Schlüsselwörter

1 Hinführung

Datafizierung verändert gesellschaftliches Zusammenleben. Die Rolle von „smarten“, personalisierbaren Technologien und den damit verwobenen Praktiken der Erfassung, Herstellung, Distribution und Verwendung von digitalen Daten wird in Büchern über die „Ära der Datafizierung“ (Krüger 2021), „Datengesellschaft“ (Houben und Prietl 2018), „datafied society“ (Schäfer und van Es 2017) „Gesellschaft der Daten“ (Süssenguth 2015) oder „big data“ (Mayer-Schönberger und Cukier 2013) seit einem knappen Jahrzehnt diskutiert. Daten umgeben uns, werden durch uns und mit Hilfe digitaler Werkzeuge erzeugt. Daten werden gesammelt, ausgewertet, monetarisiert und in Teilen öffentlich zur Verfügung gestellt. Daten helfen bei der Überwachung und ermöglichen Teilhabe. Sie schaffen neue Geschäftsmodelle und steuern Geschäfts- und Verwaltungsprozesse. Sie unterliegen rechtlichen Rahmenbedingungen, wie beispielsweise der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), dem Digital Service Act (DSA) oder dem DataAct der Europäischen Kommission (EU DataAct) und werden metaphorisch als Rohstoff („das neue Öl“) überhöht. Wissenschaftlicher Konsens jener Arbeiten, die Daten aus Perspektive der critical data studies beforschen, ist hierbei, dass Daten nicht neutral, nicht roh, nicht wertfrei, sondern stets „gekocht“ und unter Verwendung von Algorithmen mit bestimmten Interessen und Konnotationen aggregiert entstehen (Beer 2018; Bowker 2008; boyd und Crawford 2012; Gitelman 2013; Hartong und Förschler 2019; Jarke und Macgilchrist 2021; Loukissas 2019). Gleichzeitig sind die Kompetenzen und Ressourcen zur Nutzbarmachung von Daten nicht gleich in der Gesellschaft verteilt (Hepp et al. 2022; Kennedy 2018), es entsteht ein „digital data divide“ (z.B. Warschauer 2003). Nichtsdestotrotz bilden diese nicht-neutralen, unvollständigen, zu bearbeitenden digitalen Daten in modernen Gesellschaften eine wichtige Grundlage für Entscheidungsprozesse (Couldry 2017; Hagendorff 2017; Mau 2017). Die weitere Ausdehnung solcher datenbasierten Entscheidungen in Richtung automatisierter Verfahren wird daher aus unterschiedlichen Perspektiven kritisch reflektiert. So warnt beispielsweise Shoshana Zuboff in ihrem Buch zum Überwachungskapitalismus davor, wie Daten erzeugende, sammelnde und aggregierende globale (insbesondere US-amerikanische) Wirtschaftsunternehmen uns unseres freien Willens, unserer Entscheidungsgewalt, entmächtigen (Zuboff 2019). Neue Formen kapitalistischer Ausbeutung würden entstehen („data capitalism“ West 2019), die so stark mit unseren Alltagspraktiken verwoben sind, dass wir die „hinter“ der Nutzung liegenden und mit ihr verwobenen Datenflüsse sowie deren Lenkkraft kaum noch wahrnehmen (Couldry und Mejias 2019; Hepp et al. 2022; Schäfer und van Es 2017). Kritische Stimmen werfen dabei unter anderem die Frage auf, welche Akteur*innen, in welchen soziotechnischen Systemen, in kapitalistischen Datengesellschaften überwachen, lenken und über Gestaltungsmacht verfügen (Andrejevic und Gates 2014; Eubanks 2017). Weitere kritische Ansätze problematisieren die durch Algorithmen für datengestützte Auswahl- und Empfehlungsverfahren reproduzierte und manifestierte soziale Ungleichheit, die beispielsweise in Form von „algorithmic inequality“ (Kennedy et al. 2021), „data discrimination“ (Noble 2018) oder „algorithmic discrimination“ (Couldry 2017; Hoffmann 2019; Peña Gangadharan und Niklas 2019) diskutiert wird. Diese Arbeiten gehen davon aus, dass die positiven wie negativen Konsequenzen ungleich in unserer Gesellschaft verteilt sind (Kennedy et al. 2021) und das aktuell zu wenig dafür getan werde, um auf die Missverhältnisse hinzuweisen und ihnen aktiv entgegenzutreten.

Was bisherige Auseinandersetzungen zu datafizierter Gesellschaft auszeichnet, ist ihr Fokus auf die für gewöhnlich negativen Konsequenzen in einem direktionalen oder monokausalen, meist auch in Teilen normativen Verständnis davon, was „schlechte Datafizierung“ sei und „wogegen“ sich die Kritik zu richten hätte. Weniger in den Blick kommen dabei die „Unordnung“ („messiness“), „Uneindeutigkeit“ und „Undurchsichtigkeit“ („intransparency“) im „Datenalltag“ (Allert und Richter 2017; Macgilchrist 2021a). Diese Ambivalenz wohnt digitalen Daten inne, wenn sie erst durch die Erhebung, die Verarbeitung und den Gebrauch entstehen, also „gekocht“ werden. Dabei betrifft gesellschaftliche Datafizierung nahezu alle Lebensbereiche und erstreckt sich somit auch auf Entscheidungsprozesse im Bildungssystem. Jedoch sind, zumindest für den deutschen Kontext, die Verflechtungen von Datafizierung und schulischer Bildung erst in Ansätzen beforscht. Wir adressieren diese Lücke theoretisch und methodisch, indem wir mit den Beiträgen im Buch „Die datafizierte Schule“ den Blick auf Ambivalenzen aber auch auf Datenpraktiken richten und zudem die methodisch-methodologischen Herausforderungen von Datafizierungsforschung im schulischen Kontext problematisieren.

Unser Buch geht aus der gemeinsamen Arbeit von vier Teilprojekten innerhalb des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten DATAFIED-Forschungsverbundes hervor.Footnote 1 Die Beiträge im Buch zielen darauf ab, das immer wieder betonte, kritische Moment der critical data studies zu erweitern, indem wir die Ambivalenzen, Brüche und Spannungen, die bei der Produktion, Sammlung, Distribution und Verwendung von schulischen Daten sichtbar werden, anhand von empirischem Material rekonstruieren und in den Mittelpunkt unserer Betrachtungen rücken. Zudem diskutieren wir methodische Ansätze von Datafizierungsforschung und ihre Grenzen. Zu diesem Zweck entwickeln wir im Folgenden zunächst unser Verständnis von Datafizierung und datafizierter Schule. Mit Blick auf Forschungen aus einer Perspektive kritischer Datenstudien verweben wir hierbei die Stränge der Forschung über datengestützter Bildungssteuerung auf der einen und pädagogisch-didaktischen Perspektiven auf Datafizierung auf der anderen Seite. Im Anschluss erläutern wir die dem Verbundforschungsprojekt DATAFIED zugrunde liegenden theoretischen Annahmen und Vorgehensweisen. Unsere Überlegungen schließen mit einer verdichteten Vorstellung ausgewählter Ambivalenzen datafizierter Schule, den Buchkapitelsynopsen sowie einer Einladung zum Weiterlesen und Weiterdenken.

1.1 Datafizierung

Datafizierung verstehen wir grundsätzlich als einen gesellschaftlichen Metatrend im Kontext der Digitalisierung (z. B. Buschauer und Wadephul 2020; Couldry und Hepp 2017; Decuypere 2021; Mayer-Schönberger und Cukier 2013, S. 24; Schäfer und van Es 2017, S. 13). Dass gesellschaftspolitische Entscheidungen auf der Grundlage von erhobenen Daten getroffen werden und gleichzeitig die Erhebung der Daten selbst hoch politisch und kritisch zu reflektieren sind, diskutieren unter anderem Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaftler*innen seit langem. Datafizierung ist somit kein neues Phänomen, sondern ein Prozess, dessen Wurzeln weit zurückreichen. Die Besonderheit der aktuell zu beobachtenden Datafizierung liegt insbesondere darin, dass Daten nicht nur digital in großem Umfang und Vielfalt vorliegen, sondern in Echtzeit zum Teil als Nebenprodukt erzeugt, verarbeitet und dazu aus unterschiedlichen, heterogenen Datenbeständen zusammengestellt und feinkörnig analysiert, flexibel erweitert und skaliert werden können (Kitchin und Lauriault 2014). Damit ist Datafizierung ein komplexer gesellschaftlicher Prozess, in dem unter anderem unterschiedliche Akteurskonstellationen, Praktiken und Machtgefüge in ihren Medienensembles interagieren (z. B. Dander 2018; Hepp et al. 2018). Datafizierung lässt sich entsprechend als „sinnstiftender Prozess in und um Daten“ (Dourish und Gómez Cruz 2018) begreifen, wodurch das Verständnis von Datafizierung als „Transformation von sozialem Verhalten“ (van Dijck 2014) erweitert wird.

