1 Schulschließungen im Zeichen der Corona-Pandemie. Schule im Distanz-Modus und die Nutzung digitaler Medien

Der Zeitpunkt, zu dem wir dieses Kapitel finalisieren, liegt zwei Jahre nach den pandemiebedingten Schulschließungen. Im Verlauf dieser zwei Jahre haben die Schließungen besonders der Diskussion um digitale Medien im Unterricht nicht nur einen neuen Schub verliehen, sondern dem Bedarf an Digitalisierung in Schulen auch eine erhöhte Dringlichkeit zugewiesen. Schulen sind aufgefordert, Lösungen für eine Beschulung auf DistanzFootnote 1 anbieten zu können, deren technischer Kern digitale Technologien bildet. Aber vor allem war in Deutschland sowie in vielen anderen Ländern der Welt nicht nur der Schock während der ersten Schulschließungen in den Schuljahren 2019/2020 und 2020/2021 über die technischen Versäumnisse groß, sondern auch über die falschen Vorstellungen, dass Schüler*innen als digital natives mit den digitalen Medien auch zu Schul- und Lernzwecken selbstverständlich umgehen könnten und Zugänge zu den notwendigen digitalen Geräten besäßen. So stellen Ben Williamson, Rebecca Eynon und John Potter fest:

As schools close due to COVID-19 outbreak, and many teachers look to digital means to connect to their students, education policy makers are beginning to realize that the rhetoric around young people is incorrect, and now some young people are excluded from much of their education and their social networks. (Williamson et al. 2020, S. 110)

Die Corona-Pandemie führte in Deutschland immer wieder zu Schulschließungen mit der zeitgleichen Vorgabe, Unterricht aufrecht zu erhalten (zum Ablauf vgl. Fickermann und Edelstein 2020, S. 10–13). Die Transformation des traditionellen Unterrichts in einen Distanzunterricht stellte Schulen und damit Lehrer*innen und Schüler*innen vor neue Aufgaben. War Unterricht bis dahin an die Präsenz der Beteiligten gebunden, so war er nun coronabedingt durch das Nichtteilen einer gemeinsamen Räumlichkeit (Klassenzimmer, Schule etc.) und damit gegebenenfalls durch die Aufhebung einer koordinierten Zeitlichkeit gekennzeichnet. Unterrichten, das wir als ein Ineinandergreifen von Unterrichten und Aneignen zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen bezogen auf einen Unterrichtsgegenstand fassen (Gruschka 2009, 2013; Pollmanns 2019), fand folglich unter anderen Bedingungen statt und musste nun in Distanz organisiert werden (zu Kriterien guten Unterrichts unter den Bedingungen der Pandemie, z. B. Klieme 2020). Das routinierte Handeln von Lehrer*innen konnte somit nicht auf dieselbe Art und Weise weitergeführt und musste hinsichtlich des Zieles, Unterricht zu ermöglichen, neu ausgerichtet werden (Mayer und Jornitz 2022).

Um die räumliche Distanz zu überwinden, wurde auf den Einsatz von digitalen Medien gesetzt. Sie waren das Mittel, um unterrichten zu können oder wenigstens den Kontakt zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen zu ermöglichen. Dabei kamen vielfältige digitale Technologien zum Einsatz (Jornitz und Engel 2021), die je verschiedene Möglichkeiten der Kommunikation und Koordination erlaubten, wie zum Beispiel Lernmanagementplattformen, Schul- und Unterrichtsverwaltungssoftware, Software zur Kommunikation in Bild, Ton und Text sowie schulfachspezifische Lernsoftware. Schulen legten eigenständig fest, ob es ein einheitliches schulinternes Konzept für die Nutzung bestimmter Softwareprodukte gab oder ob jede*r Fachlehrer*in dies für sich entscheiden konnte (und musste). In unserem Beitrag zeigen wir, dass die Plötzlichkeit der Schulschließungen und die Notwendigkeit der Suche nach digitalen Lösungen für das Fortsetzen des Unterrichts im Jahr 2020 zu einer großen Heterogenität bei der Verwendung digitaler Technologien führte.

Um besser zu verstehen, vor welchen Aufgaben Lehrer*innen in Deutschland in den Schuljahren 2019/2020 und 2020/2021 hinsichtlich des Einsatzes von digitalen Medien standen und mit welchen digitalen Technologien Schulen versuchten, Unterricht auf Distanz zu ermöglichen, stellen wir im Folgenden die Auswertung zweier Datenkorpora vor, die im Rahmen des Verbundprojektes DATAFIED zur Analyse der Schulschließungen und Herausforderungen bei Auswahl, Aneignung und Nutzung digitaler Technologien 2020 und 2021 erhoben wurden. Während Twitter-Tweets mit dem Hashtag #twitterlehrerzimmer und #twlz den einen Datenkorpus bilden, umfasst der andere Datenkorpus fünfzehn online geführte Interviews mit sieben Lehrer*innen aus drei Projektschulen.

Twitter-Kommunikation ist in den letzten Jahren zu einem festen Bestandteil der Forschung im Bildungsbereich geworden. Über die Analyse der Twitter-Daten werden beispielsweise Aspekte des Lehrer*innenberufs, der -Aktivitäten und der Weiterbildung untersucht (z. B. Britt und Paulus 2016; Carpenter et al. 2020; Carpenter und Krutka 2014; Larsen und Parrish 2019; Tang und Hew 2017; Visser et al. 2014). Im deutschsprachigen Twitter kann der Hashtag #twitterlehrerzimmer und seine Kurzversion #twlz als einer der zentralen Kommunikationsräume für Lehrkräfte verstanden werden (Fütterer et al. 2021; Zakharova et al. 2022). Während der Corona-Pandemie spielte die Twitter-Kommunikation der Lehrkräfte über Bildungsthemen eine wichtige Rolle, da sich dadurch aktiv über „die Frage, was guter digitaler (Fern-)Unterricht überhaupt ist“ (Fütterer et al. 2021, S. 468) ausgetauscht, schulübergreifende Zusammenarbeit gestärkt (Blume 2020) und Forderungen an politische Akteure gestellt werden konnten. An diese Forschung knüpfen wir hier mit unserer Analyse der Twitter-Daten im „Affinitätenraum“ #twitterlehrerzimmer an (Zakharova et al. 2022).

Die Interviews hingegen richten sich gezielt auf die Organisationsaspekte des Unterrichtens, das heißt, auf das Ermöglichen eines Distanzunterrichts. Daher geben diese zum einen Auskunft über Lösungen (oder Maßnahmen) zur Etablierung, Stabilisierung und Einübung neuer Routinen, um Unterricht auf Distanz zu ermöglichen, zum anderen über das Verständnis von Unterrichten (und damit Unterricht) und die Herausforderungen bei der Durchführung von Distanzunterricht. Gerade zur Überwindung der Distanz scheint die Nutzung digitaler Lösungen unausweichlich (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Funktionsumfang Schullösungen (eigener Nachbau der Grafik in Schmidt 2020 mit Bezug auf mmb Institut GmbH 2019)

Damit die digitalen Lösungen eingeordnet und verglichen werden können, orientieren wir uns im Folgenden an den Funktionsbereichen, die die jeweils eingesetzte Software bietet. In der Literatur wird Software nach den jeweiligen Funktionsbereichen unterschieden (mmb Institut GmbH 2019; zitiert in Schmidt 2020). Laut mmb gibt es vier zentrale Funktionsbereiche, mit denen sich Software für Schulen einordnen lässt. Es handelt sich um sogenannte LMS, Schul- und Unterrichtsverwaltungs-, Contentmanagement- und Authoring-Systeme sowie Kollaborations- und Kommunikationssysteme (Schmidt 2020). Nach Rolf Schulmeister (2005) ermöglicht ein Lernmanagementsystem eine Benutzer*innen- und Kursverwaltung und lässt die Vergabe verschiedener Rollen und Rechte unter den Nutzer*innen zu. Die Kursinhalte, Lerngegenstände und Medien sind zudem über einen Browser abrufbar und Kommunikationsmedien sowie Werkzeuge für das Lernen und Notieren sind integriert. Oft kann der Lernverlauf gespeichert werden. Bei Contentmanagementsystemen handelt es sich meist um cloud-basierte Plattformen, über die Schüler*innen und Lehrer*innen Lernmaterialien bereitstellen und abrufen können. Auch lässt sich sogenannter Content anderer Repositorien einbinden (Schmidt 2020). Nach mmb (mmb 2019) sind die Softwareangebote zu Kollaboration und Kommunikation explizit auf die Organisation von Gruppen und gemeinsame Prozesse im Unterricht ausgerichtet. Zu dieser Kategorie zählen auch alle Lösungen, die über webconferencing-Software virtuelle Meetings ermöglichen (Schmidt 2020). Andreas Breiter und Angelina Lange (2019) unterscheiden ebenfalls zwischen verschiedenen Arten der Schulinformationssysteme, die die Organisation der schulischen Daten und Abläufe unterstützen sollen. Auch hier wird zwischen Schulmanagement, -verwaltung und Lernmanagement unterschieden, allerdings anders fokussiert. Dabei werden die Schulmanagementinformationssysteme für die Organisation und Analyse der Schuldaten eingesetzt, Schulverwaltungssysteme sollen die Schulen bei „der Organisation des Schulalltags“ (Breiter und Lange 2019, S. 4) unterstützen und Informationssysteme für Lernmanagement werden zur Organisation und Steuerung der Lernprozesse eingesetzt. Neben der Funktionsweise sind hier auch Nutzer*innengruppen entscheidend. In der Praxis, wie unsere Analysen im Folgenden zeigen, kann eine Einteilung der Software für Schule nicht trennscharf erfolgen. Wir orientieren uns daher grob an der Einteilung, um die von den Lehrenden in den Interviews genannte Software zu Teilbereichen von Schule zuordnen zu können. Die Klassifizierung (Schmidt 2020) dient als Heuristik für die Identifikation jener Funktionen und digitalen Lösungen, die sowohl in der Twitter-Kommunikation als auch in den Interviews zur Sprache kommen.

Beide Datenkorpora wurden zu drei Zeitpunkten erhoben, die für Schulen im Verlauf der Pandemie bedeutsam waren. Es handelt sich dabei (1) um das Frühjahr 2020 kurz nach den ersten Schulschließungen, (2) um den Sommer 2020 kurz vor den Sommerferien und (3) um das Frühjahr 2021, also ein Jahr nach den ersten landesweiten Schulschließungen. Während die Diskussionen, Tweets und Re-Tweets, die unter dem Hashtag #twitterlehrerzimmer und #twlz erstellt und verlinkt wurden, schulunspezifisch darüber Auskunft geben, welche digitalen Medien empfohlen wurden, um Schule auf Distanz Wirklichkeit werden zu lassen, ermöglichen es die Onlineinterviews, schul- und lehrer*innenspezifisch darüber Auskunft zu geben, welche digitale Software für ein Unterrichten auf Distanz eingesetzt und wie dies jeweils begründet wurde. Die hieraus gezogenen Erkenntnisse sind je fallspezifisch verortet (Pieper et al. 2014).

