, ihn zu täuschen, wiederum an Berechenbarkeit“ (Luhmann 1968c, S. 93). Mehr Informationen braucht der Misstrauische – etwa der Polizist in der Beschuldigtenvernehmung (Kapitel 8) oder im Kontakt mit neu rekrutierten Informanten (Kapitel 5 und 6) oder im Kontakt mit dem neuen Kollegen in der eigenen Abteilung, der vielleicht ein interner Ermittler sein könnte (Kapitel 9) –, weil er dem ersten Eindruck nicht glauben will oder darf und deshalb Zeit und Energie in die Gewinnung nicht offensichtlicher Informationen investieren muss. Von den wenigen Informationsquellen, denen er in Hinblick auf bestimmte Sachfragen Vertrauen schenkt, wird er dann in stärkerem Maße abhängig und mögliche Gegner werden deshalb versuchen, ihn gerade an dieser Stelle zu täuschen. Ich komme am Ende dieses Kapitels in meinem Kommentar zu Goffmans „Ausdrucksspielen“ (1969) auf diese These zurück.

4 Vertrauen, Misstrauen, Paranoia: Misstrauische Sozialsysteme als Systemtyp mit typischen Systemproblemen

Die in das hier entwickelte Konzept „misstrauischer Sozialsysteme“ eingeschriebene Perspektive ist, dass misstrauische Sozialsysteme den Selbstdarstellungen einiger für sie besonders bedeutsamer Umweltkontakte rationalerweise mit einem hohen Maß an Misstrauen begegnen, weil das misstrauische Sozialsystem und sein jeweiliger Umweltkontakt – grob gesagt – gegenläufige Interessen verfolgen. Beispiele für rationales und institutionalisiertes Misstrauen sind die Einstellungen des Polizisten zu seinem Informanten aus dem Milieu organisierter Kriminalität (Kapitel 5 und 6) oder die Einstellung des Polizisten zu dem Beschuldigten in der Vernehmung (Kapitel 8). Misstrauische Sozialsysteme und ihre Mitglieder machen also alles richtig, wenn sie maßvolles Misstrauen gegenüber den Selbstdarstellungen einiger ihrer Umweltkontakte an den Tag legen.

In diesem Abschnitt erweitere ich diese Perspektive mit der Überlegung, dass misstrauische Sozialsysteme nicht nur dann Probleme mit ihrer Funktionserfüllung bekommen, wenn sie an den falschen Stellen zu viel Vertrauen zeigen, sondern auch dann, wenn es ihnen nicht gelingt, ihr Misstrauen in rationale Bahnen zu lenken. Gelingt es misstrauischen Sozialsystemen nicht, ihr Misstrauen in zeitlicher, sachlicher und sozialer HinsichtFootnote 7 zu begrenzen, laufen sie Gefahr, einer auf lange Sicht dysfunktionalen Paranoia zu verfallen, die sie dazu bringt, die ganze Welt als potenziell feindlich zu beobachten und zu behandeln, mithin auch in den eigenen Systemmitgliedern in erster Linie potenzielle Doppelagenten zu sehen. Wo Misstrauen in Paranoia umschlägt, wird das Handeln an den Grenzen sozialer Systeme deutlich erschwert, da die paranoide Beobachtung durch das Entsendesystem ihre Abgesandten wichtiger Handlungsfreiheiten beraubt. Die Grenzrollen stark misstrauischer und paranoider Sozialsysteme sind auf einen formalistischen Handlungsstil auch dann festgelegt, wenn er von der jeweiligen Problemlage an der Systemgrenze her gesehen nicht geboten ist, können beispielsweise als Polizisten dem neu zu rekrutierenden Informanten keine informelle Alternative zu einer schriftlich festgehaltenen Beschäftigung als Informant anbieten und riskieren damit, den potenziellen Informanten abzuschrecken. Oft reagieren die Grenzrollen auf derartige Kontrollversuche ihres Entsendesystem dann allerdings nicht mit höherer Regelkonformität, sondern mit einem höheren Maß an Geheimhaltung gegenüber ihrem Entsendesystem.Footnote 8

4.1 Zum Beispiel I: Die paranoide Selbstzerstörung der Roten Khmer

Mein erstes Beispiel zur Veranschaulichung dieser bislang abstrakt skizzierten Tendenz der Generalisierung misstrauischer Umwelteinstellungen und ihrer Folgen ist die Herrschaftszeit der Roten Khmer in Kambodscha von 1975 bis 1979. Angeführt von Pol Pot verfolgte die Bewegung der Roten Khmer das Ziel der gewaltsamen Durchsetzung eines Agrarkommunismus in Kambodscha und war bis zur ihrem Sturz durch vietnamesische Militärs für den Tod von etwa zwei Millionen Kambodschanern verantwortlich, von denen viele aufgrund einer ihnen zugeschriebenen konterrevolutionären Gesinnung ermordet wurden (vgl. mit weiteren Hinweisen Hinton 2006; e Cunha et al. 2011; Schattka 2016).

