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Theorie: Zur Verwirklichung des Zwangsarbeitsverbots unter den Bedingungen einer globalisierten Wirtschaft

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Das ILO-Zwangsarbeitsverbot in der globalisierten Wirtschaft

Part of the book series: Globale Politische Ökonomie ((GPÖ))

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Zusammenfassung

Im folgenden Kapitel sollen Erklärungen für die mangelhafte Verwirklichung der Norm zum Verbot von Zwangsarbeit im Kontext der globalisierten Wirtschaft theoretisch abgeleitet werden. Dazu erfolgt zunächst eine Systematisierung der theoretischen Erklärungen für die Verwirklichung oder Nicht-Verwirklichung internationaler Normen, wie sie in den Disziplinen der IB und der GPÖ bereitgestellt werden. Hier wird der Einfluss von Ideen und Normen auf die materiellen Bedingungen internationaler Produktionsbeziehungen, deren Institutionalisierung und damit auf die internationale Politik der Arbeitsregulierung betrachtet.

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Notes

  1. 1.

    Meyers (1989: 12) beschreibt die heterodoxe IPÖ als eine „Integrationswissenschaft“, deren Beziehung zu der Disziplin der IB insbesondere durch personelle Überschneidungen gekennzeichnet ist. Während Underhill (2000: 810 f.) und Alt/Shepsle (2011) die rationalistischen Ansätze Axelrods und Keohanes in der „positive political economy“ verorten, die als orthodoxe Ansätze der Neoklassik, heterodoxen Ansätzen einer „global political economy“ gegenübergestellt werden. Das vorliegende Buch verortet sich im Forschungsprogramm der Global Political Economy. Letztere nimmt nicht nur internationale Interdependenz, sondern die Globalisierung und Transnationalisierung der Politik in den Blick und geht damit über den Gegenstandsbereich der I(nternationalen)PÖ hinaus, siehe zur Begründung des Begriffes der Globalen Politischen Ökonomie Bieling (2011). Während die IPÖ auch als Teilgebiet der IB verstanden wurde, wird sie heute von Underhill (2000) als „inter-discipline“ beschrieben, die verschiedene Ansätze unter einem Dach vereint. Bieling (2011: 51) beschreibt, wie bestimmte empirische Entwicklungen (z. B. die zunehmende Institutionalisierung der Menschenrechte, die nicht länger allein durch reziproke Normentstehung, Macht oder Interessen erklärt werden konnte) dazu beitrugen, dass die GPÖ regen Zustrom neuer Gruppen von Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Disziplinen erhielt. Diese kamen vornehmlich aus der Wirtschafts- und Politikwissenschaft, der Geografie, der Soziologie und der Geschichtswissenschaft, später auch den Development und Gender Studies. Die GPÖ definiert sich, so Underhill (2000: 821), über bestimmte Annahmen zur Staat-Markt-Beziehung und damit über die materiellen und ideellen Fundamente der Weltordnung: „states and markets are not separate things as such. They are part of the same integrated ensemble of governance, a state-market condominium“.

  2. 2.

    Da die wissenschaftsgeschichtliche Auseinandersetzung mit den großen Debatten der IB, nämlich zwischen Realismus und Institutionalismus und die darauffolgende konstruktivistische Kritik an institutionalistischen Rational-Choice-Ansätzen für die empirische Analyse des vorliegenden Buches wenig Erklärungspotenzial generiert, wird hier nicht auf diese zurückgegriffen.

  3. 3.

    Kornmesser/Schurz (2014: 16 ff.) beschreiben Paradigma als wissenschaftstheoretischen Begriff, der auf Kuhn zurückgeht. Paradigma beschreibt „ein von einer wissenschaftlichen Gemeinschaft akzeptiertes Bündel theoretischer Annahmen, methodologischer Voraussetzungen und Musterlösungen bestimmter Forschungsfragen“. Als Reaktion auf Kritik an der Unbestimmtheit des Begriffs entwickelte Kuhn (1977: 392 f.) den Begriff der „disziplinären Matrix“. Dieser bildet die Grundlage für Schurz’ Begriff des kognitiven Systems.

  4. 4.

    Deitelhoff/Zürn (2013) stellen in ihrer Einführung eine solche programmatische Perspektive anhand thematischer Paradigmen vor. Neben der disziplinären Binnenlogik, also der Querschnittsperspektive auf die IB als Teildisziplin, kann so die Forschungsprogrammatik entlang thematischer Entwicklungen in einer Längsschnittdarstellung erläutert werden.

  5. 5.

    Diese Paradigmen-Unterscheidungen der IB-Theorien werden auch in der Compliance- und Effektivitätsforschung getroffen, die sich insbesondere auf den Institutionalismus, Liberalismus und Konstruktivismus beziehen. Mit Blick auf Compliance wird dies besonders für die ILO deutlich; vgl. Thomann (2011). Die ILO individuiert dabei realtypisch alle von der klassischen Complianceforschung bis dato theoretisierten Mechanismen, um regelkonformes Verhalten herzustellen und aufrechtzuerhalten.

  6. 6.

    Methodisch gilt es zu kontrollieren, dass fallspezifische Variablen induktiv aufgedeckt werden können.

  7. 7.

    Hingegen haben Werte auch individuellen Charakter, müssen also nicht zwingend kollektiv geteilt werden. Eine Norm umfasst immer ein Subjekt und ein Objekt, z. B. Normsetzer und Normbefolger. Nach Kelsen (1966: 1624 ff.) wird ein Wert hingegen einer Handlung im Verhältnis zu einer validen Norm zugeschrieben.