Das Besondere an der Twitter-Analyse ist, dass die Hashtags #twitterlehrerzimmer und #twlz eine Lehrer*innen-Community erschaffen, die einen Vorteil im Teilen von „Fundstücken für den Unterricht“, dem Nutzen von „Schwarmwissen“ (Redaktion Digitale Schule 2020) und der Diskussion aktueller Themen in sich vereinigt. Die dabei auftretenden Häufigkeiten bestimmter Hashtags lassen sich als verstärktes Interesse gegenüber einem Thema interpretieren. Während die Analyse des „Schwarmwissens“ seine generalisierbaren Erkenntnisse über die große Zahl generiert, gelangt eine vertiefte strukturtheoretische Analyse über den Einzelfall dazu. Inwiefern über diese nahezu gegensätzliche Generierung von Wissen zu gleichen, verschiedenen oder sich ergänzenden Erkenntnissen gelangt, versucht dieses Kapitel zu eruieren. Für unser Thema stellt sich somit die Frage: Ob das Interesse der Twitter-Community anders oder gleich jenem der Lehrer*innen in der Praxis der Projektschulen ist, wollen wir versuchen, mit der Zusammenschau beider Datenkorpora zu beantworten. Im Folgenden werden diese beiden Datensätze analysiert und aufeinander bezogen. Sie ermöglichen es rückblickend, einen Einblick in die akuten Aufgaben und die jeweiligen Bedingungen zu werfen, denen Lehrer*innen im ersten Jahr der Pandemie ausgesetzt waren.

2 Datenkorpus und Analysemethode

Die beiden Datenkorpora wurden zu drei Zeitpunkten erhoben, die für die Schulen je bedeutsame Phasen der Pandemie darstellen. Die erste Phase umfasst das Frühjahr 2020 (März bis April) und damit die Zeit kurz nach den ersten bundeseinheitlichen Schulschließungen vor den Osterferien. Schulen waren das erste Mal mit der Durchführung von Distanzunterricht konfrontiert. Die zweite Phase umfasst den Sommer 2020 (Juni bis Juli) und damit den Zeitraum kurz vor den Sommerferien. Einige Schulen hatten zu dem Zeitpunkt Präsenzunterricht mit Konzepten, wie zum Beispiel der Umsetzung von „geteilten Klassen“, wieder aufgenommen. Die Kultusministerkonferenz beschloss am 18. Juni 2020 außerdem, dass nach den Sommerferien der Schulbetrieb wieder regulär fortgesetzt werden sollte (Jungblut 2020). Die dritte Phase umfasst das Frühjahr 2021 (März) und fand damit genau ein Jahr nach den ersten Schulschließungen statt. Diese drei Phasen stellen demzufolge bedeutungsvolle Einschnitte nicht nur der Pandemie dar, sondern auch für die Schulen, die bis zum Erscheinen des Buches nicht zu einem normalen Präsenzunterricht zurückgekehrt sind.

Der Twitter-Datensatz umfasst die Kommunikation der Lehrkräfte unter den Hashtags #twitterlehrerzimmer und #twlz. Die Hashtags dienen als Schlagworte, mit denen Twitter-Nutzer*innen ihre Tweets kennzeichnen. Tweets mit dem gleichen Hashtag werden verknüpft und sind dadurch auffindbar. #twitterlehrerzimmer ist der größte, deutschsprachige Bildungshashtag auf Twitter. Die Nutzung solcher Hashtags erlaubt das gezielte Filtern von Tweets und eröffnet einen „Affinitätenraum“. Unter denjenigen Twitter-Nutzer*innen, die den Hashtag nutzen, finden sich nicht nur Lehrkräfte, sondern auch Wissenschaftler*innen, Personen aus Bildungsorganisationen, Bildungspraktiker*innen, Softwarehersteller*innen, Schüler*innen oder Politiker*innen. Auch wenn viele dieser Lehrkräfte durch ihre Vorreiter*innenrolle (Hepp 2016) als Mediencoaches oder Blogautor*innen am öffentlichen Diskurs teilnehmen, werden im Folgenden ihre Tweets nur indirekt zitiert, um ihre Anonymität zu wahren. Die Tweets wurden über die Twitter-API abgerufen und mit der Python Bibliothek tweepy gesammelt. Insgesamt wurden für die ersten Monate der Pandemie (Dezember 2019 bis Juli 2020) 131.394 Tweets und Re-Tweets gesammelt und im Frühjahr 2021 (März bis April 2021) 25.417 Tweets. Für die weitere Analyse wurden nur die Tweets von aktiven Nutzer*innen betrachtet, die in jeweiligen Analysezeiträumen der drei hier betrachteten Phasen mehr als drei Mal im „Affinitätenraum“ des #twitterlehrerzimmer entweder selbst Tweets verfasst haben oder von anderen Nutzer*innen erwähnt wurden. Es wurden nur die Tweets analysiert, die von Twitter-Nutzer*innen verfasst wurden, welche wir in einem qualitativen Verfahren als schulische Akteur*innen (Lehrkräfte, Schulleitungen, etc.) identifizieren konnten (N = 1923). Neben den Accounts der Nutzer*innen wurden auch weitere Hashtags nach Themen kategorisiert. Um die Verwendung der digitalen Technologien während der Corona-Pandemie zu erforschen, wurden die zu analysierenden Tweets auf die Themen „Bildungstechnologien“ und „digitale Bildung“, sowie #bildungabersicher, #bildungsgerechtigkeit, #schulerfolgsichern, #pädagogikvortechnik, #digitalistnichtegal, #tabletklasse, #ipadklasse eingegrenzt. Ähnliche Hashtags wurden zu Themen zusammengefasst: zum Beispiel „Bildungstechnologien“ (133 Hashtags, zum Beispiel #itslearning, #schulcloud) und „digitale Bildung“ (64 Hashtags, zum Beispiel #digitalebildung, #datenschutz, #smartschool). Wir analysieren nur die Tweets, die von Lehrkräften verfasst wurden, die Hashtags rund um „digitale Bildung“ verwenden und die stellvertretend für die drei Phasen der pandemiebedingten Schulschließungen stehen: erste Phase, vom 22. März bis 4. Mai 2020 (251 Tweets); zweite Phase, vom 7. bis 21. Juni 2020 (142 Tweets) und dritte Phase vom 8. bis 21. März 2021 (428 Tweets). Eine induktive qualitative Inhaltsanalyse der Tweets wurde unter Anwendung der Analysesoftware MaxQDA umgesetzt. Einem Tweet konnten mehrere Codes zugewiesen werden.

Der zweite Datenkorpus umfasst insgesamt fünfzehn Interviews, die mit sieben Lehrer*innen von drei DATAFIED-Projektschulen in Bremen, Hessen und Brandenburg geführt wurden. Während im ersten Erhebungszeitraum sieben Interviews durchgeführt wurden, waren es während der beiden anderen Zeiträume jeweils vier. Alle befragten Lehrer*innen und ihre Schulen nutzen bereits digitale Medien für ihren Unterricht. Sie haben diese für ihre jeweiligen Fächer bewusst ausgewählt und verfügen über Einsatzroutinen. Sie sind also im Gegensatz zu vielen anderen Lehrer*innen in Deutschland mit dem Einsatz von digitalen Medien im Unterricht vertraut; wenn auch nicht in dem Umfang, der durch die Schulschließungen notwendig wurde. In den Interviews wurden die Lehrenden leitfadengestützt nach dem von ihnen jeweils aktuell durchgeführten Unterricht befragt. Im Zentrum standen dabei Aspekte der Organisation des Unterrichts, die jeweils eingesetzte, digitale Software sowie deren Möglichkeiten und Restriktionen beim Einsatz. Diesen Fragen lag die Hypothese zugrunde, dass sich mit dem Wechsel von Präsenz- auf Distanzunterricht etwas am Verhältnis zwischen Lehrenden und Schüler*innen verändert und sich dies auch in der Nutzung der digitalen Medien zeigt. Die interviewten Lehrer*innen unterrichten verschiedene Jahrgangsstufen und Fächer – von Deutsch, über Mathematik, Englisch, Spanisch zu Sport. Die Interviewdaten wurden inhaltsanalytisch (MaxQDA) und teilweise objektiv-hermeneutisch ausgewertet, um die Spannbreite der verwendeten digitalen Medien aufzuzeigen und Einblicke in die pädagogisch-didaktischen Konzepte und deren Legitimierung zu geben.

Die Gleichzeitigkeit der Erhebungen und die Verschiedenheit der Generierung von Erkenntnissen bilden die Klammern um diese differenten Datenkorpora. Im Folgenden werden wir zeigen, wie sie sich gegenseitig erhellen können. In den Analysen zeigt sich der Spagat, der sich aus den Polen einer digitalen, nichts ortgebundenen Community und der kontext-bezogenen Sicht von Individuen ergibt. Im Folgenden werden wir die Analysen der beiden Datenkorpora nacheinander darlegen, um dann zum Abschluss eine Verbindung zu ziehen.

3 Twitter und Bildung: #twitterlehrerzimmer als Gegenstand der Forschung

In der Analyse der Tweets konnten wir über die definierten Phasen hinweg drei Themen identifizieren, die für die Kommunikation der Lehrkräfte unter dem Hashtag #twitterlehrerzimmer relevant waren. Erstens wurden die Wege und Möglichkeiten zum Aufbau der Kommunikation verhandelt, zunächst zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen und später schulübergreifend zwischen Lehrkräften. Zweitens tauschten sich die Lehrer*innen bei Twitter über die Möglichkeit des kollaborativen Arbeitens aus und entwickelten Strategien dazu. Dabei diskutierten die Lehrkräfte sowohl die notwendige Hard- und Software als auch die Ansätze zur Unterrichtsgestaltung und -durchführung. Drittens thematisieren die Nutzer*innentweets, wie vorhandene Unterrichtsmaterialien auf digitale Lernformate angepasst oder neu erstellt werden können.

3.1 Erste Phase: Unterricht als Überwindung der Distanz durch digitale Medien unter dem Hashtag #twitterlehrerzimmer

Noch vor den Osterferien 2020 – meist zum 16. März 2020 – erfolgten die ersten Schulschließungen, was alle Schulen und Lehrer*innen vor die Aufgabe stellte, Lösungen zu finden, um auf Distanz zu unterrichten. Demzufolge stand der Einsatz von digitalen Medien in dieser ersten Phase unter dem Gesichtspunkt der Distanzüberwindung. Für die erste Phase der Schulschließungen zeigen die Tweets der Twitter-Analyse, wie diese Distanzüberwindung diskutiert bzw. auf welche Medien verwiesen wurde. Die ersten Wochen der Schulschließungen wurden primär von zwei Themen geprägt: Herstellung der Kommunikation und Förderung des Zusammenhalts in den Klassen. Zunächst mussten Schulen Kommunikationskanäle außerhalb des Klassenraums aufbauen, um den Kontakt zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen zu initiieren und stabilisieren. Dabei diskutierten die Lehrkräfte sowohl über die technischen Möglichkeiten – Geräte sowie Software, wie zum Beispiel Videokonferenzsysteme – als auch über die Ansätze zum Aufbau des kollaborativen Arbeitens, wie etwa Spiele im Onlineformat. Zusätzlich stellten sich die Lehrkräfte gegenseitig Onlineressourcen vor, die die Organisation des kollaborativen Arbeitens unterstützen sollten. Außerdem tauschten sich die Lehrkräfte unter dem Hashtag #homeschooling über ihre Erfahrungen in den ersten Wochen der Schulschließungen aus.

