Polizeiarbeit ist ein prominentes Thema massenmedialer Berichterstattung. Kaum eine Woche vergeht, in der die Öffentlichkeit nicht ausführlich über Polizeieinsätze oder das Innenleben von Polizeibehörden informiert wird. Häufig geht diese öffentliche Thematisierung von Polizeiarbeit in irgendeiner Form mit einer Kritik der Polizei als Organisation oder des Handelns einzelner PolizistenFootnote 1 einher, die in zwei verschiedenen Spielarten auftritt. Die erste Spielart der kritischen Beobachtung der Polizei misst polizeiliches Handeln an Rechtsnormen und berichtet deshalb bevorzugt etwa über racial profiling, über den unrechtmäßigen Einsatz von Gewalt durch Polizisten oder über Polizisten, die Straftaten ihrer Kollegen decken, anstatt sie gemäß ihrer Rechtspflicht zur Anzeige zu bringen. Die zweite Spielart der kritischen Beobachtung der Polizei misst polizeiliches Handeln an Kriterien der Effektivität und berichtet über Polizeiarbeit dementsprechend vor allem dann, wenn sie misslingt. Die Rede ist dann von einem Organisationsversagen der Polizei, sei es in Hinblick auf den Fehlschlag kriminalistischer Ermittlungen,Footnote 2 sei es in Hinblick auf die Durchsetzung öffentlicher Sicherheit und Ordnung.Footnote 3

Diese doppelgleisige öffentliche Beobachtung von Polizeiarbeit in Hinblick auf ihre Rechtmäßigkeit einerseits, ihre Effektivität andererseits sowie die daraus folgende polizeiinterne Spannung zwischen Regeltreue und Erfolg sind ein zentrales Thema auch der Soziologie der Polizei, zu der dieses Buch beitragen will. Die dabei eingenommene Perspektive auf Polizeiarbeit als Arbeit an den Grenzen des Rechts geht zum einen mit einer Fokussierung auf bestimmte Aspekte von Polizeiarbeit und zum anderen mit einer Hypothese über Polizeiarbeit einher. Die empirische Fokussierung ist, dass ich mich schwerpunktmäßig mit Grenzkontakten zwischen Polizisten als Mitgliedern des organisierten Rechtsbetriebs und ihren verschiedenen nicht-polizeilichen Handlungspartnern beschäftige, insbesondere mit dem Kontakt zu Bürgern während rechtlich entgleisender Polizeieinsätze (Kapitel 9), zu Beschuldigten in der Beschuldigtenvernehmung (Kapitel 8) sowie zu Informanten aus Milieus mehr oder weniger stark organisierter Kriminalität (Kapitel 5 und 6).

Die im Zuge dieser Analysen empirisch veranschaulichte und theoretisch begründete Hypothese ist, dass die Arbeit der Polizei im Grenzkontakt zu Nichtmitgliedern des organisierten Rechtsbetriebs systematisch dazu neigt, an den Grenzen des rechtlich Erlaubten und regelmäßig auch über sie hinaus vollzogen zu werden. Der Anspruch ist dabei, unrechtmäßige Polizeiarbeit nicht lediglich als Folge schlecht ausgebildeter oder aus persönlichen Motiven unrechtmäßig handelnder Polizeibeamter zu erklären. Wenngleich es selbstverständlich auch dies gibt, scheint es mir doch der Anspruch einer soziologischen Analyse sein zu müssen, systematisch auftretende Fälle unrechtmäßiger Polizeiarbeit unter Rekurs auf systematische Ursachen zu erklären. Die in diesem Buch ausgearbeiteten Erklärungen für Rechtsfehler bei der Polizeiarbeit verweisen etwa auf die Struktur polizeilicher Einsatzsituationen, in denen Polizisten mit der für professionelle Berufsgruppen charakteristischen Kombination von Handlungszwang mit irreversiblen und weitreichenden Folgen unter Bedingungen knapper Zeit und eines Mangels an erfolgssicheren Handlungsgrundlagen („Technologiedefizit“) konfrontiert sind (Kapitel 9), oder auf die Angewiesenheit der Kriminalpolizei auf die Kooperationsbereitschaft von Beschuldigten (Kapitel 8) und Informanten (Kapitel 5 und 6), die in Rechtsstaaten zumindest formal frei sind und bleiben, die Wünsche von Polizeibehörden nicht zu den ihren zu machen.

Es muss an dieser Stelle genügen, den Bedarf an einer systematischen soziologischen Erklärung für den systematischen Bedarf von Polizeibehörden und Polizisten an einer „umsichtig lavierende[n] Praxis“ (Luhmann 1972, S. 279) der Rechtsanwendung an den Grenzen des rechtlich Erlaubten zu benennen. Unabhängig davon, wie diese Erklärung in den einzelnen Kapiteln ausfällt und ob sie die Leserinnen dieses Buches überzeugen wird, bleibt es eine zweite Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die Soziologie der Polizei in der Lage ist, zwischen brauchbarer und unbrauchbarer Illegalität in der Polizeiarbeit im Sinne Niklas Luhmanns (1964b, S. 304–314; vgl. umfassend Kühl 2020) zu unterscheiden. Auf diese ebenso interessante wie komplizierte Frage formuliere ich in Kapitel 4 eine vorsichtig optimistische Antwort: Die Soziologie der Polizei kann auch normative Sätze über den Nutzen und den Schaden von Regelbrüchen in der Polizeiarbeit beinhalten, wenn sie in der Lage ist, die ihren Wertungen zu Grunde liegenden Maßstäbe zu explizieren und zu begründen.

Die von mir in diesem Buch vorgestellte, problematisierte und verwendete Form funktionalistisch-systemtheoretischer Sozialkritik (vgl. Weißmann 2020) macht sich zwar keine Hoffnungen auf sachlich eindeutige und sozial generalisierbare Kriterien des Richtigen und Falschen, versteht aber den Rekurs auf die zentralen Systemprobleme sozialer Systeme, zum Beispiel des Rechtssystems einer Gesellschaft, als Horizont, vor dem auch normative Urteile über soziale Strukturen und soziales Handeln formuliert und begründet werden können. Enttäuscht zurücklassen wird dieses Programm der Re-Kombination von deskriptiver Analyse und normativer Kritik alle, die sich von soziologischer Sozialkritik einen Gewinn an normativen Gewissheiten erhoffen, während es für jene interessant sein könnte, die in dem positivistischen Rückzug der Soziologie aus normativen Diskussionen nicht nur einen Gewinn an Objektivität, sondern auch einen Verlust an wissenschaftlich interessanten und gesellschaftlich relevanten Fragestellungen sehen.