  8. 8.

    Als Kontextfaktoren beeinflussen Normen die materiellen Faktoren der Umwelt. Es sind weiterhin die materiellen Bedingungen, die als ursächlich für Staatsverhalten konzeptualisiert werden und somit unabhängige Variablen darstellen.

  9. 9.

    Epstein (2012: 138) verweist auf die problematische Unterscheidung zwischen präskriptiven und deskriptiven Normen, da die Ersteren immer in die Letzteren einschieben. Präskriptive Normen sind immer auch deskriptiv und umgekehrt. Dies beschreibt auch Möllers (2015: 119) anhand unterschiedlicher Spezifizierungsgrade normativer Ordnungen: „eine Rechtsordnung kann nicht nur aus allgemeinen Gesetzen bestehen“.

  10. 10.

    Selbst in Kontexten der Normierung von Verhalten besteht die Anforderung in der Wiederholung; vgl. Möllers (2015: 105, 110) zum Erkennen eines Normbestandes durch ein Nebeneinander von Bruch und Befolgung sowie zur Möglichkeit der Abweichung und des Unterschieds zwischen Sollen und Müssen. Argumentiert wird weiter, dass die Wiederholung, verstanden als das konstitutive Element der Norm, den Blick auf die normativen Elemente sozialer Praktik verstellt; siehe außerdem Arcudi 2016 zur Zirkularität in der Beforschung von Normen.

  11. 11.

    Häufiger allerdings liegt diesen Überlegungen eine rechtspositivistische Perspektive zugrunde. Diese basiert auf der Annahme, dass Staaten Normen nur dann als existent erachten, wenn diese durch Verträge positiviert wurden. Die Wahrnehmung solcher Regelungen als juridifiziert wird in einigen Perspektiven der Complianceforschung darüber hinaus als erklärende Variable für die Einhaltung von Normen verstanden. Zudem kann danach nur ein Mindestmaß an regelkonformen Verhalten dazu führen, dass internationale Regeln als „Gesetz“ wahrgenommen werden; vgl. Zürn (2005: 5).

  12. 12.

    Insbesondere frühere klassisch-konstruktivistische Ansätze der Normenforschung haben Normen als Strukturen ontologisch vorausgesetzt, vgl. Checkel (1998) über Finnemore (1996a); Katzenstein (1996) und Klotz (1999).

  13. 13.

    Es ist nicht eindeutig, in welchem Kontext diese Formulierung das erste Mal verwendet wurde. Finnemore (1996a: 22) definiert Normen z. B. als „shared expectations about appropriate behavior held by a community of actors“. Finnemore/Sikkink (1998: 891) verweisen später auf Katzenstein (1996) und Klotz (1995), um zu betonen, dass generell Einigkeit über die Definition einer Norm als „a standard of appropriate behavior for actors with a given identity“ herrsche.

  14. 14.

    Eine solche soziologische Konzeption findet sich bei Detel (2009: 55) [Herv. gelöscht], der soziale Normen wie folgt definiert: „Verhalten (oder Handlung […]) V von Person P innerhalb einer Gemeinschaft von Personen Qi in einer wiederkehrenden Situation S ist eine soziale Norm zum Zeitpunkt t, falls gilt: (1) P und die meisten Qi manifestieren V in S. (2) Die Abweichung eines Qk von V in S wird zu allen t*<t oder t* = t negativ sanktioniert; die Manifestation von V in S wird gegebenenfalls entsprechend positiv sanktioniert. (3) Die Umstände (1) und (2) tragen dazu bei, dass sich die Wahrscheinlichkeit von (1) zu t**>t stabilisiert oder erhöht.“

  15. 15.

    Vgl. Hare (2003: 1): „If we were to ask of a person ‚What are his moral principles?‘ the way in which we could be most sure of a true answer would be by studying what he did.“

  16. 16.

    Thomson (1994) beschreibt z. B. das Aufkommen von Söldnerarmeen (privaten Sicherheitsakteuren) als neue Norm, die mittlerweile Staatspraktiken reflektiert. Normen sind in diesem Beispiel dann existent, wenn sie deskriptiv gültig sind.

  17. 17.

    In der Literatur wird der dynamische Prozess der Normentstehung außerdem von Meyer et al. (1997) mithilfe des World-Polity-Modells, von Risse/Sikkink (1999) mithilfe des Spiralmodells sowie von Keck/Sikkink (1998) durch den Bumerangeffekt erklärt. Während Ersteres auf Prozessen des Lernens, der Imitation und damit des Isomorphismus basiert und Staaten als Teil einer Weltgesellschaft begreift, betonen die anderen beiden Modelle die Rolle lokaler und transnationaler Akteursnetzwerke; vgl. Krook/True (2012: 106 ff.).

  18. 18.

    Dabei zielt die Arbeit nicht auf den von den Autoren vorgestellten diskursiven Zugang ab, sondern arbeitet vielmehr inhaltsanalytisch. Die Inhaltsanalyse erlaubt die stärker regelgeleitete Erhebung spezifischer kommunikativer Zusammenhänge, die mithilfe eines Kategoriensystems fest definiert werden. Die Arbeit fußt dabei nicht auf diskurstheoretischen Überlegungen. Allerdings werden an Textstellen, die der Interpretation bedürfen Überschneidungen zum diskursanalytischen Programm sichtbar.