(1) Kommunikationskanäle außerhalb des Klassenraums aufbauen

In den Tweets wird eine große Bandbreite an Kommunikationssoftware genannt, mit deren Hilfe Lehrer*innen in Kontakt zu ihren Schüler*innen treten können. So werden Skype, Jitsi, Zoom, BigBlueButton, Discord und Instagram Live genauso genannt wie MicrosoftTeams (MSTeams). Zum Aufbau der Kommunikationswege zwischen den Lehrkräften und ihren Schüler*innen kurz nach den ersten Schulschließungen in Deutschland wurden, laut unserer Analyse, sowohl die synchronen Formate wie Videokonferenzen, als auch die asynchronen Formate wie schriftlicher Austausch verwendet. Die Tweets verweisen darauf, dass einige der genannten Kommunikationssoftware bereits in die Lernmanagementsoftware der Schulen integriert war. So war beispielsweise die Plattform Moodle, die bereits vor der Pandemie zum Dateiaustausch in den Schulen verwendet wurde, oft mit Plug-ins für BigBlueButton oder Zoom ausgestattet. Auch verfügten die Lehrer*innen an ihren Schulen bereits über Software zur Kommunikation, die dann „nur“ noch für den Distanzunterricht angewendet werden musste. Die Kommunikationsfunktionen der LMS wurden in der ersten Phase der Pandemie von den Lehrkräften teilweise zum ersten Mal eingesetzt, weshalb sich ihre Twitter-Kommunikation auf Fragen und Antworten sowie Problemmeldungen begrenzte. Um jedoch die Kommunikation überhaupt aufbauen zu können, mussten zunächst die Geräte beschafft werden, was ebenfalls für Lehrkräfte auf Twitter zum Thema wurde. Diejenigen, deren Schulen beispielsweise bereits über Tabletklassen verfügten, tauschten sich über Probleme beim regelmäßigen Einsatz der Geräte aus.

(2) Über die Möglichkeit des kollaborativen Arbeitens auf Distanz

Des Weiteren wurde die Twitter-Kommunikation dadurch bestimmt, dass die Lehrkräfte sich über die Möglichkeiten des kollaborativen Arbeitens austauschten, wie etwa Aktivierungsmethoden oder Spiele für Distanzunterricht. So berichteten mehrere Lehrpersonen darüber, wie und welche Spiele sie in ihren Videokonferenzen anwenden, um die Schüler*innen in ihren Klassen für die weitere Arbeit zu aktivieren oder aufzumuntern. Im #twitterlehrerzimmer wurden Ideen und Ansätze für die Herstellung und Förderung der Kollaboration in den Klassen gesucht. Die Twitter-Analyse zeigt außerdem eine verstärkte Hinwendung zu Apps, die ihren Ursprung nicht im Bildungsbereich haben. So gaben die Lehrpersonen an, im Unterricht oder für Hausaufgaben Apps zu nutzen, die für das digitale Lernen appropriiert wurden, wie beispielsweise die sogenannten Screencaster-Apps zur Aufzeichnung eigener Bildschirminteraktionen oder soziale Medien wie YouTube, TikTok und Instagram, um Aufgaben und Materialien – zum Beispiel Videos oder Musikstücke – zu erstellen, zu kommunizieren oder zu bearbeiten.

(3) Zurverfügungstellen von Materialien, die für Distanzunterricht geeignet sind

Nachdem Kommunikationskanäle für den Distanzunterricht an den Schulen aufgebaut wurden, tauschten sich die Twitter-Nutzer*innen nun über Lernmaterialien für den Distanzunterricht aus. Manche Twitter-Nutzer*innen wiesen darauf hin, dass die Vermittlung der Lerninhalte auf Distanz anders als in Präsenz stattfinden solle. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, tauschten die Lehrkräfte unter dem Hashtag #twitterlehrerzimmer diverse digitale Ressourcen oder Sammlungen solcher aus. Dabei stellten sich die Nutzer*innen die Ressourcen und deren Sammlungen in Form von Listen sowohl für unterschiedliche Fächer als auch fachunabhängig – mit Auflistung weiterer Software oder Ansätze zur Durchführung des Distanzunterrichts – gegenseitig zur Verfügung. Außerdem betrachteten die Lehrpersonen soziale Medien, zum Beispiel YouTube, als Möglichkeit, mit ihren Lernmaterialien und Aufgaben gleich mehrere Schüler*innen zu erreichen. Beispielsweise berichteten mehrere Lehrpersonen davon, wie sie die von ihnen selbst erstellen Erklärvideos oder Podcasts mit ihren Schüler*innen über soziale Medien teilten.

3.2 Zweite Phase: Aushandlung der Strategien zur Durchführung des Hybridunterrichts im „Affinitätenraum“ #twitterlehrerzimmer

Insgesamt wurde die Kommunikation unter dem Hashtag #twitterlehrerzimmer in der zweiten Phase (Juni 2020) vom Meinungsaustausch zwischen den Lehrkräften bestimmt. Dabei wurden die Wochen kurz vor den Sommerferien durch Aushandlungen und Strategiefindung in Bezug auf mehrere Themen geprägt. Zum einen teilten die Lehrkräfte ihre Erfahrungen über zahlreiche Veranstaltungen mit, an denen sie teilgenommen hatten und die als Reaktion auf die Herausforderungen der Pandemie in den Monaten zwischen April und Juli organisiert wurden. Mithilfe dieser Veranstaltungen sollten schul- und bundeslandübergreifende Kommunikationskanäle zwischen Lehrkräften hergestellt und gemeinsame Strategien zur Durchführung des Hybridunterrichts ausgearbeitet werden. Zum anderen diskutierten die Lehrkräfte in der zweiten Phase darüber, wie das kollaborative Arbeiten, das in der ersten Phase thematisch wurde, täglich ausgestaltet werden soll. Die Analyse zeigt zudem, dass im Vergleich zur ersten Phase die Erstellung und das Zurverfügungstellen der Lernmaterialien in der Twitter-Kommunikation an Bedeutung verloren haben.

(1) Schulübergreifende Kommunikation und Austausch aufbauen

Die auf Twitter unter dem Hashtag #twitterlehrerzimmer aktiven Lehrkräfte berichteten in der zweiten Phase von Veranstaltungen zu den Themen der digitalen Bildung, wie beispielsweise das Forum Digitalität 2020 und diverse Barcamps, die sowohl innerhalb des Forums als auch außerhalb dieses stattfanden. Ihrer Rolle als Vorreiter*innen der digitalen Bildung entsprechend, nahmen die #twitterlehrerzimmer-Nutzer*innen daran mit eigenen Beiträgen teil oder informierten ihre jeweiligen Kollegien über anstehende und vergangene Veranstaltungen sowie ihre Erkenntnisse daraus. Insgesamt wurde in den Veranstaltungen und in der Twitter-Kommunikation nach Strategien des Umgangs mit den pandemiebedingten Herausforderungen gesucht, weshalb auch politische Meinungsäußerungen und Forderungen einen wichtigen Teil der zweiten Phase bilden. Beispielsweise äußerten die Nutzer*innen bundeslandspezifische und -übergreifende Forderungen nach politischem Handeln, wie etwa nach mehr Fortbildungen, nach einem grundsätzlichen Wandel hin zu einer „Kultur der Digitalität“ (Stalder 2017) und zur Umverteilung der finanziellen Mittel im Rahmen des DigitalPakts Schule zur Bereitstellung von Geldern für bestimmte Softwareprodukte in Schulen in Großbritannien und den USA ( z. B. Williamson et al. 2020).

(2) Strategien des kollaborativen Arbeitens auf Distanz

In der zweiten Phase der Pandemie, in der hybride Ansätze des Unterrichtens umgesetzt wurden, stand bei der Twitter-Kommunikation im Fokus, wie das individuelle Lernen an die Gegebenheiten eines Distanzunterrichts angepasst werden könnte. Ein Beispiel dafür sind die Kommunikations- und Kollaborationsmöglichkeiten, die Produkte von Microsoft Office bieten und die – nach den Tweets zu urteilen – in den Schulen am Anfang der Corona-Pandemie aktiv eingesetzt wurden. Neben den Videokonferenzen über MSTeams wird im #twitterlehrerzimmer auch über das gemeinsame Bearbeiten von Dokumenten mit verschiedenen Microsoft Office Anwendungen diskutiert. Microsoft Office Produkte wie MSTeams stellen ein illustratives Beispiel einer Software dar, welche für andere Märkte als Bildung entworfen, mit dem Distanzunterricht jedoch zunehmend in Schulen genutzt wurden. Dabei standen Problemlösungen und Hilfegesuche bei der Nutzung von MSTeams im Vordergrund dieser Twitter-Kommunikation.

Wenn in der ersten Pandemiephase die Anwendung der Lernmanagementsysteme durch die Nutzung von eingebetteten Plugins für Videokonferenzsoftware in der Twitter-Kommunikation gekennzeichnet wurde, so diskutierten die Lehrkräfte in der zweiten Pandemiephase über ihre Contentmanagementfunktionen. Außerdem zeigt sich, dass Lehrpersonen vor allem Erfahrungsberichte zur Nutzung von Apple-Geräten miteinander teilen. Sowohl bei Produkten von Apple als auch von anderen Herstellern stehen dabei die Besonderheiten und Probleme bei der Nutzung von Tablets im Vordergrund.

(3) Gestaltung und Verwendung von Lernmaterialien und Ansätzen, die für Distanzunterricht geeignet sind

Neben den Erklärvideos wurden neue Möglichkeiten zur Erstellung von Arbeitsblättern gesucht. So baten mehrere Lehrpersonen über #twitterlehrerzimmer um Rat, wie Arbeitsblätter interaktiv gestaltet werden könnten. Die bereits erstellten und gegebenenfalls erprobten Arbeitsblätter wurden dann mit den Kolleg*innen im #twitterlehrerzimmer in Form von Vorlagen geteilt.

3.3 Dritte Phase: Vom Distanz- zum Hybridunterricht: Diskussionen über Strategien im #twitterlehrerzimmer

Ein Jahr nach den ersten Schulschließungen, im März 2021, wurden in der Öffentlichkeit sowie im „Affinitätenraum“ #twitterlehrerzimmer Diskussionen über Schulöffnungen geführt. Damit wurden die Lehrenden vor die Herausforderung gestellt, nach der Distanzüberwindung der vorherigen Monate nun die Beispiele guter Praxis aus dem Distanzunterricht auf den Präsenzunterricht zu übertragen und dies nachhaltig für eine Weiternutzung zu sichern.

