1.1 Vorbemerkung

Grundlage der vorliegenden Länderauswertung ist der Deutsche Freiwilligensurvey (FWS) 2019. Nur kurze Zeit nach Abschluss der Feldphase des FWS erreichte die Coronapandemie Deutschland. Dieser Umstand hatte, bis der Krieg in der Ukraine ab Februar 2022 das politische Geschehen abermals tiefgreifend veränderte, erhebliche Auswirkungen auf alle wichtigen Politikfelder und Lebensbereiche. Angesichts dessen stellt sich für die aktuelle Einordnung der aus dem Jahr 2019 stammenden Daten die Frage, ob zumindest vorübergehend pandemiebedingte Veränderungen in den Randbedingungen öffentlich gemeinschaftlicher Aktivitäten beziehungsweise freiwilligen Engagements erkennbar werden. Zur Klärung dieser Frage werden im Folgenden einleitend die Befunde ausgewählter empirischer Studien herangezogen. Die Analyse erfolgt unter der Annahme, dass es sich bei ihr um keine abschließende Betrachtung handelt, da die Coronapandemie und der Krieg in der Ukraine nach Abschluss des Manuskripts weiterhin andauern.

Ebenfalls in dieser Einleitung wird in einer Vorschau auf das Teilkapitel 5 begründet, weshalb sich die Autorinnen und Autoren dieses Länderberichts dazu entschlossen haben, die Daten des Freiwilligensurveys 2019 strukturell und kulturell in Kontextfaktoren einzubetten, welche die politisch-kulturellen Einstellungen sowie die Wahrnehmung der sozialräumlichen Gegebenheiten des näheren Lebensumfelds der Befragten erschließen. Dieses Vorgehen gründet in der Erwartung, dass die einbezogenen Kontextfaktoren auch im Bereich gemeinschaftlicher Aktivität und freiwilligen Engagements verhaltenswirksam sind.

Die beiden in unsere Betrachtung einbezogenen Größen, Pandemieeffekte und Prägungen des Umfelds, unterscheiden sich nach Zeitlichkeit und Evidenz: Ob sich Engagement pandemiebedingt verändert, kann nur vermutet werden, und wie lange etwaige Veränderungen anhalten, ist nach jetzigem Kenntnisstand ungewiss. Demgegenüber ist in der Sozialforschung unbestritten, dass strukturell und kulturell dauerhaft erfahrene Lebensumfelder (Kontexte) individuelles und soziales Verhalten generell beeinflussen.

1.2 Auswirkungen der Coronapandemie auf Aktivität und Engagement

Zur Klärung der Frage nach möglichen Auswirkungen der Coronapandemie auf öffentliche gemeinschaftliche Aktivitäten beziehungsweise freiwilliges Engagement eröffnet die hierfür herangezogene Literatur zwei Zugänge. Neben Daten, welche das Engagement in den Jahren 2020 und 2021 direkt messen, stehen Befunde, die Veränderungen in den für (potenziell) Engagierte bedeutsamen Rahmenbedingungen untersuchen und somit Hinweise auf mögliche mittelbare Effekte liefern, die Engagement hemmen oder befördern könnten.

Zum Stand der Literatur: Auf der Basis von Daten des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) analysierten Michaela Kreyenfeld und Sabine Zinn, inwieweit sich das Zeitbudget, welches Mütter und Väter für die Betreuung ihrer Kinder aufwenden, im Zuge der heraufziehenden Pandemie zwischen 2019 und dem Frühjahr 2020 veränderte (Kreyenfeld und Zinn 2020). Überprüft wurde dabei die Hypothese, dass die Pandemie einer Retraditionalisierung der innerfamilialen Rollenteilung tendenziell Vorschub leiste. Träfe diese Annahme zu, hätte dies möglicherweise zur Folge, dass sich Frauen noch weniger als zuvor öffentlich gemeinnützig einbringen oder freiwillig engagieren.

Im Ergebnis dieser Untersuchung wurde diese Hypothese jedoch nicht eindeutig bestätigt. Vielmehr stellte sich heraus, dass Väter und Mütter während der Coronakrise die Betreuungszeit ihrer Kinder ausweiteten. Es waren gerade Männer mit mittlerer oder geringer Bildung, welche Kindern mehr Zeit widmeten. Ob dies jedoch einen Spill-over-Effekt zugunsten stärkeren freiwilligen Engagements auslöst und den dort wirksamen Bildungsbias abschwächt, bleibt abzuwarten. Frauen trugen dieser SOEP-Studie zufolge nämlich nach wie vor die höhere Betreuungslast („the bulk of child care tasks“ – ebd., S. 1), was einer künftig stärkeren Erschließung weiblichen Engagementpotenzials eher entgegenstehen dürfte.