Paranoid waren die Roten Khmer als Organisation, also als Sozialsystem im Unterschied zu ihren einzelnen Mitgliedern, insofern, als sie ihr Misstrauen in Form der Vermutung, eine Person könnte ein Gegner der Revolution und insofern ein Feind der organisierten Revolutionäre sein, im Laufe ihrer vierjährigen Herrschaftszeit immer weiter ausdehnten, ohne sachliche oder soziale Grenzen des von ihnen praktizierten Misstrauens zu institutionalisieren. Während am Anfang der Herrschaftszeit Misstrauen sozial noch auf bestimmte Gruppen, nämlich die ‚new people‘ – Stadtbewohner, bei denen eine bourgeois-kapitalistische Gesinnung vermutet wurde – konzentriert war, erstreckte es sich im weiteren Verlauf der Herrschaftszeit zunehmend auch auf Landbewohner und Mitglieder der eigenen Partei; und während die Kategorisierung einer Person als Feind der Revolution sachlich zu Anfang der Herrschaftszeit an die irgendwie plausibel zu machende Zuschreibung einer konterrevolutionären Gesinnung gekoppelt war, genügte am Ende der Herrschaftszeit bereits erfolgloses Handeln beispielsweise auf dem Feld der Landwirtschaft (Untererfüllung der Parteipläne im Reisanbau) oder des Militärs (Niederlagen im Kampf gegen Vietnam) als Beleg für eine feindliche Gesinnung. So wurde die „Aufgabe, nicht als Feind wahrgenommen zu werden“ (Schattka 2016, S. 86) zu einem zentralen Problem der Lebensführung fast aller Bewohner Kambodschas in fast allen Lebensbereichen. Wo sachliche und soziale Grenzen des organisierten und in seinen Folgen oft tödlichen Misstrauens fehlten, fehlte dann auch im privaten Bereich die Sicherheit, von Nachbarn oder Verwandten nicht als Feind der Revolution denunziert zu werden.

Deshalb scheint es mir nicht überzogen, dass die Situation dieser Jahre in der Literatur als „collective paranoia“ (e Cunha et al. 2011, S. 277) bezeichnet wird: Nicht nur die Mitglieder der Staatspartei, sondern weite Teile der Bevölkerung Kambodschas lebten in einer von potenziellen Feinden bewohnten Lebenswelt. Ein zentraler Aspekt dieser Misstrauensdynamik war, dass Kooperationen unter Parteimitgliedern einerseits und zwischen Partei und Nichtmitgliedern andererseits drastisch erschwert wurden, da die für diese Kooperationen notwendige Erwartungssicherheit fehlte: Die Tatsache, dass die Organisation bislang voll des Lobes für die Leistungen eines ihrer Mitglieder war, schloss nicht aus, dass die dargestellte Loyalität eben dieses Mitglieds zur Partei am nächsten Tag als geschickte Tarnung der eigentlichen Existenz als Spionin der Gegenseite umgedeutet wird und das Mitglied entsprechend der für diese Fälle vorgesehenen Praxis ermordet wird. Auch aus diesem Grund endete die Herrschaftszeit der Roten Khmer in Kambodscha nach nur vier Jahren.

4.2 Zum Beispiel II: Die Stasi und ihre uninformativen Informanten

Mein zweites Beispiel zur Veranschaulichung der dysfunktionalen Folgen einer nicht hinreichend umgrenzten misstrauischen Weltsicht sozialer Systeme entnehme ich Andreas Glaesers (2003, 2011) Analyse des Verhältnisses des Ministeriums für Staatssicherheit in der DDR (kurz: Stasi) zu ihren inoffiziellen Mitarbeitern in den 1980er Jahren. Glaeser untersucht die Tätigkeiten von inoffiziellen Mitarbeitern, die von der Stasi in die Friedens- und Bürgerrechtsbewegung eingeschleust oder aus deren Reihen angeworben wurden und die ihren Kontaktpersonen bei regelmäßigen Treffen über die Entwicklungen in den jeweiligen Ortsgruppen berichteten. Auch aufgrund ihrer guten Einblicke in die Funktionsweise des Staatsapparats sahen die Spitzel die Notwendigkeit, im Zuge ihrer Berichterstattung ihre Loyalität zum sozialistischen Staat zu demonstrieren, um nicht verdächtigt zu werden, die Ziele der beobachteten Bewegung zu teilen. Glaeser rekonstruiert, dass die typische Strategie dieser Loyalitätsbezeugungen darin bestand, dass die inoffiziellen Mitarbeiter die von ihnen gemachten Beobachtungen nicht möglichst objektiv und ungefiltert an ihre Kontaktpersonen bei der Stasi weiterleiteten, sondern sie so vorinterpretierten, dass die Mitteilungen zu der institutionalisierten Parteiideologie passten. Zum einen verzerrten die inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi in ihren Berichten die ideologischen Überzeugungen der Mitglieder der Bürgerrechtsbewegung, indem sie zweifelnde Sozialisten als überzeugte Staatsfeinde beschrieben und zum anderen interpretierten sie die ihnen zugänglichen Erfahrungen in höchstmöglicher Konformität zur Parteilinie, indem sie die Mitglieder der Bewegung nicht als unzufriedene Staatsbürger, sondern als mutmaßliche Agenten des kapitalistischen Westens und seiner Geheimdienste charakterisierten (vgl. Glaeser 2003, S. 21; 2011, S. 463 ff.).

Übersetzt man die Befunde Glaesers in die Sprache dieses Buches – also in die Sprache der Theorie der Grenzrollen und der misstrauischen Sozialsysteme – dann lässt sich sagen, dass die strukturell unsichere Stellung der inoffiziellen Mitarbeiter als Grenzrollen des misstrauischen Sozialsystems Stasi dazu führte, dass der Nachrichtendienst im Zuge der Beobachtung seines Umweltsegments der Friedens- und Bürgerrechtsbewegung in erster Linie zu sehen bekam, was in der Parteizentrale als Prämisse bezüglich der ideologischen Motivation der Oppositionellen gesetzt war. Dieser Mechanismus wird anschaulich von einem ehemaligen Stasi Offizier beschrieben, den Glaeser (2011: 465) im Jahr 2001 für seine Studie interviewt hat:

„We have always worked from the assumption, the deputy minister was very insistent on this point, that in the GDR, that in a developed socialist society, there could not exist such a thing as a genuine opposition. All there was, was a so-called opposition, which was in reality an antisocialist political underground, inspired and directed by the class enemy. And that of course we could not tolerate.“