(1) Kommunikationsstrategien für Distanz-, Hybrid- und Präsenzunterricht entwickeln

Während der ersten Schulschließungen wurden Lehrende mit der Herausforderung konfrontiert, Kommunikation mit ihren Schüler*innen und Kolleg*innen aufzubauen. Ein Jahr später ist es nicht mehr nur der Distanzunterricht, sondern es sind unterschiedliche Formen von Hybrid- und Präsenzunterricht, die die Lehrenden organisieren und durchführen müssen. Hierfür wurden im „Affinitätenraum“ #twitterlehrerzimmer passende Fortbildungen beworben, wovon einige über soziale Medien wie etwa TikTok stattfanden. Auch Möglichkeiten der Kommunikation mit weiteren Akteur*innen wie Schulleitungen und Eltern sowie Erziehungsberechtigten wurden diskutiert, wie etwa über Moodle. Des Weiteren waren die unterschiedlichen Videokonferenzsysteme (Jitsi-Meet, MSTeams, BigBlueButton) auch im März 2021 ein Bestandteil der Kommunikationsstrategien für alle schulischen Zwecke. In der dritten Phase gab es zudem regen überschulischen Austausch zwischen den Lehrkräften auch außerhalb von Twitter. Besonders unter dem Hashtag #digiatschool wurde dieser Austausch in den „Affinitätenraum“ #twitterlehrerzimmer hineingetragen, Erfahrungen geteilt und Diskussionen angeregt. Die betreffende Veranstaltung konzentrierte sich dabei in mehreren Vorträgen besonders auf Themen zur digitalen Schulentwicklung und der konkreten Umsetzung vor Ort, was sich in den Tweets widerspiegelte. Daneben fanden auch einige barcamps und Weiterbildungen zur Verwendung von LMS, zu digitalen Lernformaten sowie zur Gestaltung von Hybridunterricht statt, an denen Nutzer*innen aus dem Affinitätsraum nicht nur als Teilnehmer*innen, sondern auch als Gestalter*innen aktiv waren.

(2) Kollaboratives Arbeiten im Hybridunterricht organisieren und Ergebnisse nachhaltig sichern

In der dritten Phase im Frühjahr 2021 haben die #twitterlehrerzimmer-Nutzer*innen die Schulöffnungen und den damit einhergehenden Hybridunterricht diskutiert. So waren Fragen zentral, wie kollaboratives Arbeiten im Hybridunterricht und hybriden Schulalltag organisiert und dessen Ergebnisse nachhaltig gesichert werden können. Einen großen Teil der Antworten auf diese Fragen beschäftigten sich mit der – für den Zeitpunkt neuen – Datenbank-Funktion von Moodle. Diese wurde von den Lehrenden für gemeinsame Arbeiten unter den Kolleg*innen verwendet. Wie der Unterricht und die dafür gewählten Kommunikationsstrategien nachhaltig gesichert werden können, war ein weiteres Diskussionsthema im #twitterlehrerzimmer. Fragen nach der Ergebnissicherung wurden so auch zur Anwendung von MS-OneNote oder MS-PowerPoint aufgeworfen. Diese Software wurde hauptsächlich für Kollaboration im Unterricht verwendet. Jedoch diskutierten die Nutzer*innen dabei erneut die datenschutzrelevanten Voraussetzungen für die Verwendung von Microsoft Office-Produkten und kritisierten die Vielfalt an unterschiedlichen Vorgaben dazu.

(3) Software für Unterrichtsinhalte

Während in den ersten zwei Phasen die Lehrenden mit der Zurverfügungstellung und Gestaltung der Lernmaterialien beschäftigt waren, so tauschten sich im Frühjahr 2021 #twitterlehrerzimmer-Nutzer*innen detailliert über Funktionsweisen unterschiedlicher Software aus, die sie im Unterricht zur Vermittlung oder Veranschaulichung der Inhalte einsetzten. Dabei kam nicht nur Software wie Padlet oder Anton zur Sprache, sondern auch Anwendungen für virtuelle Realitäten, Text-Konverter, Grafiksoftware und Software zum kreativen Schreiben sowie für die Textgestaltung. Außerdem haben auch die Hersteller von Lernmanagementsystemen wie zum Beispiel Moodle ihre Funktionalitäten weiter ausgebaut, um Lehrenden mehr Raum zur Gestaltung der Unterrichtsaufgaben zu ermöglichen. Im „Affinitätenraum“ #twitterlehrerzimmer lag der Fokus der Nutzer*innen insbesondere auf Funktionen, die interaktive Handlungen ermöglichen – zum Beispiel bei Moodle und MS-PowerPoint. Insgesamt konnten wir jedoch für die dritte Phase feststellen, dass die Diskussionen über Unterrichtsinhalte und Lernsoftware an Relevanz gegenüber den kollaborativen Funktionen der Lernmanagementsysteme verloren haben. Besonders in der dritten Phase konnten wir einige Twitter spezifische Aktivitäten feststellen. So hat ein einziger Account knapp 20 Prozent aller Tweets während des Zeitraums der dritten Phase verfasst, von denen wiederum fast die Hälfte aus wiederkehrendem (kommerziellen) Inhalt bestand.

4 Interviewanalysen und die drei Phasen des Distanzunterrichts

Dazu in Kontrast stehen die fünfzehn Interviews, die wir mit sieben Lehrer*innen an drei Projektschulen in Bremen, Hessen und in Brandenburg über den Zeitraum der drei Phasen hinweg geführt haben. Innerhalb des Verbundprojektes bilden die Onlineinterviews einen zusätzlichen Datenkorpus, der zunächst nur dazu dienen sollte, den Kontakt zu den Projektschulen aufrecht zu erhalten. Im Zuge der Pandemie entwickelten sich die Interviews zu einer eigenen Art von Protokoll, in dem die Lehrer*innen darüber Auskunft gaben, was an den Schulen jeweils geschah und wie sie ihr jeweiliges Handeln legitimierten (Hoffmann 2020). Die Interviews wurden zudem mit dem Vorsatz geführt zu erfahren, welche Software Lehrende jeweils einsetzen und inwieweit sie neue Produkte ausprobierten. Dabei war zunächst überraschend, dass an keiner der drei Projektschulen tatsächlich neue Softwareprodukte lizensiert wurden, jedoch einige vorhandene Lizenzen nun überhaupt erstmalig zum Einsatz kamen.

Die Klassifizierung der Software nach Schmidt (2020) dient als Heuristik für die Identifikation jener Funktionen und digitalen Lösungen, die die Lehrer*innen für die Initialisierung und Aufrechterhaltung von Unterricht nennen. Im Vordergrund stand die Frage, welche Fragen und Probleme sich für die Lehrenden zu den drei Zeitpunkten verdichtend stellten, ob sie diese mit Hilfe von Software versuchten zu beantworten und wie sie den Einsatz von Software legitimierten. Im Folgenden stellen wir die Ergebnisse entlang der drei Phasen dar.

4.1 Erste Phase: (Re)Installation von Unterricht

Die Interviews der ersten Phase fanden ca. zehn Tage nach den ersten Schulschließungen Ende März, Anfang April 2020 statt, das heißt, zu einem Zeitpunkt, als die Schulschließungen noch nicht einmal zwei Wochen zurücklagen, die Osterferien vor der Tür standen und nicht zu erahnen war, dass die Pandemie das ganze Jahr und darüber hinaus andauern würde. Demzufolge sind die Interviews auch Zeugnisse, wie an den Schulen Hard- und Software in Gang gesetzt wurden, um überhaupt einen Distanzunterricht zu ermöglichen. Sie geben darüber Auskunft, wie unvorstellbar es zu dem Zeitpunkt war, dass die Pandemiebedingungen sich über einen so langen Zeitraum erstrecken würden.

Aus den sieben Interviews der ersten Phase wird ersichtlich, dass an den drei Projektschulen – im Folgenden S1, S2 und S3 – dasselbe Prinzip eines (Wochen-)Unterrichts installiert wurde, das aus zwei Schritten bestand. Zunächst wurden Aufgaben – meist zu Beginn der Woche – von den Lehrer*innen bereitgestellt, die von den Schüler*innen innerhalb einer bestimmten Frist bearbeitet werden sollten. In einem zweiten Schritt und nach Ablauf der Frist – meist zum Ende der Woche – stellten die Lehrer*innen die Lösungen zu den Aufgaben zur Verfügung, sodass die Schüler*innen selbstständig ihre Bearbeitung überprüfen sollten. In dieser Abfolge wurde pädagogisches Handeln (Gruschka 2013) auf das Bereitstellen von Aufgaben und Lösungen reduziert, wodurch die Vermittlungsbemühungen der Lehrer*innen allein an die didaktisierten Gegenstände, deren Aufgaben etc. delegiert wurden und darin aufgehen mussten. Unterrichten als Handlung der Lehrer*innen fand daher nahezu nicht statt oder wurde allein als digitale Bereitstellung von Arbeitsaufträgen umgesetzt, die von den Schüler*innen von der digitalen Plattform oder per E-Mail abgerufen und bearbeitet werden mussten (Jornitz und Mayer 2021; Mayer und Jornitz 2022). In dieser Konzeption eines fortgeführten Unterrichts erhielten die Lehrer*innen keinen Eindruck von den Aneignungsbemühungen ihrer Schüler*innen (Pollmanns 2019) hinsichtlich des jeweiligen Schulstoffes, da keine Rückmeldungswege etabliert waren. Sie konnten nicht sehen, wie oder gar ob die Aufgaben bearbeitet wurden, da selbst die Schüler*innenarbeiten nicht von ihnen eingesammelt wurden, sondern die Schüler*innen aufgefordert waren, diese mit Hilfe der zeitlich später zur Verfügung gestellten Aufgabenlösungen zu kontrollieren und gegebenenfalls zu korrigieren (z. B. Mayer und Jornitz 2022).

Die für eine solche Konzeption von Unterricht auf Distanz notwendige Software musste demzufolge hauptsächlich die Funktionsbereiche der Kommunikation und des Contentmanagements, das heißt, die Bereitstellung von Unterrichtsmaterial ermöglichen. In allen drei Schulen wurde den Schüler*innen auf diese Art Aufgaben und Lösungen bereitgestellt. Welche Software jedoch verwendet und wie verpflichtend das Konzept umgesetzt wurde, unterschied sich von Schule zu Schule. So hatte die Schulleitung in S3 den WebUntis-Messenger für die Nutzung des Distanzunterrichts vorgeschrieben. Das heißt, Lehrer*innen schickten über den Messenger die zu bearbeitenden Aufgaben an die Schüler*innen und lieferten ca. eine Woche später die Lösungen zu den Aufgaben, die von den Schüler*innen dann zur Selbstkontrolle genutzt werden sollten. Des Weiteren war seitens der Schulleitung vorgesehen, dass alle Lehrer*innen einmal in der Woche zu einer bestimmten Zeit eine Stunde für Rückfragen der Schüler*innen via WebUntis zur Verfügung standen. Dabei bekräftigte ein Lehrer der S3 die Selbstdarstellung von WebUntis als „sichere Alternative zu WhatsApp“,Footnote 2 indem er den Messenger als „[…] sieht aus wie WhatsApp“ (OI_010420_S3/L2, Z. 124) beschreibt. Die Schule löst sich unter einer solchen Handlungsweise in die jeweiligen Einzelaktivitäten der Lehrenden auf. Sie wenden sich mit einer Nachricht an die Klasse; die Nachricht kommt als Einzelnachricht bei der Schülerin, bei jedem Schüler an. Das heißt, auf der Schülerebene gibt es keine Klasse mehr.