Sind Menschen allgemein mit ihrem Leben zufrieden, ist eine für Engagement günstige Grundvoraussetzung gegeben. In dieser Hinsicht wirkt sich die Pandemie dämpfend aus. Wie die Daten des vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) erstellten FamilienMonitor Corona zeigen, ging die Zufriedenheit mit dem Leben allgemein von einem Mittelwert von 7 im Mai 2020 auf 6,5 (auf einer Skala von 0 [min.] bis 10 [max.]) bis Ende März/Mitte April 2021 kontinuierlich zurück. Dabei bekundeten Mütter ein geringeres Wohlbefinden als Väter.Footnote 1

Eine DIW-Studie ging schon im Vorjahr 2020 speziell der Frage nach, ob sich das Wohlbefinden von Familien in Zeiten von Corona nachteilig verändert habe. Sie kam zu dem Ergebnis, dass gerade Eltern von jungen Kindern vergleichsweise starke Einbußen an Lebenszufriedenheit erfuhren (vgl. Huebener et al. 2020). Insbesondere Eltern mit Kindern im Kita- und Grundschulalter empfanden ihr Wohlbefinden als beeinträchtigt, und darunter wiederum vor allem Mütter beziehungsweise Eltern mit höherem Bildungsniveau (vgl. ebd.). 52 % der Mütter, die von Kitaschließungen betroffen waren, nahmen die Coronamaßnahmen als sehr einschränkend wahr (vgl. ebd.).

Auf die Agenda des freiwilligen Engagements bezogen lassen die Befunde zwei gegenläufige Trendannahmen denkbar erscheinen: Einesteils könnte Corona trotz sinkender Lebenszufriedenheit gleichwohl partiell zu einem Aufwuchs gemeinschaftlich und solidarisch organisierter, frühkindlicher beziehungsweise schulischer Betreuungsleistungen führen. Anderenteils könnten diese der Pandemie geschuldeten familiären Notdienste ein bereits praktiziertes Engagement in anderen Bereichen reduzieren.Footnote 2 Ob die eine oder die andere Option tatsächlich gezogen und gar zum Dauerzustand wird, wird erst die Zukunft zeigen.

Für freiwilliges Engagement sind soziale Kontakte unverzichtbar. Da Abstandsgebote beziehungsweise temporäre Kontaktverbote im Repertoire staatlicher Pandemiebekämpfung und -prävention zentrale Bedeutung haben, wäre zu erwarten, dass sich diese sozialen Restriktionen dämpfend auf das allgemeine Engagement auswirken. Tatsächlich zeigen Daten des CoronaCompass von infratest dimap, dass die seitens der Bevölkerung praktizierte Geselligkeit den Wellenbewegungen der Pandemie gefolgt ist. Im April/Mai 2020 vermieden demnach um die 90 % der Befragten vollständig, sehr stark oder stark Kontakte zu Menschen außerhalb der eigenen Familie. Nach einem Rückgang auf je nach Altersgruppe 40 bis 70 % im Sommer des Jahres stieg die Kurve im Frühjahr 2021 erneut stark an (auf 70 bis über 80 %), um bis zum Jahresende wieder deutlich abzufallen. Es waren insbesondere über 65-Jährige, dicht gefolgt von den 40- bis 64-Jährigen, welche ihre sozialen Kontakte einschränkten.

Eine weitere, als ZiviZ Policy Paper im Mai 2021 veröffentlichte Studie analysiert die im Verlauf der Pandemie bereits erkennbaren Effekte aus der Binnenperspektive der im Engagementbereich tätigen Organisationen (Hoff et al. 2021; für Reaktionen auf Unternehmensseite vgl. Stifterverband 2021). Hierfür wurde eine mehrfache quantitative Befragung unter Stakeholderinnen und Stakeholdern sowie lokalen Organisationen durchgeführt. Die Autorinnen und Autoren fassen wesentliche Erkenntnisse ihrer Untersuchung wie folgt zusammen: Akteurinnen und Akteure, welche sich selbst finanzieren, kämpfen am häufigsten mit finanziellen Problemen. Von hauptamtlich Engagierten getragene Organisationen sorgen sich häufiger um den Fortbestand ihrer Arbeit als rein ehrenamtliche Einrichtungen. Im ländlichen RaumFootnote 3 fällt es schwerer, ein von Organisationen getragenes Engagement während der Pandemie aufrechtzuerhalten. Auch bisher regelmäßig aktive Mitglieder ziehen sich aus dem Engagement zurück (vgl. ebd., S. 2).