Im Vergleich zu der Prominenz von Polizeiarbeit als Thema der öffentlichen Diskussion fällt auf, dass die Beschäftigung mit der Polizei als Organisation und Polizeiarbeit als professioneller Arbeit in den deutschsprachigen Sozialwissenschaften zu den randständigen Themen zählt. Die Beforschung von Polizeiarbeit findet mit wenigen AusnahmenFootnote 4 weder intellektuell noch institutionell im Zentrum der sozialwissenschaftlichen Disziplinen statt, sondern wird typisch an der Schnittstelle zwischen sozialwissenschaftlicher Forschung und Polizeiausbildung betrieben, in der Bundesrepublik etwa an der Deutschen Hochschule der Polizei oder den Fachhochschulen der Länder. Von dieser Literatur unterscheidet sich das vorliegende Buch durch den Ansatz, ausgewählte Themen der interdisziplinären Polizeiforschung – die Geschichte polizeilicher Ermittlungsarbeit in Europa (Kapitel 5), den Einsatz von Informanten (Kapitel 6), die Interaktionsordnung der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung (Kapitel 8) und die Berufsgruppensolidarität unter Polizisten (Kapitel 9) – mit allgemeineren analytischen Instrumenten vor allem aus den Subdisziplinen der soziologischen Theorie, der soziologischen Organisationsforschung und der Professionssoziologie zu untersuchen.

Einige der für diese Analysen im dritten Teil des Buches zentralen analytischen Instrumente – die Unterscheidung von Vertrauen und Misstrauen als zwei generalisierten Umwelteinstellungen und das auf ihr basierende Konzept „misstrauischer Sozialsysteme“ (Kapitel 2), die Theorie der Grenzrollen und Grenzsysteme (Kapitel 3) sowie der Äquivalenzfunktionalismus als Methode soziologischer Analyse, Begriffsbildung und Kritik (Kapitel 4) – werden in den Kapiteln des zweiten Buchteils ausführlich diskutiert und (weiter)entwickelt. Insgesamt soll die Arbeit dann auch exemplarisch vorführen, dass und wie die wechselseitige Ignoranz von empirischer Polizeiforschung und theorieorientierter Soziologie überwunden werden kann (Kapitel 10 und 11).

Im weiteren Verlauf dieser Einleitung rekonstruiere ich zunächst grob die zentralen Episoden der deutschsprachigen Polizeiforschung (1.1) und expliziere die auch in dieser Literatur häufig artikulierte Diagnose einer institutionellen Isolation und disziplinären Heimatlosigkeit der zeitgenössischen Polizeiforschung (1.3). In einem Zwischenschritt erinnere ich an die in der deutschsprachigen Literatur kaum rezipierten Einsichten und Perspektiven der englischsprachigen Polizeisoziologie der 1960er und 1970er Jahre (1.2). An diese Literatur schließe ich in meinen Analysen auch programmatisch an durch den Ansatz, Polizei(arbeit) als besonderen Fall einer breiteren Serie von Phänomenen aus dem Gegenstandsbereich der Soziologie zu analysieren, also etwa die Ausdifferenzierung und Organisationswerdung polizierender Einheiten als besonderen Fall der Ausdifferenzierung sozialer Kontrolle und der Verorganisierung gesellschaftsbezogener Funktionen (Kapitel 5), den Kontakt zwischen Polizisten und ihren Informanten als besonderen Fall des Kontakts von organisationalen Grenzrollen zu für den Organisationserfolg wichtigen, aber nicht zur Kooperation verpflichteten Nichtmitgliedern der Organisation (Kapitel 5 und 6), die polizeiliche Beschuldigtenvernehmung als besonderen Fall eines Grenzsystems und der Informationsgewinnung in strategischen Interaktionen (Kapitel 8) oder den polizeilichen Korpsgeist als besonderen Fall von (Berufs-)Gruppensolidarität (Kapitel 9).

1 Stationen der deutschsprachigen Polizeiforschung

Die erste Phase der deutschsprachigen Polizeiforschung in den 1960er und 1970er Jahren ist in theoretischer Hinsicht vom Etikettierungsansatz geprägt, der Kriminalität als Resultat sozialer Zuschreibungsprozesse versteht und sich für Polizeiarbeit insofern interessiert, als sie an diesen Prozessen beteiligt ist, etwa im Zuge von Personenkontrollen, Anzeigeaufnahmen oder Vernehmungen. Die leitende Hypothese und zugleich das zentrale Ergebnis dieser Forschung ist, dass die „Definitionsmacht der Polizei“ (Feest und Blankenburg 1972) sozial selektiv eingesetzt wird: Die Polizei reproduziere Schichtung etwa dadurch, dass sie intensiver gegen Verdächtige ermittelt, bei denen geringere Rechtskenntnisse zu erwarten sind oder dadurch, dass die Schwerpunkte ihrer Kontrolle des öffentlichen Raums auf die Wohnquartiere benachteiligter Bevölkerungsgruppen gerichtet sind und die hier begangenen Straftaten deshalb häufiger beobachtet und verfolgt werden als die Straftaten von Angehörigen der Mittel- und Oberschicht (Brusten 1971; Feest 1971; Brusten und Malinowski 1975). Insgesamt erzeugten diese Arbeiten, so der Rückblick von Jo Reichertz und Norbert Schröer (2003b, S. 20), „ein Bild von einer Polizei, die in ihrer kriminalistischen Praxis weniger der Durchsetzung geltenden Rechts als vielmehr der Aufrechterhaltung sozialstrukturell verankerten Unrechts dient.“

Aus Sicht der Polizeibehörden der Bundesrepublik handelte es sich bei den Arbeiten der Kritischen Kriminologen um eine nicht sachgemäße Form der Darstellung polizeilicher Arbeit, die zu viel und zu vorschnelle Kritik an Polizeiarbeit äußere. Die Behörden reagierten mit einem generalisierten Misstrauen gegenüber sozialwissenschaftlicher Polizeiforschung und gewährten externen Wissenschaftlern in den 1980er Jahren zunächst keinen Feldzugang mehr. Dementsprechend entstehen in dieser zweiten Phase der deutschsprachigen Polizeiforschung schwerpunktmäßig Arbeiten im Auftrag polizeilicher Behörden, vor allem im Auftrag des Bundeskriminalamtes.Footnote 5 Zu nennen ist hier etwa die von Jürgen Banscherus (1977) verfasste Analyse der Formen polizeilicher Vernehmungen und ihrer Protokollierung oder die Arbeit von Dieter Dölling (1984), die zeigt, in welch hohem Ausmaß das Vorliegen eines erfolgsversprechenden Ermittlungsansatzes zu Beginn eines Ermittlungsverfahrens die Intensität kriminalpolizeilicher Ermittlungen determiniert: Fehlen zu Beginn des Ermittlungsverfahrens konkrete Hinweise auf mögliche Täter – wie es etwa im Fall von Einbruchskriminalität oder Raub typisch ist – dann führt dies in der Regel nicht zu intensiver Ermittlungsarbeit in kompensierender Absicht, sondern zu einer Einstellung des Verfahrens (vgl. dazu auch Brodeur 2010, S. 193 f.). Typisch für die Arbeiten dieser Zeit ist auch die Analyse der Forscher um Ulrich Oevermann (Oevermann et al. 1985) zu den ermittlungspraktischen Konsequenzen der kriminalistischen Perservanzhypothese, der zufolge Täter in ihrem Delikttypus (zum Beispiel Raubkriminalität) und darüber hinaus in der Art der Deliktbegehung, dem so genannten Modus Operandi (zum Beispiel die Art des Überfalls oder des Einbruchs) ein hohes Maß an Beständigkeit und Treue zu sich selbst aufweisen. Diese Arbeiten im Auftrag der Polizei haben gemeinsam, dass sie ihr Datenmaterial, in der Regel Akten, von den Polizeibehörden beziehen und in einer Weise analysieren, die – wie indirekt auch immer – darauf abzielt, Polizeiarbeit zu verbessern.