„[Datafication] is not simply a change to what is done and how, but also a change to who people are, or who they are expected to be.“ (Bradbury und Roberts-Holmes 2017, S. 6)

Im Bildungsbereich erstreckt sich Datafizierung in unterschiedlicher Breite und Intensität von der frühkindlichen Bildung über die Schule und Hochschule bis zur beruflichen Bildung und der Erwachsenenbildung. Dies kann als ein weltweiter Trend beobachtet werden, mit unterschiedlichen Entwicklungsdynamiken. Dabei geht es sowohl um datengestützte Lern- und Lehrprozesse als auch um die Unterstützungsleistungen der Verwaltung und der Bildungssteuerung. In der frühkindlichen Bildung haben beispielsweise auf digitalen Daten basierende Verfahren zur Berechnung von Kita-Plätzen oder Elternzuschüssen im Rahmen kommunaler Bildungssteuerung Einzug gehalten (Döbert und Weishaupt 2015). Die Hochschulen sind teils bereits über den gesamten student lifecycle über Daten gesteuert und versuchen dies immer systematischer mit dem Aufbau von „data warehouses“ abzubilden (Webber und Zheng 2020). Darüber hinaus sollen zukünftig Systeme Künstlicher Intelligenz (KI) insbesondere mithilfe von Verfahren maschinellen Lernens die Verbesserung von Lehr- und Lernprozessen sowie die Unterstützung der Studierenden gewährleisten (Tsai et al. 2020). Das informelle Lernen – beispielsweise über Lern- und Erklärvideos (Wolf 2015) – wird durch algorithmische Empfehlungssysteme auf vorhandenen Plattformen gesteuert. Automatisierte Entscheidungen über Studienerfolg sollen durch prediktive Analysen von Arbeitsfortschritten in Lernmanagementsystemen getroffen werden (Herodotou et al. 2021; Mahroeian und Daniel 2021), was Rückschlüsse auf die Studienmotivation ermöglicht. Und schließlich versprechen globale Bildungsanbieter im Weiterbildungsbereich Lernerfolge auf der Basis von datafizierten individualisierten Lehr-/Lernszenarien (Niegemann und Weinberger 2020).

Im vorliegenden Buch gilt unser Augenmerk dem deutschen Schulsystem: auch dort sind Entscheidungsprozesse schon immer datengestützt – also in gewisser Form datafiziert – gewesen. So sind in der Schule Noten ein Teil lang etablierter, datengestützter Bewertungspraktiken, die bis hin zur Zertifizierung von „Bildungserfolgen“ reichen. Unterricht wird mit Hilfe von Daten durch Stundenpläne organisiert. Anwesenheiten durch Klassenbücher datengestützt überwacht. Daten fließen in die Bildungsstatistik seit ihrer Gründung ein. Schüler*innen werden „vermessen“, Schulen, ihre Gebäude, ihr Personaleinsatz unterliegen staatlicher Planung, Schulträger entwickeln kommunale Schulentwicklungspläne – auf Basis von Daten. Gravierend verändert hat sich durch die Digitalisierung jedoch in den letzten Jahr(zehnt)en die Quantität und Qualität der Daten, ihre nebenläufige Sammlung (im Sinne digitaler Spuren) und die Möglichkeit zur Echtzeitverarbeitung. Dies wirkt sich darauf aus, in welchen Bereichen bzw. auf welche Weise Daten in Schulen genutzt werden. Prognosen der Zahlen künftiger Schüler*innen haben Einfluss darauf, ob und wo Schulen gebaut werden und insbesondere in Ländern mit Ranking-Systemen wie Großbritannien oder den USA (z. B. Anagnostopoulos et al. 2013a) entscheiden Metriken auf Basis von Daten darüber, was eine „gute Schule“ ist (Jarke und Breiter 2021), woran sich wiederum Eltern bei der Schulauswahl orientieren. Externe und interne Evaluationen von Schulen (beispielsweise durch Schulinspektionen) haben sich seit Jahrzehnten etabliert und stützen sich auf Selbstberichte, Beobachtungen oder Befragungen – also auf Daten (Demski 2017; Warmt et al. 2020). Digitale Lernmanagementsysteme offerieren Elemente selbstgesteuerten Lernens auf Basis vorheriger Lernpraktiken. Sie liefern Daten über Lernwege und hinterfragen somit etablierte Formen von Unterricht sowie die Rollen von Lehrenden und Lernenden. Datafizierung lässt sich auch im Kontext der „Educational Governance“ (Maag Merki et al. 2014) verorten. Dabei werden verschiedene Handlungsstrukturen im Bildungssystem betrachtet, in denen unterschiedliche Akteur*innen prozesshafte Maßnahmen umsetzen. Insbesondere die „Handlungskoordination im Mehrebenensystem“ (Kussau und Brüsemeister 2007) ist eng mit dem Wandel durch Datafizierung verbunden. Das betrifft auf der Mikroebene die datengestützte Koordination in der Schule, die Prozesse zwischen Schule, Schulleitung und Schulaufsicht (Mesoebene), sowie die Anforderungen an und die Verwendung von Daten für die Steuerung auf der politischen Makroebene. Wir ergänzen somit das Modell um die Frage der Rolle der Datafizierung und fokussieren insbesondere auf die Schnittstellen und Wechselwirkungen zwischen Unterrichtspraktiken und der Softwareproduktion sowie zum Schulmanagement bis zur politischen Steuerung. Die verbindenden Prozesse und Schnittstellen sind im Zuge der Datafizierung von besonderem Interesse, sodass unsere empirischen Untersuchungen insbesondere diese Knotenpunkte in den Blick nehmen (Hartong et al. 2021).

1.2 Kritische Datenstudien - Critical Data Studies

Als Reaktion, Reflexion und Rekonstruktion der beschriebenen datengetriebenen Transformation formieren sich seit gut zehn Jahren kritische Datenstudien, die im englischsprachigen Kontext als critical data studies (boyd und Crawford 2012; Crawford et al. 2014) bekannt wurden. Ursprünglich verstanden als „interdisziplinäres Unterfangen“ (Dalton et al. 2016), in dem sich verschiedene Forschungsrichtungen mit ähnlichen Anliegen und Fragen unter anderem aus kritischer sozial-, gesellschafts- oder kulturtheoretischer Perspektive der Beforschung von Daten zuwenden, kristallisieren sich mittlerweile verschiedene Studienzweige zu gemeinsamen Forschungsthemen heraus. Gemeinsam ist den vorliegenden Arbeiten ein Verständnis von Daten als niemals nur rohe, neutrale, objektive, dekontextualisierte Abbilder der Welt, sondern immer als kontingent, kontextbezogen, situiert und aktiv in der Welt wirkend (Dalton et al. 2016, S. 1). Auch teilen die Studien überwiegend eine Forschungshaltung, welche die Komplexität, Vielfältigkeit und Spannungen bei der Produktion, Distribution und Verwendung von Daten zu dekonstruieren, kritisch zu hinterfragen und zu problematisieren sucht. Jedoch unterscheiden sich die Beiträge in Bezug darauf, mit welchen theoretischen Linsen und methodischen Ansätzen sie unterschiedliche datengetriebene gesellschaftliche Transformationsprozesse kritisch reflektieren.

Bisherige Ansätze, die bestehende Forschungslandschaft zu vermessen (z. B. Iliadis und Russo 2016; Selwyn 2022), konzentrieren sich vornehmlich darauf, kursorisch ausgewählte Beiträge in thematisch und methodisch nahen Arbeiten der kritischen Datenstudien zu bündeln. Als Weiterentwicklung dazu legt Felicitas Macgilchrist eine verdichtete Kartierung vor, indem sie kritische Forschungen in drei Bereiche (Transformation – Beharrung – Zukunft) unterteilt: Kritische Studien, die sich mit gesellschaftspolitisch relevanten Transformationen und neuen Technologien, Prozessen und Praktiken im Bildungssystem befassen; Forschungen, die die Beharrungstendenzen und damit verwobenen Manifestierung von Bildungsungerechtigkeit bzw. -ungleichheit untersuchen und jene Arbeiten, die nach (alternativen) Zukünften fragen (Macgilchrist 2021b). In Anlehnung an Felicitas Macgilchrist et al. (2022) erweitern wir diese Sortierung in zweierlei Hinsicht. Zum einen verweben wir einen quer zu der Dreiteilung liegenden Forschungsstrang, der sich in critical data studies Perspektive mit „Educational Governance“ und „data-driven decision-making“ auseinandersetzt. Zum anderen verdichten und ergänzen wir die kritischen Forschungen die auf jene Ambivalenzen, Spannungen und Brüche blicken, welche durch Datafizierung hervorgebracht werden und die wiederum dazu führen, dass Datafizierung sich unterschiedlich entfaltet. Unser Fokus auf Ambivalenzen liegt ebenfalls quer zu den drei Themenfeldern bisheriger kritischer Forschung und erweitert somit noch einmal die Perspektive der critical data studies. In diesem Sinne kommen wir mit den Beiträgen in unserem Buch dem Wunsch nach, über das Aufzeigen von Ambivalenzen und Spannungen und die Formulierung kritischer Fragen über gesellschaftspolitische Implikationen schulischer Datafizierung in „ins Gespräch zu kommen“ (Macgilchrist 2021b) mit jenen, die sich für Daten im Bildungssystem interessieren. Zunächst skizzieren wir jedoch orientiert an den Einteilungen von Macgilchrist (2021b) und Macgilchrist et al. (2022) den bisherigen Forschungsstand.