In den Schulen S1 und S2 existierten dagegen bereits vor den Schulschließungen LMS. Es handelt sich zum einen um die Software itslearning in S1 und die HPI Schul-Cloud in S2. Beide Systeme enthalten die nach Schulmeister (2005, S. 11–12, 55) explizierten Kriterien eines LMS. Somit verfügen die beiden Schulen mit dem LMS über einen digitalen Ort, der die Schule repräsentiert. In S2 wurde berichtet, dass in den ersten Tagen der Schulschließungen die HPI Schul-Cloud äußerst instabil und für die Lehrer*innen nicht zu erreichen war: „Ja, läuft im Moment gar nichts mehr“ (OI_010420_S2/L2 Z. 39). Zu Beginn musste daher auf andere Software oder Apps ausgewichen werden, die die Lehrer*innen sich selbst suchten, da es keine Vorgabe durch die Schulleitungen gab. L1 aus S2 stellte beispielsweise Materialien, das heißt, Aufgaben und selbst produzierte Lehrvideos auf seiner eigenen Webseite bereit, was er folgendermaßen begründete: „ich kann ja mit meiner website das gleiche machen, was die Cloud auch macht, eigentlich noch mehr“ (OI_010420_S2/L1 Z. 234–235). Allerdings musste er auf die Rückmeldefunktion verzichten, die er nicht auf seiner Webseite implementieren konnte. So griff er als Lösung auf seine private E-Mail zurück und korrespondierte darüber mit den Schüler*innen. L2 derselben Schule organisierte die Verteilung ihrer Aufgaben zum einen über WhatsApp, indem sie diese an ein oder zwei Schüler*innen leitete, die dann wiederum die Aufgaben an die Klasse weiterzuleiten hatten, und zum anderen nutzte sie die Schulhomepage. Auf dieser wurde nach Aufforderung der Schulleitung eine spezielle Einzelseite eingerichtet, auf der die jeweiligen Aufgaben und Lösungen klassenspezifisch bereitgestellt werden konnten. Nachdem die HPI Schul-Cloud stabil lief, nutzte L2 diese und stellte dort alle Aufgaben sowie Lösungen bereit. Da S1 bereits seit langem itslearning implementiert hat, wurde es von L1 zur Bereitstellung von Dokumenten und Aufgaben genutzt, allerdings weniger in seiner Chat-Funktion, die nach L1 von nicht sehr vielen Schüler*innen genutzt wurde. Daher fehlte L1 der Überblick über das, was von den Schüler*innen tatsächlich bearbeitet wurde. Dies lag unter anderem daran, dass L1 häufig zu Aufgaben auf anderen Plattformen, wie realmath oder Anton verlinkte, deren Bearbeitung in einem geschlossenen System erfolgt – zum Beispiel in Anton – und keine individuelle Rückmeldung an L1 oder itslearning erforderte. Hierdurch entstand für L1 das Problem: „Aber ich hab jetzt {lauter} keinen Gesamtüberblick“ (OI_270320_S1/L1, Z. 31–32). Nach seinem Verständnis von Unterricht braucht er diesen jedoch und das Fehlen des Gesamtüberblicks macht ihn regelrecht handlungsunfähig (OI_270320_S1/L1, Z. 2).

Es kann zusammenfassend festgehalten werden, dass selbst wenn an S1 und S2 Lernmanagementsysteme zum Einsatz kamen, die drei interviewten Lehrer*innen entweder auf andere Lösungen auswichen oder die LMS nur als Contentmanagementsysteme nutzten. Lernpfade mit einem strukturierten Aufgabenablauf, wie sie die Systeme ermöglichen, wurden nicht erstellt. Die individuellen Lösungen an S2 führten darüber hinaus bei den Lehrer*innen zu einer wahrgenommenen Mehrbelastung an Arbeit, da zum einen Material selbst erstellt wurde, wie zum Beispiel Lehrvideos – „Ähm ich muss aber sagen, der Aufwand ist gigantisch.“ OI_010420_S2/L1, Z. 90–91) – und zum anderen durch den Zerfall der Klasse in Individuen, sodass nun per Mail an jede*r Schüler*in eine individuelle Rückmeldung erteilt wurde. Wir hatten es in den Interviews so mit drei verschiedenen Typen von Lehrer*innen zu tun; während der Lehrer aus S1 darunter litt und selbst keine digitale Lösung hatte, wie er Rückmeldungen von den Schüler*innen zu seinen Aufgaben erhalten konnte, nahm L1 aus S2 es als eine Potenzierung von Arbeitsaufwand wahr, weil er nun jedem einzelnen Schüler und jeder einzelnen Schülerin eine individuelle Rückmeldung zu den Aufgaben zu geben versuchte. Diese Mehrbelastung versuchte L2 an S2 sofort zu umgehen, indem sie nur allgemeingehaltene Rückmeldungen im Sinne des Zur-Kenntnis-Nehmens an die Schüler*innen gab – zu dem Preis, dass sie dieses Handeln nicht mehr als Unterricht bezeichnen wollte (Jornitz und Mayer 2021).( 2022/).

Anders stellte sich die Situation an der dritten Schule S3 dar, da die Schulleitung eine für alle gültige Handlungsanweisung gab. Diese Vorgabe kann als Entlastung der Lehrer*innen betrachtet werden, indem zum einen der Arbeitsaufwand durch individuelle Rückmeldungen per E-Mail reduziert (OI_010420_S3/L1, Z. 116–118) und zum anderen die Effizienz durch reine Funktionalität der digitalen Schullösung (OI_010420_S3/L3, Z. 62–63) gesteigert wurde. Ebenfalls wurde damit die Nutzung von bestimmter Software vorgegeben, sodass kein*e Lehrer*in eigenständig Lösungen finden musste. Es entfielen somit auch andere digitale Lösungen zur Kollaboration und Kommunikation, wie zum Beispiel webconferencing-Tools wie Jitsi, Zoom oder MSTeams. In S3 wurde zwar Letzteres genutzt, aber nur innerhalb des Kollegiums als eine Art „virtuelles Lehrerzimmer“ (OI_010420_S3/L2, Z. 476), da die Software – sowie alle Microsoft-Produkte – in S3 wegen Datenschutzbedenken auf Schulträgerebene nicht für den Unterricht genutzt werden durfte, sodass ihnen nur die Möglichkeit blieb, das Unterrichten auf das Bereitstellen von Aufgaben und Dokumenten zu reduzieren. Dass hier auch die Korrektur oder individuelle Rückmeldung an die Schüler*innen, die ja über WebUntis möglich gewesen wäre, auch unterbleiben sollte, wird von den interviewten Lehrer*innen als Vermeidung von Belastungen auf ihrer Seiten gedeutet – und damit als ein klares Entgegenkommen der Schulleitung, die sich in dieser außergewöhnlichen Situation der Pandemie um die Lehrer*innen kümmert.

Aber auch an den Schulen S1 und S2, deren Schulleitungen kein Gesamtkonzept zum Unterricht für diese Phase der Schulschließungen vorgaben und somit auch den Einsatz von webconferencing-Software nicht verboten, berichtete keiner der interviewten Lehrer*innen davon, über solche Software versucht zu haben, digital zu unterrichten. An S1 und S2 wurde zwar von den Lehrer*innen webconferencing-Software für Treffen mit Schüler*innen im digitalen Raum verwendet, aber allein, um in einen sozialen Kontakt mit ihnen zu treten und Formalia der Bearbeitung zu klären. Diese Software wurde also ähnlich einer Klassenlehrer*innenstunde oder als Möglichkeit zum Austausch im Sinne eines Kommunikationstools mit Videofunktion genutzt (OI_010420_S2/L2,Z. 132–133). Gerade hier verwendete L2 von S2 eine Vielzahl von Software. Dies lag vor allem daran, dass sie schon vor den Schulschließungen mit diverser Lernsoftware wie zum Beispiel mit Padlet oder Edmondo oder im Falle von L1 aus S1 mit realmath und Anton gearbeitet hatten (Mayer und Jornitz 2022).

In allen drei Schulen wurde demzufolge versucht, die Distanz mit unterschiedlicher Software zu überwinden. Dabei stand stets im Vordergrund, wie ein bestimmter „content“ im Sinne von Aufgaben zu den Schüler*innen kommt. Alle Lösungen wurden zur Übermittlung von Aufträgen, Aufgaben und Lösungen verwendet, auch wenn mit den LMS beispielsweise anderes möglich gewesen wäre. In dieser Phase bestimmte daher die (Re)Installation von Unterricht das Handeln der Lehrer*innen, allerdings in einer sehr reduzierten Form eben auf die Erteilung von Arbeitsaufträgen fokussiert und damit das Unterrichten als Lehren vermeidend. Das Erteilen von Arbeitsaufträgen wurde aber gegensätzlich zur technisch vorgesehen Funktion gerade nicht über die vorhandenen Contentmanagementsysteme wie HPI-Schul-Cloud oder itslearning vollzogen, sondern über Kommunikationssoftware, wie WebUntis, WhatsApp oder E-Mail. Bei allen interviewten Lehrer*innen spielte fachspezifische Lernsoftware nahezu keine Rolle. Nur ein Lehrer nutzte Anton für Mathematikaufgaben. Viele von ihnen gaben hierzu in den Interviews an, dass sie die jeweilige Situation der Schüler*innen zu Hause nicht kennen, sodass sie nicht davon ausgehen können, ob jedem*jeder Schüler*in tatsächlich ein Computer und ein ausreichender Internetzugang zur Verfügung stehe.

Wie aktiv sich jedoch auch die Schüler*innen in dieser ersten Phase der coronabedingten Schulschließungen in den Prozess einbrachten, davon berichtete L2 von S2 in ihrem Interview. An S2 haben sich Schüler*innen zusammengetan und via der Kommunikationsplattform Discord Aufgaben und Lösungen verteilt und kollaborierendes Arbeiten sowie gegenseitige Hilfestellungen ermöglicht. Dies geschah ohne Einflussnahme der Schulleitung oder der Lehrer*innen.

