In den nun folgenden Kapiteln soll die Frage beantwortet werden, weshalb sich ein analytischer Blick auf gesellschaftliche Wertorientierungen und die aus ihnen erwachsenden Effekte für die Wahl- und Parteienforschung lohnt und welche Konsequenzen aus diesen Effekten entstehen. Dafür werden in Abschnitt 5.1 zunächst die zentralen Befunde noch einmal zusammengefasst und vor dem Hintergrund des theoretischen Grundmodells diskutiert. In dem sich anschließenden Abschnitt 5.2 wird die spezifische methodische Vorgehensweise kritisch reflektiert. Ziel ist hierbei außerdem die Defizite, die sich im Rahmen der vorliegenden Studie ergeben haben, aufzugreifen und im Kontext der Arbeit einzuordnen. Gleichzeitig sollen noch einmal jene Aspekte herausgestellt werden, die aus Sicht des Autors einen methodischen Mehrwert für weitere Forschung darstellen. In Abschnitt 5.3 werden Vorschläge unterbreitet, die sich aus den hier vorliegenden Ergebnissen für die politische Praxis ableiten lassen. Gemeint sind hiermit konkrete Handlungsempfehlungen für die hier analysierten Parteien, die sich als Grundlage für weitere Diskussionen anbieten. Im abschließenden Abschnitt 5.4 werden bestehende Forschungsdesiderate genannt, die einen Ausblick darauf geben, an welchen Punkten in Zukunft noch weitere Forschung betrieben werden kann oder sollte, um dem Stellenwert gesellschaftlicher Wertorientierungen für die Wahlforschung gerecht zu werden.

5.1 Zusammenfassung und Diskussion

Die hier vorliegende Studie beschäftigte sich mit der Fragestellung, inwiefern sich gesellschaftliche Wertorientierungen innerhalb der deutschen Bevölkerung von 2009 bis 2017 verändert haben und welchen Effekt die darauf basierenden unterschiedlichen Konfliktdimensionen auf das Wahlverhalten für spezifische Parteien entfalten.

In diesem Kontext wurde hier zunächst ausführlicher das Konzept der so genannten Cleavages vorgestellt, die ursächlich für die Ausdifferenzierung von Parteiensystemen Westeuropas und auch für das der Bundesrepublik Deutschland waren. Insbesondere der ursprünglich von Lipset und Rokkan (1967) beschriebene Konflikt zwischen Kapital und Arbeit, der sozio-ökonomische Verteilungskämpfe und soziale Ungleichheit abbildete, aber auch jener zwischen Kirche und Staat, bei dem es um religiös-kirchliche Einflussnahme auf den Staat ging, haben sich für das deutsche Parteiensystem und seine Wähler als konstitutiv erwiesen. Die historischen Wurzeln der heutigen Sozial- und Christdemokratie sind ebenso tief verankert wie die des politischen Liberalismus in Deutschland. Über mehrere Jahrzehnte reichten Ansätze, die die individuelle sozialstrukturelle Verankerung in den Mittelpunkt von Wahlentscheidungen rückten, für die Erklärung eben dieser aus. Der durch die Sozialstruktur ausgehende Effekt hat jedoch spätestens in den 1970ern begonnen an Wirkungsstärke einzubüßen, gleichwohl auch heute noch entsprechende Einflussgrößen feststellbar sind. Katholiken wählen auch heute noch überdurchschnittlich stark die CDU/CSU, Arbeiter sind derweil hingegen nicht mehr einer klar definierten politischen Heimat zuzuschreiben. Waren sie früher primär in der Wählerschaft der SPD vertreten, teilen sie sich heute, so die Ergebnisse hier vorgestellter Studien, gleichermaßen auf die SPD, die CDU/CSU, die Linke und inzwischen auch auf die AfD auf.

Die Entstehung von grünen und grün-alternativen Parteien ist unter Zuhilfenahme des Cleavage-Konzepts, sofern man Cleavages – wie in der hier vorliegenden Arbeit – als in der Sozialstruktur verankerte Konfliktlinien definiert, hingegen nicht zu erklären. Inglehart hat mit seinem Konzept der so genannten Silent Revolution ein Phänomen beschrieben, welches eine Loslösung von derartigen sozialstrukturellen Faktoren beschreibt und die Orientierung an spezifischen Werten, so genannte Wertorientierungen, als essenzielles Charakteristikum für diese Entwicklung ausmacht. Demnach findet in nahezu allen westlich-industrialisierten Ländern ein unbemerkter Wertewandel statt, welcher zur Aufkündigung eines unbegrenzten Wachstumskonsenses führt und schließlich eine stärkere Priorisierung postmaterialistischer denn materialistischer Werte bedingt.

In diesem Kontext werden dann Argumente angebracht, die den nahenden Bedeutungsverlust klassischer Prädiktoren für das Wahlverhalten, wie eben die Verortung in der Sozialstruktur, als gegeben ansehen. Tatsächlich hat sich im Zeitverlauf gezeigt, dass dies nicht der Fall ist. Auch die ursächlich sozialstrukturell begründeten Konfliktlinien haben sich in der weiteren zeitlichen Entwicklung als überaus wehrhaft erwiesen und sind auch heute noch für den politischen Konfliktraum von immenser Bedeutung, wenngleich sie nicht mehr so wirkungsstark sind wie früher. Der bis heute in den Arbeiten Ingleharts bestehende Mehrwert lässt sich aber an zwei zentralen Beobachtungen ausmachen. Zum einen ist dies daran zu erkennen, dass die Entstehung grüner oder grün-alternativer Parteien insbesondere durch einen Konflikt zwischen wertspezifischen Extrempolen, den Postmaterialismus und den Materialismus, erklären lässt, nicht aber durch die bisherigen Cleavages. Dies führt zum anderen dann dazu, dass der Konsens, politische Konflikträume ließen sich einzig durch eine zweidimensionale analytische Erfassung beschreiben, immer brüchiger wird. Eine viel wesentlichere Erkenntnis lässt sich dann besonders daran festmachen, dass erst durch Inglehart ein stärkerer Fokus auf die Frage verlegt wird, ob nicht auch schon Werte oder entsprechende Wertorientierungen tatsächlich eine viel ursächlichere Komponente sind, die auch schon dem Konflikt zwischen Kapital und Arbeit einerseits sowie Kirche und Staat andererseits innewohnten. Die Sozialstruktur kann demnach weniger als Ursache, denn vielmehr als ein Symptom spezifischen Wahlverhaltens gedeutet werden. Es kommt in Folge zweifelsohne zu einer Loslösung tradierter sozialstruktureller Konfliktmuster und einer weitaus stärker zunehmenden Fokussierung auf das Individuum, welches als Träger spezifischer Werte fungiert. Die Orientierung an diesen Werten wird sodann als handlungsanleitendes Motiv vor allem für das Wahlverhalten ersichtlich und gleichsam wichtiger.