Die diesem und anderen Stasi-Offizieren zuarbeitenden, verdeckt ermittelnden Informanten charakterisierten die von ihnen beobachtete Friedens- und Bürgerrechtsbewegung also nicht deshalb als einen der wichtigsten Staatsfeinde und als Agentin des Westens, weil dies ihren Beobachtungen entsprach, sondern weil sie mit dieser Interpretation ihre Loyalität zu ihrem übermäßig misstrauischen Entsendesystem demonstrieren wollten. Das nicht hinreichend eingehegte Misstrauen der Stasi in ihre Informanten führte also auf Umwegen dazu, dass die Stasi mit unbrauchbaren Informationen versorgt wurde. Auf Grundlage dieser unbrauchbaren Informationen setzte der Nachrichtendienst Ressourcen an den falschen Stellen ein, war nicht in der Lage, Einfluss auf die ihm nur als Zerrbild bekannte Diskussionen innerhalb der Bewegung zu nehmen und unterschätzte vor allem den breiten Rückhalt, den die Positionen der Friedens- und Bürgerrechtsbewegung in der Gesamtbevölkerung der DDR hatten (vgl. Glaeser 2003, S. 11). Zu spät erkannte der Nachrichtendienst, dass die Mitglieder der Bewegung keine vereinzelten und radikalisierten Antisozialisten, sondern im Großen und Ganzen gut integrierte, aber unzufriedene Bürger waren und die Bewegung deshalb in der Lage sein würde, Sympathisanten aus breiten Bevölkerungskreisen zu mobilisieren.Footnote 9

4.3 Vertrauen, Misstrauen und Paranoia als dominante Umwelteinstellungen sozialer Systeme

Die Geschichte der Roten Khmer und der Stasi bietet also einige Anschauung für die dysfunktionalen Folgen eines nicht hinreichend begrenzten Misstrauens misstrauischer Sozialsysteme, das ich in diesem Abschnitt als „Paranoia“ bezeichne. Der Ausgangspunkt meines begrifflichen Vorschlags ist dabei, Vertrauen, Misstrauen und Paranoia als Punkte auf einem Kontinuum zur Bezeichnung dominanter Umwelteinstellung sozialer Systeme und ihrer Mitglieder zu verstehen.

Eine vertrauensvolle Einstellung zu den Elementen der Sozialwelt zeichnet sich grundlegend dadurch aus, dem ersten und offensichtlichen Eindruck Glauben zu schenken, den eine Situation, ein Handelnder oder ein Sozialsystem von sich aus an den Tag legt. Eine vertrauensvolle Haltung in diesem Sinne können wir in Hinblick auf die Selbstdarstellung von Personen haben, wenn wir unserem Gesprächspartner in der Kneipe glauben, dass er ein erfolgreicher Musiker ist oder in Hinblick auf die Schauseite von Organisationen oder Protestbewegungen, wenn wir diesen sozialen Gebilden glauben, dass sie die in ihrer Außendarstellung hervorgehobenen Ziele tatsächlich verfolgen – oder doch jedenfalls ihr Bestes tun, um dies zu tun. Kurz: Eine vertrauensvolle Einstellung zeichnet sich durch die Abwesenheit von Zweifel und Misstrauen gegenüber den Selbstbeschreibungen sozialer Systeme und den Selbstdarstellungen von Personen aus. Dieser breite Begriff einer vertrauensvollen Einstellung umfasst die von Luhmann (2001, s. o.) unterschiedenen Sachverhalte der Zuversicht (confidence) und des Vertrauens (trust) als riskante Vorleistung im engeren Sinne.

Eine misstrauische oder skeptische Haltung gegenüber den Elementen der Sozialwelt zeichnet sich dagegen durch den Versuch aus, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen: Auf verborgene Hinterbühnen, latent gehaltene Motive und inoffizielle Machtstrukturen. Peter Berger (1969, S. 40) hat in seiner „Einladung zur Soziologie“ den Vorschlag gemacht, das Spezifische der soziologischen Perspektive auf die Sozialwelt durch eine solche „Kunst des Misstrauens“ zu bestimmen: Soziologische Untersuchungen rekonstruieren dargestellten Altruismus als versteckten Egoismus, relativieren die inhaltlichen Stellungsnahmen einer Person auf ihre soziale Stellung und die mit ihr verbundenen Interessen oder thematisieren die formale Hierarchie einer Organisation als unvollständige Darstellung faktischer Einflussbeziehungen. Kurz: Soziologische Untersuchungen relativieren die Bedeutsamkeit und Adäquatheit der offiziellen Selbstbeschreibungen sozialer Zusammenhänge, indem sie ihr die Rekonstruktion inoffizieller, latent gehaltener, aber faktisch wirksamer Strukturen an die Seite stellen. Sie misstrauen dem ersten Eindruck und der Selbstdarstellung sozialer Zusammenhänge, ohne deshalb „die offiziellen Dinge als völlig unwirksam oder ihren Legalitätscharakter als reines Täuschungsmanöver abtun“ zu müssen (Berger 1969, S. 43). Soziologen und andere misstrauische Beobachter vermuten in der Sprache Luc Boltanskis (2013, S. 477) eine „andere Realität“ hinter der offensichtlichen „Realitätsfassade“, stellen also die „Realität der Realität“ in Frage, indem sie prüfen, ob hinter oder neben der unmittelbar-offensichtlichen Bedeutung von Dingen oder Äußerungen weitere Bedeutungen verborgen liegen.