Transformation – Beharrung – Zukunft: Innerhalb der Publikationen zu kritischen Datenstudien, welche die Rolle neuer Technologien für den Wandel (nicht nur) von Bildung und deren gesellschaftspolitische Implikationen hinterfragen, diskutieren Studien beispielsweise die ethischen und sozialen Implikationen von Datentechnologien am Beispiel von Verfahren künstlicher Intelligenz im Bildungsbereich (Perrotta und Selwyn 2019) sowie deren Verwendung für die Quantifizierung von sozioemotionalem Lernen (McStay 2020). Bisherige Arbeiten zeigen, wie Apps datengetrieben mit gamifizierenden Elementen unter anderem zur Kontrolle des Verhaltens von Schüler*innen nutzbar sind (Manolev et al. 2019) oder zur Unterstützung des sozial-emotionalen Lernens eingesetzt werden und somit persuasiven Charakter entfalten (Williamson 2017b). Mit Blick auf die soziotechnische Verfasstheit von Apps wird der (unwissende) Umgang von Lehrkräften mit datengetriebenen Technologien für den Unterricht problematisiert (Lupton 2021). Für den angelsächsischen Raum zeigen sich bereits erste Veränderungen des professionellen Selbstverständnisses von Lehrer*innen in Bezug auf eine „Daten-Profession“ (Lewis und Holloway 2019). Ein Schwerpunkt dieser an Datafizierung als Transformation interessierten Forschungen liegt darauf, wie Wissen durch die Verwendung datengetriebener Bildungstechnologien produziert wird und welche Akteur*innen an der Wissensproduktion mitwirken. Unter dem Begriff „dataveillance“ im Bildungssystem werden unter anderem automatisierte Überwachung im Unterricht und die lenkende Wirkmacht von Bildungstechnologien, sowohl für die Nutzenden als auch deren Lernumgebungen problematisiert (z. B. Knox 2020; Lupton und Williamson 2017; van Dijck 2014). Neben Forschungen, die sich für den durch datengetriebene Verfahren angestoßenen Wandel interessieren, existiert inzwischen eine wachsende Zahl an empirischen Studien, die kritisch nach Beharrungstendenzen, beispielsweise der Reproduktion von bildungsbezogener Ungleichheit, fragen. Diese Arbeiten untersuchen, wie datengetriebene Bildungstechnologien zur Reproduktion oder Verstärkung von Bildungsungleichheiten beitragen (z. B. Rafalow 2020; Williamson 2017a). Arbeiten zeigen, wie die Voraussagen durch prädiktive Analysen (predictive analytics) über möglichen (Miss)erfolg von Lernenden dazu beitragen, wie Schüler*innen aus sozioökonomisch benachteiligenden Gegenden Bildungschancen verwehrt bleiben (Jarke und Macgilchrist 2021). Aktuell finden sich zudem Arbeiten, die in Retrospektive die zukünftige datafizierte Schule imaginieren, dabei die Versprechen von datengetriebenen Bildungstechnologien problematisieren und potenzielle Zukünfte schulischer Bildung diskutieren (Costello et al. 2020; Hillman et al. 2020; Knox et al. 2020; Selwyn et al. 2020).

Educational Governance: Ein weiteres Augenmerk der kritichen Datenstudien gilt der Schulsteuerung durch Daten. Unter dem Begriff datengestützte Entscheidungsprozesse (data-driven decision-making) firmieren seit zwei Dekaden zahlreiche Ansätze, die sowohl die Qualitätssicherung und -entwicklung als auch die Rechenschaftspflicht im Blick haben (für einen Überblick siehe Mandinach und Schildkamp 2021). Dies bezieht sich einerseits auf den Paradigmenwechsel der empirischen Bildungsforschung hin zur sogenannten „Evidenzbasierung“ (Altenrath et al. 2021; Jornitz 2008, 2009) als auch zur Orientierung an internationalen Standards der Messung von Schulqualität zumeist anhand von Leistungen der Schüler*innen (Grek et al. 2021; Martens et al. 2010; Martens und Niemann 2013; Ozga 2016). Im Zuge dieses Paradigmenwechsels bekommen Daten in Form von Metriken, Tests oder Kennzahlen für die Vermessung und Steuerung im Schulsystem auf und zwischen allen Ebenen eine immer größere Rolle. Dies betrifft sowohl die Verwaltung als auch die Kernprozesse der Unterrichtsentwicklung. Studien im Bereich der Educational Governance untersuchen, wie sich die Priorisierungen von Bildungspolitik und die öffentlich-privaten Beziehungen verändern, wenn immer mehr digitale Daten über spezifische Softwaresysteme nutzbar gemacht werden. Daher werden diese Fragen zunehmend auch im Kontext der kritischen Datenstudien in Bezug auf das Schulsystem thematisiert (Bellmann 2016; Bradbury und Roberts-Holmes 2017; Hartong 2019; Landri 2020; Ratner und Gad 2019; Williamson 2015).

Daten brauchen Infrastrukturen, in denen sie auf Basis von Regeln, Strukturen und Prozessen gesammelt, gespeichert, aufbereitet, verbreitet und archiviert werden. Infrastrukturen selbst wiederum bestimmen mit, wie Daten definiert, erzeugt, verarbeitet und genutzt werden und konstituieren damit eine Form der Daten-Governance (Hillman 2022). Dabei lassen sich Infrastrukturen nach Susan Star (1999) nur relational zu spezifischen Akteur*innen verstehen und sind damit ethnografischer Forschung zugänglich. Aufgrund der technologischen Entwicklung und der Dominanz neo-liberaler Steuerungslogik im Schulsystem wurden Dateninfrastrukturen zuerst in den USA aufgebaut und ihre Bedeutung untersucht. Dorothea Anagnostopoulos und Kolleg*innen (2013a, b) beschreiben sie als „infrastructure of accountability“ und zeigen in ihren Studien, welche zentrale Rolle sie auf allen Ebenen des Schulsystems, insbesondere aber auf der ministeriellen Ebene und bei den Schuldistrikten für die Steuerung der Schulen spielen (z. B. Hartong und Förschler 2019). Die Zielsetzung sei dabei weniger die Verbesserung von Schulqualität („school improvement“) als die Kontrolle (bis zur Bestrafung) von Schulen entlang fest definierter Erwartungen an ihre Leistungsfähigkeit („accountability“). Diese prägende Rolle von Dateninfrastrukturen für die Bildungssteuerung wird kritisch begleitet (Gulson und Sellar 2019; Hartong und Nikolai 2021), da sich die Dominanz der Dateninfrastrukturen im Zuge der zunehmenden Verfügbarkeit von Daten bei immer leistungsstärkeren Algorithmen zu einer „computational education policy“ (Gulson und Webb 2017) zu entwickeln scheint. Hierbei kommt der Nutzung von Verfahren des maschinellen Lernens und damit einer explorativen Datenanalyse als Erweiterung bisher vor allem deduktiv orientierten Analysen eine besondere Bedeutung zu (z. B. Breiter 2022; Heuer et al. 2021). Die neu zugeschriebene Rolle von KI-Verfahren im Schulsystem unter medienpädagogischem Blickwinkel lässt sich durch die umfangreiche Verfügbarkeit von Daten (beschrieben als „big data“) und ihre Einbindung in Dateninfrastrukturen erklären (Gapski 2015; Swertz 2020). Hinsichtlich der Bedeutung von Daten und Dateninfrastrukturen problematisieren Kerssens und van Dijck (2021), wie sich schulische, plattformgestützte Bildung in privatwirtschaftlichen globalen Infrastrukturen entfaltet. Schulen und Unterricht werden also selbst zu ‚data platforms‘ (Williamson 2016) im Ökosystem international agierender Unternehmen. Hieraus ergibt sich die Frage danach, wie Bildungstechnologien zur Nutzbarmachung für das Gemeinwohl zu steuern wären. Hierzu arbeiten Kerssens und van Dijk (2021) den Bedarf eines Governance-Konzeptes heraus, das auf sektoraler, nationaler und europäischer Ebene ansetzt. In diesen Kontext sind die verschiedenen Ansätze im Rahmen des DATAFIED Projektes einzuordnen und sind damit auch ein Plädoyer für eine neue Governance von Bildungsdaten.