Wenn so demnach die Bedeutung der Zugehörigkeit zu einer konfessionellen Gruppe oder zur sozialstrukturell definierten Gruppe der Arbeiterschaft als solche an Einfluss auf die Wahlentscheidung verliert, gilt dies nicht zwangsläufig für die in diesen Gruppen, aber auch darüber hinaus in der Gesellschaft zentralen Wertorientierungen (Ohr 2005, S. 18; Klein und Rosar 2005, S. 191). Mit dem zahlenmäßigen Rückgang an Gläubigen und Arbeitern verschwinden weder die Religion, die aus ihr abgeleiteten religiösen Werte oder aber das grundsätzliche Spannungsverhältnis, welches durch soziale Ungleichheit entsteht, an Prägungskraft. Nicht umsonst lautet eine der hier dargelegten Beobachtungen, dass aus dem so genannten Cleavage Voting ein Value Voting wird (Knutsen und Scarbrough 1995, S. 519–520). Die Konfliktlinie zwischen Kapital und Arbeit wird demnach fortan als Konflikt zwischen Links-Materialismus und Rechts-Materialismus beschrieben (Knutsen 2018b, S. 75), wohingegen der Kirche-Staat-Konflikt weniger über die Zugehörigkeit zum Katholizismus, sondern stärker über eine grundlegende religiöse Wertorientierung verstanden wird, die sich in einem Spannungsverhältnis zu einer säkularen Wertorientierung befindet (Weßels 2019, S. 190–191). Im Fokus ist demnach nicht mehr die bloße Zugehörigkeit zu einer Gruppe und die Annahme einer entsprechend zugeschrieben Identität, sondern explizit auch die individuelle Ausrichtung des eigenen Handelns an entsprechenden Werten, die in Folge als Wertorientierungen verstanden werden.

Entsprechende Berücksichtigung findet dies dann auch im Trichter der Wahlentscheidung (Dalton 1988, S. 178), in welchem Wertorientierungen zwischen sozialen Konfliktlinien mit dem dazugehörigen sozialstrukturellen Kontext und Prädiktoren des so genannten Michigan-Modells verortet werden. Dabei wirken Wertorientierungen gemäß dem Trichter direkt auf die Parteiidentifikation ein. Diese beeinflusst dann sowohl indirekt über die Themen- und die Kandidatenorientierung, aber auch ihrerseits direkt das Wahlverhalten. Dass Wertorientierungen, welche auch als gesellschaftliche Wertorientierungen bezeichnet werden, sofern sie als für das Wahlverhalten relevante Indikatoren identifiziert werden können, dabei aber keinen direkten Einfluss auf die Wahlentscheidung zugesprochen bekommen, erscheint gewagt. So wurde gerade in der Wahlforschung immer wieder festgestellt, dass gesellschaftliche Wertorientierungen „im Erklärungsschema der Wahlsoziologie kaum eine Rolle“ (Pappi und Laumann 1974, S. 157) spielen und über langen Zeitraum hinweg in Analysen schlicht ausgeblendet wurden (Knutsen 1995b, S. 461). Dass sich daran auch vierzig Jahre später nicht wesentlich etwas geändert hat (Klein 2014, S. 564), erscheint umso problematischer, weshalb die Untersuchung direkter Effekte von gesellschaftlichen Wertorientierungen auf das Wahlverhalten sogleich Ausgangspunkt der vorliegenden Studie ist.

Dafür ist es zunächst geboten, jene Konfliktlinien zu bestimmen, die als für das Wahlverhalten relevante gesellschaftliche Wertorientierungen identifiziert werden können. Ausgehend von der Logik, dass diese auch zumindest für die Entstehung einer Partei konstitutiv sein müssen, wurden hier zunächst die Konfliktlinien des Links-Rechts-Materialismus, der religiös-säkularen Konfliktdimension sowie der Inglehart’sche Konfliktraum zwischen einer postmaterialistischen und einer materialistischen Wertorientierung aufgenommen.

Diese Dimensionen gesellschaftlicher Wertorientierungen sind in der Lage, die Entstehung und Etablierung der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der Grünen und auch der Linken zu erklären. Einzig für die Entstehung der AfD lässt sich aus ihnen keine theoretische Grundlage ableiten, die diese hinreichend erläutern könnte. Stattdessen wurde hier die Debatte in den wesentlichsten Grundzügen abgebildet, welche als Grundlage für die Erklärung der Entstehung von rechtspopulistischen, rechtsradikalen oder rechtsextremen Parteien herangezogen wird. Gemein haben alle Erklärungsansätze aber, dass eine sie verbindende Komponente in der starken Betonung nationalistischer Werte durch die Parteien liegt. Ebenso einschlägig ist die Tatsache, dass auch ihre Wähler über eine entsprechend ausgeprägte nationalistische Wertorientierung verfügen. Diese Parteien spiegeln demnach die in Teilen der Gesellschaft vorhandenen (gesellschafts-)politischen Wünsche und Bedürfnisse wider. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, wurde hier sodann eine vierte Konfliktlinie zwischen einem eher gesellschaftspolitisch liberal orientierten und migrationsfreundlichen Kosmopolitismus und einem eher zuwanderungspolitisch restriktiv orientierten Nationalismus aufgenommen.

Wenn Scherer (2011) für das gesamtdeutsche Parteiensystem attestiert, dieses sei auf allen relevanten Konfliktdimensionen nach links gerückt, so sollte dies auch Ausdruck dessen sein, dass es sich hierbei um eine Reaktion auf entsprechende Verschiebungen der Wertorientierungen innerhalb der Bevölkerung handelt. Zumindest auf Ebene des gesamtdeutschen Elektorats kann die hier vorliegende Analyse den Beleg erbringen, dass es zwischen 2009 und 2017 links-materialistischer, säkularer, postmaterialistischer und auch kosmopolitischer geworden ist. Insbesondere auf der Konfliktlinie zwischen einem eher liberalen Kosmopolitismus und einem tendenziell eher illiberalen Nationalismus zeigt sich eine besonders deutliche Veränderung. Dies ist vor allem deshalb bemerkenswert, da die Entstehung und das starke Wahlergebnis der AfD bei der Bundestagswahl 2017 nicht selten auch als „Ausdruck einer rechten Konsensverschiebung“ (Korte 2018a, S. 6) gedeutet wird. Betrachtet man einzig die faktische Entstehung und Etablierung einer rechtspopulistischen Partei, die sich explizit rechts der Unionsparteien positioniert als derartigen Ausdruck, so trifft diese Diagnose zu. Ist es jedoch die Entwicklung oder Veränderung einer Position der Bevölkerung auf einer derartigen Konfliktlinie gesellschaftlicher Wertorientierungen, so ist diese Einschätzung zurückzuweisen. Daran ändern auch die besonders in den Fokus geratenden Fluchtbewegungen von 2015 nichts, nach denen auch weiterhin eine zunehmende, am Kosmopolitismus ausgerichtete Wertorientierung der Bevölkerung festzustellen ist. Besonders deutlich hat sich die Bevölkerung aber in der Tat zumindest auf dieser Konfliktlinie zwischen 2009 und 2013 liberalisiert. Dies darf aber keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass die bundesdeutsche Bevölkerung auch heute noch im Schnitt mittig bis leicht nationalistisch orientiert einzuordnen ist. So konsolidiert sich die Bevölkerung zwar mehr und mehr in Richtung der Mitte zwischen beiden Extrempolen, ist aber bei weitem nicht als kosmopolitisch zu verstehen. Auf Basis der Datengrundlage ist keine allzu schnelle Abkehr davon zu erwarten, was als Indiz dafür gewertet werden muss, dass eine migrationskritische bis -feindliche Grundhaltung auch weiterhin im politischen Konfliktraum ihren Platz haben wird. Neu ist dabei jedoch, dass der vormals als unipolar erscheinende Konfliktraum durch einen kosmopolitischen und somit migrationsfreundlichen Pol erweitert wird und so zumindest augenscheinlich zu einem bipolaren Konfliktraum aufgefächert wird.