Aspekte eines soziologischen Begriffs der Paranoia als Form grenzenlosen Misstrauens

Eine misstrauische, aber nicht paranoide Umwelteinstellung zeichnet sich durch relativ klar gezogene Grenzen des Misstrauens aus. Dass bestimmten Personen oder Rollen oder Institutionen oder einigen von ihnen zu bestimmten Zeitpunkten nicht getraut werden sollte, kann Grundlage der Erwartungsbildung sozialer Systeme und ihrer Mitglieder sein, wenn zugleich klar ist, welchen anderen Personen, Rollen oder Institutionen vertrauensvoll begegnet werden kann. Als einander begrenzende Umwelteinstellungen können sowohl Vertrauen als auch Misstrauen Sozialsysteme und ihre Mitglieder mit Erwartungssicherheit versorgen. Zu Paranoia wird Misstrauen erst durch die Tendenz zur grenzenlosen Generalisierung des Verdachts, dass die Sozialwelt von Täuschungen und Täuschern durchdrungen sind. Während das Misstrauen des Fahrkartenkontrolleurs, des Polizisten oder des Soziologen vor dem Hintergrund einer im Großen und Ganzen als unproblematisch vorausgesetzten Lebenswelt auf bestimmte Darstellungen begrenzt ist (ist dieser Fahrschein eine Fälschung? Wusste der Radfahrer tatsächlich nicht, dass sein Rücklicht nicht funktionstüchtig ist? Sind die kommunizierten Handlungsmotive der Leute wirklich die Ursache ihres Handelns?), kennt der in paranoiden Sozialsystemen wirksame Verdacht allenfalls schwach institutionalisierte und wenig zeitstabile soziale (wem kann vertraut werden?) und sachliche (welche Aspekte der Welt sind als gegeben hinzunehmen?) Grenzen.

Mein Vorschlag ist also, mit dem Begriff der Paranoia eine solche Umwelteinstellung sozialer Systeme zu bezeichnen, die im Zeitverlauf immer größere Teile der Welt misstrauisch betrachtet und immer weniger Aspekte als gegeben annimmt, wodurch das fragliche Sozialsystem Schwierigkeiten mit der Institutionalisierung von Erwartungen überhaupt bekommt und sozusagen in einer Welt ohne Sicherheiten und voller Angst operiert. „[D]ie Suche nach verborgenen Realitäten und Kausalitäten“ wird für paranoide Sozialsysteme mithin „zu einer buchstäblich unendlichen Aufgabe …, die unablässig wieder neu begonnen werden muss“ (Boltanski 2013, S. 312). Unendlich ist diese Aufgabe der Suche nach der wirklichen Wirklichkeit nicht nur in zeitlicher, sondern auch in sozialer und sachlicher Hinsicht. Wie ich oben am Beispiel der Roten Khmer in Kambodscha veranschaulicht habe, erschwert das grenzenlose Misstrauen paranoider Sozialsysteme ihnen den Aufbau stabiler, auch für Umweltkontakte erwartbarer Strukturen und belastet dadurch Austauschprozesse zwischen System und Umwelt.

Luc Boltanski (2013, S. 372) hat eine ähnliche Konzeption von Paranoia vor Augen, wenn er formuliert, die „Fortsetzung der Untersuchung“ – in meiner Sprache: die Ausweitung von Misstrauen – „über Grenzen hinaus, die von anderen für vernünftig gehalten werden, ist eines der Merkmale, die am häufigsten mit der in ganz gewöhnlichen Alltagssituationen üblich gewordenen Bezeichnung Paranoiker oder paranoid in Verbindung gebracht werden“. Boltanski schließt an diesen eher nebenbei formulierten Gedanken jedoch keinen Versuch der Explikation eines Begriffs von Paranoia an, der dann nicht nur auf Personen, sondern auch auf Denksysteme (Ideologien) oder soziale Gebilde (Organisationen, Protestbewegungen) bezogen werden könnte.Footnote 10

Einen ersten Schritt hin zu einer solchen Begriffsbildung sehe ich darin, die Rede von der „Fortsetzung der Untersuchung über Grenzen hinaus“ zu spezifizieren durch die Angabe der von Luhmann (1984, S. 111 ff.) unterschiedenen Sinndimensionen. Die Ausweitung von Misstrauen in sozialer Hinsicht bedeutet, dass immer weitere soziale Kreise als schon überführte oder potenzielle Feinde, Spione oder Geheimniskrämer behandelt werden. Die Ausweitung von Misstrauen in sachlicher Hinsicht bedeutet, dass immer weniger Aspekte der Lebenswelt als zweifellos gegeben hingenommen werden und immer mehr Themen als einer Überprüfung auf die hinter ihnen liegende wirkliche Wirklichkeit bedürftig behandelt werden. Und in zeitlicher Hinsicht zeigt sich die Tendenz zur Paranoia sozialer Systeme daran, dass – aus den in Bezug auf Sach- und Sozialdimension genannten Gründen – die systeminterne Institutionalisierung von (Verhaltens-)Erwartungen drastisch erschwert wird: Die Gewissheit von gestern ist die Illusion von heute, der gegenwärtige Freund in der gegenwärtigen Zukunft ein möglicher Feind. Mit den wiederum treffenden, aber nicht begrifflich systematisierten Formulierungen Boltanskis (2013, S. 478 f.) lässt sich auch sagen, das Misstrauen zu Paranoia wird, wenn sich nicht nur ein mehr oder weniger scharf begrenzter Ausschnitt der Realität, sondern „die gesamte Realität“ eines Beobachters mit Rätseln anfüllt, „deren Sinn er herauszufinden versucht“. Der paranoide Beobachter erliegt also einem „Deutungswahn“ ohne Stoppregeln, er kennt Gewissheiten nur für kurze Zeit und ist getrieben von der inneren Notwendigkeit, Sicherheiten als bloß vermeintliche Sicherheiten zu entlarven und in Unsicherheiten zu überführen.