Mit unserem Buch möchten wir den Blick auf die innerhalb des letzten Jahrzehnts wachsende Forschungslandschaft und mittlerweile durchaus als Feld zu bezeichnenden kritischen Datenstudien in Bezug auf das Schulsystem schärfen. Wir unternehmen den Versuch, gerade das immer wieder herausgestellte kritische Moment der critical data studies weiter zuzuspitzen, indem wir den Fokus der Kritik verschieben und auf Ambivalenzen, Komplexität und Spannungen, die bei der Produktion, Sammlung, Distribution und Verwendung von schulischen Daten sichtbar werden, blicken. Wir schließen dafür an die bereits vorliegenden thematischen Kartierungen (z. B. Iliadis und Russo 2016; Macgilchrist 2021b; Macgilchrist et al. 2022) an und greifen in den Buchkapiteln ambivalente Momente der Datafizierung von Schule auf. Wir arbeiten insbesondere die Ambivalenzen heraus, die mit der voranschreitenden Datafizierung im Schulsystem verwoben sind. Wir zeigen auf Basis unserer empirischen Forschung Spannungsverhältnisse, die sich aus dem Zusammenspiel von Schule, Schulaufsichts- und Schulverwaltungspersonen sowie Lernsoftwareproduzierenden, Lehrkräften und Schüler*innen entfalten. Vor dem Hintergrund der aktuellen gesellschaftlichen wie wissenschaftlichen Diskussion über digitale Daten blicken wir im Buch mit dem im Folgenden beschriebenen Forschungsansatz auf die Herausforderungen der Datafizierungsforschung, auf Datenpraktiken und deren Wirkmacht.

2 Der DATAFIED-Forschungsansatz – qualitativ, schnittstellenorientiert, interdisziplinär

Die Beiträge im vorliegenden Buch sind von einem theoretischen Zugang gerahmt, der zwei zentrale Konzepte verknüpft: data assemblages und Datenpraktiken. Data assemblages als „komplexe soziotechnische Systeme“ (Kitchin 2014, S. 24) bestehen aus miteinander verschränkten technischen, politischen, sozialen, ökonomischen, ethischen, rechtlichen, kulturellen und pädagogischen Logiken sowie Gesetzen, materiellen Artefakten und administrativen und didaktischen Entscheidungen, die jeweils einzelne Dateninfrastrukturen rahmen und konstituieren (z. B. Jasanoff 2017). Einen solchen Ansatz anwendend, zeigen Sigrid Hartong und Andreas Breiter (2021) etwa am Beispiel der Konstruktion von Sozialindizes für Schulen, wie data assemblages sich kontinuierlich wandeln und gleichzeitig durch diesen Wandel ein bestimmtes Verständnis von Bildungsungleichheit konstruieren. So werden diese Indizes einerseits auf Basis von produzierten Daten – aus Statistiken, eigenen Erhebungen oder Schätzungen sozioökonomischer Unterschiede – erzeugt und in Dateninfrastrukturen (wie beispielsweise Schulinformationssysteme) integriert. Andererseits sind sie stets Ergebnis eines soziotechnischen Aushandlungsprozesses, in denen organisatorische und regulative Prozesse ebenso eine Rolle spielen wie die Steuerungskultur und die Machtarchitektur des Schulsystems im jeweiligen Bundesland. In diesem Zusammenspiel werden Sozialindizes kontinuierlich rekonfiguriert mit dem Ziel eine „optimale“ Lösung für einen „fairen“ Indikator zu schaffen. Vor diesem Hintergrund produzieren data assemblages einerseits Daten und werden andererseits durch die Produktion, Sammlung, Distribution und Verwendung von Daten reproduziert bzw. rekonfiguriert (z. B. Jasanoff 2017; Kitchin und Lauriault 2014; Williamson 2016).

Datenpraktiken verstehen wir innerhalb des Forschungsverbundes in Anlehnung an das praxistheoretische Verständnis von Theodore Schatzki (1996, S. 89) und Andreas Reckwitz (2002, S. 249) als einen Nexus von Aktivitäten, die digitale Daten konstituieren, visualisieren und nutzbar machen, Daten als Impuls für Handlungen aufgreifen sowie Daten befragen, problematisieren oder erklären. Datenpraktiken als komplexe Bündel werden, ebenso wie data assemblages, immer wieder neu hervorgebracht (vgl. Sellar 2015, S. 769) und spielen im Bildungssystem eine wachsende Rolle (Decuypere 2021). Darauf abzielend, Datenpraktiken zu erfassen und ihre ambivalenten Auswirkungen auf die Konstruktion von Schule, Rollen und Beziehungen im Schulsystem zu verstehen, greifen wir explorative und rekonstruierende Methoden auf, um die Verschränkung der Datenpraktiken mit weiteren Elementen der data assemblages zu untersuchen.

Der DATAFIED-Forschungsverbund greift auf einen qualitativen, interdisziplinären, schnittstellenorientierten Forschungsansatz zurück, der sich, orientiert an den theoretisch-methodischen Herangehensweisen unterschiedlicher Fachdisziplinen, einer Vielfalt an qualitativen Methoden bedient. In vier Teilprojekten beleuchtet DATAFIED verschiedene Schnittstellen und Prozesse zwischen den Ebenen der Educational Governance (siehe Abb. 1): Die Schnittstelle der Schulaufsicht und Schule (Teilprojekt 1) fragt danach, wie sich durch die Einbindung von digitalen Daten und Technologien die Beziehung zwischen Schulaufsicht und Schule verändert. Dabei werden im Kern die Datenpraktiken der Schulaufsicht sowie, gekoppelt hieran, der Schul(entwicklungs)beratung untersucht. Die Schnittstelle des Schulmanagements und der Schulinformationssysteme (Teilprojekt 2) nimmt die von der Schulleitung verwendeten Informationssysteme in den Blick und fragt danach, wie sich die Organisation von Schule durch Daten und Algorithmen verändert und welche Rolle die Software-Entwickler*innen dabei spielen. An der Schnittstelle der digitalen Lernsoftware und des Unterrichts (Teilprojekt 3) werden die in der Schule verwendete Lernsoftware und Lern-Apps selbst analysiert. Mit Blick auf die verwendeten Systeme erarbeiten wir, welche Datenpraktiken von Lehrkräften und Schüler*innen über die Software bereits präfiguriert werden und welche Auswirkungen auf Zielsetzungen, Rollen und Aufgaben möglich sind. An der Schnittstelle zwischen Lehrkräften und Schüler*innen im Unterricht (Teilprojekt 4) befassen wir uns mit dem konkreten Einsatz digitaler Medien und der damit verbundenen potenziellen Sammlung und Interpretation von Daten sowie mit den veränderten Beziehungen und Rollenverständnissen im didaktischen Setting des Unterrichts.

Abb. 1
figure 1

Schnittstellenübersicht der einzelnen DATAFIED-Teilprojekte (TP1-4)

Der analytische Blick auf vier Schnittstellen des Schulsystems erlaubt es uns, Datafizierung als Prozess und die mit ihm verwobenen Datenpraktiken zu untersuchen und somit danach zu fragen, wo und wie Datafizierung sichtbar wird. Dabei gilt unser Interesse Datenpraktiken und somit dem Umgang mit digitalen Daten im Schulsystem, die in den Arbeitsroutinen der von uns Beobachteten und Befragten Berücksichtigung finden. Wir blicken auf unterschiedliche Forschungsgegenstände (u. a. Dateninfrastrukturen, Lernsoftware als soziotechnisches System) und interessieren uns für Akteur*innengruppen (Personen der Schulaufsicht, Schulsekretariate, Schulleitungen, Lehrende, Schüler*innen, Softwareproduzierende) wie „Datenvermittler*innen“ (Hartong 2016), Softwareentwickler*innen bzw. die Produzent*innen von Informationssystemen (z. B. Breiter 2006; Breiter et al. 2008; Breiter und Ruhe 2018) und Lernsoftware (Macgilchrist 2017). Mit Blick auf die Verflechtungen soziotechnischer Systeme analysieren wir die Softwaresysteme selbst (z. B. Edwards 2015) und ihre Bedeutung für die Erzeugung von Daten und zur Unterstützung von Entscheidungsprozessen. Die Verknüpfungen lassen sich in unserem Verständnis nur im Zusammenspiel von unterschiedlichen Methoden greifen. Die vier Teilprojekte verfolgen in diesem Sinne einen empirischen Ansatz, der Forschungsperspektiven und -methoden aus der Soziologie, Informatik, Erziehungswissenschaft, Kulturwissenschaft sowie Kommunikations- und Medienwissenschaft verbindet. Um Datafizierung als Prozess und insbesondere Datenpraktiken zu beforschen, nutzen wir eine Forschungsperspektive, die auf beobachtende, interviewbasierte und rekonstruktive Methoden setzt (Bradbury und Roberts-Holmes 2017; Dourish und Gómez Cruz 2018; Selwyn 2014). Die Datenerhebungsmatrix (siehe Tab. 1) visualisiert, welche Methoden von welchem Teilprojekt des DATAFIED-Forschungsverbundes zur Datenerfassung genutzt wurden. Wir haben in den vier Bundesländern Hamburg, Bremen, Brandenburg und Hessen vertieft mit je zwei Schulen zusammengearbeitet, von denen jeweils eine für Unterrichtsbeobachtungen und jeweils beide für Interviews mit Schulleitungen, Schulsekretariatsmitarbeitenden, Lehrenden und in Teilen auch Schüler*innen zur Verfügung standen. Zudem haben wir in allen vier Bundesländern mit Personen der Schulaufsicht, Ministerien, Schulbehörden oder Schulämtern und darüber hinaus deutschlandweit mit Produzierenden von Software für das Schulmanagement und Lernsoftware gesprochen. Das Methodenportfolio zur Erhebung und Auswertung bestand aus Dokumentenanalysen, (teilstrukturierten) Interviews – unter anderem mit card-sorting (Hasebrink und Hepp 2017) – Unterrichtsbeobachtungen und -aufzeichnungen sowie Softwareanalysen – unter anderem der Walkthrough Approach (Troeger und Bock 2022) – Diskurs- und Netzwerkanalysen, objektive Hermeneutik und Daten(fluss)visualisierungstechniken – unter anderem Geschäftsprozessmodellierung („business process model“ z. B. Freund und Rücker 2012) sowie das „mapping“ von Softwareproduzierenden (z. B. Eleftheriou et al. 2018).