Ferner wird ersichtlich, dass auch die Wählerschaften nahezu aller Parteien grundsätzlich immer kosmopolitischer werden. Auch die Etablierung und der elektorale Erfolg der AfD tut dem keinen Abbruch. Die AfD-Wählerschaft wird, anders als die Elektorate der anderen untersuchten Parteien, im untersuchten Zeitraum jedoch immer nationalistischer.

Auf der Konfliktdimension zwischen einer postmaterialistischen und einer materialistischen Wertorientierung lässt sich für alle drei Untersuchungszeitpunkte eine im Schnitt klare Priorisierung der Gesamtbevölkerung für eine postmaterialistisch orientierte Politik erkennen. Diese hat im hier vorliegenden Untersuchungszeitraum gar zugenommen. Dass auch in Deutschland zuletzt die Klimabewegung Fridays for Future immer mehr Zulauf erhält (Sommer et al. 2019), scheint vor diesem Hintergrund ebenso wenig überraschend wie Rekordergebnisse der Grünen bei Landtagswahlen seit 2018 und auch bei der Europawahl 2019, die mehr als nur der Ausdruck situativer Faktoren sein könnten. Nichtsdestotrotz sind entsprechende Berichterstattungen, in denen die Andeutung gemacht wird, es handle sich um ein Fanal eines neuen grünen Zeitgeists (Schuler 2019) als zumindest gewagt einzuordnen. So fallen diese Entwicklungen sichtlich nicht auf fruchtlosen Boden, ist doch eine postmaterialistische Wertorientierung in der Bevölkerung zweifelsohne weit verbreitet. Gleichwohl war sie dies auch schon zum Zeitpunkt der vorangegangenen Bundestagswahlen und führte dort nicht zu ähnlichen Wahlergebnissen für die grüne Partei. Offensichtlich konnten entsprechende Narrative, die nun zu entsprechenden Rekordergebnissen führen, dort nicht hinreichend verfangen.

Während sich die Gesamtbevölkerung im beobachteten Zeitraum zwar immer klarer säkular orientiert, lassen sich unter den Wählern der CDU/CSU nur marginale Veränderungen in diese Richtung beobachten. Für die Union, die ursprünglich als Vertreterin (auch konfessionell motivierter) religiöser Wertvorstellungen entstanden ist, ist ein derartiger Befund durchaus relevant. Zumindest scheint das durch sie offerierte Angebot auch bis heute weiter prägend zu sein.

Im Hinblick auf die Dimension zwischen einer links-materialistischen und einer rechts-materialistischen Wertorientierung sind die hier vorliegenden Ergebnisse der Analyse weniger eindeutig. So ist zunächst festzustellen, dass sich die Gesamtbevölkerung im Verlauf der hier durchgeführten Beobachtung stärker einer links-materialistischen Wertorientierung zuwendet.

Bei der Analyse der Parteielektorate zeigt sich, dass der ursprünglich aus dem Konflikt aus Kapital und Arbeit entstandene Sozialstaatskonflikt auch heute noch wirkungsvoll ist. Bei allen hier untersuchten Elektoraten und zu allen Zeitpunkten, mit Ausnahme der AfD im Jahr 2013, entfaltet die Konfliktlinie zwischen Links-Materialismus und Rechts-Materialismus eine indirekte oder direkte Wirkung für die tatsächliche Wahlentscheidung. Während eine entsprechende Orientierung der eigenen Wähler bei CDU/CSU und SPD auf die Parteiidentifikation einwirkt und somit einzig über diese einen indirekten Effekt auf die Wahlentscheidung zu entfalten vermag, kommen bei der FDP 2017, bei den Grünen 2009 und bei der Linken 2017 – zusätzlich zu der indirekten Wirkungsweise – noch direkte Einflüsse auf die Wahlentscheidung hinzu. Bei den Wählern der AfD wiederum gibt es 2017 ausschließlich einen direkten Effekt seitens dieser Wertorientierung auf das Wahlverhalten.

Während eine rechts-materialistische Wertorientierung die Identifikation mit der CDU/CSU und der FDP erhöht, ist dies für eine links-materialistische Wertorientierung gleichermaßen für eine Identifikation mit der SPD, den Grünen und der Linken der Fall. Dabei sind mehrere Dinge bemerkenswert. So lässt sich mit den hier vorgestellten Daten zeigen, dass die konkrete Effektstärke einer rechts-materialistischen Wertorientierung bei den Wählern der CDU/CSU und eine links-materialistische Wertorientierung bei den Wählern der SPD auf die Ausbildung einer Parteiidentifikation im untersuchten Zeitraum geringer wird. Gleichzeitig wird der beobachtete Einfluss einer links-materialistischen Wertorientierung auf eine Identifikation mit den Grünen und der Linken größer, wenngleich dieser an sich nur geringfügig ist. Handelt es sich bei dieser Konfliktlinie um eine der zwei grundlegenden Konfliktdimensionen, die zur Ausdifferenzierung des bundesdeutschen Parteiensystems beigetragen hat, sind diese Ergebnisse umso bemerkenswerter. Formierten sich sozialistische oder sozialdemokratische Parteien wie die SPD explizit als Vertreterin der Arbeiter und einer sozio-ökonomischen Umverteilungspolitik sowie eines starken Sozialstaats, so sind die hier vorliegenden Ergebnisse für die Partei alarmierend. Zwar wirkt eine links-materialistische Wertorientierung indirekt über die Parteiidentifikation auf das Wahlverhalten ein, direkte Effekte liegen hingegen nicht vor. Darüber hinaus sinkt auch die Einflussgröße dieser Wertorientierung auf die Ausbildung einer Parteiidentifikation mit der SPD deutlich. Dass sich Wähler der SPD auf dieser Konfliktlinie 2009 nicht signifikant von denen der Linken und 2013 nicht von denen der AfD unterscheiden lassen, ist auch nur ein weiteres Anzeichen dafür, dass die Partei hier ihren vormals alleinigen Vertretungsanspruch verloren hat. Ferner finden links-materialistisch orientierte Wähler auch bei den Grünen und der Linken ein alternatives politisches Angebot. So zeigen die vorgestellten Ergebnisse, dass die Elektorate beider Parteien im Jahr 2017 durchschnittlich stärker links-materialistisch orientiert sind als noch im Jahr 2009.