Um den hier vorgeschlagenen soziologischen Begriff der Paranoia weiter zu explizieren, ist ein Vergleich mit dem medizinisch-psychiatrischen Konzept der Paranoia hilfreich. Stellvertretend für diese medizinische Konzeption zitiere ich die Definition der „Paranoiden Persönlichkeitsstörung“ gemäß der Klassifikation nach ICD-10 (hier F.60.0):

„Diese Persönlichkeitsstörung ist durch übertriebene Empfindlichkeit gegenüber Zurückweisung, Nachtragen von Kränkungen, durch Misstrauen, sowie eine Neigung, Erlebtes zu verdrehen gekennzeichnet, indem neutrale oder freundliche Handlungen anderer als feindlich oder verächtlich missgedeutet werden, wiederkehrende unberechtigte Verdächtigungen hinsichtlich der sexuellen Treue des Ehegatten oder Sexualpartners, schließlich durch streitsüchtiges und beharrliches Bestehen auf eigenen Rechten. Diese Personen können zu überhöhtem Selbstwertgefühl und häufiger, übertriebener Selbstbezogenheit neigen.“ (meine Hervorhebungen)

Die medizinische Diagnose setzt also das (vermeintliche) Wissen des Diagnoseerstellers über den objektiven Charakter von Handlungen als freundlich oder neutral oder die objektive Bedeutung von Erlebnissen voraus, um dann stark abweichende Formen der Erlebnisverarbeitung als pathologisch bezeichnen zu können. Für den von mir skizzierten soziologischen Begriff der Paranoia als einer stark generalisierten misstrauischen Umwelteinstellung ist es dagegen nicht entscheidend, ob die paranoiden Sozialsysteme oder Rollenträger gute Gründe für ihre Paranoia haben, die auch andere Beobachter überzeugen würde. Anders als im Fall des psychiatrischen Begriffs der Paranoia ist der hier skizzierte Begriff keiner realistischen Erkenntnistheorie verpflichtet, definiert Paranoia also nicht über eine Negation objektiver Tatsachen,Footnote 11 sondern über das Fehlen an Stoppregeln für Misstrauen im beobachtenden System selbst.

Der von mir vorgeschlagene Begriff der „Paranoia“ ist damit eine Bezeichnung für eine bestimmte systeminterne Formen der Weltbeobachtung, keine Bezeichnung für das Verhältnis von Weltsicht und Welt. Für die Mitglieder der Roten Khmer und in anderen Kontexten, in denen Denunziationen erwartbar sind, gibt es schließlich auch aus Sicht unbeteiligter Beobachter gute Gründe, im Gegenüber einen potenziellen Denunzianten zu sehen – und trotzdem ist es, wie die oben diskutierten Analysen zeigen, fruchtbar, die Geschichte der Roten Khmer als eine solche der „paranoiden Selbstzerstörung“ (Schattka 2016) zu schreiben. Ob das generalisierte Misstrauen eines Sozialsystems und seiner Mitglieder also für Außenstehende als begründet erscheint oder nicht: Paranoia als Form grenzenlosen Misstrauens verhindert den Aufbau stabiler Erwartungsstrukturen und ist vor allem deshalb – und nicht in erster Linie wegen einer mangelhaften Übereinstimmung zwischen systemrelativer Weltsicht und der Welt an sich oder der intersubjektiv konsentierten Welt – ein Problem für den Bestand sozialer Systeme.

Institutionalisiertes Misstrauen als Problemlösung

Die hier mit dem Begriff der Paranoia bezeichnete Tendenz einer funktional allenfalls kurzfristig sinnvollen Ausweitung und Generalisierung misstrauischer Umwelteinstellungen lässt sich nur an einigen wenigen der mit Kontroll- und Prüfaufgaben befassten misstrauischen Rollen und Sozialsysteme beobachten. Zugschaffner und Mitarbeiterinnen der KFZ-Zulassungsbehörde sind Beispiele für Misstrauensrollen, aber sie laufen allenfalls in Ausnahmefällen Gefahr, eine paranoide Weltsicht zu entwickeln. Die typische Lösung, mit der es fast allen Sozialsystemen gelingt, den Übergang von Misstrauen zu Paranoia verhindern, besteht darin, Misstrauen als Leistung einzelner Teilsysteme oder Rollen auszudifferenzieren und dadurch zu begrenzen. „[D]ie Suche nach verborgenen Realitäten und Kausalitäten“ (Boltanski 2013, S. 312) wird also in den meisten misstrauischen Sozialsystemen so organisiert, dass bestimmten Rollen oder Teilsystemen die Zuständigkeit dafür zugewiesen wird, in Bezug auf bestimmte Sachverhalte oder Situationen ein überdurchschnittliches Maß an Misstrauen oder Skepsis zu praktizieren.

Wenn es – wie im Fall des Lehrers während der Interaktionssituation einer schriftlichen Prüfung, im Fall der Abteilung für interne Ermittlungen in Organisationen oder im Fall der Polizei einer Gesellschaft – gelingt, Misstrauen als Aufgabe bestimmter Sozialsysteme oder Rollen zu institutionalisieren, so hat dies zwei wichtige Funktionen für das jeweilige soziale System. Erstens erleichtert die Institutionalisierung von Misstrauen als Rollenpflicht die Ausführung misstrauischer Handlungen, weil die an diesen Handlungen sichtbar werdende misstrauische Haltung nun nicht mehr oder jedenfalls weniger stark auf die Person des Rollenträgers zugerechnet wird. Wie ich im Kapitel über den Interaktionstyp der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung in Bezug auf den Vernehmer zeige, ermöglicht die Institutionalisierung von Misstrauen als Rollenpflicht dem Rollenträger dann auch die Darstellung von Rollendistanz (vgl. Goffman 1973) in Hinblick auf die ihm aufgetragene taktlose Behandlung seines Gegenübers. Diese strukturell angelegte Möglichkeit der Darstellung persönlicher Distanz gegenüber Misstrauenspflichten kann dann auch als Grundlage eines von der Sache her unwahrscheinlichen Arbeitsbündnisses zwischen dem Ermittler und dem von ihm misstrauisch behandelten Beschuldigten fungieren.