Tab. 1 Datenerhebungsmatrix des DATAFIED-Forschungsverbundes

Mit unserem Forschungsansatz reagieren wir unter anderem auf verschiedene, innerhalb der kritischen Datenstudien formulierte Methodenappelle: Erstens adressieren wir die Forderung nach empirischen Fallstudien, die vertiefend, unterschiedliche Facetten datafizierter Bildung, Verwaltung und Wirtschaft sowie deren Verflechtungen beleuchten (Kitchin und Lauriault 2014, S. 14). Zweitens schließen wir an Arbeiten an, die ihren Forschungsfokus verschieben und dabei weniger (daten)mächtige Akteur*innen betrachten als vielmehr „ordinary people“ (z. B. Pink et al. 2017) um Datafizierung so zu betrachten, wie sie im Alltag gelebt, empfunden und erfahren wird (z. B. Kennedy 2018). Drittens schließt unser empirisches Vorgehen an Untersuchungen an, die (widerständige) Datenpraktiken in den Blick nehmen (z. B. Crooks und Currie 2021; Jarke und Breiter 2019) und dabei insbesondere kritisch die Datenpraktiken im Bildungsbereich untersuchen (z. B. Decuypere 2021).

In einem Verständnis dafür, dass Datenpraktiken eine genaue, konzeptionell reichhaltige Untersuchung der Prozesse erfordern, die in der Konstruktion und der Funktionsweise dieser Praktiken verschränkt sind (z. B. Decuypere 2021 in Anlehnung an Goriunova 2019; Grommé und Ruppert 2020; Ratner und Ruppert 2019), folgen wir, wie Matthias Decuypere, einem kritischen methodischen Ansatz, der nicht ausschließlich messen will, „was Datenpraktiken sind“, sondern vielmehr „die performativen Effekte von Datenpraktiken“ in den Blick nimmt und somit danach fragt, „was diese Praktiken tun“ (Decuypere 2021, S. 69).

3 Ambivalenzen schulischer Datafizierung

Die Beiträge in unserem Buch schließen an die Perspektiven kritischer Datenstudien an und spitzen deren Fokus weiter zu. Indem wir auf die Ambivalenzen blicken, die durch Datafizierung hervorgebracht werden und gleichzeitig Datafizierung hervorbringen, irritieren wir kritisch-abwägend den Umgang mit Daten und den Blick auf Datenpraktiken. Die Fokussierung auf Ambivalenzen und das Herausarbeiten von Komplexität, Brüchen und Spannungen ist unser kritischer Zugang zu Datenpraktiken, der weder ausschließlich aus der Vogelperspektive externer Beobachter*innen Datenhandeln beschreibt oder bewertet, noch lediglich in Nahaufnahme betrachtet, wie sich welche Datenpraktiken durch wen, wo und wann entfalten. Im Sinne des kritischen Ansatzes möchten wir durch den Fokus auf Ambivalenzen ein Verständnis von schulischer Datafizierung verkomplizieren und dadurch unter anderem Dualismen von „richtiger und falscher“ sowie „guter und schlechter“ Datafizierung aufbrechen. Unser Blick soll dabei helfen, unterschiedliche Wege und Umgänge mit Daten in einer datafizierten Schule zu erwägen, die Möglichkeiten wertzuschätzen und gleichzeitig offen über diverse Zukünfte von datafizierter Schule nachzudenken.

3.1 Kontrolle | Beratung – Administration | Pädagogik – Hierarchie | Autonomie

Daten sind weder per se „korrekt“ noch „vollständig“. Da Daten immer auch in soziopolitischen Kontexten produziert, gesammelt, distribuiert und verwendet werden, evozieren sie immer auch Reibungen, erscheinen je nach Kontext schlüssig oder fehlerhaft und sind letzten Endes niemals ein ‚evidentes Abbild‘ sozialer Wirklichkeiten. Gleichzeitig beobachten wir in den letzten Jahr(zehnt)en eine zunehmende Automatisierung und Formalisierung der Nutzung von Daten als Grundlage für schulische Entscheidungsprozesse. Daten bilden beispielsweise die Basis für die Berechnung und Verteilung von Personal- und Sachmitteln, aber auch schulische Evaluation und Schulentwicklungsmaßnahmen werden unter anderem mit Bezug auf Anwahl- oder Leistungsdaten geplant und umgesetzt. Aus den Prämissen, dass Daten im Bildungssystem immer auch „politisch“ sind (z. B. Hartong und Förschler 2019; Levy und Johns 2016) und „sozial/situativ“ hervorgebracht werden, jedoch auf dieser Basis schulische Akteur*innen Anleitung für ihr konkretes Handeln ableiten sollen, entstehen Spannungsverhältnisse, die von den beteiligten Akteur*innen sehr unterschiedlich (nicht) aufgelöst werden. Beispielsweise, indem „Daten als Narrativ“ (Dourish und Gómez Cruz 2018) in inhaltlich kohärente Geschichten eingebettet und dadurch „passend“ gemacht werden, auch wenn ein die Spannung auslösendes Irritationsmoment zum Beispiel bei der Datenerhebung oder -weitergabe weiterhin besteht.

Vor diesem Hintergrund sehen wir verschiedene Spannungsverhältnisse an der Schnittstelle von Schulaufsicht und Schule: Im Kontext zunehmender Datafizierung sind Schule und Schulaufsicht auf der einen Seite angehalten, schulrelevante Entscheidungen möglichst „objektivierbar“ und „transparent“ (z. B. Bradbury 2019) zu treffen und müssen auf der anderen Seite Routinen für den Ablauf datengestützter Steuerungsprozesse immer wieder aushandeln oder zunächst etablieren. Einerseits greifen Schulleitung und Schulaufsicht vermehrt auf digitale Daten zurück, andererseits wissen die Datennutzer*innen um diverse, intersubjektiv und kontextabhängig, unterschiedlich wahrgenommene Herausforderungen, die mit der Sammlung, Produktion, Distribution und Nutzung von Daten einhergehen. Daten sind Ausgangspunkt für Kontroll- aber auch Beratungsmaßnahmen der Schulsteuerung, die sich gleichzeitig zwischen hierarchisch-regulierter und autonom-professionalisierter Steuerung bewegt und dabei sowohl pädagogische Fragen als auch Verwaltungsaufgaben im Blick haben muss. Die zum Teil divergierenden oder konfligierenden Ziele und Aufgaben sind dabei von den handelnden Personen in der Praxis zu vereinen, beispielsweise indem eigene Wege und Interpretationen bei der Ausgestaltung und Aushandlung von Datenpraktiken gefunden werden. Welche Datenpraktiken bilden sich in einer (Bildungs-)Institution heraus, wenn die Prämisse Daten zu erheben und zu nutzen Konsens ist, aber der faktische Umgang von den beteiligten Akteur*innen immer wieder ausgehandelt werden muss?