Wenn also diagnostiziert wird, dass die SPD „ihre innere Mitte verloren“ (Walter 2013, S. 273) hat, das heißt wie sehr sich die Partei beispielsweise von ihrer Tradition und dazugehörigen Grundwerten entfremdet hat, so kann diese Diagnose durchaus bestätigt werden, wenn damit die von ihren Wählern als wahlentscheidungsrelevante Wertorientierungen verstanden werden. Dass die für in diesem Kontext formulierte Hypothese eines direkten Einflusses einer links-materialistischen Wertorientierung auf die Wahl der SPD zurückgewiesen werden muss, ist politisch für die Partei nicht wünschenswert. Viel schwerwiegender ist aber, dass auch der indirekte Effekt einer derartigen Wertorientierung über die Parteiidentifikation auf das Wahlverhalten bis 2017 drastisch zurückgegangen ist. Die SPD ist folglich immer weniger in der Lage, Individuen mit entsprechender Wertorientierung an sich zu binden.

Eine rechts-materialistische Wertorientierung hat zwar auch bei Wählern der CDU/CSU keinen direkten Einfluss auf das Wahlverhalten, nichtsdestotrotz wird die Parteiidentifikation auch weiterhin in nicht unwesentlichem Umfang durch diese geprägt. Seit 2009 ist der konkrete Effekt zwar geringer geworden, gleichzeitig ist er zwischen 2013 und 2017 relativ stabil geblieben. So scheinen zumindest Individuen, die eine besitzstandswahrende Politik für sehr wünschenswert halten, weiterhin in der CDU/CSU eine Interessenvertretung zu erkennen. Dass der zu beobachtende Effekt zuletzt jedoch geringer geworden ist, mag zweifelsohne auch in einer vermehrt nach links integrierenden Sozialpolitik der Unionsparteien begründet sein. Immerhin auf dieser Konfliktlinie, bei der die Union historisch gesehen stets der FDP nahestand, lassen sich auch weiterhin – zumindest auf der Ebene ihrer Elektorate – keine signifikanten Unterschiede feststellen. Mit der neu hinzugekommenen AfD wird die entsprechende Gemengelage sodann auch nicht weniger komplex, ergibt sich hier die Möglichkeit einer zunehmenden sozio-ökonomisch begründeten Fluidität im Wahlverhalten, sofern eine Wahlentscheidung an dieser Konfliktlinie ausgerichtet wird.

Die dauerhafte Absicherung des eigenen Wählerpotenzials hat sich – historisch betrachtet – für die FDP als äußerst schwierig erwiesen. Neben allzu großen politischen Richtungswechseln, beispielsweise in Begründung und Beendigung der sozialliberalen Bundesregierung, die mehr politischen Brüchen galten, ist das tatsächlich für die FDP erreichbare Wählermilieu „im Lebensstil, in den politischen wie kulturellen Normen und Mentalitäten ziemlich heterogen“ (Lösche und Walter 1996, S. 203). Dass die FDP, die seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland eine eher marktwirtschaftliche und wirtschaftsliberale Grundhaltung vertritt, sich demnach hier weiterhin politisch klar positioniert, erscheint zunächst nicht weiter verwunderlich (Dittberner 2010, S. 123–124). Für die Bundestagswahlen 2009 bis 2017 lässt sich feststellen, dass seitens der FDP-Wählerschaft eine demnach von der Partei vertretene rechts-materialistische Werthaltung als solche (an-)erkannt wird. Schließlich steigt die Wahrscheinlichkeit einer Parteiidentifikation mit der FDP, je rechts-materialistischer ein Individuum orientiert ist. Interessant ist hier aber, dass diese indirekten Effekte auf die Wahlentscheidung für die Partei einzig bei der Bundestagswahl 2017 um eine direkte Einflussgröße ergänzt werden, lässt sich doch nur hier eine derartig direkte Beziehung zur FDP-Wahl nachweisen. Es bieten sich verschiedene Erklärungen an, die im Fall der Bundestagswahl 2013 mit dem für die Partei desaströsen Wahlergebnis, 2009 hingegen mit dem überdurchschnittlich starken Wahlergebnis zusammenhängen könnten. Während mögliche Verzerrungen für 2009 vorliegen könnten, da bei dieser Bundestagswahl überdurchschnittlich auch viele der CDU/CSU zugeneigten Wähler, in Form einer Richtungswahl, den Politikwechsel von der Großen Koalition zu einer Neuauflage christlich-liberaler Bündnisse vollziehen wollten und deshalb für die FDP votierten (Bytzek und Huber 2011, S. 256–259), sind die vorliegenden Ergebnisse für die FDP aufgrund der geringen Wähler- und damit auch Fallzahl mit sehr viel Vorsicht abschließend zu bewerten. In der Summe konnte die Erwartung, dass eine rechts-materialistische Wertorientierung zugleich auch mit einer höheren Wahrscheinlichkeit der FDP-Wahl einhergeht, zumindest für die Bundestagswahl 2017 bestätigt werden.

Bei den Wählern der Grünen zeigt sich, dass sich eine links-materialistische Wertorientierung zu allen drei Untersuchungszeitpunkten signifikant auf eine Identifikation mit der Partei als solche auswirkt. Im hier untersuchten Zeitraum wird der entsprechende Effekt auch fortlaufend größer. Die Grünen-Wählerschaft ist ferner, neben den Wählern der Linken, zu allen drei Untersuchungszeitpunkten stärker links-materialistisch orientiert denn jene Wähler der SPD. Je stärker redistributive Maßnahmen und ein starker Sozialstaat befürwortet werden, desto wahrscheinlicher wird folglich die Wahl von Grünen und Linken. Darüber hinaus ist auch zur Bundestagswahl 2017 der entsprechende Effekt auf eine Identifikation mit den Grünen und den Linken, der von einer links-materialistischen Wertorientierung ausgeht, größer als jener bei den Wählern der SPD. Auch hier zeigt sich der fortschreitende Bedeutungsverlust dieser Konfliktlinie für die SPD als Partei, aber auch ihrer Wähler. An ihre Stelle treten dann punktuell, wie erläutert, direkte Effekte auf das Wahlverhalten für die Grünen 2009 oder die Linken 2017, gleichwohl stets indirekte Effekte über die Parteiidentifikation zu allen Zeitpunkten vorliegen.