In Abgrenzung zu dieser Forschung für die Polizei positioniert sich dann in einer dritten Phase der deutschsprachigen Polizeiforschung ab Ende der 1980er Jahre eine Gruppe von Sozialwissenschaftlern um Jo Reichertz und im Umfeld von Hans-Georg Soeffner, die auf ihre institutionelle Unabhängigkeit gegenüber der Polizei Wert legt und den Anspruch betont, Forschung über die Polizei zu produzieren. Gewährleistet werden soll dies nicht nur über die eigenständige Datenerhebung im Rahmen von Feldforschungen, sondern auch durch die Integration der Forschung in allgemeinere sozialwissenschaftliche Diskussionszusammenhänge: „Eine eigenständige Polizeiforschung liefe Gefahr, nur noch sich selbst zu sehen, und nicht mehr zu verstehen, daß die Arbeit der Polizei Teil der Antwort auf die Frage ist, wie Gesellschaft möglich ist – und damit würde Polizeiforschung zwar einiges über Arbeitsvorgänge wissen, aber wenig darüber, was diese bedeuten“ (Reichertz und Schröer 2003b, S. 29).Footnote 6 Die Arbeiten dieser sich als ‚Hermeneutische Polizeiforscher‘ bezeichnenden Gruppe haben einige instruktive Innenansichten polizeilicher Behörden hervorgebracht und darüber hinaus den reflexiven Diskurs über die Ziele, Grundlagen und disziplinäre Verortung der sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit Polizeiarbeit im deutschsprachigen Raum deutlich belebt. Das ausgegebene Ziel, Polizei als Gegenstand allgemeinerer sozialwissenschaftlicher Forschung zu etablieren und mit den Mitteln etwa der allgemeinen Rechts-, Organisations- oder Professionssoziologie zu untersuchen, scheint mir jedoch nur in geringem Umfang erreicht worden zu sein. Ich komme darauf am Ende dieser Einleitung zurück.

2 Klassiker und zentrale Einsichten der englischsprachigen Polizeisoziologie

Ein Grund für die bis heute andauernde intellektuelle Isolation der Polizeiforschung im deutschsprachigen Raum liegt nach meinem Eindruck darin, dass sie sich bislang kaum für die Einsichten und Ansätze der englischsprachigen Polizeisoziologie interessiert hat, die vor allem in den USA seit den 1960er Jahren zahlreiche Arbeiten hervorgebracht hat, die sich sowohl durch intensive Feldforschung als auch Anschlüsse an allgemeinere soziologische Diskussionszusammenhänge auszeichnen. Es ist für die Zwecke meiner Arbeit nicht notwendig, diese Forschungslandschaft und ihre Geschichte im Detail zu rekonstruieren oder die Arbeiten der Klassiker wie William Westley, Michael Banton, Jerome Skolnick oder Egon Bittner je für sich darzustellen und zu würdigen (vgl. dazu gut Reiner 2015). Stattdessen befrage ich diese Arbeiten der frühen Polizeisoziologie in den folgenden Absätzen darauf, welche zentralen Perspektiven und Fragestellungen sie miteinander teilen, um so herauszuarbeiten, worin die auch für heutige Forschung bedeutsamen und spezifischen Merkmale einer Soziologie der Polizei liegen.

Polizei als eine Instanz sozialer Kontrolle neben anderen

Das erste zentrale Merkmal der Perspektive der Polizeisoziologie auf ihren Gegenstand sehe ich darin, die gesamtgesellschaftliche Bedeutsamkeit und Einzigartigkeit von Polizei zu relativieren. Nicht zufällig lautet der erste Satz von Michael Bantons „The Policemen in the Community“, also einer der wichtigsten Monographien der frühen Polizeisoziologie: „A cardinal principle for the understanding of police organization and activity is that the police are one amongst many agencies of social control“ (Banton 1964, S. 1, meine Hervorhebung). Ähnlich legen auch Jerome Skolnick und Richard Woodworth Wert darauf, Polizeien als einen besonderen Fall eines allgemeineren Systemtyps zu thematisieren, der von ihnen als „social control system“ bezeichnet wird, worunter die Autoren ein soziales System verstehen, das auf die Durchsetzung normativer Standards spezialisiert ist. „Enforcing the system of rules“ (Skolnick und Woodworth 1967, S. 99) lässt sich als ein zentrales Bezugsproblem von Eltern ebenso wie von Schulen, Gesundheitsämtern oder Polizeibehörden beschreiben. Mit dieser konzeptionellen Entscheidung geht dann auch eine für die Polizeisoziologie typische inhaltliche These einher, der zufolge die Existenz von Polizeien und die Arbeit von Polizisten nur geringe Effekte auf den faktischen Zustand gesellschaftlicher Ordnung haben. Entgegen der polizeilichen Selbstbeschreibung als Organisation der ‚Verbrechensbekämpfung‘ betont die frühe Polizeisoziologie, dass Polizeien nur einen sehr geringen Einfluss auf das Kriminalitätsniveau und den Zustand der öffentlichen (Un)Ordnung haben, die vielmehr als Folge gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse erklärt werden müssen.

In meinen Analysen schließe ich mich dieser konzeptionellen Ausrichtung der frühen Polizeisoziologie an, indem ich Polizeien als einen besonderen Fall „misstrauischer Sozialsysteme“ analysiere (siehe dazu Kapitel 2) und mit einem systempluralistisch gebildeten Begriff von Polizei arbeite. Hinter diesem Ansatz steht die Überlegung, dass es nicht nur – wie die frühe Polizeisoziologie betont – auf der Ebene der Gesamtgesellschaft andere soziale Einheiten gibt, die ähnliche Funktionen wie Polizeien übernehmen, sondern, dass es auch in Sozialsystemen jenseits der Ebene der Gesamtgesellschaft – zum Beispiel in Organisationen, Familien oder Protestbewegungen – soziale Einheiten gibt, die Funktionen des Polizierens übernehmen. Der von mir vorgeschlagene und verwendete funktional gebildete Polizeibegriff geht dabei nicht von bestimmten Merkmalen von Polizeien aus – etwa ein Monopol an legitimer Gewalt, die Verfasstheit als formale Organisation oder ein Bezug auf Staatlichkeit – sondern von den Bezugsproblemen, für deren Bearbeitung die Polizei eines sozialen Systems Zuständigkeit beansprucht. Mein begrifflicher Vorschlag ist, dass sich polizierende Einheiten durch ein oft gleichberechtigtes Nebeneinander von zwei zentralen Bezugsproblemen auszeichnen, nämlich zum einen die Eindämmung und Sanktionierung offener Normverstöße mit dem Ziel, einen gewissen Zustand systemöffentlicher Ordnung zu erhalten, zum anderen die (selektive) Aufklärung und Rekonstruktion des Verlaufs von Normverstößen.Footnote 7