  19. 19.

    Normen weisen Verhalten immer einen Wert zu, z. B., ob eine Handlung einer Höflichkeitsform entspricht oder nicht. Sie sind also im weitesten Sinne immer präskriptiv und evaluieren Verhalten; vgl. Finnemore/Sikkink (1998: 891); Finnemore (2000: 702). Evaluative Wirkungen beschreiben allerdings (Be)Wertungen, die über Kosten-Nutzen-Erwartungen, also was rational ist (instrumentelle Überlegungen, monetärer Gewinn, Reputationsgewinn, Machtgewinn), oder Angemessenheitsstandards, also was erwartet wird (habituelles, konventionelles Verhalten), hinausgehen. Evaluative Effekte schreiben einer Handlung z. B. moralische Qualitäten (gut, schlecht, wünschenswert) zu; vgl. Birnbacher (2007).

  20. 20.

    Dieser kommunikative Modus (eingeführt von Müller (1994) und von Risse (2000) adaptiert) besteht neben den Modi Deliberation, Persuasion und Bargaining.

  21. 21.

    Habermas (1992: 276) definiert: „Argumente sind Gründe, die einen mit konstativen oder regulativen Sprechakten erhobenen Geltungsanspruch unter Diskursbedingungen einlösen und damit Argumentationsteilnehmer rational dazu bewegen, entsprechende deskriptive oder normative Aussagen als gültig zu akzeptieren.“ Im Habermas’schen Sinne wirkt der Zwang des besseren Arguments im herrschaftsfreien Diskurs, der sich insbesondere dadurch auszeichnet, dass die Kommunikationspartner gleichberechtigt sind und dementsprechend dieselben Möglichkeiten zur Äußerung genießen.

  22. 22.

    Forst (2015: 114) zeigt dabei, dass normativ abhängige Begriffe besonders begründungsbedürftig sind, und legt dieses an den bereits vorgestellten Ebenen der Normativität dar. Hier wird auch deutlich, dass die intensionalen Gehalte einer Norm auf Kausalitätsvorstellungen beruhen, die sowohl notwendige als auch hinreichende Bedingungen der Extension der Norm bestimmen.

  23. 23.

    Diese in erster Linie kommunikativen Prozesse zielen auf die kulturelle Validierung einer Norm ab, die über die einfache soziale Anerkennung einer Norm hinausgeht; siehe Wiener (2014: 21) zu „cultural validation“. Eine Norm ist dann kulturell valide, wenn Menschen an sie glauben. Die Problematik wenig reflektierter kulturrelativistischer Positionen bzw. von Positionen des „postmodernen Relativismus“ wird von Boghossian (2015) überzeugend dargestellt und im Kontext des Zeitalters der Postfaktizität diskutiert. Insgesamt betonen substanzielle Normdefinitionen sowohl die Eigenschaft der Konstruiertheit einer Norm durch kommunikative Prozesse als auch die wechselseitige Konstitution von Akteursidentitäten und Normen. Weitere Ansätze haben diese dialektische Perspektive auf Normen betont, in der Praxis und Kontext wirken; siehe Kratochwil (1984a), andere haben Wittgensteins Sprachspiel angewendet oder Habermas’ demokratietheoretische Überlegungen und solche zum kommunikativen Handeln; siehe Deitelhoff (2009) oder haben basierend auf der Sprechakttheorie ein Klassifizierungssystem für Normen entwickelt; siehe Onuf (1997a, 1997b).

  24. 24.

    Nach Birnbacher (2007: 34 ff.) bedeutet Universalisierbarkeit, dass moralische Urteile, die aufgrund einer entsprechenden Norm gefällt werden, in logisch allgemeiner Form ausgedrückt werden können. Die Bewertung einer Handlung erfolgt durch spezifische Faktoren. Partikularistische Faktoren, die auf Konvention, Funktion oder Tradition abzielen, können nicht zur Bewertung einer Handlung herangezogen werden.

  25. 25.

    Diese hier eingeführten Beschreibungen werden in der Methodik genauer definiert und operationalisiert.

  26. 26.

    Eine Ausnahme bilden bspw. Arbeiten von Ikenberry/Kupchan (1990: 294); Finnemore (1996a), welche die Kompatibilität einer Norm zugrunde liegender Ideen mit bereits existierenden Normen hervorheben oder das Vorhandensein begünstigender Umstände (circumstances) bspw. im Sinne sich ergänzender sozialer Praktiken betonen; vgl. Gest et al. (2013). Andere Ansätze beziehen spezifische Aspekte der zu regelnden Problematik mit ein; siehe Jetschke (2011), oder beforschen „normative matches“ als Kongruenz zwischen Normen verschiedenere Ebenen, bspw. der nationalen und der globalen Ebene; vgl. Cortell/Davis (2000); Cortell/Davis Jr. (1996) oder Konflikte zwischen normativen Ordnungen; vgl. Zimmermann et al. (2013).

  27. 27.

    Einige Autoren unterscheiden daher Prinzipien, Normen und Regeln. In diesen Vorstellungen (in Anlehnung an die Prinzipienethiken) rekurriert die Norm auf ein Prinzip (auf ein verallgemeinerungsfähiges Gesetz nach Kant) und muss, damit sie anwendbar wird, in eine konkrete Regel übersetzt werden. Allerdings werden die Begriffe nicht einheitlich verwendet und zum Teil untereinander austauschbar benutzt. Wenn Prinzipien als die abstrakte Norm begriffen werden und Regeln als deren Konkretisierung, werden Vertragsregeln zu Artefakten normativer Prinzipien. Krasner (1982: 186) hingegen versteht Normen, Prinzipien und Regeln als unterscheidbare Entitäten und definiert Prinzipien als „beliefs of fact, causation, and rectitude. [Whereby] norms are standards of behaviour defined in terms of rights and obligations. Rules are specific prescriptions or proscriptions for action.“

  28. 28.