Wenn die direkten Effekte auf das Wahlverhalten zu Gunsten der AfD bei der Bundestagswahl 2017 in die Berechnung mit einbezogen werden, so gibt es keine Dimension gesellschaftlicher Wertorientierungen, die im hier untersuchten Zeitraum öfter direkte oder indirekte Einflüsse auf das Wahlverhalten der Parteielektorate zu entfalten vermag als die des Links-Rechts-Materialismus. Einzig bei der AfD-Wählerschaft können für 2013, auch aufgrund der prekären Datenlage, keine entsprechenden Effekte nachgewiesen werden.

In der Summe ist der Konflikt des Links-Rechts-Materialismus auch heute noch eine für das deutsche Parteiensystem relevante Konfliktlinie, die jedoch für unterschiedliche Elektorate in einem unterschiedlichen Ausmaß eine Rolle spielt. Aus diesem Grund sind die Wähler der großen Parteien auch vergleichsweise heterogen entlang dieser Konfliktlinie verteilt, wenngleich hier schon durchaus noch festzustellen ist, dass die SPD, die Grünen und die Linken Individuen mit einer durchschnittlich eher links-materialistischen und die CDU/CSU, die FDP und die AfD Individuen mit einer durchschnittlich eher rechts-materialistischen Wertorientierung für sich gewinnen können.

Die originär aus dem Konflikt zwischen Kirche und Staat entstandene religiöse Konfliktlinie, bei der sich eine religiöse und eine säkulare Wertorientierung konfliktär gegenüberstehen, ist gesellschaftlich hingegen ein wenig in den Hintergrund getreten. Dies ist im Wesentlichen vor allem darin begründet, dass der gesellschaftliche Wandel und fortschreitende Säkularisierungsprozesse zu einem Bedeutungsverlust der Religion und religiöser Praktiken im öffentlichen Leben geführt haben. Davon ist auch die gesamtdeutsche Bevölkerung nicht unberührt geblieben. Gleiches gilt sodann aber auch für die jeweiligen Elektorate der hier als relevant identifizierten Parteien. Diese werden mit Ausnahme der Grünen-Wählerschaft im beobachteten Zeitraum durchschnittlich säkularer. Nichtsdestotrotz bleiben die Wähler der Unionsparteien auch weiterhin die im Durchschnitt am deutlichsten religiös orientierte Wählergruppe, gleichwohl auch hier die Intensität der religiösen Wertorientierung im Rückgang begriffen ist.

Im direkten Vergleich der Elektorate zeigt sich weiterhin klar, dass sich diese Konfliktlinie gesellschaftlicher Wertorientierungen sehr gut zur Differenzierung der CDU/CSU-Wählerschaft von den Wählergruppen anderer Parteien eignet. 2009 und 2017 unterscheiden sie sich hoch signifikant von diesen, einzig 2013 sind keine signifikanten Unterschiede zu den Wählern der FDP festzustellen. Die Unionsparteien entstanden nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland als Vertreter kirchlich-religiöser Interessen und ihre Wähler sind auch heute noch überdurchschnittlich religiös geprägt. Daher erscheint es als wenig verwunderlich, dass eine religiöse Wertorientierung auch heute noch einen Einfluss auf die Wahl der CDU/CSU entfaltet. Die zu beobachtenden Effekte wirken insbesondere über die Parteiidentifikation indirekt auf eben dieses Wahlverhalten ein. Je religiöser die Wertorientierung eines Individuums ist, desto höher ist entsprechend auch die Identifikation mit den Unionsparteien. Dies kann für die drei Bundestagswahlen 2009, 2013 und 2017 sehr anschaulich belegt werden. Einen direkten Einfluss auf das Wahlverhalten zu Gunsten der Unionsparteien hat eine religiöse Wertorientierung allerdings einzig bei der Bundestagswahl 2017. Aus diesem Grund konnte die in diesem Kontext formulierte Hypothese nur für die Bundestagswahl 2017 angenommen werden.

Mit Blick auf die Elektorate von SPD, FDP und Grünen überrascht, dass einzig bei der Wählerschaft der SPD für die Bundestagswahl 2013 ein geringfügiger Effekt durch eine säkulare Wertorientierung auf die Ausbildung einer Parteiidentifikation festgestellt werden kann. Demnach ist es bei dieser Wahl so, dass je stärker ein Individuum säkular orientiert ist, desto wahrscheinlicher ist die Identifikation mit der SPD. Es bleibt aber bei diesem singulären Effekt, da er weder 2009 noch 2017 vergleichbar zu beobachten ist. Die Wähler von FDP und Grünen werden wiederum zu keinem der hier beobachteten Zeitpunkte direkt oder indirekt durch eine säkulare oder religiöse Wertorientierung in ihrem Wahlverhalten signifikant beeinflusst. Dies ist besonders deshalb beachtlich, da sich die FDP zur Gründung der Bundesrepublik, gemeinsam mit der SPD und der KPD, vor allem für die Wahrung einer Trennung zwischen Staat und Kirche einsetzte. Dies mag so zwar heute auch noch ein inhaltlicher Schwerpunkt in der parteipolitischen Positionierung der entsprechenden Vereinigungen sein, das Wahlverhalten ihrer Wähler beeinflusst es aber nicht signifikant. Die Position als säkularer Gegenpol wird inzwischen von den Wählern der Linken und seit 2017 auch von den Wählern der AfD besetzt. Es zeigt sich dabei, dass vor allem die Wähler der Linken nicht nur über eine hochgradig säkulare Wertorientierung verfügen, sondern über diese auch sehr gut von den Wählerschaften anderer Parteien abgegrenzt werden können.

Die Wählerschaft der Linken wird zu allen drei Zeitpunkten indirekt über die Parteiidentifikation in ihrem Wahlverhalten durch eine derartige säkulare Wertorientierung beeinflusst. Demnach gilt, dass je säkularer ein Individuum orientiert ist, desto höher ist auch die Identifikation mit der Linken als Partei. Zusätzlich liegen auch bei den Bundestagswahlen 2013 und 2017 direkte Effekte auf das Wahlverhalten zu Gunsten der Linken vor. Auch hier gilt, dass die Wahl der Partei wahrscheinlicher wird, je säkularer ein Individuum orientiert ist. Die Linken stehen damit auch in der direkten Tradition der PDS, deren Wähler, wie auch Neu (2004) zeigen konnte, hochgradig säkular waren. Es zeigt sich bei der Linken-Wählerschaft sogar, dass diese zwischen 2009 und 2017 öfter direkt durch ihre säkulare Wertorientierung in ihrem Wahlverhalten beeinflusst wird als die Unionswählerschaft durch eine entsprechend religiöse Wertorientierung. Im konkreten Einfluss sind die Effekte bei den Wählern von CDU/CSU durch diese religiöse Wertorientierung jedoch bedeutend größer als die Effekte durch eine säkulare Wertorientierung auf die Wähler der Linken.