Zweitens hat die Institutionalisierung von Misstrauen als Aufgabe bestimmter Rollen oder Teilsysteme den Vorzug, alle anderen Rollen oder Teilsysteme des jeweiligen sozialen Systems von Kontrollaufgaben und der Pflicht zu dargestelltem Misstrauen weitestgehend zu entlasten. Kollegen können leichter als Vorgesetzte und leichter als interne Ermittler über das Organisationsmitglied hinwegsehen, das seine Berufsrolle formal illegal für private Zwecke verwendet, da sie mit diesem Übersehen nicht oder jedenfalls weniger deutlich als die Vorgesetzten oder internen Ermittler gegen eine ihnen zugewiesene Rollenpflicht verstoßen. Zugleich sorgt die Existenz ausdifferenzierter Kontrollrollen und -abteilungen dafür, dass Normverstöße nicht systemöffentlich und nicht ohne Risiko praktiziert werden können, wodurch eine Entgrenzung illegalen Handelns verhindert werden kann (vgl. Kühl 2020, 83 ff.; für eine Fallstudie Bensman und Gerver 1973). Die Ausdifferenzierung von Kontrollrollen und -systemen entlastet und entspannt deshalb oft das Zusammenleben aller anderen Rollenträger.

4.4 Zusammenfassender Exkurs: Goffmans ‚Ausdrucksspiele‘ als inhaltliche Anregung und methodisches Vorbild

Der für das hier entwickelte Konzept „misstrauischer Sozialsysteme“ ergiebigste soziologische Text ist meines Eindrucks nach Erving Goffmans Analyse strategischer Interaktionen, in der Goffman vor allem Literatur über die Arbeit von Geheimdiensten in Kriegskontexten auswertet, darunter auch viel Literatur von und für Praktiker. Der folgende Kommentar zu Goffmans Ausführungen soll zum einen die für meine Arbeit bedeutsamen Hypothesen Goffmans herausarbeiten und zum anderen zeigen, warum Goffmans Arbeiten auch in methodischer Hinsicht ein gutes Vorbild sind, wenn es darum geht, allgemeine Theoriebildung und empirische (Polizei-)Forschung in ein produktives Verhältnis zueinander zu bringen.

Die für meine Arbeit interessanteste Zuspitzung der Argumentation liegt in Goffmans Vergleich von gewöhnlichen, alltäglichen Interaktionen mit solchen Begegnungen, in denen das Verhältnis von Alter und Ego durch „harte Interessensgegensätze“ gekennzeichnet ist, also etwa in der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung oder in einem Pokerspiel:

„In unwichtigen Situationen gibt es ein tröstliches Kontinuum mit echten Erscheinungen am einen Ende und offenbar gefälschten am anderen – die einzige Schwierigkeit sind Fälle dazwischen. Doch in wichtigen Angelegenheiten, in denen harte Interessengegensätze aufkommen, können die Enden des Kontinuums zusammentreffen und einen furchtbaren Zirkel bilden. Wenn die Verhältnisse genau so zu sein scheinen, wie sie aussehen, dann ist die allernächste andere Möglichkeit die, daß alles von Grund auf Trug ist; wenn der Betrug auf der Hand zu liegen scheint, dann ist die wahrscheinlichste andere Möglichkeit die, daß keine Täuschung vorliegt.“ (Goffman 1969, S. 63)

Der Grund für diesen „furchtbaren Zirkel“ liegt darin, dass das Ausdrucksspiel zwischen Alter und Ego auf der Ebene mehrstufiger Erwartungserwartungen gespielt werden kann. Wenn Alter weiß, welche Art von Ausdruckselementen für Ego ein ‚sicheres Indiz für x‘ sind (etwa: den Finger in der Vernehmung häufiger als für die Person sonst üblich an die Nase führen als Indiz für LügenFootnote 12), dann kann Alter eben dieses vermeintlich sichere Indiz manipulieren:

„Je stärker sich der Beobachter darauf verlegt, unerschütterliche Hinweise zu finden, desto anfälliger – und das sollte ihm klar sein – ist er gegen eine Ausschlachtung seiner Bemühungen geworden (…) das beste Beweismaterial für ihn ist auch der beste Punkt, an dem der Beobachtete etwas drehen kann.“ (Goffman 1969, S. 57 f.)

Der beobachtende Ermittler muss also, will er rational und erfolgreich ermitteln, „gerade den Indizien Zweifel entgegenbringen, (…) die ihn des Zweifels entheben“, für ihn gilt also, dass „die nützlichste Information … auch die trügerischste“ ist – und, dass er dies wissen kann (Goffman 1969, S. 58; S. 62). Aus dieser Überlegung Goffmans lässt sich eine Hypothese bezüglich eines zentralen Systemproblems misstrauischer Sozialsysteme gewinnen: Misstrauische Sozialsysteme zeichnet aus, dass sie in ihrer Umwelt Personen oder soziale Systeme vermuten, die ein starkes Interesse daran haben, das ermittelnde System zu täuschen. Das für misstrauische Sozialsysteme spezifische Problem liegt deshalb darin, dass sie regelmäßig mit Situationen konfrontiert sind, in denen die Wahrscheinlichkeit, dass eine für das System bedeutsame Information (etwa die dem hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer 1957 zugetragene Information über den Aufenthaltsort von Adolf EichmannFootnote 13) zutreffend ist, in etwa ebenso groß ist wie die Wahrscheinlichkeit, dass die Information unzutreffend und nur zum Zweck der Täuschung des Systems erfunden worden ist.