    Wirtschaftliches Handeln zeichnet sich durch das Abwägen von Kosten und Nutzen, Angebot und Nachfrage aus, dabei wird verschiedensten Entitäten ein Zweck zugeschrieben. Dabei stellt wirtschaftliches Handeln den Prototyp zweckrationalem Handelns dar bzw. wird als solches gedacht; siehe Horkheimer (2007) zur Analyse der instrumentellen Vernunft, die bis heute nichts an ihrer Bedeutung eingebüßt hat.

  29. 29.

    Normalität als eine Ebene des Normativen: Nicht die Wiederholung ist konstitutives Element der Norm, sondern die Anforderung an die Wiederholung; vgl. Möllers (2015: 105, 110).

  30. 30.

    Mit dem Begriff der Legalisierung schließt die Untersuchung insbesondere an die Konzeptualisierung von Abbott et al. (2000) und das dazugehörige Sonderheft in „International Organization“ an, welche „legalization“ als Zustand verstehen, der es erlaubt die Varianz der institutionell-prozeduralen Ausgestaltung Internationaler Organisationen zwischen den idealtypischen Polen „hard law“ und „anarchy“ zu beschreiben. Hier wird hingegen auf den Prozess der Genese gesetzesähnlicher Verregelungen bzw. der Verrechtlichung fokussiert.

  31. 31.

    Dabei verweist die Intension einer Norm auch auf unterschiedliche Vorstellungen von Kausalität und damit auf hinreichende wie notwendige Bedingungen für die Extension (siehe Fußnote 22 in diesem Kapitel zu Forst 2015). Die Kausalitätsvorstellungen begründen dabei auch die möglichen Allokationen von Verantwortung.

  32. 32.

    Die Staaten bleiben dabei als primäre Völkerrechtssubjekte in der besonderen Verantwortung der Realisierung der rechtlichen Übereinkommen. Durch die Einführung der Kernarbeitsnormen wird der Blick allerdings vermehrt auf die De-facto-Normadressaten gelenkt, deren Verhalten eigentlicher Gegenstand der Regulierungen ist.

  33. 33.

    Als zunächst rechtswissenschaftlich gebrauchter Begriff beschreibt Compliance „a state of conformity or identity between an actor’s behavior and a specified rule“ Raustiala (2000: 391). Im Völkerrecht stehen also Normbeschreibungen, deren Anwendungsprüfung in bestimmten Fällen und eine Bedarfsermittlung an Juridifizierung im Mittelpunkt. Die Messung von Compliance ist konzeptionell in diesem Sinne zunächst einfach, empirisch nichtsdestotrotz anspruchsvoll. Politikwissenschaftler haben dasselbe Forschungsfeld abgesteckt, es jedoch erweitert um die Kausalpfade, über die (rechtliche) Normen Einfluss auf Staatsverhalten nehmen. Koh (1997: 2616) fasst hingegen zusammen, dass „[l]egal scholars largely avoided the difficult tasks of causal explanation and prediction“.

  34. 34.

    Die Implementierung internationaler Abkommen bildet nur einen Teil der staatlichen Bemühungen ab, Compliance herzustellen, und beschreibt den Prozess, internationale Abmachungen in die Praxis umzusetzen; vgl. Raustiala (2000: 392). Das Umsetzen der Verhaltensvorschrift kann de jure und/oder de facto erfolgen. Die im Zuge der Implementierung getroffenen Maßnahmen dienen dazu, die vertraglichen Vorschriften innenpolitisch in die Praxis umzusetzen. Dies umfasst z. B. gesetzgebende Maßnahmen oder die Bereitstellung von Institutionen. Die Ausgestaltung dieser Maßnahmen obliegt allein den Staaten, allerdings stellt die ILO seit Beginn der 2000er Jahre verstärkt Programme der technischen Zusammenarbeit zur Verfügung. Die Implementierung ist zwar ein kritischer Schritt zur Herstellung von Compliance, aber kein ausreichender Indikator für regelkonformes Verhalten. Denn es kann Implementierung stattfinden, ohne dass regelkonformes Verhalten geriert wird, und es kann regelkonformes Verhalten festgestellt werden, ohne dass Implementierungsmaßnahmen ergriffen wurden oder werden; siehe Raustiala (2000: 392). Letzteres ist der Fall, wenn die Vertragsregelungen bereits mit der Staatspraktik übereinstimmen; siehe Thomann (2011: 23). Die Implementationsforschung analysiert die Diskrepanz zwischen Vorschrift und deren tatsächlicher Umsetzung durch konkrete Politiken in die Praxis; vgl. Victor et al. (1998a: 4). Da in der Regel allerdings Compliance durch irgendeine Form der Implementierung (de jure/de facto) erreicht wird, werden diese Maßnahmen als Teil von Compliance verstanden.

  35. 35.