Diese und weitere Ambivalenzen arbeiten Sigrid Hartong und Vito Dabisch in ihrem Beitrag Kap. „Datafizierte Schulaufsicht?! Zur Erfassung des komplexen Zusammenspiels von wirkmächtigen Dateninfrastrukturen und vielfältigen Datenpraktiken“ heraus. Die Autor*innen zeichnen hierbei ein differenziertes Bild datafizierter Schulaufsicht, welches vertiefte Einblicke in das Zusammenspiel aus ambivalentem enactment (z. B. Förschler et al. 2021; Selwyn 2014) von Datafizierung und übergreifenden Transformationsprozessen der Schulaufsicht enthält und sich dabei von Unterscheidungen zwischen high- und low-stakes Systemen (z. B. Lingard et al. 2013) lösen will. Stattdessen dekonstruiert das Kapitel, wie sich Regulierungspotenziale von Dateninfrastrukturen situativ manifestieren und welche Einflussfaktoren dabei identifiziert werden können. Konkret werden in diesem Kontext die Ausweitung von Dateninfrastrukturen, in Verbindung mit einer zunehmenden Plattformisierung, Zentralisierung und Automatisierung der Datenproduktion und -verwendung diskutiert. Damit einher gehen stärkere Formalisierungen von Datenpraktiken in Schulaufsichtsprozessen. Mit ihrem Beitrag zeigen Sigrid Hartong und Vito Dabisch, wie Personen der Schulaufsicht ihre ambivalente Rolle zwischen Kontrolle und Beratung, Pädagogik und Verwaltung sowie Hierarchie und Autonomie der Steuerung mit einer zum Teil individuell widersprüchlichen Wahrnehmung und Verwendung von Daten reflektieren.

3.2 Un- | Sichtbarmachung – Zooming-out | Zooming-in – Datenfluss | Datenfestschreibung

Daten reisen. Sie werden bewegt, abgerufen, verschoben, neu zusammengestellt und weitergeleitet. Ihre Reise wird aber auch umgeleitet, unterbrochen oder abgebrochen. Dabei werden die jeweiligen nicht immer direktionalen, zirkulären oder linearen Bewegungen, die wir in Anlehnung an Bates und Kolleg*innen (Bates et al. 2015, 2016) als Datenflüsse verstehen, „hergestellt“, wobei die Datenbewegungen für die Beteiligten nicht immer unmittelbar einsichtig sind. Die schulische Bildungsverwaltungspraxis nutzt Visualisierungen von Daten(flüssen) für unterschiedliche Nutzungsanliegen, insbesondere zur Entscheidungsfindung und für die Optimierung bestehender Datenflüsse und Datenpraktiken. Wichtiges Ziel bei der Analyse datenbasierter Bildungssteuerung ist es zu verstehen, wie Daten in und zwischen Bildungsorganisationen effizient fließen und dabei einfach, schnell und möglichst ohne große Reibungsverluste verknüpft und transferiert werden können (z. B. Fickermann 2021). Ein solcher Effizienz- und Optimierungsanspruch, der eine möglichst gute Passung zwischen Datenproduzierenden (in der Regel Schulleitungen, Lehrende und Schüler*innen) und Datenempfangenden (unter anderem Akteur*innen im Schulmonitoring) anstrebt (z. B. Kemethofer et al. 2021; Thiel et al. 2019), lässt jedoch verschiedene, von uns aus dem empirischen Material herausgearbeitete Ambivalenzen an der Schnittstelle von Schulaufsicht, Schulmanagement und Schulinformationssystemen außer Acht: Während Datenvisualisierungen Transparenz, Verständlichkeit, Les- und Sichtbarkeit versprechen, zeigt die schulische Praxis jedoch gleichzeitig, dass Daten nicht immer „reibungslos“ fließen. Es kommt zu Brüchen, Ambivalenzen und Spannungen, wobei die Dynamiken und Reibungen während der Datenreise schwer visualisierbar sind, wodurch unter Umständen auch Festschreibungen datafizierter Sichtbarkeiten erfolgen. Zudem legen Forschungserkenntnisse seit geraumer Zeit nahe, dass nicht „einsehbare“ soziotechnische Systeme (Iliadis und Russo 2016, S. 4) – wie damit auch die Modellierung von Datenflüssen – Analysen vor besondere Herausforderungen stellen, die sich für kontingente, kontextabhängige, situierte, aktiv in der Welt wirkende Daten interessieren. Wie lassen sich (unsichtbare) Prozesse beforschen? Wie können Datenflüsse sichtbar gemacht werden, die den Beteiligten selbst oft – so können die DATAFIED Ergebnisse zeigen – nicht immer einsichtig sind und für sie in Teilen unsichtbar bleiben. Auf welche Weise werden Daten innerhalb schulischer Datenstrukturen mobilisiert?

Die hohe Dynamik fließender Daten und die bedingte Unsichtbarkeit von Datenflüssen erfordern sowohl einen Metablick auf die Gesamtheit der am Datenfluss Beteiligten, als auch Optionen des „Zooming-In“, um Details, Brüche und Ambivalenzen zu Tage zu fördern. Diese und weitere Einsichten erarbeiten Juliane Jarke, Sigrid Hartong, Tjark Raabe, Vito Dabisch, Angelina Lange, Irina Zakharova und Andreas Breiter in Ihrem Beitrag Kap. „Zur Erfassung und Modellierung der „Hinterbühne“ von Datenflüssen: Das Beispiel Unterrichtsausfall“. Als produktive Ergänzung zu bisherigen Forschungen diskutieren die Autor*innen, inwieweit die Visualisierung von Datenflüssen auch alternative Sichtweisen auf datafizierte Schule ermöglichen können. Zudem zielt der Beitrag darauf ab, die Möglichkeiten und Grenzen der Erfassbarkeit und Visualisierung von Datenflüssen auszuloten. Argumentiert wird, wie sich einerseits mit Hilfe von Dokumentenanalysen, Interviews oder teilnehmenden Beobachtungen Einblicke in den Entstehungs-, Distributions- und Nutzungskontext von Daten(flüssen) gewinnen lassen und andererseits wie die Schwierigkeiten der Visualisierung von Datenflüssen durch die Erstellung eigener Modellierungen und deren Adaptionsprozess zu problematisieren sind. Mit ihren Ansätzen Datenflüsse zu modellieren können die Autor*innen zweierlei zeigen: zum einen, dass durch ein Heranzoomen nur ein Ausschnitt der hochgradig mobilen und komplex verschachtelten Datenflüsse zeigbar wird und zum anderen, dass ein Herauszoomen und Blick auf Datenflüsse aus der Vogelperspektive zwangsläufig Unschärfen und Ungenauigkeiten produziert. Die Aushandlungsprozesse zur Ausgestaltung der Datenmodellierungen sind jedoch die für den Forschungsprozess besonders fruchtbaren Momente. Mit ihrem Beitrag leisten die Autor*innen einen Beitrag zu Arbeiten, die sich für Modellierungen von Datenflüssen als Forschungsgegenstand interessieren und innerhalb des Forschungsprozesses eigene Visualisierungen zu erstellen suchen.

3.3 Belastung | Entlastung – Unterstützung | Eigenständigkeit – Individualisierung | Kollektivierung

Daten sammelnde, generierende und nutzende Software entfaltet zusehends Wirkmacht in schulischen Settings, indem ihre Verwendung die administrativen und pädagogischen Praktiken sowie Vorstellungen von „guter Schule“ prägt (z. B. Breiter und Jarke 2016; Eder et al. 2017; Eynon 2013; Gapski 2015; Ozga 2011; Williamson 2016). Mit der Verwendung von Software werden in der öffentlichen Debatte zudem Versprechen verknüpft, die beispielsweise auf die Entlastung sowie Unterstützung der schulischen Akteur*innen abzielen und dabei ein spezifisches Bild von den im Schulsystem zu unterstützenden Personen entwirft. Zugleich signalisieren diese Nutzungsversprechen klare, meist einfach umsetzbare Lösungen für Probleme, die zuvor Softwareentwicklerteams antizipiert haben, ohne sie ausführlich mit den Einsichten von Bildungspraktiker*innen abgeglichen zu haben. Jedoch belegen Forschungsarbeiten gleichzeitig, dass schulisches Handeln nicht eindeutig, direktional abläuft, sondern immer schon durch Spannungen, Widersprüche und Unbestimmtheit konstituiert ist (z. B. Edwards 2009) und damit eine permanente Wechselwirkung zwischen Softwarelösung und Nutzung entsteht.