Misstrauische Sozialsysteme können deshalb nicht auf ein „tröstliches Kontinuum“ (Goffman 1969, S. 63) zurückgreifen, auf dem sich alle Informationen zwischen den Endpunkten ‚offensichtlich falsch‘ und ‚offensichtlich wahr‘ verorten lassen und auf dessen Grundlage andere Systeme ihre Umwelt beobachten, ihre Entscheidungen treffen und ihre Zukunft erwarten. Daraus ergibt sich wiederum, dass misstrauische Sozialsysteme regelmäßig mehrgleisige Ermittlungsstrategien verfolgen müssen. Falls ihnen ‚Ermittlungen in alle Richtungen‘ aufgrund knapper Zeit oder begrenzter Ressourcen faktisch unmöglich sind, müssen sie ein großes Risiko eingehen, wenn sie sich ohne rationale Grundlage für eine der Ermittlungshypothesen entscheiden. Diese Problematik misstrauischer Systeme verschärft sich unglücklicherweise in dem Maße, in dem die Bedeutsamkeit der Information für das System zunimmt: Je bedeutsamer die Information für das misstrauische System ist, desto wahrscheinlicher ist es auch, dass die ‚Gegner‘ des misstrauischen Systems es täuschen wollen, desto rationaler ist also Misstrauen gegenüber der Information. In Goffmans Worten:

„Es ist also zu erwarten, daß das Spiel umso prekärer wird, je stärker die Spieler am Gewinn interessiert sind, bis schließlich ein Punkt erreicht ist, an dem vom Ergebnis alles abhängt und es keine brauchbare Möglichkeit mehr für ein kluges Spielen gibt.“ (Goffman 1969, S. 62 f.)

Aus dieser spezifischen Problemlage misstrauischer Sozialsysteme folgt, dass sie auch in die Loyalität ihrer eigenen Mitglieder ein überdurchschnittlich großes Misstrauen haben müssen. Schließlich liegt in der ‚Abwerbung‘ der Mitglieder des ermittelnden Systems (etwa die Bestechung oder Erpressung eines Kriminalpolizisten) eine der wichtigsten und oft genutzten Strategien des beobachteten Systems, den Kampf um Informationen zu seinen Gunsten zu beeinflussen: „Je nötiger es eine Organisation hat, eine bestimmte Information zu gewinnen oder zu hüten, desto mehr muß sie ihren Mitarbeitern mißtrauen, denn gerade dann wird sich der Gegner am stärksten bemühen, welche für sich zu gewinnen“ (Goffman 1969, S. 70).

Bedeutsam ist Goffmans Text für meine Arbeit aber auch unabhängig von diesem konzeptionellen Beitrag zu einer Soziologie misstrauischer Umwelteinstellungen, nämlich als eine Art Vorbild der Verbindung von soziologischer Theoriearbeit und empirischer Analyse. Ein besonderer Reiz der Analysen Goffmans besteht darin, dass Goffman den „Erfindungsreichtum der Praxis“ (Hirschauer 2008) in Bezug auf die Bearbeitung eines elementaren Problems sozialer Systeme an einem begrenzten Feld empirischer Phänomene im Detail untersucht. Dabei ist das empirische Feld natürlich so ausgewählt, dass sich das grundlegende Systemproblem und seine praktische Bearbeitung hier besonders gut studieren lassen: So, wie sich die Insassen totaler Organisationen, etwa einer geschlossenen Psychiatrie, gut als Gegenstand einer allgemeinen Soziologie des Selbstdarstellungsmanagements eignen, da den Insassen die autonome Selbstdarstellung besonders erschwert ist (Goffman 1961), so eignet sich das Personal der Geheimdienste gut als Gegenstand einer allgemeinen Soziologie des Gewinnens und Verbergens von Informationen, weil Geheimdienste in besonders hohem Maß darauf fokussiert sind, schwer zugängliche Informationen zu gewinnen und als Reaktion darauf die Strategien der Informationsgewinnung professionalisieren müssen.

Durch diese Kombination von detaillierter feldspezifischer Analyse und allgemeinem Bezugsproblem kann die Darstellung für ein breites Publikum relevant werden, ohne den typischen Gefahren des (soziologischen) Generalistentums zu erliegen, in Bezug auf die konkreten Themen der Darstellung zu ungenau und oberflächlich zu werden oder den oft schwer zu vermeidenden Fehler zu begehen, in Rahmen der Darstellung empirischer Sachverhalte in erster Linie die Vorurteile der eigenen Theorie zu wiederholen. Den Anspruch seiner Analyse, als Soziologie der Arbeit geheimdienstlicher Agenten zugleich allgemeine Soziologie zu sein, stellt Goffman dann auch mit gutem Grund an das Ende seiner Darstellung:

„In jeder sozialen Situation ist in irgendeinem Sinne ein Beteiligter Beobachter, der etwas zu gewinnen hat, indem er Ausdrucksverhalten beurteilt, und ein anderer ist Beobachteter, der etwas zu gewinnen hat, wenn er es manipuliert. Hier findet man ein und dieselbe Unsicherheitsstruktur, die den Agenten ein wenig uns gleichen läßt und uns alle ein wenig dem Agenten.“ (Goffman 1969, S. 74)

Goffmans Argument für die allgemeine Bedeutsamkeit seiner Analyse besteht also in der Behauptung der Ubiquität des Bezugsproblems der Analyse. Er weist darauf hin, dass wir uns alle regelmäßig in Situationen befinden, in denen wir etwas zu verbergen versuchen (eine Beziehung, die wir aus Sicht unseres Gegenübers nicht führen sollten, eine Vergangenheit, die wir aus Sicht unseres Gegenübers nicht haben sollten, …) und zuweilen in Situationen, in denen wir etwas von unserem Gegenüber erfahren wollen, das dieser uns nicht ganz freiwillig mitteilen wird, wobei der Versuch der Informationsgewinnung mit einem gewissen Risiko einhergeht (wenn wir einen Dritten um eine Information über Alter bitten, können wir nicht ausschließen, dass Alter durch den Dritten von unserem Interesse erfährt usw.). Wir alle sind also – in abgeschwächter Form – regelmäßig mit den zentralen Handlungsproblemen des Agenten (Verheimlichen und Aufdecken, Einschätzen der Vertrauenswürdigkeit unseres Gegenübers) konfrontiert und wir alle teilen zuweilen – in abgeschwächter Form – das „Kern-Gefährdungsmoment“ (Goffman 1969, S. 72) des Agenten, bei dem Versuch einer nicht voll legitimierten Informationsgewinnung erwischt zu werden.