    Zürn (2005: 9) legt vier Grade der Compliance dar. „Recalcitrant compliance“ und „good compliance“ beschreiben regelkonformes Verhalten. Ersteres umfasst jedoch auch das öffentliche Äußern von Missfallen darüber, dass die Norm Anwendung findet. „Beginning compliance“ bedeutet, dass das Verhalten nach der Feststellung des Regelbruchs verändert wird, eine „compliance crisis“ hingegen den anhaltenden und wiederholten Bruch der Regel, trotz der Feststellung und Offenlegung der Non-Compliance. Außerdem wird in einer „compliance crisis“ die Norm und deren Anwendung offen in Frage gestellt.

  36. 36.

    Die Internationale Arbeitskonferenz sieht zwar keine Einstimmigkeit vor, allerdings wird diese in der Regel angestrebt, um den Übereinkommenstexten eine größere Legitimität attestieren zu können.

  37. 37.

    Nach Raustiala (2000: 394 f.) ist es empirisch nahezu unmöglich, die Faktoren, die zur Lösung eines Problems beitragen, zu systematisieren und deren Effekte zu isolieren. Deshalb spricht er dann von einer effektiven Regelung, wenn diese im Sinne der Verhaltensanpassung effektiv ist (Outcome). Dementsprechend rückt die Beziehung von Regelungsschärfe und der „baseline of behavior“ ins Zentrum der Analyse. Liegt die Regelung unterhalb des Aggregats des Akteursverhaltens, dann ist die Compliance hoch, die Effektivität niedrig. Andererseits können sehr anspruchsvolle Standards effektiv sein, obwohl die Compliance gering ist. Regeln mit schlechten Complianceraten können effektiv sein, indem sie Verhaltensänderungen hervorbringen, die wünschenswert sind.

  38. 38.

    Draude et al. (2012) verwenden das Begriffspaar normativ/empirisch, welches von der vorliegenden Arbeit nicht übernommen wird, da Normativität ebenso einen empirischen Gegenstand darstellt. Es wurde sich deshalb dazu entschieden, das Begriffspaar normativ/deskriptiv zu verwenden.

  39. 39.

    Dies kann beispielsweise entlang demokratietheoretischer Maßstäbe durch die repräsentative Beteiligung aller von einer Regelung Betroffener an deren Ausgestaltung realisiert werden; für die ILO siehe dazu Stübig (2015).

  40. 40.

    Darüber hinaus diskutiert Tannenwald (1999) permissive Effekte, die als Teilmenge konstitutiver Effekte verstanden werden. Im Falle des diskutierten Tabus entstehen indirekte Effekte dadurch, dass Normen als „focal points“ funktionieren und damit die Perspektive auf die Welt bestimmen.

  41. 41.

    Spieltheoretische Überlegungen erlauben es, eine Varianz an Anreizen für regelkonformes Verhalten zu identifizieren. Zugrunde liegende Probleme werden dazu zunächst entweder als Koordinations- oder als Kooperationsspiele charakterisiert; vgl. Stein (1994: 25 ff.). In Koordinationsspielen ist Compliance ein Equilibrium, siehe Raustiala (2000: 400). Die Akteure sind sich einig über das zugrunde liegende Problem, stehen allerdings kollektiven Handlungsproblemen gegenüber. Wie die koordinierte Bearbeitung dieses Problems auszugestalten ist, bedarf dabei der Klärung. Wenn diese Abmachungen zur Kooperation bestimmt sind, ist der Anreiz, davon abzuweichen, sehr gering. Handelt es sich hingegen um ein Kooperationsspiel, liegen gemischte Motivationen vor, die sowohl kooperatives als auch abweichendes Verhalten rational im Sinne der Nutzenmaximierung erscheinen lassen können. In diesen Fällen profitieren zwar ebenso alle Akteure absolut an der Kooperation, allerdings kann es zum oben beschriebenen Problem des Free Ridings kommen; siehe Raustiala (2000: 400) zum Gefangenendilemma. In Abhängigkeit von der Problemstruktur kann es beispielsweise zu reziprokem Verhalten kommen. Unter bestimmten Bedingungen sind dann Strategien wie Tit for Tat besonders erfolgsversprechend; siehe dazu „shadow of the future“, Axelrod/Keohane (1985). Somit kann Reziprozität auch in Kooperationsspielen regelkonformes Verhalten über Zeit herstellen und aufrechterhalten. Während viele Verträge reziproke Verpflichtungen enthalten, sind darin weder Kooperationsnutzen noch politische Kosten, die durch die Umsetzung entstehen, zwingend reziprok verteilt. Allerdings lassen sich nicht alle Problemfelder im selben Maße reziprok regulieren. Menschenrechtsverletzungen wie Zwangsarbeit sind nicht reziprok regulierbar. Raustiala (2000: 401 f.) dazu: „[T]he violation of human rights commitments by one state cannot be effectively deterred by the threat of violations by another state, nor is this strategy likely to be pursued as an empirical matter.“ Dabei kann die diffuse Reziprozität von der spezifischen Reziprozität unterschieden werden; Keohane (1984). Die Unterscheidung ist zeitlich bestimmt, das bedeutet, dass sich in diffusen Konstellationen die Handlungen von Kooperation und Abweichung über die Zeit hinweg ausbalancieren. Damit kann zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Partei der anderen etwas schuldig sein, während in spezifischen Reziprozitätsszenarien eine Handlung im Austausch für eine andere steht, es sich also um reines Tit for Tat handelt; Raustiala (2000).

  42. 42.