Dieser funktional-problembezogen gebildete PolizeibegriffFootnote 8 kann nicht nur auf die moderne Gesellschaft mit Polizei als formaler Organisation, sondern auch auf andere soziale Systeme bezogen werden. Wenig differenzierte Gesellschaften ebenso wie Interaktionen, Familien, Gruppen, Protestbewegungen oder Organisationen verfügen als soziale Systeme zwar über eine eigene normative Ordnung und müssen je eigene Formen finden, um auf normabweichendes Verhalten zu reagieren. Im Unterschied zur modernen Gesellschaft können diese kleineren und weniger differenzierten Sozialsysteme diese Aufgaben jedoch in der Regel nicht an ausdifferenzierte Polizeiorgane delegieren. Die Probleme des Polizierens – „Peacekeeping“ (Bittner 1967) im Sinne der Aufrechterhaltung eines gewissen Zustandes systemöffentlich sichtbarer Ordnung einerseits, Ermittlungsarbeit im Sinne der (Re)Konstruktion des Verlaufs ausgewählter Normverstöße andererseits – werden in diesen schwach differenzierten Sozialsystemen typisch nicht explizit und manifest zum Auftrag bestimmter Personen oder Rollen, sondern sie werden typisch latent und durch eine nicht klar umgrenzte Menge von Personen oder Rollen bearbeitet.

Der damit skizzierte systempluralistische Polizeibegriff dient mir zum einen als eine der konzeptionellen Grundlagen für den Vergleich von eher gesellschaftlich eingebetteten Formen des Polizierens (England im 17. und 18. Jahrhundert) mit stärker ausdifferenzierten und organisierten Formen von Polizeiarbeit (Berlin in der Weimarer Republik) in Kapitel 5. Zum anderen hängt dieser systempluralistische Polizeibegriff mit meinem Vorschlag zusammen, kriminalpolizeiliche Ermittlungsarbeit als einen von mehreren Fällen organisierter Informationsgewinnung unter erschwerten Bedingungen zu verstehen und die Kriminalpolizei deshalb als einen von mehreren Fällen eines „misstrauischen Sozialsystems“ zu analysieren (Kapitel 2).

Die sachliche Unbestimmtheit des polizeilichen Auftrags Peacekeeping statt Verbrechensbekämpfung

Ein zweiter zentraler Aspekt der frühen Polizeisoziologie zielt auf eine Korrektur verbreiteter Auffassungen über typische Aufgaben und Einsatzlagen von Polizisten. Während Polizeiarbeit in Rechtstexten und in populären Darstellungen typisch als Verbrechensbekämpfung und Rechtsdurchsetzung beschrieben wird, steht – so der Befund der Polizeisoziologie der 1960er Jahre – der überwiegende Anteil polizeilichen Handelns faktisch in keinem oder nur in einem sehr losen Bezug zu den Normen des Strafgesetzbuchs. Polizisten bewegen sich ohne spezifischen Auftrag im öffentlichen Raum, beobachten den Verkehr vor einer Schule, schlichten einen Familienstreit, übernehmen diverse Servicefunktionen etwa bei der Suche nach einer vermissten Person oder bei der Unterstützung von Hilfsbedürftigen, vermitteln Bürger an andere Behörden oder informieren andere Organisationen wie das Ordnungs- oder Jugendamt über Entwicklungen in Familien oder im öffentlichen Raum, die zwar keine Straftaten sind, aus Sicht der Polizisten jedoch organisierter Aufmerksamkeit bedürfen. „In other words, when one looks at what policemen actually do, one finds that criminal law enforcement is something that most of them do with the frequency located somewhere between virtually never and very rarely“, formuliert deshalb Egon Bittner (1974, S. 154) einen Befund, für den neben zahlreichen weiteren klassischen Texte der frühen PolizeisoziologieFootnote 9 auch jüngere quantitative Auswertungen öffentlich zugänglicher Daten über Polizeieinsätze in US-amerikanischen Großstädten zitiert werden können.Footnote 10 Dieser breite Tätigkeitsbereich von Polizisten hängt dabei auch schlicht damit zusammen, dass Polizeien diejenigen Behörden der staatlichen Verwaltung sind, die rund um die Uhr verfügbar und niedrigschwellig aktivierbar sind (vgl. Bayley 1994).

Das in diesem Zusammenhang für eine Charakterisierung von Polizeiarbeit wichtigste Argument lautet, dass die Arbeit von Polizisten auch in denjenigen Fällen, in denen Polizisten direkt mit Rechtsbrüchen konfrontiert sind, als konditional programmierte Rechtsdurchsetzung unzureichend beschrieben ist. Nur selten ergreifen Polizisten im Streifendienst eine Maßnahme, weil sie durch ein konditional programmiertes Strafrecht dazu verpflichtet sind. Adäquater lässt sich Polizeiarbeit mit der frühen Polizeisoziologie als ein an Ergebnissen orientiertes Peacekeeping beschreiben, als Arbeit, die auf einen Zustand öffentlicher Ruhe und Ordnung ohne offen erkennbare Konflikte abzielt. Wenn Polizisten den Eindruck haben, dass eine rechtliche Maßnahme wie eine Verhaftung ein geeignetes Mittel zu diesem Zweck ist, dann ‚aktivieren‘ sie das Recht. Polizisten setzen Recht also nicht konsequent durch, sondern sie setzen es selektiv dann ein, wenn es ihres Eindrucks nach der Herstellung bestimmter Zustände der öffentlichen Ordnung dienlich ist („keeping the peace“). Von der manifesten Ordnung des Rechtssystems aus beurteilt, handelt es sich dabei um ein abweichendes Verhalten, weil die Frage, ob eine bestimmte Person eine Straftat begangen hat oder nicht, in den Hintergrund rückt: Patrolmen „are more interested in reducing the aggregate total of troubles in the area than in evaluating individual cases according to merit“ (Bittner 1967, S. 714); „[t]hus, it could be said that patrolmen do not really enforce the law, even when they invoke it, but merely use it as a resource to solve certain pressing practical problems in keeping the peace“ (Bittner 1967, S. 710).

In der Sprache der Organisationssoziologie und ihrer Unterscheidung von Konditional- und ZweckprogrammenFootnote 11 kann also festgehalten werden, dass zentrale Aspekte von Polizeiarbeit auf einer manifesten (rechtlich-formalen) Ebene durch Konditionalprogramme strukturiert sind, die Polizisten dazu verpflichten, auf die Beobachtung einer bestimmten Straftat mit bestimmten Maßnahmen zu reagieren. Faktisch orientieren sich Polizisten (im Streifendienst) jedoch primär an Zwecken oder Zielen, die sich mit Wilson (1968, S. 31) als „handling the Situation“, mit Bittner (1967, S. 710) als „keeping the peace“ oder mit Ericson (1982, S. 218) als „transform troublesome, fragile situations back into a normal or efficient state“ beschreiben lassen.