„Die deutlichsten Rückgänge betreffen selbsterwirtschaftete Mittel. 82 % der befragten Organisationen vermeldeten hier einen Einnahmerückgang“ (ebd., S. 4). Diese Reduktion sei vornehmlich auf die Vielzahl abgesagter Veranstaltungen zurückzuführen. „Jede zweite befragte Organisation beobachtete zudem Rückgänge von Spenden und Kollekten“ (ebd., S. 4). Die klare Mehrheit der befragten Organisationen befinde sich „in einer Art Krisenmodus: Ihre Aufmerksamkeit gilt vor allem dem Halten von Engagierten und Mitgliedern […] und der monetären Stabilisierung“ (ebd., S. 8).

Ein Vergleich der Daten des Freiwilligensurveys 2019 und einer bundesweiten Erhebung der Info GmbH von 2020 zeigt, dass die Gesamtquote des Engagements innerhalb des Zeitraums zwischen beiden Feldphasen (März bis Dezember 2019 und August/September 2020), der den Ausbruch der Coronapandemie sowie das Abflauen ihrer ersten Welle umfasst, konstant geblieben ist. Zugleich wird dabei aber ersichtlich, dass sich in Engagementbereichen, die im Freiwilligensurvey zu den wichtigsten gezählt werden, Verschiebungen ergeben haben.Footnote 4 Insgesamt engagierten sich 2019 rund 66 % (FWS 2019) beziehungsweise im Spätsommer/Herbst 2020 (Info GmbH 2020) 65 % der Befragten. Im Bereich Sport/Bewegung ging der Anteil, nicht überraschend, von 40 % (FWS 2019) auf 32 % (Info GmbH 2020) zurück. Zuwächse verzeichneten hingegen von 2019 auf 2020 die Bereiche Kultur und Musik (+ 3 %), soziale Aktivitäten (+ 13 %), Schule oder Kindergarten (+ 5 %) sowie bemerkenswerterweise auch Freizeit/Geselligkeit (+ 7 %).Footnote 5 Ein allgemeiner Rückgang freiwilliger Aktivitäten ist demzufolge zumindest für die Phase der ersten Coronapandemiewelle nicht festzustellen. Die sektoralen Verschiebungen verweisen auf pandemiebedingte Beweggründe, sie treten also möglicherweise nur vorübergehend auf.

Dem Tenor dieser Studien zufolge lassen sich pandemiebedingte Effekte auf freiwilliges Engagement nicht ausschließen, und zwar tendenziell stärker solche, die dasselbe abschwächen. Dafür ist insbesondere der Rückgang der allgemeinen Lebenszufriedenheit ein Indiz. Belastbare Rückschlüsse auf die zukünftige Entwicklung nach Abebben der Coronapandemie lassen die hier einbezogenen Umfragen naturgemäß nicht zu.

1.3 Kontexteffekte auf Aktivität und Engagement

Die Orientierungen und das Handeln von Einzelnen und Gruppen werden fortwährend durch Umwelten beeinflusst. Im Modell der Systemtheorie werden diese Umwelteinflüsse als Environment bezeichnet (vgl. Easton 1965). Umwelten beziehungsweise Umfelder gesellschaftlichen und politischen Handelns werden in der Literatur allgemein unter dem Begriff Kontext subsumiert (vgl. Holtmann 2019, S. 57). Je nach ihrer Beschaffenheit können Kontexte ermutigend (Empowerment) oder entmutigend (Depression) auf Einstellungen und Handlungen abstrahlen. Empowerment oder Depression sind damit gleichermaßen wesentlich kontextbedingt.

Naturgemäß ist auch Engagement kontextuell eingebettet. So kann ein näheres Umfeld, das viel Sozialkapital und eine aufgeschlossene lokale Administration aufweist, freiwillige Partizipation stützen und fördern. Andererseits belegen die oben referierten neueren empirischen Befunde, dass eine außergewöhnliche Herausforderung (wie zum Beispiel die gegenwärtige Coronapandemie) einen Außendruck aufbauen kann, der die Organisationsgrundlagen und die Handlungsspielräume von Engagement wenigstens temporär empfindlich einschränkt.

Um Faktoreffekte, wie sie in Normalzeiten auftreten, genauer zu bestimmen, bedarf der Begriff Kontext einer Schärfung. Grob unterteilt lassen sich zum einen soziodemografische und soziokulturelle Kontextdimensionen identifizieren. Hierzu gehören etwa Alter, Geschlecht, Einkommen, Konfession, Stellung im Beruf sowie zum Beispiel zwischenmenschliches Vertrauen, persönlich verinnerlichte Selbstwirksamkeit oder auch soziale Anerkennung und Wertschätzung (vgl. Kap. 4). Zum anderen ist, wie auch Hoff et al. hervorheben, auch der „siedlungsstrukturelle Kontext“ eine für die Untersuchung von Art, Umfang und Breite von Engagement wichtige externe Kategorie (vgl. Kap. 5 sowie Hoff et al. 2021, S. 2).