4.2 Zweite Phase: Stabilisierung der Praktiken des Unterrichts auf Distanz durch einheitliche Strukturen

Vor den Sommerferien – Ende Juni und Anfang Juli – 2020 konnten dann weitere drei Interviews mit Lehrer*innen aus zwei Projektschulen (S2 und S3) geführt werden. In einem Bundesland hatten die Sommerferien gerade begonnen, in dem anderen standen diese kurz bevor. Diese zweite Phase des Unterrichtens auf Distanz war von unterschiedlichen Lösungsansätzen geprägt. Auf der einen Seite fand Präsenzunterricht für jene Schüler*innen statt, die kurz vor einem Schulabschluss standen. Zum anderen wurden alle anderen Klassen weiterhin auf Distanz unterrichtet. Bei beiden Varianten wurde ein Fokus auf die Hauptfächer gelegt, das heißt, nur in diesen fand entweder eine Präsenzbeschulung statt oder für den Distanzunterricht wurde hauptsächlich auf Aufgaben aus den Hauptfächern zurückgegriffen. Zwar sollten alle Lehrkräfte Aufgaben und Lösungen bereitstellen, womit alle Fächer, inklusive der Nebenfächer, vertreten gewesen wären, faktisch wurde dies nicht umgesetzt. Damit setzte sich etwas fort, was schon bei den ersten Schulschließungen immer wieder in den Interviews angedeutet wurde: Es wurden nicht alle Fächer weiter unterrichtet. Nach den Osterferien 2020 wurde zunächst die Beschulung geteilter Klassen durchgeführt, doch positive Coronainfektionsbefunde führten zu Quarantänemaßnahmen ganzer Klassen und die steigenden Infektionszahlen schürten die Angst, dass der Präsenzunterricht so schnell nicht wieder eingerichtet werden könne. Zwar hielten die jeweiligen Bundesländer an der Vorstellung fest, dass spätestens nach den Sommerferien wieder in Präsenz unterrichtet werden sollte, die Lehrkräfte hingegen gingen davon aus, „dass [sie] parallel planen müssen“ (OI_010420_S3/L3, Z. 45), das heißt, sowohl für einen Präsenzunterricht als auch für den Unterricht auf Distanz. Damit zeichnete sich diese Phase vor den Sommerferien durch eine große Unsicherheit aus, unter welchen Bedingungen Schule weitergehen würde.

Wie gingen nun die Lehrkräfte in den Projektschulen mit der unterrichtlichen Situation auf Distanz um? Konnten sie Erfahrungen der ersten Phase nutzen und mit Hilfe von digitalen Tools und neuen Unterrichtsideen und -konzepten zum Distanzunterricht Unterricht aufrechterhalten? Während in der ersten Phase Lehrkräfte in S1 und S2 eigenständig für die Errichtung von Distanzunterricht verantwortlich waren, gab es in S3 ein klares Konzept, das von der Schulleitung vorgegeben wurde und verpflichtend für alle Lehrkräfte galt. Damit wurde in S3 eine Struktur geschaffen, die die Kommunikation mit den Schüler*innen sowie die Bereitstellung von Aufgaben und Lösungen schulintern vereinheitlichte. Um an S2 ebenfalls die Bereitstellung von Aufgaben und deren Lösungen zu vereinheitlichen, organisierte die Schulleitung den Zugang der Schule zur HPI Schul-Cloud. Damit stand S2 nun, ähnlich wie S1, ein LMS zur Verfügung, über das Content verwaltet, bereitgestellt und verteilt werden konnte. Dies war zwar schon in der ersten Phase der Fall, allerdings war der Einsatz der Schul-Cloud für die Lehrkräfte der Schule noch nicht verpflichtend und viele nutzten sie für ihren Unterricht nicht. Dies hatte unter anderem mit Stabilitätsproblemen der Cloud zu tun. Mit Behebung der Stabilitätsprobleme – „[…] ähm die Schulcloud funktioniert inzwischen. Auch zuverlässig“ (OI_220620_S2/L1, Z. 54) – wurde die Nutzung der Cloud für alle Lehrkräfte an S2 verpflichtend. L2 schildert dies so: „Also das ähm verpflichtend, also flächendeckend hat es ähm nach den Osterferien stattgefunden. Ähm da war wirklich die Ansage, dass jeder Kollege jeglichen Unterricht durch die Cloud bitte machen sollte“ (OI_220620_S2/L2, Z. 43–45). Die „Ansage“ erfolgte durch die Schulleitung, die damit die Struktur, d. h. die Plattformen für den Unterricht vereinheitlichen wollte. Durch eine weitere Formulierung von L2 wird allerdings deutlich, dass nicht alle Lehrkräfte der Aufforderung Folge leisteten und auch die Cloud eine gewisse Limitierung bei bestimmten Inhalten hatte. So zum Beispiel bei Lehrvideos, bei denen „dann […] plötzlich das Bild weg [war] und der Ton ging weiter“ (OI_220620_S2/L1, Z. 54, Z. 56–57) sowie wenn eine Lehrkraft bereits „mit ner anderen Plattform […] gearbeitet hat, sprich, wenn man eine Padlet oder irgendwas noch äh organisiert ist, da, da konnte man das ja trotzdem durch die Cloud immer verlinken“ (OI_220620_S2/L2, Z. 43–45, Z. 46–48).

Diese Form der Standardisierung von Software für den Unterricht musste in S3 nicht mehr erfolgen. Hier gab die Schulleitung bereits ein Konzept vor, das vor allem auf den Einsatz des WebUntis-Messengers ausgerichtet war. Dies gab auch Raum, andere Software für den Unterricht zu nutzen bzw. auszuprobieren, die noch mehr Möglichkeiten für den Distanzunterricht boten, als das reine „asynchrone Lernen“ (OI_010720_S3/L3, Z. 68). So entschied sich die Schulkonferenz in S3 (OI_010720_S3/L3, Z. 131 ff.) beispielsweise für den Einsatz von Microsoft 365, sodass das Programm OneNote als digitales Klassenbuch genutzt werden „und die Videokonferenz über [Teams]“ (OI_010720_S3/L2, Z. 704) erfolgen konnte. Pläne, S3 ebenfalls mit der HPI Schul-Cloud zu versorgen, wurden damit vorerst auf Eis gelegt, da dies zunächst nicht als nötig erachtet wurde. S3 führte in dieser Phase ein, den Unterricht auf Distanz an die Präsenzzeiten des regulären Unterrichts zu koppeln. Das heißt, Unterricht erfolgte in S3 nun zum Teil als Videokonferenz (OI_010720_S3/L2, Z. 656 ff), während an S2 die Bearbeitungs- und Bereitstellungszeiten von Aufgaben an den Stundenplan des jeweiligen Faches angepasst wurden (OI_220620_S2/L2, Z. 111 ff.).

Mit den durch die Schulleitung vorgegebenen Konzepten richtete sich die Aufmerksamkeit an allen drei Schulen mit der Zeit immer stärker auf die Überführung bestehender didaktischer Konzepte auf das digitale Medium. Hierzu erfolgte sowohl in S2 als auch in S3 Unterricht via Videokonferenzsoftware. In S2 wurde beispielsweise BigBlueButton genutzt, das in die HPI Schul-Cloud integriert wurde. Ein Lehrer hob hervor, dass so nun Abstimmungen in der Klasse online direkt durchgeführt werden könnten (OI_220620_S2/L1, Z. 81–101) und „noch Potenzial“ haben (OI_220620_S2/L2, Z. 512–513). Dennoch stellten die Lehrer*innen in den Interviews immer wieder fest, dass sich die pädagogische Praxis nicht so einfach auf das Digitale übertragen lasse. Gerade dann, wenn eine Form des eigenständigen Durchführens bestimmter Tätigkeiten, wie zum Beispiel das Experimentieren im Physikunterricht, als didaktisches Konzept in der Klasse verankert ist und zum Lehrkonzept der Lehrkraft gehört, dann scheitere dies nach Auskunft von L1 am Medium. Zwar könne man Videos und/oder Lehrfilme über die Cloud oder Youtube anbieten und damit einen zumindest theoretischen Zugang legen, aber mit nur der theoretischen Vermittlung sei es nicht getan. L1 formuliert dies in Form eines Vergleiches:

„Man [kann] Kraulschwimmen theoretisch auch v- vermitteln. […] Welche Techniken notwendig sind, wie man die Hand hält, wann man zieht und wann man schiebt, ja? (.) So. Aber (.) davon können sie immer noch nicht schwimmen“ (OI_220620_S2/L1, Z. 429–432). Die Aussage von L1 zeigt auf, dass bestimmte didaktische Vorstellungen und hier konkret das tatsächliche Ausführen von Experimenten nicht in das Digitale übertragen werden könne. Dies gilt in Konsequenz auch für die Rückmeldungen bezüglich abgegebener Aufgaben. Denn erst in der Rückmeldung und in der Auseinandersetzung mit der Lehrkraft wird den Schüler*innen deutlich, was sie bereits können und was noch nicht verstanden wurde (Jornitz 2019; Pollmanns et al. 2022/i. E.). Für die Lehrenden vergrößert die Distanz zu den Schüler*innen trotz oder gerade wegen des Einsatzes digitaler Software den Arbeitsaufwand, auch wenn es nun eine einheitliche Software für die Schule gibt. L1 moniert:

„Weil ich je- weil ich jedem, jedem Schüler ja immer ein Einzelfeedback geben muss. Das ist zwar in der Cloud … geht das ganz gut. Aber trotzdem muss ich dann drauf, auf Feedback, auf den Schüler, dann muss ich das eingeben und dann muss ich das speichern. So, [und dann muss] ich auf den nächsten gehen“ (OI_220620_S2/L1, Z. 112–116). L2 drückt dies folgendermaßen aus: „[Bloß] die Problematik, dass es manchmal mit dem Feedback Geben auch gar nicht richtig funktioniert, […] {lacht} [irgend]wie hat man das Gefühl, man schickt es so ins Leere weiter“ (OI_220620_S2/L2, Z. 597–600).

Damit bezieht sich L2 auf die Distanz und das Medium – Laptop, Tablet etc. in Verbindung mit dem Videoconferencingtool – das sich zwischen die Kommunikation mit den Schüler*innen schiebt. Zusätzlich wird deutlich, dass nicht alle Schüler*innen die Kamera des jeweiligen Endgerätes nutzen und sie somit der Lehrkraft verborgen bleiben.

Es kann für diese zweite Phase für die Interviews festgehalten werden, dass es für die Lehrer*innen weniger um die Suche nach für den Fachunterricht passenden Softwareprodukten ging, die entweder einen didaktisierten Inhalt zur Verfügung stellen und/oder in denen ein didaktisches Konzept der jeweiligen Lehrkraft eingepflegt oder genutzt werden konnte, sondern vielmehr der Fokus auf einer Kopplung bestehender eigener Lehrformate an die in den Schulen nun vorhandene oder verpflichtend einzusetzende Software bedeutsam war. In den Interviews kennzeichneten alle Lehrer*innen vor allem die Differenz, die zwischen einem Unterrichten in Präsenz und einem in Distanz liegt. Sie gingen alle pragmatisch mit den Anforderungen des Distanzunterrichts um und nutzten nun die vorhandenen Softwareprodukte. Aber alle betonten, dass es sich weiterhin um eine Schrumpfform handele, die den regulären Unterricht nicht ersetzen könne.