In der neueren ethnographischen Literatur hat Kirsten Buvik diesen Befund auf Grundlage der Beobachtung von Streifendiensteinsätzen im Osloer Nachtleben formuliert. Auch die von ihr begleiteten Polizisten lassen sich als konditional programmierte „law officers“ (Banton 1964) nicht angemessen beschreiben, da sie viele Rechtsbrüche komplett ignorieren und mit anderen Rechtsbrüchen auf eine rechtlich nicht vorgesehene Weise umgehen. Während die Streifenpolizisten auf diese Art ihre Ressourcen schonen, warten sie stets auf die kaum vorhersehbaren ‚großen Ereignisse‘: „The absolute enforcement of the law is often not an option for an officer […] officers must choose their battles carefully“ (Buvik 2014, S. 784). Ob Polizisten sich in einer bestimmten Situation für die konsequente Durchsetzung von Recht oder für eine kooperativere Form der Problemlösung (selektives Übersehen oder ein Gespräch statt einer Verhaftung) entscheiden, ergibt sich dabei nicht aus der isoliert betrachteten Straftat, sondern hängt etwa von der Person des Täters, von dem Grad der Öffentlichkeit der Situation (mit oder ohne unbeteiligte Zuschauer) und vor allem von der allgemeinen Einsatzlage ab. Die formal illegale Orientierung der Polizisten an der Wirkung eigenen Handelns zeigt sich auch darin, dass die befragten Polizisten ihr (Nicht-)Eingreifen in bestimmten Situationen der Soziologin gegenüber nicht damit begründeten, ob von dem jeweiligen Bürger eine strafbare Handlung vollzogen worden war, sondern damit, ob ein Nichteingreifen dem ‚Image‘ der Polizei schaden würde, also etwa zu einem Respektverlust führen könnte (Buvik 2014, S. 777; vgl. Hüttermann 2000, S. 19 ff.).

Die klassische und die neuere Polizeiforschung hat die damit skizzierte These, Polizeiarbeit ziele weniger auf die konsequente Durchsetzung öffentlichen Rechts, sondern behandele Rechtsdurchsetzung taktisch-selektiv in Hinblick auf das Ziel eines ‚Erhalts der öffentlichen Sicherheit und Ordnung‘, zumeist durch situative Erfordernisse im Streifendienst erklärt und in der Form der Schilderung von Einzelfällen dargestellt. In Anschluss an diese Forschung formuliere ich im Verlauf des Buches die These, dass es sich bei diesen Schilderungen um den Ausdruck einer allgemeineren Spannung handelt, die für das Umweltverhältnis der Polizei als Organisation charakteristisch ist, nämlich der Spannung von Regeltreue und Erfolg, von Konditionierung und Effektivität (siehe dazu insbesondere die „Synthese zu Kapitel 5 und 6“ in Anschluss an diese beiden Kapitel).

Die rechtliche Unbestimmtheit polizeilichen Handelns Ermessensausübung in der Rechtsanwendung

Mit dieser Charakterisierung von Polizeiarbeit als Peacekeeping ist ein weiteres zentrales Thema der frühen Polizeisoziologie verbunden, nämlich die Betonung der rechtlichen Unterbestimmtheit polizeilichen Handelns und der daraus folgenden Notwendigkeit von Ermessensausübung in der Rechtsanwendung. Im juristischen Sprachgebrauch betrifft ‚Ermessen‘ stets die Rechtsfolgenseite einer Gesetzesnorm: Wenn x der Fall ist, dann kann (nicht: muss) ein Rechtsanwender, dem ‚Entschließungsermessen‘ zugestanden ist, eine Maßnahme ergreifen; wird ihm ‚Auswahlermessen‘ zugestanden, hat er die rechtliche Erlaubnis und Pflicht, nach ‚pflichtgemäßem Ermessen‘ zwischen verschiedenen Handlungen zu wählen (vgl. Hufen 2010; Seibel 2016, S. 181 ff.; Weißmann 2017a). Im Fall der Streifenpolizisten ist ein Beispiel für ein solches Auswahlermessen die Frage, ob eine Person, die Passanten auf öffentlichen Plätzen belästigt hat, lediglich mündlich verwarnt, ob gegen sie ein Platzverweis ausgesprochen, oder, ob sie für die Durchführung weiterer Maßnahmen auf die Dienststelle mitgenommen wird.

In dieser rechtlichen Unterbestimmtheit des Handelns liegt nun aber natürlich keine Erlaubnis zu polizeilicher Willkür, da auch der Ermessensspielraum rechtlich strukturiert und gerichtlichen Überprüfungen prinzipiell zugänglich ist.Footnote 12 Ebenso wie unbestimmte Rechtsbegriffe sind Ermessensformulierungen (im Polizeirecht) zwar keine hinreichende, aber doch eine notwendige Bedingung dafür, dass Polizistinnen in ihrem Handeln eine angemessene „Balance zwischen Rechtsbindung und Flexibilität der Verwaltung“ realisieren können (Seibel 2016, S. 182). Die Nutzung von Ermessensformulierungen im Polizeirecht lässt sich also als Versuch interpretieren, Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit wie den Gleichheitsgrundsatz und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit mit den besonderen Erfordernissen polizeilichen Handelns in Einklang zu bringen, vor allem mit einem im Streifendienst typischen Entscheidungszwang unter Zeitdruck und ohne vollständige Informationen.Footnote 13

Ermessensentscheidungen sind mithin nicht nur ein gewöhnlicher Bestandteil polizeilichen Handelns, sondern auch ein zentrales Thema der sozialwissenschaftlichen Polizeiforschung.Footnote 14 Der Befund der sachlogisch notwendigen Grenzen der rechtlichen Programmierbarkeit polizeilichen Einsatzhandelns ist immer wieder als Ausgangspunkt zur Erforschung der empirischen Frage genutzt worden, wie diese ‚Lücke‘ faktisch gefüllt wird, wie also der „second code“ (MacNaughton-Smith 1975) des Rechts beschaffen ist. Betont wird dann etwa der Einfluss professioneller Identitäten der Polizisten, die laut einer Studie von Tim Lukas und Jérémie Gauthier (2011) etwa in Frankreich eher als „Jäger“, in Deutschland dagegen eher als „Phlegmatiker“ sozialisiert werden und dementsprechend dort eher als hier zu einem härteren Durchgreifen und einer Verhaftung statt einer Ermahnung tendieren; oder der Einfluss gesamtgesellschaftlicher Diskurse über einzelne Bevölkerungsgruppen wie die Vorstadtjugendlichen in Paris auf die polizeiliche Behandlung dieser Bevölkerungsgruppen (Fassin 2018); oder der Einfluss informal institutionalisierter polizeilicher Kategorisierungen des polizeilichen Gegenübers vor allem in Abhängigkeit von der Frage, ob dieses Gegenüber die polizeiliche Situationsdefinition respektvoll akzeptiert oder hinterfragt (van Maanen 1978; Jobard 2008); oder der Grad der Öffentlichkeit einer Situation (die Anwesenheit von Zuschauern formalisiert auch hier das professionelle Handeln); oder der Ort polizeilichen Handelns (Wehrheim und Belina 2011); oder die generelle Einsatzlage in der jeweiligen Schicht (Buvik 2014). Zusammengenommen zeigen diese Forschungen gut eine Besonderheit der Polizei im Vergleich zu anderen Organisationstypen, da hier die Ermessensspielräume und Handlungsfreiheiten der einzelnen Organisationsmitglieder anders als üblich an den unteren Positionen in der Organisationshierarchie größer sind als an den hierarchisch übergeordneten Stellen im Innendienst der Polizei (vgl. Bittner 1970, S. 68; Ericson 1982, S. 234).