5 Ausblick: Die Unterscheidung von Vertrauen und Misstrauen als analytisches Werkzeug

In diesem Kapitel habe ich in Anschluss vor allem an Arbeiten Georg Simmels, Erving Goffmans und Niklas Luhmanns zunächst den Vorschlag gemacht, Informationsgewinnung als ein elementares Problem aller sozialen (und psychischen) Systeme zu unterscheiden vom engeren Fall der Geheimnisaufklärung als zentralem Systemproblem misstrauischer Sozialsysteme. Geheimnisaufklärung soll dabei Egos Bemühungen um die Gewinnung solcher Informationen bezeichnen, die für Ego deshalb schwer zugänglich sind, weil Alter mehr oder weniger großen Aufwand betreibt, um Egos Ermittlungen durch Prozesse des Verbergens und Täuschens zu behindern. In dem Maße, in dem Ego – ein einzelner Ermittler oder ein ermittelndes Sozialsystem – damit rechnet, dass seine Versuche der Informationsgewinnung durch Alter – einer beobachteten Person oder einem beobachteten entscheidungsfähigen Sozialsystem – zu durchkreuzen versucht werden, wird es für Ego rational, den ihm zugänglichen Informationen und Informanten mit einem überdurchschnittlichen Maß an Skepsis und Misstrauen zu begegnen; schließlich könnte es sich um Informationen und Informanten handeln, deren Verfügbarkeit für Ego ihre Ursache in Alters Täuschungsabsichten hat.

Angesichts dieser Lage ist Ego – der misstrauische Ermittler oder das misstrauische Sozialsystem – mit dem zentralen und nicht auflösbaren Problem konfrontiert, in Hinblick auf die ihm zugänglichen Informanten und Informationen eine funktionale Kombination und maßvolle Balance zwischen Vertrauen und Misstrauen zu etablieren. Für den Fall, dass einem misstrauischen Sozialsystem diese Einhegung und Spezifikation des Misstrauens nicht gelingt und das Sozialsystem deshalb weite Teile der Sozialwelt, darunter auch die eigenen Systemmitglieder, als potenziell feindlich beobachtet und behandelt, habe ich den Begriff der Paranoia verwendet und am Fall der Roten Khmer in Kambodscha sowie am Fall des Ministeriums für Staatssicherheit in der DDR die Folgeprobleme paranoider Umwelthaltungen für das paranoide Sozialsystem veranschaulicht.

Das damit rekapitulierte Konzept „misstrauischer Sozialsysteme“ ist eine der Grundlagen der im dritten Teil dieses Buches vorgelegten Beiträge zur Soziologie der Polizei. Von besonderer Bedeutung für meine Verwendung der Unterscheidung von Vertrauen und Misstrauen ist dabei die oben diskutierte Einsicht, dass es sich bei der Wahl eines Beobachters (eines Sozialsystems oder eines seiner Mitglieder) zwischen Vertrauen und Misstrauen als zueinander funktional äquivalenter Umwelteinstellungen und Handlungsgrundlagen um ein nur sehr begrenzt rationalisierbares „Wagnis“ (Luhmann 1968c, S. 31) handelt. Wenn Handelnde ihrem Gegenüber – Polizisten etwa einem Beschuldigten in der Vernehmungsinteraktion (Kapitel 8), einem Kollegen nach einem rechtlich entgleisten Einsatz (Kapitel 9) oder einem Informanten (Kapitel 5 und 6) – vertrauensvoll oder misstrauisch begegnen, dann überziehen sie dabei notwendigerweise die ihnen vorliegenden Informationen.

Misstrauische oder vertrauensvolle Einstellungen zum Gegenüber (Beschuldigter, Kollege, Informant) fungieren mithin als Ersatz für die sachlogisch unmögliche Kontrolle über die Tatsachen selbst. Rationalistisch geurteilt handelt es sich um eine unbefriedigende, soziologisch geurteilt dagegen um eine brauchbare Lösung eines Informationsproblems. Polizisten, die mit und an Informanten und Beschuldigten arbeiten, bemühen sich natürlich manchmal um Zugriffe auf ‚die Dinge selbst‘, zum Beispiel in Form von ‚objektiven Spuren‘ an einem Tatort oder Mitschnitten von Telefongesprächen. Sie benötigen und benutzen jedoch regelmäßig vertrauensvolle oder misstrauische Hypothesen bezüglich der von ihrem Gegenüber vorgetragenen Informationen, wenn ihnen der direkte Zugriff auf die fraglichen Sachverhalte entweder nicht möglich ist oder zu aufwändig erscheint. Ich belasse es an dieser Stelle bei diesen allgemeinen Überlegungen zur „Innenfundierung“ (Luhmann 1968c, S. 33) von Vertrauens- und Misstrauensbeziehungen. Sie auf den Interaktionstyp der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung, die berufliche Gemeinschaft der polizeilichen Dienstgruppe sowie auf das Verhältnis von Polizeien als Organisationen zu ihrem Umweltsegment der Straftaten und Straftäter anzuwenden, ist die Aufgabe der Kapitel im dritten Teil dieses Buches.