4.3 Dritte Phase: Routine zwischen Präsenz und Distanz

Die dritte und letzte Erhebungsphase fand im Frühjahr (März) 2021 statt. Ein Jahr nach den ersten Schulschließungen konnten wir vier Lehrer*innen aus den drei Projektschulen interviewen. Für Bremen, Hessen und Brandenburg bedeutete dieser Zeitpunkt, dass die Schüler*innen in der Regel seit drei Monaten erneut von zu Hause unterrichtet wurden. Ausgenommen waren davon meist die Abschlussklassen, die in der Schule in Präsenz beschult wurden. In einzelnen Fällen wurden Klassen geteilt und wochenweise im Wechsel in der Schule und von zu Hause unterrichtet. Für die Lehrer*innen bedeutete daher das Frühjahr 2021 nicht nur, dass sie seit einem Jahr Erfahrungen darin sammeln mussten, das Unterrichten auf Distanz zu bewerkstelligen, sie mussten auch mit den jeweils wechselnden Modellen und der Gleichzeitigkeit von Unterricht von zu Hause und in Präsenz umgehen. Eine Rückkehr zu einem Alltagsbetrieb in der Schule war im März 2021 nicht absehbar.

In den vier Interviews zeigte sich, dass jede Schule und auch jede*r Lehrer*in einen eigenen Weg gefunden hatte, mit digitalen Medien den Distanzunterricht fortzuführen. Allen gemeinsam war, dass sie alle bezüglich des Niveaus Abstriche machten.Footnote 3 Für die dritte Phase lassen sich drei Aspekte hervorheben: der Einsatz von Videokonferenzsystemen, die Mitarbeit der Schüler*innen sowie die Aufgabe der Bewertung von Schüler*innenleistungen unter den gegebenen Bedingungen eines zeitweisen Distanzunterrichts.

Der erste Aspekt betrifft die Verwendung von Videokonferenzsystemen. An allen drei Schulen wurden nun Videokonferenzsysteme genutzt. Dabei handelte es sich zum einen um die Software Zoom und zum anderen um BigBlueButton, das über die HPI Schul-Cloud verfügbar war. Die anfänglich an S3 eingesetzte Software von Microsoft 365 musste aufgrund des Datenschutzes wieder abgeschafft werden und wurde durch die HPI Schul-Cloud ersetzt. Die Videokonferenzsysteme wurden jedoch nicht dazu genutzt, nun digital über die Video- und Audiofunktionen nach Stundenplan zu unterrichten. Stattdessen wurde die Software in Kleingruppen und im Wechselunterricht in ausgewählten Stunden verwendet. Dabei hatte keine*r der Lehrer*innen die Möglichkeit, die Schüler*innen tatsächlich zu sehen. An der Schule in Brandenburg war es grundsätzlich für Schüler*innen verboten, die Computerkamera zu nutzen; in den anderen beiden Bundesländern konnten die Lehrer*innen die Schüler*innen hierzu nicht verpflichten. Das heißt, beim Einsatz von Videokonferenzsystemen unterrichten die Lehrer*innen weitestgehend allein über den Audiokanal. Einige von ihnen schalten ihre Kamera an, aber die Schüler*innen nehmen sie nur über deren Stimme oder über die angeschlossene Chatfunktion in ihren schriftlichen Äußerungen wahr.

Diese Rahmenbedingungen des Unterrichtens werden in ihrem Belastungsgrad verschieden artikuliert. Während L1 der Schule S2 diese Umstände im Interview als Problem ausführt und konstatiert: „ich unterrichte einen Monitor“ (OI_080321_S2/L1, Z. 34 f.), führt L2 der Schule S3 in Brandenburg diesen Umstand erst auf Nachfrage aus. Er selbst kommt zu dem Schluss, dass er es eben „noch nie anders erlebt“ habe (OI_080321_S3/L1, Z. 626), „Aber man hat sich relativ schnell dran gewöhnt“ (Z. 633). Für L1 ist dieser fehlende soziale Rahmen etwas, das er versucht, mittels Technik nachzubauen. So hebt er hervor, dass seine Sicht auf die Aufgaben und Dokumente ja nicht derjenigen der Schüler*innen entspricht. Deswegen hat er sich „einen Schüler angelegt, der heißt Sm1, das ist ein erfundener Schüler“ (OI_080321_S2/L1, Z. 44 f.); denn erst durch diesen ist es ihm möglich, die Schülerperspektive einzunehmen, um so zu sehen, was diese sehen. Er muss demzufolge mit zwei Monitoren arbeiten. Er selbst versucht, seinen Unterricht weiter fortzuführen, indem er über die Freischaltung seines Bildschirms diesen wie eine Tafel verwendet, an der er die einzelnen Aufgaben und Erklärungen seines Physikunterrichts vorführt. Anders L2, der seine Klasse in der Doppelstunde Spanisch in drei Videokleingruppen unterteilt und zu ihnen für je eine halbe Stunde hinzutritt. In dieser halben Stunde ist es ihm wichtig, dass sie Spanisch hören und sprechen (OI_080321_S3/L1, Z. 142 ff.). Damit verweist er alle Unterrichtsanteile beispielsweise zur Erarbeitung von grammatikalischen Strukturen in die Selbstlernphasen, die er weiterhin über Aufgaben und das zeitlich spätere Bereitstellen von Lösungen organisiert.

L1 aus S1 wiederum lädt „einmal morgendlich“ alle Schüler*innen „[…] zu einer kurzen Zoom-Konferenz [ein]“, um mit ihnen abzusprechen, „was sie den Tag über […]“ machen sollen. Hier ist das Videokonferenztool zum einen Übermittlungsmedium für Arbeitsaufträge und zum anderen ein beziehungserhaltendes Element (OI_180321_S1/L1, Z. 24 ff.). Die „Arbeitsaufträge“ wiederum stellt L1 auf der Lernplattform itslearning ein (ebd., Z. 27), wodurch die Übermittlung der Arbeitsaufträge via Zoom eher einen Verweischarakter auf die Lernplattform erhält. Nur bei ganz speziellen, der Lehrkraft wichtigen Stunden nutzt er Zoom in Verbindung mit seinem Tablet als digitale Tafel für „Onlineunterricht“ (ebd., Z. 55–57). Die Vermittlung von Inhalten wird aber größtenteils als aufgabenförmig verstanden, denn L1 sieht seine Rolle im Bereitstellen von Material (ebd., Z. 56–57; (Jornitz und Mayer 2021; Mayer und Jornitz 2022), welches er über die schon erwähnte Lernplattform itslearning organisiert. Damit wird das Erarbeiten von Inhalten zur alleinigen Aufgabe der Schüler*innen und außerhalb des sogenannten Onlineunterrichts verortet.

Auf Nachfrage erwähnen alle Lehrer*innen, dass nicht alle Schüler*innen im Unterricht auf Distanz „auftauchen“; manchen gelingt es nicht zur angegebenen Zeit, sich über den Chat zu „zeigen“. Damit zeigt sich der zweite Aspekt, die Mitarbeit der Schüler*innen. Alle betonen, dass ein Gespräch im digitalen Format schwieriger ist als im Klassenraum. Sie prüfen zudem, ob die Schüler*innen tatsächlich anwesend sind und sich nicht nur eingeloggt haben und abgetaucht sind (vgl. OI_100321_S2/L2, Z. 86 ff.). Andererseits scheint einigen Schüler*innen per Chat eine Beteiligung leichter zu fallen als im Präsenzunterricht. So berichtet L1 von S2, dass es Schüler gibt, „die sich im Physikunterricht normalerweise überhaupt nicht beteiligen. Und jetzt schreiben die in den Chat rein“ (OI_080321_S2/L1, Z. 91 f.).

Vor allem aber hat dieser Physiklehrer seinen Unterricht so umgestaltet, dass es ihm nun nach einem Jahr möglich ist, die für ihn wichtigen Experimente auch im digitalen Format weiterzuführen (ebd., Z. 347 ff. und 379 ff.). Hierzu nutzt er nicht nur vorhandene Filme, die solche Experimente zeigen, sondern er führt diese über das Videokonferenzsystem mit Hilfe der im jeweiligen Haushalt verfügbaren Materialen durch. So faltet er mit ihnen Papier, um eine spezifische Falttechnik für Solarpanele zu erarbeiten oder bastelt Türme aus Zahnstochern und Rosinen, um die Instabilität von Parallelogrammen und die stabilisierende Wirkung von Querstreben zu erarbeiten. Anders als im Unterricht müssen nun die Schüler*innen dafür sorgen, dass sie Material zur Verfügung haben – was wiederum auch zum Erstaunen des Lehrers Kreativität bei den Schüler*innen freisetzt, wenn das Material, das der Lehrer vorgesehen hat, durch andere Materialien im Haushalt ersetzt wird. In diesem Setting machen nun auch einige der Fünftklässler ihre Kamera an und zeigen ihre gebastelten Exemplare; der Physiklehrer kennzeichnet dies als „Mitzugseffekt“ (ebd., Z. 476).

Der Spanischlehrer der Schule S3 berichtet davon, dass er per Video das Sprechen und Einüben des Spanischen übt, während er in seinem Geschichtsunterricht nur „[a]lle fünf Wochen mehr oder weniger eine Videokonferenz mit der Klasse, bei der es um inhaltlich keine neuen Aspekte geht, sondern es geht ähm um Wiederholung beziehungsweise zu erfragen, was verstanden wurde, wa- wo es noch Fragen gibt“ (OI_080321_S3/L1, Z. 382 ff.). Das heißt, dieser Lehrer setzt schwerpunktmäßig auf die schriftliche Bearbeitung von Aufgaben und textliche Erarbeitung von Unterrichtsthemen. Dabei erreichen ihn die Schüler*innenfragen über die Chatfunktion; sodass er „[o]hne Ende Anfragen“ (ebd., Z. 426) bekommt, die er „meistens dann im Klassenchat [beantwortet], damit die ganze Klasse es mitlesen kann. Also [eine] individuelle Anfrage im Klassenchat“ (ebd., Z. 427 ff.). Das heißt, die gestellte, individuelle Schüler*innenfragen wird zu einer, die die gesamte Klasse betrifft; so löst es dieser Lehrer, weiterhin die gesamte Klasse „unterrichten“ zu können. Dabei kommt es nicht nur zu einer Reduzierung der Form des Unterrichtens, sondern auch des Stoffes. Denn der Lehrer stellt für den Geschichtsunterricht fest: „Also ehrlich gesagt, äh lernen die derzeit Fakten, haken Sachen ab“ (ebd., Z. 460).

Während der Physiklehrer an S2 im Experimentieren eine Form der Schüler*innenbeteiligung gefunden hat, kann der Spanischlehrer dies allein für seine Videoanteile in Anspruch nehmen, während alle anderen Stundenanteile und der Geschichtsunterricht weiterhin durch die Erledigung von Arbeitsaufträgen charakterisiert werden können.