Auch mit unserem empirischen Material können wir an der Schnittstelle von Lernsoftwareproduktion, Unterricht und Schule Ambivalenzen zeigen. Wir rekonstruieren Spannungen, die sich ergeben, wenn „außenstehende“ Entwicklerteams Lösungen für die von ihnen formulierten Probleme von Schule anbieten und dabei auf ein schulisches Setting stoßen, dass außerhalb ihres Erfahrungshorizontes liegt und zudem durch die Unübersichtlichkeit und Komplexität des schulischen Alltags geprägt wird. In ihrem Beitrag Kap. „Digital ist besser!? – Wie Software das Verständnis von guter Schule neu definiert“ gehen Jasmin Troeger, Irina Zakharova, Felicitas Macgilchrist, und Juliane Jarke der Frage nach, wie Softwareproduzierende implizit oder explizit „gute Schule“ imaginieren, schulische Herausforderungen problematisieren und welche Lösungsvorschläge sie anbieten. Auf der Grundlage von Interviews mit Entwickler*innen, Geschäftsführer*innen und Projektmanager*innen von Schulinformationssystemen und adaptiver Lernsoftware diskutieren die Autorinnen „performative Effekte auf die Praktiken in Schulen“ bzw. wie Vorstellungen guter Schule durch die Softwaregestalter*innenteams in deren Produkte eingeschrieben werden und dadurch pädagogisches und institutionelles Handeln rahmen bzw. nahelegen. Die Autorinnen können zweierlei Problematisierungen und damit verknüpfte Lösungsangebote der Softwareproduzierenden zeigen: einerseits werden die handelnden schulischen Akteur*innen als überbelastet, stark herausgefordert bzw. überfordert imaginiert und daher Lösungsangebote zu ihrer Entlastung durch Software angeboten. Andererseits werden Schulen in einem Spannungsverhältnis zwischen (Daten)rechenschaftspflicht gegenüber anderen Behörden und dem Bedürfnis nach Eigenverantwortlichkeit wahrgenommen und daher Softwarelösungen als sinnvoll erachtet, die Schulen beim eigenverantwortlichen Organisieren unterstützen. Die Autorinnen schlagen vor, bestehende Spannungen in der schulischen Praxis nicht als Hemmnisse zu betrachten, die durch den Einsatz von Technologien behoben werden sollten, sondern diese Spannungen produktiv zu nutzen und als ambivalente Bestandteile schulischer Praxis anzuerkennen. Sie führen an, dass dies partizipative Ansätze der Softwaregestaltung mit Bildungspraktiker*innen ermöglichen und integrative und nachhaltige Softwarelösungen fördern kann.

3.4 Adaptiv | adaptierend – „gute“ Schule | Schulalltag

In einem Nexus aus Technikeuphorie und -skepsis werden sowohl die Potenziale des Einsatzes von vermeintlich „adaptiver“ Lernsoftware für individualisierten Unterricht (Knaus 2017), als auch die mit ihnen verknüpfte Kritik an datengetriebener Optimierung, Kommerzialisierung oder Gamifizierung von schulischer Bildung (z. B. Knox et al. 2020; Watters 2021; Weich et al. 2021) weiterhin überdimensioniert. Vor diesem Hintergrund nimmt der DATAFIED-Forschungsverbund einen größeren Korpus an Forschungsliteratur wahr, die sich entweder vermehrt mit der Frage auseinandersetzt, welche Lernsoftware auf welche Weise besonders effizient (gemessen am output und outcome) für das schulische Lehren und Lernen verwendet werden kann. What works? bildet hier den Fokus. Oder es finden sich Studien, die Kommerzialisierungstendenzen im Bildungssektor kritisieren. Weniger beleuchtet sind bisher die Spannungen und Ambivalenzen zwischen der Produktion von Lernsoftware und ihrer Verwendung in unterrichtlichen Settings. Auf Basis welcher Annahmen entscheiden Softwareentwicklungsteams darüber, wie ihre Produkte gestaltet werden und auf welche (vermeintlichen) Probleme im Unterricht antworten sie? Auf welche Weise entscheiden wiederum Lehrende darüber, welche Lernsoftware sie auf die eine oder andere Weise im Unterricht (nicht) nutzen? In welchem Verhältnis stehen diese Annahmen?

Oft als Dichotomie von guter/schlechter oder pädagogisch-didaktisch nicht/sinnvoller Software gedacht, erweist sich das Zusammenspiel von intendierter und unterrichtlicher Nutzung jedoch in der Praxis von Softwareproduktion und -anwendung wesentlich komplexer und durchaus ambivalent, wie Felicitas Macgilchrist, Sieglinde Jornitz, Ben Mayer und Jasmin Troeger in ihrem Beitrag Kap. „Adaptive Lernsoftware oder adaptierende Lehrkräfte? Das Ringen um Handlungsspielräume“ diskutieren. Sie schließen dabei an Forschungen an, die die Versprechen und Verfasstheit von Lernsoftware kritisch beleuchten und ergänzen diese durch Perspektiven schulischer Akteur*innen und Softwareentwickler. Indem sie die aus Leitfadeninterviews mit Praktiker*innen der Softwareproduktion und schulischen Anwendung gewonnenen Einschätzungen adaptiver Lernsoftware miteinander verschränken, arbeiten die Autor*innen Ambivalenzen heraus und hinterfragen Annahmen von „guter“ und „schlechter“ Software. Anhand der Aspekte Leistungsdifferenzierung, Fehlertoleranz und Belohnung zeigen die Autor*innen ein Ringen um Handlungsspielräume.

Ziel des Beitrags ist es, die kritische Forschungsliteratur – die die Lernsoftware als „Produkt“ und die Versprechen der Werbematerialien intensiv analysiert – durch Perspektiven aus der Praxis der Lehrkräfte und der Softwareentwickler zu ergänzen. Durch ihre verschränkende Perspektive zielen sie zudem darauf, zum einen die postulierte Wirkkraft einzelner Lernsoftwareprodukte zu hinterfragen und in einen anwendungs- und entwicklungsbezogenen Kontext zu stellen. Sie verweisen auf die Unübersichtlichkeit, die für die Verwendung von Technologie in Lernkontexten konstitutiv ist (Allert und Richter 2020; Law 2004). Zum anderen arbeiten Felicitas Macgilchrist, Sieglinde Jornitz, Ben Mayer und Jasmin Troeger Spannungen heraus, die sich aus der von Produzierenden intendierten oder antizipierten Anwendung zur Förderung einzelner Schüler*innen und der Praxis des sozialen Miteinanders, beispielsweise in Gruppenarbeiten im Unterricht, entfalten. In ihren Analysen wird deutlich, dass die Einschätzung des Möglichkeitsraums von Softwareproduktion und ihrer Anwendung stark durch die Position und Einstellung des Bewertenden gerahmt ist. Lehrende, so können die Autor*innen mit ihrem Beitrag zeigen, sind weder einseitig überfordert mit der Nutzung datengetriebener Technologien, noch sind sie ausnahmslos kritisch oder euphorisch in Bezug auf deren Anwendungspotenzial für schulisches Lehren und Lernen. Vielmehr wird im Beitrag ein Bild von „adaptierenden Lehrenden“ sichtbar, die reflektiert und versiert eine adaptive Lernsoftware an die Bedarfe ihrer Schüler*innen anpassen. Gleichzeitig verkompliziert der Beitrag ein Bild von „schädlicher“ oder „völlig autonom funktionierender“ adaptiver Software, die sich – anders als bestimmte Lehrwerke – der Aufgabe stellt, schulform-, jahrgangs- und klassenübergreifendes selbstständiges Lernen zu ermöglichen.

3.5 Distanz- | Unterricht - öffentliche Diskussion | schulischer Alltag

Wo und wie datengetriebene Lernsoftware bzw. Lernplattformen Lehrende in der Pandemie bei der Herstellung von (Distanz-)Unterricht unterstützen konnten, erfuhr großer medialer und wissenschaftlicher Aufmerksamkeit. Einerseits wurde die Situation als Chance gedeutet, eine lang angekündigte „digitale Revolution“ und Transformation schulischer Bildung zu beschleunigen. Anderseits wurden viele Unsicherheiten in Bezug darauf deutlich, wie und mit welchen Systemen oder Praktiken beispielsweise Distanzunterricht oder Benotung „hergestellt“ wurden und konkret im Unterrichtsalltag in Distanz auszubuchstabieren waren. Auf dem Nachrichtendienst Twitter entfaltete sich eine Debatte zum Einsatz digitaler Medien während der Pandemie. Dort wurden schulübergreifend Themen diskutiert oder politische Akteur*innen adressiert. Während mit gewisser Strahlkraft über Twitter eine breit zugängliche Diskussion mit direktem und indirektem Bezug auf Datafizierung im Bildungssystem sichtbar wurde, mussten einzelne Schulen und Lehrende für sich den alltäglichen Umgang mit datenverwendenden Lern(management)plattformen während der Pandemie finden, der nicht immer zwingend in Einklang mit der öffentlichen Debatte stand und zudem deutlich weniger „sichtbar“ war.