    In den beschriebenen Ansätzen des „schwachen Kognitivismus“ bleiben die Logik der Konsequenzen und die Logik der Angemessenheit bestehen und werden integriert, indem von wissensbasierten Akteuren ausgegangen wird, vgl. March/Olsen (1989: 21–26, 160–162); Finnemore/Sikkink (1998: 887 ff.); Müller (2004: 408); Tannenwald (1999: 433). Rationale Handlungsoptionen sind also nicht losgelöst von Angemessenheitsstandards und dem Wissen über die Welt bestimmbar. Rationales Verhalten ist keine vortheoretische Größe mehr, sondern wird bestimmt von normativen Strukturen, die Akteursverhalten, Identitäten und Interessen hervorbringen.

  43. 43.

    Internationale Umweltabkommen werden nach O’Connell (1995) nur dann Wirkungen entfalten, wenn diese Abkommen Sanktionen vorsehen, welche auch Anwendung finden, allerdings haben beispielsweise ökonomische Sanktionen nur einen leichten Effekt und auch nur, wenn die entstehenden Kosten deutlich höher sind als die möglichen Gewinne wie Morgan/Schwebach (1997) zeigen. Institutionen können dann Compliance erhöhen, wenn sie als unabhängige und glaubwürdige dritte Partei verstanden werden, die die faire Verteilung von Kooperationskosten und -gewinnen übernimmt und verhindert, dass es zu einer unmoderierten, direkten Konfrontation der Kooperationspartner kommt; siehe u. a. Mills/Rockoff (1987); Schneider/Weitsman (2014). Dies bedeutet auch, dass die sekundären Kooperationskosten, beispielsweise in Form des Monitorings oder der Sanktionen, die möglichen Gewinne durch die Kooperation nicht übersteigen dürfen. Dann tragen Institutionen durch ihre Überwachungsmechanismen dazu bei, dass die Verlässlichkeit der Kooperationspartner gesteigert wird; siehe u. a. Victor et al. (1998b); Wettestad (1999). Überlegungen zu sekundären Kooperationskosten bleiben in der vorliegenden Arbeit ebenfalls unberücksichtigt, da die ILO als eine der ältesten internationalen Organisationen offensichtlich in der Lage ist, Kooperation in der Erarbeitung internationalen Arbeitsrechts sicherzustellen. Die institutionelle Ausgestaltung der ILO zur Herstellung von regelkonformen Verhalten hat Thomann (2011) im Rahmen einer Compliancestudie in den Blick genommen.

  44. 44.

    Vgl. Koh (1997: 2616) zur Aufarbeitung der völkerrechtlichen-rechtsphilosophischen Betrachtung internationalen Rechts von Hart (2011), demnach internationales Recht ausschließlich aus einem Satz primärer Regeln bestehen wird, „with which nations will comply out of a sense of moral, not legal, obligation“.

  45. 45.

    Die Varianzen innerer Verfasstheit sind zur Erklärung außenpolitischer Positionen genutzt worden; vgl. Moravcsik (1997: 513). Die innerstaatliche Verfasstheit beeinflusst, welche Akteure auf welche Art und Weise an der Ausgestaltung innerstaatlicher wie internationaler Politiken beteiligt sind, und damit auch, welche Optionen als Lösung für internationale Probleme überhaupt in Betracht gezogen werden; vgl. Raustiala (2000: 409 ff.). Partikularinteressen spielen so auch in den Prozessen der Normentstehung und Legalisierung auf der globalen Ebene eine Rolle. Die möglichen mangelhaften Übersetzungen normativer Gehalte in internationales Recht, die zu Norm-Law-Gaps; siehe Búzás (2018), führen können, können damit Ergebnis strategischer Einflussnahme durch staatliche Akteure sein, die als Mediatoren zwischen globaler und nationaler Ebene vermitteln, vgl. Putnam (1988: 431), oder sozialer Akteure wie Unternehmen, Arbeitgeberverbände, NGOs, globale Gewerkschaften, die entsprechenden Zugang zu Verhandlungsforen genießen; vgl. Fuchs (2007) zu „the Power of Ideas“.

  46. 46.

    Die Politikkoordination zwischen nationaler und internationaler Ebene ist neben der theoretischen Bearbeitung von Interdependenzen; siehe Keohane/Nye (2012); Katzenstein (1976), von verschiedenen Ansätzen berücksichtigt und problematisiert worden. Haas (2004) erklärt mithilfe des Konzepts des Spill-over das Feedback zwischen internationaler und nationaler Politik in regionalen Integrationsprozessen. Der Two-Level-Game-Ansatz von Putnam (1988) theoretisiert die Prozesse der Politikkoordination zwischen nationaler und internationaler Ebene, indem politische Entscheidungsträger als Mediatoren zwischen den verschiedenen ebenenspezifischen Anforderungen verstanden werden.

  47. 47.

    Das ist der Tatsache geschuldet, dass in modernen Rechtssystemen nicht jeder Einzelfall beschrieben werden kann, sondern vielmehr Rechtsbegriffe geschaffen werden, unter die bestimmte Entitäten anhand spezifischer oder weniger spezifischer Merkmale subsumiert werden können. Diese unterliegen zudem im Zeitverlauf verschiedenen Deutungen und werden gegebenenfalls durch Rechtsprechung immer weiter fortgeschrieben; vgl. Dworkin (2013). Sowohl die Regularien selbst als auch deren (Nicht-)Einhaltung müssen immer wieder neu in Beziehung zueinander gebracht werden. Dies geschieht über ihre Anwendung. Diese Ambiguitäten und der wiederkehrende (iterative) Rückschluss von Anwendung auf Bedeutung und andersherum erschweren es, objektiv festzustellen, ab wann Staatsverhalten noch compliant ist und ab wann nicht mehr; siehe Breitmeier et al. (2006: 65). Allerdings können Sachverständigenverfahren dazu beitragen, dass subjektive Einschätzungen eine gewisse Objektifizierung erfahren und die Grenze zwischen Compliance und Non-Compliance intersubjektiv nachvollziehbar festgelegt und kommuniziert wird.