Soziodemografische Kennungen wie die soeben erwähnten beschreiben zunächst individuelle Ausstattungsmerkmale. Statistisch zusammengefasst bilden sie jeweils Gruppenmerkmale ab, deren Auswirkungen auf Engagement, wie hier in Kap. 5 dargestellt, erhoben werden können. Die Gestalt von strukturellen Kontextbedingungen nehmen solche individuellen Merkmale jedoch erst dort an, wo sie in den Lebensfeldern der Menschen gehäuft auftreten, sich also sozialräumlich verdichten und objektive Lebenslagen und subjektive Lebenssichten entsprechend prägen.Footnote 6

Solche Kontexteffekte hat die neuere Partizipations- und Wahlforschung wiederholt nachgewiesen. So hat Armin Schäfer auf der Grundlage von Wahldaten auf der Ebene der Stadtbezirke den Zusammenhang zwischen lokalen Milieus und der sozialen Schieflage der Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen herausgearbeitet (Schäfer 2012 und 2015, ferner Schäfer et al. 2013; vgl. auch Schäfer und Schmitt-Beck 2017). Eine für Sachsen-Anhalt vorgelegte Regionalanalyse, die speziell Nichtwählerinnen und Nichtwähler in den Blick nimmt, weist nach, dass sich Befragte sowohl in Stimmbezirken mit einer unter- als auch solchen mit einer überdurchschnittlichen Beteiligung bei den vorausgegangenen Landtagswahlen hinsichtlich ihrer Entscheidung, nicht wählen zu gehen, häufiger unsicher sind (Holtmann und Jaeck 2015). Dies lässt sich deuten als das Wirksamwerden eines sublokalen Konformitätsdrucks, der je nach Kontext unterschiedlich ausfällt.

Wie sich lokale Umfelder eines spezifischen sozialräumlichen Zuschnitts außerhalb der Wahlbeteiligung auf freiwilliges Engagement auswirken, haben die Autorinnen und Autoren dieses Länderberichts in einer früheren Studie auf der Gemeindeebene in Sachsen-Anhalt untersucht und anhand einer Typologie dokumentiert, welche lokale Struktur- mit Einstellungsdaten verknüpft (Heyme et al. 2018). Aufgezeigt werden konnte hier, dass in wirtschaftlich angespannten, abgelegenen, alternden, zentrumsnahen, pendlerverflochtenen, durchschnittlichen und wirtschaftlich starken Gemeinden Stand und Potenzial bürgerschaftlicher Beteiligung jeweils unterschiedlich ausfallen. Beispielsweise stellte sich heraus, dass in alternden Gemeinden, die durch einen hohen Alters- und niedrigen Jugendquotienten ausgewiesen sind, weniger Bewohnerinnen und Bewohner als im Landesdurchschnitt engagiert sind. Seltener bekundet wird dort zudem die Absicht, künftig ein Engagement zu beginnen beziehungsweise bisheriges Engagement fortzusetzen (vgl. ebd., S. 131 f.). Im Rahmen einer anderen Studie mit dem Schwerpunkt Wahlverhalten und Kontexteffekte bei Landtagswahlen konnte der Einfluss vergleichbarer Umfeldfaktoren – hier unterschiedlicher Strukturmerkmale der Kreisebene – für Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt ebenfalls nachgewiesen werden (Brachert et al. 2020).

Im hier vorgelegten Länderbericht sind Kontextbezüge mehrfach Teil der Analyse: Zum einen werden FWS-Einstellungsdaten zu Stand und Potenzial des Engagements mit dort ebenfalls abrufbaren siedlungsstrukturellen Zuordnungen (Kreiskategorien, Ortsgrößenklassen der Gemeinden) im Zusammenhang betrachtet (vgl. Kap. 4). Zum anderen werden aus der Info-GmbH-Bevölkerungsumfrage 2020 sowie verschiedenen amtlichen Statistiken und weiteren hier bedeutsamen Studien zusätzliche Kontextvariablen gebildet. Sie geben unter anderem Aufschluss über das Vertrauen der Befragten in die Institutionen und über die wahrgenommene Beteiligungsoffenheit des lokalen politisch-administrativen Systems (vgl. hierzu Kap. 5).