In diesem Buch thematisiere ich die Ermessensausübung im Polizeidienst zum einen in Bezug auf den Kontakt von Polizisten zu Informanten (Kapitel 6) und Beschuldigten (Kapitel 8), zum anderen im Zusammenhang mit den in Kapitel 9 behandelten Fehlern bei der Polizeiarbeit. Die dort ausgearbeitete These ist, dass das oft beobachtete und skandalisierte polizeiliche Lügen und Schweigen zugunsten derjenigen Kollegen, denen die Durchführung unrechtmäßiger polizeilicher Maßnahmen zum Vorwurf gemacht wird, soziologisch am besten erklärt werden kann als Folge des geteilten Risikos der Polizisten, während der Arbeit folgenschwere Rechtsfehler zu begehen und nicht durch die in der polizeilichen Selbstbeschreibung und der sozialwissenschaftlichen Literatur üblicherweise hervorgehobene physische Gefährdung des einzelnen Polizisten. Deshalb schlage ich vor, die Erklärungskraft des Konzepts der Polizei als einer „Gefahrengemeinschaft“ durch dasjenige der polizeilichen Dienstgruppe als einer „Versicherungsgemeinschaft“ zu relativieren.

Die Polizei als soziales System in einer differenzierten Umwelt zur Spannung zwischen Regeltreue und Erfolg

Ein die bislang genannten Aspekte umfassender und insofern für die Charakterisierung der Perspektive der Polizeisoziologie nochmals hervorzuhebender Gesichtspunkt ist die in der Literatur zumeist implizit mitlaufende Einsicht in die vielfältigen Umweltbezüge von Polizeiorganisationen. Schon die Darstellung zu Peacekeeping und polizeilichem Ermessen hat gezeigt, dass die Rechtsnormen und die für die Überprüfung ihrer Anwendung zuständige Verwaltungsgerichtsbarkeit zwar wichtige, aber natürlich nicht die einzig relevanten Umweltfaktoren polizeilichen Handelns sind. Während Polizeiarbeit rechtlich auf ihre Rechtmäßigkeit hin beobachtet wird, wird Polizeiarbeit politisch und in einer breiteren Öffentlichkeit immer auch in Hinblick auf Ergebnisse beurteilt, also etwa am allgemeinen Zustand der öffentlichen Ordnung, an der Zahl begangener Straftaten oder der Aufklärungsquote gemessen (vgl. Manning 1971, S. 10) und Staatsanwaltschaften erwarten von Kriminalpolizisten Ermittlungsakten mit zugleich gerichtsfesten und für eine Anklage hinreichenden Beweisen.

Die schon oben anhand der Charakterisierung von Polizeiarbeit als Peacekeeping thematisierte Spannung von Regeltreue und Erfolg, von Konditionierung und Effektivität (vgl. dazu allgemeiner Luhmann 1972, S. 231 f., S. 277 f.) prägt Polizeiarbeit mithin nicht nur im einzelnen Einsatz, sondern Polizeien als Organisationen in ihren diversen Umweltbezügen. Dieses Spannungsverhältnis ist charakteristisch für Polizeien gerade auch im Vergleich zu den übrigen Organisationen des Rechtssystems und der öffentlichen Verwaltung: Während größere Teile des organisierten Rechtsbetriebs durch eine legitime Indifferenz gegenüber den Folgen rechtlich richtiger Entscheidungen geprägt sind – Richter und Sachbearbeiter in der öffentlichen Verwaltung werden in der Regel nicht für die Folgen ihrer rechtlich richtigen Entscheidungen verantwortlich gemacht – gilt diese Entlastung von Folgeverantwortung für Polizeien und Polizeiarbeit nicht gleichermaßen. In der öffentlichen Wahrnehmung, von Staatsanwaltschaften und von Seiten der Politik werden sie typisch an beidem gemessen: An der Rechtmäßigkeit ihrer Maßnahmen und daran, ob diese Maßnahmen effektiv sind in Hinblick auf den ‚Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung‘.

Der damit formulierte und begründete Verdacht einer systematischen Spannung zwischen Regeltreue und Erfolg in der Polizeiarbeit prägt auch die Perspektive der im dritten Teil dieses Buches vorgelegten Analysen: Kooperationsbeziehungen zwischen Polizeien und Personen aus Zusammenhängen mehr oder weniger stark organisierter Kriminalität sind zwar unterlegitimiert und teilweise illegal, können aber ein Mechanismus der Informationsgewinnung oder der Vermeidung öffentlich sichtbarer Gewalt und insofern eine schwer verzichtbare Grundlage polizeilichen Erfolgs sein (Kapitel 5 und 6). Die formal illegale Täuschung des Beschuldigten und die ihr verwandte, aber formal legale kriminalistische List, stehen in Spannung mit der offiziellen Rollenbeschreibung des Vernehmers in der Beschuldigtenvernehmung, können aber wirksame Mittel zur Erzeugung der Aussagebereitschaft Beschuldigter sein (Kapitel 8). Und das polizeiliche Lügen und Schweigen zugunsten der Kollegin, der die unrechtmäßige Durchführung einer polizeilichen Maßnahme vorgeworfen wird, widerspricht dem offiziellen Auftrag der Polizei und stellt selbst eine Straftat dar, ist aber ein zentraler und in Hinblick auf die erfolgreiche Durchführung polizeilicher Einsätze vielleicht auch funktionaler Aspekt der informalen Ordnung polizeilicher Dienstgruppen (Kapitel 9). Aus dieser Perspektive und den in den einzelnen Kapiteln formulierten Thesen folgt selbstverständlich kein normatives Plädoyer für mehr unrechtmäßige polizeiliche Maßnahmen – aber doch die These, dass Rechtmäßigkeit und Erfolg polizeilichen Handelns regelmäßig in Spannung zueinander stehen und deshalb oft nicht zugleich gesteigert werden können. Diese These hat Einfluss auf die dann noch formulierbare soziologisch disziplinierte Kritik polizeilichen Handelns (siehe dazu insbesondere Abschnitt 4.3).