  48. 48.

    Insgesamt hat der auch von Finnemore (2000) beschriebene Bias der Normenforschung, sich in erster Linie mit progressiven Normen zu befassen, außerdem dazu beigetragen, dass – so führt Acharya (2004: 242) aus – der Eindruck entsteht, dass „global good norms“ gegen „bad local beliefs“ umzusetzen seien. Siehe dazu auch die Debatte in der Zeitschrift für internationale Beziehungen zwischen Engelkamp et al. (2012) und Deitelhoff/Zimmermann (2013a).

  49. 49.

    In der Literatur wird das Konzept der CSR kontrovers diskutiert; siehe Carroll (1999); Lockett et al. (2006); Bakker et al. (2005); Crane (2008); Gond/Moon (2012); Haynes et al. (2013); Crouch (2010). Eine Kernfrage dieser Debatte lautet, inwiefern Systeme freiwilliger Selbstverpflichtung dazu in der Lage sind, sozial und ökologisch gewünschtes Unternehmenshandeln hervorzubringen oder inwiefern diese Systeme ausschließlich als Reputationsmanagement zu verstehen sind. Letztere dienen dann auch der Verhinderung legal bindender Regeln insbesondere auf der globalen Ebene.

  50. 50.

    Dabei ringen verschiedene Wissensbestände um Bedeutung. Diese Umstrittenheit hat Einfluss auf politische Ergebnisse; dies wurde im Bereich der Sozialpolitik und in der Bearbeitung von Umweltproblemen gezeigt durch Nullmeier/Rüb (1993); Tereick (2016) und durch Methmann (2010) zum Begriff der „climate protection“ als empty signifier internationaler Organisationen wie der OECD oder der Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO). Wullweber (2010) hat diese Prozesse im Bereich der Nanotechnologien analysiert. Die Theoretisierung darüber, wie die Problemkonstruktion selbst politische Lösungen vorschreibt, ist wohl am besten durch den Prozess der Versicherheitlichung von Buzan et al. (2013) erfasst.

  51. 51.

    Die Einbeziehung der Akteure in die Formulierung und Realisierung einer legalen Norm in Form einer „Co-production“ kann dabei erfolgreicher in der Sicherstellung von Compliance sein als das Durchsetzen einer Regel gegen Gegenwillen; Curtis et al. (1991); siehe Gibson/Caldeira (1998) zu „diffuse support“ und „specific support”.

  52. 52.

    Damit stehen die Managementansätze den rationalistischen Überlegungen zur Ursache von Compliance bzw. der Erklärung von Non-Compliance diametral gegenüber. Rationalistische Perspektiven werfen den Vertretern des Managementansatzes eine voreingenommene Fallauswahl vor, da diese (angeblich) ausschließlich erfolgreiche Fälle von Compliance untersuchen. Außerdem würden Managementansätze die Tiefe der vereinbarten vertraglichen Regelungen nicht berücksichtigen. Denn wie oben beschrieben, gehen rationalistische Ansätze davon aus, dass „incentives to deviate from a treaty’s commitments rise as the depth and costs of change also rise“; Raustiala (2000: 408). In diesen Situationen bliebe „enforcement“ die wirksame Strategie zur Herstellung und Aufrechterhaltung von Compliance.

  53. 53.

    Dieser hohe Grad an regulatorischer Reflexion erfordert das stete Gewinnen und Austauschen von Informationen. In der Umweltforschung hat Haas (1992) in diesem Zusammenhang auf die „epistemic communities“ verwiesen. Nach Underdal (1998) hingegen sind Ideen und Lernprozesse von zentraler Bedeutung, um einen hohen Grad an Compliance in einvernehmlichen politischen Settings zu erreichen.

  54. 54.

    Hierbei dürfen Machbarkeitsargumente nicht die Erwünschtheit normativer Ansprüche untergraben.

  55. 55.

    In den obigen Erläuterungen zur klassisch-konstruktivistischen Perspektive kreieren diskursive Verfahren über Legitimitätsgenerierung einen Compliance Pull. Hingegen stellt die diskursive Auseinandersetzung mit der Normbedeutung andere Wirkungsmechanismen bereit, z. B. die Bedeutungszuschreibung und die Einsicht in die Gültigkeit der Norm.

  56. 56.