An der S1 hingegen werden die Schüler*innen in Halbgruppen unterrichtet, wodurch sich das Onlineunterrichtskonzept von L1 änderte (vgl. OI_180321_S1/L1, Z. 59 ff.). So setzt die Lehrkraft nun verstärkt auf die Möglichkeit, Inhalte in Form von Methoden über die Verfügbarmachung von eigens aufgenommenen Lehrvideos zugänglich zu machen. (ebd., Z. 203 ff.). Dies hat zwei Gründe. Zum einen wird damit der Unterricht aus Sicht von L1 für die Schüler*innen „lebendig“ (ebd., Z. 226–227) und zum anderen vermeidet er so zu viele Onlinekonferenzen für die Schüler*innen, denn „[…] es geht unheimlich an die Substanz […]“ (ebd., Z. 74–75). Neben den Videos stellt L1 weiterhin Wochenpläne sowie Material zur Verfügung, dass Schüler*innen bearbeiten können (ebd., Z. 131 ff.) und nutzt weitere Lernplattformen wie zum Beispiel Anton (ebd., Z. 335–336). Die Mitarbeit der Schüler*innen reduziert sich somit auf die Abgabe der bearbeiteten Aufgaben (ebd., Z. 28–29 und 370) und auf Anfragen an die Lehrkraft bei Unklarheiten, die L1 aber aufgrund des Digitalen als Belastung empfindet (ebd., Z. 249–254). Die Englischlehrerin der S2 wiederum versucht, über das Videokonferenzsystem und über den Einsatz weiterer Software wie ZUMPad, Folien, Padlet oder Quizlet immer wieder verschiedene Aktivitäten einzubauen (OI_100321_S2/L2, Z. 208 ff.), aber auch darauf zu achten, dass die Schüler*innen Aufgaben ohne Bildschirm erhalten.

Der dritte Aspekt betrifft die Bewertung von Schüler*innenleistungen, denn im Laufe des Frühjahrs 2021 stellte sich die Frage, wie Unterrichtsleistungen, die im Distanzunterricht erbracht wurden, bewertet und benotet werden sollen. Dies wurde notwendig, da angesichts der Pandemielage nicht von einer dauerhaften Rückkehr in den Präsenzunterricht auszugehen war. Damit wurden Lehrer*innen vor die Aufgabe gestellt, Schüler*innenleistungen zu bewerten, auch wenn dies allen interviewten Lehrer*innen schwer zu fallen schien. Sie mussten hierfür eine Lösung finden. L1 von S2 nutzte für die Bewertung der mündlichen Mitarbeit auch die Chatverläufe. Diese speicherte er nach jeder Stunde und überführte sie in eine Exceldatei. Es war ihm nun möglich, nach Schüler*in getrennt, einzelne Beiträge zu filtern, und auszuwerten . Damit stand ihm nun – anders als im regulären Präsenzunterricht – ein Datenblatt zur Verfügung, anhand dessen er eine Bewertung durchführen konnte (OI_080321_S2/L1, Z. 177 ff.). Doch grundsätzlich hält er fest, dass ihm „das Visuelle [fehlt], um einschätzen zu können, wo die sind“ (ebd., Z. 597 f.), das heißt, ob die Schüler*innen verstanden haben, was er erklärte. Daher sind die Chatverläufe etwas, an dem er sich einigermaßen orientieren kann.

Anders gestaltet es die Englischlehrerin an der S2. Sie sammelt nach den Stunden immer wieder Schüler*innenarbeiten ein, um so auch sicher zu stellen, dass die Schüler*innen tatsächlich hinter ihren verborgenen Bildschirmen sitzen und mitarbeiten (OI_100321_S2/L2, Z. 180 ff.). An der S3 wiederum ist es für die ganze Schule so geregelt, dass jede*r Schüler*in sich morgens im Klassenchat melden muss. So wird überprüft, dass er oder sie auch tatsächlich anwesend ist; erscheint der Schüler oder die Schülerin nicht, so wird dies als Fehlen notiert. Diese Anwesenheit „geht auch gleichzeitig in die Mitarbeit ein, also auch in die Mitarbeitsbewertung“ (OI_080321_S3/L1, Z. 199 f.). Denn aufgrund der Dauer des Distanzunterrichts trägt das Konzept der Schulleitung für die S3 nicht mehr. Dies setzte darauf, zunächst alle Schüler*innenarbeiten nicht durch die Lehrkräfte zu kontrollieren, sondern sie nach der Rückkehr in den Präsenzunterricht zu gewährleisten. Da der reguläre Präsenzunterricht aber nicht eintrat und weiterhin immer wieder in Distanz unterrichtet werden musste, müssen nun die Lehrer*innen Wege finden, wie sie Schülerleistungen benoten können. Der Spanischlehrer lässt sich daher nach jeder Stunde, sei sie über das Videokonferenzsystem oder in Selbstlernphasen durch das Erteilen von Arbeitsaufträgen durchgeführt worden, unangekündigt von je zwei Schüler*innen die Arbeiten zumailen. L1 von S1 hat zur Bewertung von Schüler*innenleistungen Tests über die Lernplattform itslearning verwendet, betrachtet dies aber kritisch. Er folgt seiner Leitidee, dass nichts Negatives bewertet werden darf, „weil das Onlinelernen nicht überprüft werden kann “ (OI_180321_S1/L1, Z. 400–401). Für den Lehrer gilt somit als bewertbare Leistung, „was haben die Schüler gemacht, wie engagiert sind sie? Äh ich habe Schüler, wenn ich montags meinen Wochenplan einstelle, sind die Dienstag, Mittwoch mit dem ganzen Spuk fertig. Das benote ich natürlich oder bewerte ich natürlich extrem positiv“ (ebd., Z. 431–435). Zusätzlich sind bestimmte Noten ausgesetzt, das heißt, „auch nicht mit Vieren, Fünfen und Sechsen. Das gibt es derzeit quasi kaum“ (ebd., Z. 437–438).

Für diese dritte Phase lässt sich feststellen, dass alle Lehrer*innen einen Weg gefunden haben, mit den über die Schulen bereit gestellten Softwareangeboten ihren Unterricht zu gestalten. Allerdings ist dieser nahezu allein auf den Audiokanal begrenzt und nur in Ausnahmefällen sehen sie die Schüler*innen. Daher erklärt es sich auch, dass viele der Lehrenden nicht vollumfänglich unterrichten, sondern nur eingeschränkt. Dies führt im Falle der Benotung zu größeren Problemen. Ihnen fällt es schwer, eine Grundlage zu erstellen, auf der benotet werden kann. Auch in dieser Phase zeigt sich erneut, dass die Lehrer*innen letztendlich hoffen, wieder zu einem regulären Präsenzunterricht zurückkehren zu können. Inwieweit sie dann Elemente des Unterrichtens mit digitalen Medien beinhalten werden, bleibt offen.

5 Was die Community-Ebene von der individuellen trennt und umgekehrt

Formal sind die beiden Datenkorpora sowohl über ihre Thematik als auch über die Parallelisierung der zeitlichen Abfolge der drei Erhebungszeitpunkte miteinander verbunden. Die getrennten Analysen zeigen die jeweiligen verdichteten Thematiken, die die Lehrkräfte zu den drei Zeitpunkten beschäftigen und für die sie eine digitale Lösung suchen. Diese Thematiken laufen einerseits parallel zueinander. Für beide Analysen kann festgehalten werden, dass die erste Erhebungsphase vor allem durch das Suchen nach technischen Lösungen geprägt war, um überhaupt in Kontakt mit den Schüler*innen treten zu können. Hier mussten Plattformen teilweise reaktiviert und etabliert werden, über die Lehrer*innen und Schüler*innen miteinander interagieren konnten. In den Twitter-Analysen zeigte sich mehr als in den Interviews das Interesse an Tools zum kollaborativen Arbeiten. Dieses spielte bei den interviewten Lehrer*innen an den Projektschulen nahezu keine Rolle. Hier war vielmehr davon die Rede, wie Schüler*innen vor zu vielen Aufgaben der Schule geschützt werden sollten, weil unklar war, welche technische Infrastruktur in den Elternhäusern anzutreffen war. Die positive Stimmung und die kreative Suche nach digitalen Möglichkeiten und die Freude am Ausprobieren, die sich aus der Twitter-Kommunikation mitteilt, entsprach weniger der Darstellung der interviewten Lehrkräfte. Die Interviews der ersten Phase zeigen vielmehr, wie wenig letztendlich auch unterrichtet wurde und wie vereinzelt die Lehrer*innen innerhalb der Kollegien agierten. Diese Unterschiede können allerdings auch durch das Sampling für die Twitter-Analyse hervorgerufen worden sein, zum Beispiel durch die Eingrenzung der zu analysierenden Tweets auf solche mit Hashtags rund um das Thema digitale Bildung, die im „Affinitätenraum“ #twitterlehrerzimmer bereits vor der Pandemie eine hohe Relevanz hatte.

In der zweiten Erhebungsphase hatten sich nun weitgehend digitale Plattformen und Softwarelösungen an den Schulen etabliert, was sich sowohl im Twitter-Datenkorpus als auch im Interviewkorpus zeigt. Beide Datenkorpora verweisen darauf, dass von Schulen und Lehrkräften ein Umgang mit den nun (neuen) gegebenen Strukturen gefunden wurde und weitere Lösungen für Materialien und Aufgaben gesucht wurden. In den Interviews zeigte sich, wie bedeutsam die Vorgaben der Schulleitungen waren. Diese legten den Rahmen fest, innerhalb dessen die Lehrkräfte agieren konnten. Während aus den Twitter-Daten der Eindruck entsteht, dass nun viele neue Instrumente Verwendung fanden, waren die interviewten Lehrenden allesamt sehr eingegrenzt auf die von ihnen genutzte Software. Sie nutzten das, was die Schule zur Verfügung stellte und probierten weniger aus, als es die Twitter-Beiträge vermuten lassen.

In der dritten Erhebungsphase zeigte sich allein in den Interviews, dass eines der Probleme die vorzunehmenden Benotungen waren. Sie mussten auf der Grundlage eines nicht vollumfänglich stattgefundenen Unterrichts getroffen werden. Dagegen zeigte sich in den Twitter-Daten, dass tatsächlich die digitalen Medien und ihr Einsatz zur Routine geworden waren. Hier traten nur noch einzelne Protagonisten in Erscheinung, während sich viele andere Twitter-Nutzer*innen eher passiv und damit rezeptiv verhielten.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich die beiden Datenkorpora in eine Spannung und in ein sich wechselseitig korrigierendes Verhältnis setzen lassen. Entstünde allein aus der Analyse der Twitter-Daten der Eindruck einer kreativen Lehrenden-Community, die exzessiv und neugierig neue digitalen Medien für die Schule ausprobiert und ihre Erfahrungen miteinander teilt, so entstünde allein aus der Analyse der Interview-Daten der Eindruck einer Lehrerschaft, die nur rudimentär versuchte, Unterricht aufrecht zu erhalten und sich nicht weiter engagierte, überhaupt in Kontakt mit den Schüler*innen zu treten, sondern sich mit dem Gegebenen arrangierte.

Erst die Bezugnahme aufeinander macht sichtbar, dass es einen Diskursraum bei Twitter gibt, der die Möglichkeiten der digitalen Medien für das Unterrichten über das Bestehende hinaus versuchte auszuloten, während die Lehrkräfte eingebunden sind in die pädagogisch, technisch und rechtlich regulierenden Bedingungen der jeweiligen Schule selbst. In diesem Spagat zwischen maximaler Freisetzung des Möglichen und restriktiver Umsetzung im Pragmatischen agieren Schulen und ihre Lehrkräfte zu Zeiten der wiederkehrenden Schulschließungen aufgrund der Pandemie in Deutschland – bis heute.