Zusätzlich zu den Wählern der Linken zeigt sich ein derartiger Einfluss durch eine säkulare Wertorientierung auf die Ausbildung und Intensität einer Parteiidentifikation und ganz spezifisch auch auf das Wahlverhalten zusätzlich im Bundestagswahljahr 2017 bei den Wählern der AfD. Diese nehmen bei der besagten Wahl nicht nur die Position des säkularsten Elektorats ein, sondern werden zu dieser Wahl gleichzeitig – direkt wie indirekt – durch diese Wertorientierung in ihrem Wahlverhalten beeinflusst. Eine säkulare Wertorientierung führt so nicht nur zu einer höheren Identifikation mit der Partei, sondern erhöht gleichzeitig auch die Wahrscheinlichkeit, die AfD tatsächlich zu wählen. Für 2013 lassen sich diese Effekte aufgrund der nicht möglichen Pfadmodellierung wiederum nicht nachweisen. Zu diesem Zeitpunkt ist das Elektorat der AfD aber noch keineswegs derart säkular wie 2017.

In der Summe zeigt sich für die Konfliktlinie zwischen einer säkularen Wertorientierung und einer religiösen Wertorientierung zweierlei: Zum einen ist diese Wertorientierung auch heute noch ausgesprochen relevant, jedoch nicht für alle Elektorate. So zeigt sich eine „zunehmende Entkirchlichung als eine Spätwirkung der Rationalisierung moderner Gesellschaften“ (Ohr 2005, S. 17). Bei den hier zwischen 2009 und 2017 beobachteten 17 Wählergruppen zeigt sich insgesamt acht Mal ein direkter oder indirekter Effekt einer entsprechenden Wertorientierung auf das Wahlverhalten. Dabei ist dies je drei Mal der Fall bei den Wählern von Union und Linken sowie je ein Mal bei den Wählern der SPD und der AfD. Zum anderen sind die hier festgestellten Effekte vor allem weiterhin bei den Wählern der CDU/CSU sehr hoch. Auch knapp 70 Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland sind religiös orientierte Individuen innerhalb der Unionswählerschaft weiterhin überrepräsentiert. Eine religiöse Wertorientierung beeinflusst dabei vor allem die Identifikation mit der CDU/CSU. Wenngleich die Wähler der Linken und zusätzlich, zumindest bei der Bundestagswahl 2017, auch die Wähler der AfD und 2013 auch die der SPD durch eine entsprechend säkulare Wertorientierung in ihrem Wahlverhalten beeinflusst werden, sind die entsprechenden Effekte bedeutend geringer als jene, die eine religiöse Wertorientierung auf die Unionswählerschaft zu entfalten vermag. Demnach nimmt die säkular-religiöse Wertorientierung auch heute noch eine strukturierende Funktion im politischen Wettbewerb ein, bei der die Unionsparteien weiterhin besonders attraktiv für religiös orientierte Wähler erscheinen mögen. Zumindest in dieser Hinsicht scheint sich, wenngleich auch die Anzahl konfessionell gebundener Individuen in der Summe rückläufig ist und Religiosität grundsätzlich abgenommen hat, eine gewisse Kontinuität zu zeigen. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine religiöse Wertorientierung, ähnlich wie eine links-materialistische bei der SPD, nicht zu allen Zeitpunkten einen direkten Einfluss auf das Wahlverhalten für die Union hat. Anders als bei einer links-materialistischen Wertorientierung und einer Parteiidentifikation mit der SPD ist es hier aber so, dass der spezifische Effekt einer religiösen Wertorientierung auf eine Identifikation mit der CDU/CSU zwischen 2009 und 2017 in der Summe größer wird. Bei einer links-materialistischen Wertorientierung und einer SPD-Parteiidentifikation ist das Gegenteil zu beobachten.

Mit Hinblick auf die ursprünglich von Inglehart eingeführte Konfliktlinie zwischen einer postmaterialistischen und einer materialistischen Wertorientierung sind zwei Feststellungen zentral. Die erste bezieht sich explizit auf die von Scherer und Roßteutscher (2020) gemachte Beobachtung, dass der so genannte Inglehart-Index nicht mehr für die notwendige Trennschärfe zwischen den Elektoraten der in der Bundesrepublik Deutschland zentralen Parteien sachdienlich ist. Auch deshalb erscheint es als gegeben, dass dieser Problematik mit der hier vorgenommenen Untersuchung Abhilfe geschaffen wird. In der Tat kann mit der vorliegenden Analyse eine stärkere Trennschärfe hergestellt werden, gleichwohl alle Elektorate im Durchschnitt zu allen drei Untersuchungszeitpunkten als eher bis stark postmaterialistisch orientiert eingeordnet werden können. Dass im Zeitverlauf alle Elektorate durchschnittlich postmaterialistischer werden, mit Ausnahme von jenen der Grünen und der AfD, welche im Schnitt materialistischer werden, ist sodann zumindest im Fall der Grünen-Wählerschaft überraschend.

Nichtsdestotrotz ist gerade die Grünen-Wählerschaft auf dieser Konfliktlinie die einzige Wählergruppe, die sich zwischen 2009 bis 2017 entlang dieser zu jeder Bundestagswahl signifikant von den Elektoraten anderer Parteien unterscheiden lässt. Für die Grünen als Partei ist dies ein immens wichtiger Punkt. So hat die Partei die am stärksten von einer postmaterialistischen Wertorientierung durchdrungene Wählerschaft, was insbesondere deshalb von hoher Bedeutung ist, da die Partei ursächlich als Folge eines postmaterialistischen Wertewandels entstanden ist. Auf einer derartigen Konfliktdimension weiterhin ein klares Wählerprofil vorzuweisen, wenn diese auch für die Entstehung der Partei ursächliche Relevanz besessen hat, zeigt sodann auch, wie diese historischen Gegebenheiten bis heute nachwirken. Entsprechende Effekte sind folglich auch im Hinblick auf direkte wie indirekte Einflüsse auf das Wahlverhalten festzustellen. Je stärker Individuen über eine postmaterialistische Wertorientierung verfügen, desto höher fällt auch der Wert für eine Identifikation mit der grünen Partei aus. Zumindest für die Bundestagswahlen 2009 und 2017 lassen sich ähnliche Effekte auf das Wahlverhalten beobachten, welche in diesem Fall allerdings direkt verlaufen. Die Wahrscheinlichkeit, die Grünen zu wählen, steigt also mit zunehmender postmaterialistischer Wertorientierung. Entsprechend konnte die hier aufgestellte Hypothese, dass ein derartiger Zusammenhang besteht, zumindest für diese zwei Zeitpunkte bestätigt werden. Die Grünen und ihre Wähler bleiben folglich bis heute klar erkennbar als von einer postmaterialistischen Wertorientierung durchdrungen.