3 Zum Zustand der deutschsprachigen Polizeiforschung

Die zu Beginn dieser Einleitung diskutierten Arbeiten der ‚Hermeneutischen Polizeiforschung‘ um Hans-Georg Soeffner, Jo Reichertz und Norbert Schröer markieren ab Ende der 1980er Jahre den Beginn einer Reihe deutschsprachiger Arbeiten, die nach institutioneller Unabhängigkeit gegenüber der Polizei streben und sich bemühen, die eigene Forschung in einem breiteren sozialwissenschaftlichen Diskurs zu verorten. Mit der Zahl dieser Forschungen steigt auch die Zahl der reflexiven Beiträge, die vor allem danach fragen, ob es eine ‚Polizeiwissenschaft‘ im Singular geben kann oder soll, ob sie Forschung nur über oder auch für die Polizei hervorbringen soll, und welches ihre zentralen Fragestellungen und methodischen Grundlagen sein können. Stets beinhalten die Texte dieser Gattung eine Reihe von Defizitdiagnosen in Bezug auf die praktizierte Polizeiforschung, die sich im Verlauf der letzten Jahrzehnte kaum geändert haben, und die ich an dieser Stelle kurz kommentiere.Footnote 15

Disziplinäre Heimatlosigkeit. Typisch für die Reflexionsliteratur der deutschsprachigen Polizeiforschung ist die Frage, welcher sozialwissenschaftlichen Disziplin sie sich zurechnen kann oder soll. Zur Auswahl stehen hier mehr oder weniger alle sozialwissenschaftlichen Disziplinen, vor allem die Politik- und Verwaltungswissenschaft für eine Analyse von Polizeien als Teil der öffentlichen Verwaltung, die Geschichtswissenschaft für eine historisch und regional vergleichende Analyse des Polizierens, die typisch hilfsbereit orientierte, auf eine „Verbesserung und Erweiterung von Handlungskompetenz“ (Frevel 2008, S. 6) von Polizisten zielende Psychologie – und natürlich die Soziologie. Innerhalb der Soziologie besteht dann wiederum die Wahl zwischen diversen speziellen Soziologien, vor allem Organisations-, Rechts- und Professionssoziologie. Die Vielfalt (sub)disziplinärer Bezüge führt dazu, dass sich innerhalb der deutschsprachigen Polizeiforschung zahlreiche kleinere Zirkel etabliert haben. Ich nenne nur den Ansatz der Hermeneutischen Polizeiforschung um Jo Reichertz (s. o.), politik- und verwaltungswissenschaftlich orientierte Ansätze um Hans-Jürgen Lange (Lange 2003; Lange und Schenck 2004; Lange und Wendekamm 2018), die thematisch vielfältigen Arbeiten zu Polizeiarbeit und Kriminalität um den Kriminologen Thomas Feltes (etwa Feltes und Plank 2021), die an der Deutschen Hochschule der Polizei ausgearbeitete, organisationssoziologisch informierte polizeiliche Führungslehre (Barthel und Heidemann 2017, 2020), die im Umfeld des Juristen und Kriminologen Tobias Singelnstein durchgeführten Erhebungen insbesondere zu Polizeigewalt und ihrer unzureichenden Sanktionierung (Singelnstein 2013; Derin und Singelnstein 2022) oder die von Rafael Behr (2000, 2006, 2013) betriebene Polizeikulturforschung. Bestenfalls kommt es zwischen diesen Zirkeln zu wechselseitigen Zitationen, nicht aber zu der Etablierung eines Forschungszusammenhanges, der durch gemeinsame Fragestellungen oder geteilte Konzepte integriert ist. Da diese Zirkel nicht nur untereinander, sondern auch zu ihrer jeweiligen Gesamtdisziplin in eher loser Verbindung stehen, findet auch die im engeren Sinne polizeisoziologische Forschung in Deutschland keinen etablierten Diskurs vor, an den die oft als Dissertationsschriften (Jacobsen 2001; Mensching 2008; Zum-Bruch 2019) vorgelegten umfangreicheren Arbeiten anschließen könnten.

Auf diese von mir hier als disziplinäre Heimatlosigkeit der Polizeiforschung bezeichnete Lage reagieren die meisten Polizeiforscherinnen und Polizeiforscher mit der Forderung, ‚Polizeiwissenschaft‘ als eine eigenständige Disziplin mit Lehrstühlen an Universitäten zu etablieren (Jaschke und Neidhardt 2004; Initiative Polizei in der Wissenschaft 2018). Dieses Programm scheint mir wenig überzeugend, da es sich zumindest aus wissenschaftlicher Sicht an einem Scheinproblem abarbeitet: Der geringe Integrationsgrad der wissenschaftlichen Analyse von Polizei(arbeit) ist kein zu behebendes Problem, sondern eine ganz normale Folge der internen Differenzierung von Wissenschaft, die sich auch bei jedem anderen Gegenstand der Sozialwissenschaften beobachten lässt. Das Problem der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Polizeien scheint mir nicht zu sein, dass sie innerhalb zu vieler Disziplinen betrieben wird und deshalb in einer ‚Polizeiwissenschaft‘ im Singular integriert werden müsste, sondern, dass es zu wenige Arbeiten gibt, die Polizeiarbeit ausgehend von den für die jeweilige Disziplin zentralen Fragestellungen und Konzepten analysieren. Der in der Literatur oft artikulierte Wunsch nach einer transdisziplinären Integration – „Polizeiwissenschaft als Querschnittswissenschaft“ (Neidhardt 2006, S. 245) oder „Integrationswissenschaft“ (Jaschke und Neidhardt 2004) – ergibt sich primär aus dem Bedarf der Polizeiausbildung an einem vermittelbaren Kanon wissenschaftlichen Wissens über und für die Polizei, nicht aus Erkenntnisproblemen sozialwissenschaftlicher Disziplinen.

Institutionelle Isolation und Abhängigkeit. Die Mehrzahl der Sozialwissenschaftler, die in Deutschland Forschung über die Polizei betreiben, ist nicht an Universitäten oder Forschungsinstituten, sondern an Fachhochschulen des öffentlichen Dienstes oder Polizeihochschulen beschäftigt und hier in erster Linie für die Ausbildung von Polizistinnen und Polizisten zuständig (Frevel 2008, S. 7). Ihre Publikationen erscheinen in der Regel nicht in allgemeinen sozialwissenschaftlichen Zeitschriften oder Buchreihen, sondern beim ‚Verlag für Polizeiwissenschaft‘ oder Zeitschriften wie ‚Policing and Society‘, ‚Policing‘, ‚Polizei und Wissenschaft‘ und ‚SIAK-Journal: Zeitschrift für Polizeiwissenschaft und polizeiliche Praxis‘. Die enge institutionelle Anbindung der Mehrzahl der Polizeiforscher an Polizeien bringt auch starke Züge einer Forschung für die Polizei mit sich – nicht unbedingt in dem Sinne, dass die Forschung unmittelbar auf Vorschläge zu einer Verbesserung von Polizeiarbeit abzielt, aber doch in dem Sinne, dass die Lehre in der Polizeiausbildung der zentrale Verwendungskontext der Forschung ist und die Publikationen sich deshalb in der Regel immer auch an angehende Polizisten und ihre Ausbilder richten. Nicht verwunderlich ist deshalb auch, dass viele Polizeiforscher wie etwa Rafael Behr ehemalige Polizeibeamte sind, die die in der Polizeiausbildung benötigte ‚Zweisprachigkeit‘, die gleichzeitige Orientierung an polizeilicher Praxis und sozialwissenschaftlichen Diskussionen, bedienen können.