    Theoretische Konzepte wie die globale Fabrik von Fuentes/Ehrenreich (1984), globale Produktionsketten von Gereffi/Korzeniewicz (1994) und die neue internationale Arbeitsteilung bspw. Mezzadra/Neilson (2013: 82) zielen darauf ab, diese Produktionsorganisation genauer zu beschreiben und zu analysieren. Neuere Ansätze konzentrieren sich verstärkt auf globale Wertschöpfungsketten. Wie sich ein Unternehmen in GVCs verhält, welche Entscheidungen es fällt und welche Strategien es verfolgt, ist Gegenstand der GVC-Analyse. Die GVC-Analyse geht von asymmetrischen Machtverhältnissen zwischen den Beteiligten innerhalb einer Wertschöpfungskette aus, was bedeutet, dass jede Kette durch einen Akteur, ein führendes Unternehmen, dominiert und definiert wird. Im Fokus steht dabei unter dem Schlagwort „Governance“ die Untersuchung der Strukturen sowie der Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse innerhalb globaler Wertschöpfungsketten und der daran beteiligten Akteure; siehe Gibbon et al. (2008). Zur Analyse von GVCs können verschiedene Ansätze herangezogen werden, z. B. der Driving-Ansatz von Gereffi (1994), der Koordinationsansatz; siehe Gereffi et al. (2005), Upgrading-Ansätze oder Input-Output-Analysen; zur Übersicht siehe McGrath/Mieres (2017); Barrientos et al. (2011a). Diese analytischen Beschreibungen der Wertschöpfung, die Arbeit insbesondere als Produktionsfaktor in unternehmerischen Entscheidungsprozessen berücksichtigen, können um einen Netzwerkansatz ergänzt werden. Der Netzwerkansatz von Barrientos (2007) erweitert die Vorstellung von Ketten um informelle, komplexe und horizontale Beziehungen zwischen Unternehmen und bezieht zudem institutionelle und organisationale Kontexte mit ein, um die Bedingungen der Ausgestaltung von Arbeit und die Implementierungsmöglichkeiten menschenwürdiger Arbeit sichtbar zu machen. Zudem werden mit der Netzwerkperspektive die Ausgestaltung der sozialen Beziehungen, die Abhängigkeits- und Machtverhältnisse innerhalb der Wertschöpfung und der daran beteiligten Akteure zueinander in den Blick gerückt; siehe beispielsweise Romero/Tejada (2011).

  57. 57.

    Dies bedeutet, dass die interpersonellen Beziehungen der Zwangsarbeit (A) ausschließlich abgeschafft werden können, wenn Veränderungen der diese Beziehungen bedingenden Strukturen (B) vorgenommen werden. Eine Struktur (wie hier die Bedingungen, die sich aus der globalisierten Wirtschaft ergeben) ist dann supervenient, wenn eine Veränderung dieser Bedingungen, eine Veränderung der Beziehung hervorbringt, dies andersherum aber nicht zwingend der Fall sein muss. McLaughlin/Bennett (2015: o.S.) fassen das Prinzip zusammen als “there cannot be an A-difference without a B-difference”. Mit Blick auf Zwangsarbeit sind dabei aber auch Strukturen auf und unterhalb der Ebene des Nationalstaates zu berücksichtigen.

  58. 58.

    Mit Blick auf die Definitionen des Normativen sind die systematische Belohnung besonders geringer Lohnkosten (Preis-Squeeze) und die zumindest implizit drohende Bestrafung zu hoher Lohnkosten durch das Abwandern von Finanzkapital und Investitionen in Produktionsstätten als Prozesse der Normierung zu begreifen. Diese bilden damit einen Teil des normativen Außenverhältnisses, in das sich das Verbot von Zwangsarbeit einfügen muss. Denn wenn Verhalten systematisch belohnt oder Abweichung abgestraft wird, kann von einem normativen Zusammenhang gesprochen werden. In Bezug auf die Quantität dieses Phänomens der Arbeitskraftzulieferung kann auch im Sinne einer Normalisierung und Standardisierung von einem normativen Gesamtzusammenhang gesprochen werden.

  59. 59.

    Vgl. Gramsci (1971: 419): Common Sense ist die „conception of the world which is uncritically absorbed by the various social and cultural environments in which the moral individuality of the average man is developed. Common sense is not a single unique conception, identical in time and space. It is the ‚folklore‘ of philosophy, and, like folklore, it takes countless different forms. Its most fundamental characteristic is that it is a conception which, even in the brain of one individual, is fragmentary, incoherent and inconsequential, in conformity with the social and cultural position of those masses whose philosophy it is.“

  60. 60.

    Diese Überlegungen zum Sense of Obligation schließen an oben präsentierte Perspektiven zur Legitimität von Normen, dem Compliance Pull, und der Unterscheidung zwischen einem einfachen Anreiz und der Anerkennung der Qualität einer Norm an.

  61. 61.

    Epstein (2012: 137 f.) zeigt, dass die Normadressaten das Umsetzen einer Norm auch ablehnen können, weil sie die Legitimität der Normsetzer nicht anerkennen. Wie oben beschrieben, hängt dies auch von den Verfahren ab, die zur Entstehung und Verwirklichung einer Norm führen.

  62. 62.

    Krook/True (2012) sprechen in diesem Zusammenhang in der Regel von neu entstehenden Normen. Das vorliegende Buch geht hingegen davon aus, dass diese Mechanismen auch auf bereits bestehende Normen zutreffen, insbesondere wenn sie Gegenstand normbefördernder Maßnahmen sind, wie z. B. die Kernarbeitsnormen der Decent Work Agenda.

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Drubel, J. (2022). Theorie: Zur Verwirklichung des Zwangsarbeitsverbots unter den Bedingungen einer globalisierten Wirtschaft. In: Das ILO-Zwangsarbeitsverbot in der globalisierten Wirtschaft . Globale Politische Ökonomie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-38981-9_5

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  • Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden

  • Print ISBN: 978-3-658-38980-2

  • Online ISBN: 978-3-658-38981-9

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