Wenngleich auch die Elektorate von CDU/CSU und FDP, ab 2013 dann auch der AfD, in der Summe mittig bis postmaterialistisch zu verordnen sind, so zeigen die hier vorliegenden Ergebnisse eine nicht unwichtige Heterogenität auf dieser Konfliktlinie. Sind die Wähler dieser Parteien auf der entsprechenden Achse zwar nicht signifikant voneinander zu unterscheiden, liegen jedoch nicht bei allen Elektoraten gleichermaßen ausgebildete direkte wie indirekte Effekte auf das Wahlverhalten vor. So wird vor allem bei den Wählern der Unionsparteien nicht nur die Intensität einer Parteiidentifikation durch eine materialistische Wertorientierung höher, sondern zumindest auch 2013 und 2017 die Wahl der CDU/CSU wahrscheinlicher. Je stärker Individuen über eine materialistische Wertorientierung verfügen, desto höher fällt die Wahrscheinlichkeit der CDU/CSU-Wahl entsprechend aus. Bei den Wählern der FDP sind geringfügige Effekte einer materialistischen Wertorientierung auf die Parteiidentifikation im Jahr 2009 und auf das Wahlverhalten 2017 festzustellen, bei den Wählern der AfD einzig 2017 ein Effekt auf die Ausbildung einer Parteiidentifikation.

War eine der hier vorgestellten grundlegenden Erkenntnisse der Vergangenheit, dass materialistisch orientierte Individuen innerhalb der Wählerschaft der Union deutlich überrepräsentiert waren (Terwey 1989), so hat sich dies zumindest im Hinblick auf die Verteilung der Unionswähler entlang dieser Konfliktlinie verändert. Gleichwohl ist eine materialistische Wertorientierung in nicht unwesentlichem Umfang relevant für die Ausbildung einer Parteiidentifikation oder das Wahlverhalten für die CDU/CSU. Die hier festgestellten Effekte sind gar höher und vielschichtiger als die einer rechts-materialistischen Wertorientierung. Neben einer religiösen Wertorientierung ist eine materialistische Wertorientierung die zweitwichtigste Determinante, mit der die Wahl der CDU/CSU bei den Bundestagswahlen 2009 bis 2017 erklärt werden kann – zumindest dann, wenn der Blick auf gesellschaftliche Wertorientierungen als solche verengt wird. Die schon früh getroffene Beobachtung, dass so genannte Materialisten keine eindeutige politische Heimat haben, zeigt sich auf Basis der hier vorliegenden Daten umso klarer. Es muss aber heute vielmehr davon ausgegangen werden, dass diese Materialisten, wenn sie denn nicht inzwischen vollends im Sinne Ingleharts dem eines Mischtypen gewichen sind, vielmehr politische Heimatlose sind. Selbst jene Parteien, bei deren Wählern eine materialistische Wertorientierung Effekte auf die Ausbildung und Intensität der Parteiidentifikation oder des Wahlverhaltens hat, haben in der Summe durchschnittlich postmaterialistisch orientierte Wählerschaften. Insbesondere für die FDP und die AfD sind die hier vorliegenden Daten deshalb wichtig, da beide Parteien sich offenkundig in einem Konkurrenzverhältnis um Wähler befinden, die nicht nur eine sozio-ökonomisch rechts-materialistische, sondern zusätzlich auch eine materialistische Wertorientierung haben. Eine besitzstandswahrende Grundhaltung scheint Wählern beider Elektorate ebenso wichtig zu sein wie eine moderate Position zwischen Ökologie und Ökonomie. Die AfD-Wählerschaft hat die FDP-Wähler jedoch auf beiden Konfliktachsen in der Position als am stärksten rechts-materialistisch und materialistisch durchdrungenes Elektorat abgelöst. Es lässt sich für die Unionsparteien, die FDP und auch die AfD zusammenfassend feststellen, dass diese Konfliktlinie für ihre Wähler von unterschiedlicher Relevanz ist, gleichwohl sie sich entlang dieser nicht signifikant unterscheiden lassen.