Führt man diese Diagnosen der institutionellen Isolation und der disziplinären Heimatlosigkeit zusammen, ergibt sich zum einen der Befund, dass Polizei(arbeit) als Gegenstand in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft, der Politikwissenschaft oder der Soziologie „randständig“Footnote 16 ist. Zum anderen wird sichtbar, dass weite Teile der (zeitgenössischen deutschsprachigen) Polizeiforschung in einem engen Zusammenhang mit der Polizeiausbildung stehen, einen eher losen Bezug zu zentralen Konzepten und Fragestellungen der sozialwissenschaftlichen Disziplinen aufweisen und in diesen Disziplinen derzeit keine nennenswerte Resonanz erfahren.

4 Themen, Absicht und disziplinäre Verortung dieses Buches

In Abgrenzung zu diesem disziplinär ortlosen Diskurs der deutschsprachigen Polizeiforschung ist der vorliegende Text in der theorieorientierten Soziologie verortet und hier schwerpunktmäßig in der Organisations- und Professionssoziologie. Die Analysen sollen auch zeigen, dass es möglich und sinnvoll ist, die wissenschaftliche Beschäftigung mit Polizeien nicht als isolierten und nur empirisch integrierten Spezialdiskurs, als transdisziplinäre „Querschnittswissenschaft“ (Neidhardt 2006, S. 245), zu betreiben, sondern in Anschluss an Konzepte und Fragestellungen der theorieorientierten Soziologie.

Im zweiten Teil des Buches diskutiere und entwickle ich theoretische Konzepte und Methoden, die für die im dritten Teil verfassten Analysen von Polizei als Organisation und Polizeiarbeit als professioneller Arbeit zentral sind. Ich beginne in Kapitel 2 mit dem Vorschlag, den Begriff „misstrauische Sozialsysteme“ für die Bezeichnung und Analyse solcher Sozialsysteme einzuführen, die funktional auf die Gewinnung schwer zugänglicher Informationen spezialisiert sind und zugleich wie Polizeien, Geheimdienste und andere mit Kontroll- und Prüfaufgaben befassten Sozialsysteme im Verhältnis zu einem für sie zentralen Umweltsegment ein außerordentlich hohes Maß an institutionalisiertem Misstrauen an den Tag legen. Aus dieser Spezialisierung auf Informationsgewinnung unter Bedingungen institutionalisierten und rationalen Misstrauens ergibt sich die Suche nach einer funktionalen Balance zwischen Vertrauen und Misstrauen als zentrales Systemproblem misstrauischer Sozialsysteme. Die zentralen theoretischen Anregungen dieses Kapitels sind Georg Simmels (1908a) Soziologie des Geheimnisses, Niklas Luhmanns (1968c, 2001) Überlegungen zu Vertrauen und Misstrauen als Mechanismen der Reduktion sozialer Komplexität sowie Erving Goffmans (1969) Analyse geheimdienstlicher Spionagearbeit.

Es folgt in Kapitel 3 eine Diskussion des innerhalb der Organisationstheorie unter anderem in Anschluss an Überlegungen von James D. Thompson (1962) entwickelten Konzepts der „Grenzrolle“ („boundary role“) als Bezeichnung für Organisationsmitglieder, die ihre Arbeit primär im Kontakt mit Nichtmitgliedern der Organisation erfüllen. Gezeigt wird zum einen die Ergiebigkeit dieses Konzeptes für Analysen von Berufsrollen wie derjenigen des Polizisten, zum anderen die Möglichkeit, das Konzept auch für das Handeln an den Grenzen nicht formal organisierter Sozialsysteme wie losen Verbindungen von Nutzern illegaler Märkte oder nur schwach organisierten Zusammenhängen von Straftätern zu nutzen. In Kapitel 4 schlage ich schließlich vor, den Äquivalenzfunktionalismus in Anschluss vor allem an Überlegungen Robert King Mertons (1957, S. 17–82) und Niklas Luhmanns (1962, 1964a, 2010a) nicht nur als Methode empirischer Analyse, sondern auch als Werkzeug problembezogener Begriffsbildung und als Grundlage soziologisch disziplinierter Sozialkritik zu verstehen und zu verwenden, etwa zur Explikation des oben skizzierten systempluralistischen Polizeibegriffs oder zur Beurteilung der (Un)Brauchbarkeit (il)legalen Handelns.

Diese und die im dritten Teil des Buches folgenden Kapitel – zur Geschichte der Ausdifferenzierung und Organisationswerdung polizeilicher Ermittlungsarbeit in Europa (Kapitel 5), zum Einsatz von Informanten in der Polizeiarbeit (Kapitel 6), zum Interaktionstyp der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung (Kapitel 8) und zur Berufsgruppensolidarität unter Polizisten (Kapitel 9) – entwickeln jeweils eine in sich relativ abgeschlossene Argumentation. Gleichwohl sind die einzelnen Kapitel durch zwei übergreifende Analyseschwerpunkte miteinander verbunden, die auch im Titel dieses Buches zum Ausdruck kommen: Erstens das Interesse an den Funktionen und Folgeproblemen der Ausdifferenzierung sozialer Kontrolle, insbesondere in Form der Ausdifferenzierung und Organisationswerdung kriminalpolizeilicher Ermittlungsarbeit. Zweitens die Fokussierung auf die in Folge der Ausdifferenzierung von Polizeien als Organisationen in der modernen Gesellschaft entstehenden Grenzkontakte zwischen Polizisten und Nichtmitgliedern des organisierten Rechtsbetriebs und hier insbesondere die Frage nach der Bedeutsamkeit von Vertrauen und Misstrauen einerseits im Kontakt zwischen Polizisten und ihren nichtpolizeilichen Handlungspartnern (Informanten, Beschuldigte), andererseits innerhalb des polizeilichen Kollegiums selbst. Und schließlich gibt es einen eher programmatischen übergreifenden Nachweis, den dieses Buch im Zuge der Durchführung seiner Analysen erbringen will, nämlich, dass soziologische Theoriebildung und empirische Forschung nicht als füreinander unverständliche und irrelevante Abteilungen eines nur noch aus historischen Gründen als „Soziologie“ im Singular bezeichneten Fachs verstanden werden müssen, sondern, dass soziologische Theoriebildung in engem Kontakt mit der empirischen Erforschung beispielsweise von Polizeiarbeit betrieben werden kann. Ich komme darauf in den abschließenden Kapiteln 10 und 11 zurück.