In dem Beitrag Kap. „Pandemiebedingte Schulschließungen und die Nutzung digitaler Technologien. Welchen Einblick Twitter- und Interviewanalysen geben können“ von Ben Mayer, Sieglinde Jornitz, Irina Zakharova, Juliane Jarke und Yan Brick zeichnen sich Spannungen in Bezug auf die Twitter-Debatten und die im Alltag, einzelner Schulen entfaltete Diskussion zur Verwendung digitaler Medien für schulische Zwecke in der Pandemie ab. Die Autor*innen gehen der Frage nach, mit welchen digitalen Medien und Softwarelösungen Schulen während der Pandemie versucht haben, Unterricht auf Distanz herzustellen. Die Datenbasis bilden zwei Datenkorpora –Twitter-Tweets mit dem Hashtag #twitterlehrerzimmer und #twlz und Leitfadeninterviews mit Lehrenden unserer DATAFIED-Projektschulen. Einerseits blicken die Autor*innen in Nahaufnahme auf Lehrendenerfahrungen in der Pandemie und andererseits aus der Vogelperspektive auf die im deutschsprachigen Raum geführte allgemeine Diskussion zu Anwendungsszenarien digitaler Medien, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen einer Bildungspraxis-Community und den spezifischen Interessen der Lehrkräfte an den Projektschulen herauszulesen. Der Beitrag zeichnet die Entwicklung thematischer Schwerpunkte in Bezug auf digitale Medien im Verlauf der Schulschließungen während der Pandemie nach. So werden sowohl Entwicklungstendenzen in drei der DATAFIED-Projektschulen nachgezeichnet, als auch die sich in Twitter-Tweets spiegelnden Schwerpunktsetzungen von auf Twitter aktiven Lehrkräften rekonstruiert. In den Twitter-Tweets identifizieren Ben Mayer, Sieglinde Jornitz, Irina Zakharova, Juliane Jarke und Yan Brick für die erste Phase der Schulschließungen zunächst einen vermehrten Austausch über Tools für kollaboratives Arbeiten sowie Interesse am Ausprobieren „digitaler Möglichkeiten“. In der zweiten Phase liegt der Schwerpunkt auf dem Austausch zur Etablierung von Softwarelösungen. Die dritte Phase ist schließlich von einer gewissen Verwendungsroutine gekennzeichnet. Während Schulen und Lehrende in der ersten Phase verstärkt nach digitalen Lösungen suchten, beispielsweise um durch die Reaktivierung oder Etablierung von Plattformangeboten mit Schüler*innen über die Distanz hinweg in Kontakt zu bleiben, war die zweite Phase gekennzeichnet durch eine Engführung auf die Softwareprodukte, die bisher von der Schulleitung zur Verfügung gestellt und den Lehrenden bekannt waren. Die dritte Phase wiederum war stark geprägt von Fragen danach, wie trotz des Distanzunterrichts zu benoten sei. Indem beide Analysen der Datenkorpora in Bezug zueinander gesetzt werden, können die Autor*innen zeigen, dass Twitter als ein „Diskursraum“ fungiert, in dem tendenziell die großen Visionen von Potenzialen digitaler Medien für das Unterrichten über das Bestehende hinaus ausgelotet werden, während die interviewten Lehrkräfte eingebunden sind in die je konkreten pädagogisch, technisch und rechtlich regulierenden Gegebenheiten in ihren Schulen. Der Beitrag gibt unter anderem Einblicke in das Spannungsverhältnis zwischen größtmöglicher Freisetzung des Machbaren mit digitalen Technologien und teils restriktiver Umsetzung im alltäglichen Unterricht und in der Schule.

3.6 Nicht | alltägliche Arbeit der Datafizierungsforschung

Die Komplexität, Ambivalenzen und Herausforderungen, mit denen die Forschenden bei der Datenerhebung in und um Schule konfrontiert werden, bilden den Fokus des Werkstattberichtes. Forschung ist „messy“ und „uncertain“ (z. B. Addey und Piattoeva 2021). So haben unsere Teilprojekte sehr unterschiedliche Irritationsmomente zu Tage befördert, in die wir mit diesem Buch gern Einblicke geben wollen. Im Schlusskapitel Kap. „Werkstattbericht - Ein Blick auf die Hinterbühne der DATAFIED-Forschung“ (Macgilchrist et al. 2023, in diesem Buch) möchten wir Gesprächs- und Denkanstöße geben für jene, die die alltägliche Arbeit der Datafizierungsforschung verstehen wollen und sich gleichzeitig für eine critical data studies Perspektive auf Datafizierung interessieren. Welche Herausforderungen sich während der Feldforschung und bei der Analyse unserer Daten ergaben, zeigen wir im Werkstattberichtkapitel am Ende unseres Buches. Ganz im Sinne eines out-take oder director’s cut sprechen die Autor*innen der Buchbeiträge dort offen über Stolperfallen und Schwierigkeiten, die uns bei der Generierung von Forschungsdaten begegnet sind. Neben den Herausforderungen möchten wir zudem einige Beobachtungen teilen, die uns irritiert und dadurch ins Nachdenken über Datafizierung gebracht haben. An dieser Stelle werden wir anhand von Geschichten und Irritationsmomenten aus der Feldforschung auf überraschende, aber auch aufschlussreiche Momente verweisen, die in ihrer Vielgestalt und Unterschiedlichkeit Datafizierung und Datafizierungsforschung aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten.

4 Einladung zum Weiterlesen und Weiterdenken

Mit den Buchbeiträgen betrachten wir Datafizierung als gesellschaftlichen Metatrend im Kontext von Digitalisierung und als Prozess, in dessen Verlauf Entscheidungen basierend auf digitalen Daten getroffen werden. Datafizierung ist im Schulsystem angekommen und geht nicht mehr weg. Auch wenn die Entwicklungsprozesse zeitversetzt in Deutschland begonnen haben und sich auch in unterschiedlicher Geschwindigkeit je nach Schule, Region oder Bundesland ausbreiten, zeigen unsere Untersuchungen, welchen prägenden Charakter digitale Daten und ihre Infrastrukturen haben und zukünftig haben werden. Zugleich wird deutlich, dass Daten immer relational sind und damit kontextualisiert werden müssen. Datengesteuerte Schulentwicklung wird so zu einem Widerspruch in sich, da zunächst verschiedene Logiken zur Schulsteuerung dazu dienen, Daten zu definieren, die wiederum genutzt werden, um Schulsteuerung zu organisieren.

Ziel der Beiträge ist es für das Schulsystem einerseits, die Ambivalenzen, Komplexität und Spannungen, die bei der Produktion, Sammlung, Distribution und Verwendung von schulischen digitalen Daten zu Tage treten, anhand von empirischem Material zu rekonstruieren. Andererseits diskutieren einzelne Kapitel die methodischen Herausforderungen, derer sich Datafizierungsforschung im Schulsystem stellen muss. An den Schnittstellen von Unterrichtspraktiken, Softwareproduktion, Schulmanagement und Schulsteuerung schließen unsere Betrachtungen an Forschungen an, die sich aus der Perspektive kritischer Datenstudien mit datafizierter Gesellschaft, Bildung auseinandersetzen und die sich für die „Unordnung“ (messiness), „Uneindeutigkeit“ (ambiguity) und „Undurchsichtigkeit“ (intransparency) schulischen Alltags interessieren. In einem Verständnis von Datenpraktiken als komplexe Bündel sowie als Nexus von Aktivitäten, die digitale Daten konstituieren, visualisieren, nutzbar machen, befragen oder problematisieren, verfolgen die Beiträge einen qualitativen, schnittstellenübergreifenden, interdisziplinären methodischen Ansatz. Damit reagieren wir auf die Methodenappelle der kritischen Datenstudien und liefern empirischen Fallstudien, die vertiefend, verschiedene Facetten datafizierter Schule beleuchten und auf die alltäglichen Datenpraktiken rekurrieren. Dabei liegt unser Fokus auf Ambivalenzen quer zu den Themenfeldern bisheriger kritischer Forschungen, erweitert somit die Perspektive der critical data studies und zielt darauf ab, durch das Aufzeigen von Spannungen sowie Formulierung kritischer Fragen Gesprächs- und Denkanstöße für gesellschaftspolitische Implikationen schulischer Datafizierung zu geben. Es braucht Qualifizierung und Sensibilisierung von Akteur*innen auf allen Ebenen von Steuerung bis Unterrichtsgestaltung und auch bei den Entwickler*innen der Dateninfrastrukturen. Dies kann nur in Form einer neuen Governance für Bildungsdaten erfolgen, ganz analog zur Regulierung von Plattformen für Dienstleistungen und Handel. Indem wir auf die mit Datafizierung verwobenen Ambivalenzen, Komplexität und Spannungen fokussieren, irritieren wir kritisch-abwägend den Umgang mit Daten sowie den Blick auf Datenpraktiken und laden jene, an Daten und Datafizierung interessierte Forscher*innen wie auch Bildungspraktiker*innen, dazu ein, über unterschiedliche Umgänge mit digitalen Daten in einer datafizierten Schule nachzudenken und dabei diverse Zukünfte von datafizierter Schule zu imaginieren.