Für die SPD-Wählerschaft sind hier, wie auch bei den zuvor vorgestellten Dimensionen gesellschaftlicher Wertorientierungen, keine direkten Effekte auf das Wahlverhalten festzustellen. Tatsächlich wird aber die Identifikation mit der Partei als solche durch diese Konfliktlinie bei den Bundestagswahlen 2009 und 2013 signifikant beeinflusst. Dass es sich hierbei um eine postmaterialistische Wertorientierung handelt, die eine entsprechende Parteiidentifikation stärker werden lässt, ist vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung der SPD als Vertreterin eher materialistischer Interessen vergleichsweise überraschend. Zumindest 2013 ist der konkret gemessene Effekt einer postmaterialistischen Wertorientierung auf die Identifikation mit der SPD gar höher als der vergleichbare Effekt bei einer Identifikation mit den Grünen. Dies ist besonders deshalb von Interesse, da die Wählerschaft der SPD zu diesem Zeitpunkt weder von der FDP noch von der Linken auf dieser Konfliktachse zu unterscheiden ist. Der indirekte Einfluss auf das Wahlverhalten ist so zwar zweifelsohne über die Parteiidentifikation festzustellen, eine annäherungsweise messbare Trennschärfe zu anderen Elektoraten liegt hingegen nicht vor. Auch 2017 sind sich die Elektorate von SPD und Linken auf dieser Konfliktlinie schlicht zu ähnlich, um sie klar voneinander unterscheiden zu können. Bei letzterer ist es so, dass 2009 das Wahlverhalten ihrer Wähler in geringem Umfang durch eine postmaterialistische Wertorientierung beeinflusst wird, 2017 wird wiederum die Intensität der Parteiidentifikation beeinflusst. Während bei der Linken-Wählerschaft der entsprechende Effekt auf die Parteiidentifikation klar hinter jenen zurückbleibt, die eine links-materialistische oder säkulare Wertorientierung haben, so kann dies für die SPD-Wähler nicht bestätigt werden. Tatsächlich ist der entsprechende Effekt durch eine postmaterialistische Wertorientierung auf eine Identifikation mit der Partei höher als jener durch eine links-materialistische Wertorientierung. Mit anderen Worten ist es so, dass jene Partei, deren historische Entwicklung wesentlich durch die Ideale einer Herstellung ökonomischer Gerechtigkeit und materieller Sicherheit geprägt war, dies offensichtlich auf elektoraler Ebene nicht länger abzubilden vermag. War die SPD als Interessenvertreterin prekär Beschäftigter zu verstehen, deren Leben durch materielle Unsicherheit gekennzeichnet war, scheint sich dies heute verändert zu haben. Ihre Wähler wenden sich offenkundig zunehmend post-ökonomischen Interessen zu. Fraglich ist in diesem Zusammenhang dann, ob es der SPD heute womöglich nicht mehr gelingt, entsprechende Wähler anzusprechen oder ob die Gesellschaft hier Zeuge eines Produkts strukturellen Wandels ist, bei dem klassisch materialistische Wähler an sich immer weniger werden. Zumindest die hier vorgelegte Analyse deutet darauf hin, wenn die Gesellschaft als solche, ebenso wie die unterschiedlichen Teilelektorate, in ihrer Gänze heute als eher postmaterialistisch einzustufen ist, sich die Konfliktlinie inzwischen womöglich verlagert hat. Dabei bleibt sodann eine postmaterialistische Wertorientierung als einer der beiden Extrempole bestehen. Sofern es zu einer immer stärkeren Verschiebung entlang dieser Konfliktachse kommt, könnte anstelle des materialistischen Extrempols, die bisweilen eher moderate zwischen beiden Extrempositionen abwägende Position treten. Von einem Bedeutungsverlust dieser Konfliktlinie kann hier aber keineswegs die Rede sein. Besonders für die Grünen als Partei und ihre Wähler hat diese Konfliktlinie weiterhin eine immense Bedeutung. Offenkundig zeigen sich aber auch bei den Wählern der CDU/CSU und weiteren Parteien entsprechende Effekte. Während der Materialismus bis heute keine eindeutige politische Heimat hat, gleichwohl es eine gewisse Neigung zu den Unionsparteien gibt, so sind ähnliche Entwicklungstendenzen ebenso beim Postmaterialismus und den Grünen zu erkennen. Die eindeutige Symbiose zwischen Grünen und postmaterialistischen Werten besteht bis heute, durchaus haben sich entsprechend orientierte Individuen aber auch in Teilen neue politische Repräsentanten gesucht. Der Einfluss einer postmaterialistischen Wertorientierung, direkt wie indirekt, bleibt jedoch ungebrochen. In der vorliegenden Untersuchung sind solche Effekte durch eine materialistische oder postmaterialistische Wertorientierung auf das Wahlverhalten bei 13 von insgesamt 17 Elektoraten zu beobachten.

Ferner konnten mit der vorliegenden Untersuchung wichtige Erkenntnisse zur vierten Konfliktlinie, der zwischen einer kosmopolitischen und einer nationalistischen Wertorientierung, gewonnen werden. Zum einen steht die schon berichtete Beobachtung, dass die gesamtdeutsche Bevölkerung zwischen 2009 und 2017 in der Summe kosmopolitischer geworden ist. Es hat demnach nicht die diagnostizierte „rechte Konsensverschiebung“ (Korte 2018a, S. 6) gegeben. Vielmehr ist es so, dass mit der gesamtdeutschen Bevölkerung entsprechend auch der Großteil der Parteielektorate liberalisiert wurde und zunehmend durch eine kosmopolitische Wertorientierung durchdrungen wird, gleichwohl sie keineswegs per se kosmopolitisch werden. Wenn Patzelt (2018a) demnach davon spricht, dass es zu einem Repräsentationsdefizit gekommen ist, ist dies dahingehend zu verneinen, dass zwar insbesondere die Elektorate von CDU/CSU, SPD, FDP und Linken 2009 noch als überdurchschnittlich stark nationalistisch orientiert eingeschätzt werden können, diese aber nicht von den bereits beschriebenen gesamtgesellschaftlichen Folgeentwicklungen unberührt blieben. Bis 2013 ändert sich an der ursprünglichen Grundtendenz nichts, wenngleich die Elektorate dieser Parteien bis dahin bedeutend kosmopolitischer werden. Ein Prozess, der sich bis 2017 weiter verstärkt. Interessant ist auch vor dem Hintergrund der vergleichenden Betrachtung, dass 2009 noch alle Elektorate direkt oder indirekt durch die Konfliktlinie zwischen einer kosmopolitischen und einer nationalistischen Wertorientierung in ihrem Wahlverhalten beeinflusst wurden. 2013 ist dies nur noch für die Wähler der Grünen und der AfD der Fall. Der politische Konfliktraum spannt sich so zu einer Bundestagswahl, bei der migrationspolitische Fragen nicht im Mittelpunkt des Wahlkampfes standen, zwischen jenen beiden Wählergruppen auf, die auch 2017 maßgeblich durch diesen definiert werden. Die AfD schafft es so schon im Jahr ihrer Gründung, dem Bundestagswahljahr 2013, nicht nur das am stärksten von einer nationalistischen Wertorientierung durchdrungene Elektorat zu haben, sondern auch bis 2017 in dieser Tendenz noch bedeutsam klarer zu werden. Die Wähler der AfD sind, zumindest im Durchschnitt und für den beobachteten Zeitraum, die am nationalistischsten orientierte Gruppierung. Es ist folglich auch nicht weiter verwunderlich, dass sie sich auf dieser Konfliktlinie sehr gut von den Elektoraten anderer Parteien unterscheiden lassen. Anstatt eine rechte Konsensverschiebung zu diskutieren, die demnach de facto nicht stattgefunden hat, erscheint es viel sinnvoller, stattdessen von einer Neulokalisierung nationalistisch orientierter Wähler oder einem hier schon beschriebenen Repräsentanzwechsel zu sprechen. Zwar haben verschiedene Untersuchungen durchaus zeigen können, dass die AfD vor allem von einwanderungskritischen und EU-feindlichen Positionen auf elektoraler Ebene profitiert (Schwarzbözl und Fatke 2016, S. 284–285), diese gar ein Leitmotiv sein können, um das individuelle Wahlverhalten zu Gunsten der AfD zu verändern – direkte Effekte auf die Wahlentscheidung hatte eine nationalistische Wertorientierung allerdings im beobachteten Zeitraum nur geringfügig.

Die vorliegende Untersuchung mag so zeigen, dass die AfD durchaus in der Lage ist, Individuen mit entsprechender Wertorientierung für sich zu gewinnen, die noch 2009 in nahezu allen Parteien, mit Ausnahme der Grünen, zu finden waren. Insbesondere die oftmals angebrachte Bemerkung, die Unionsparteien hätten den Anspruch zur Repräsentation für derartig orientierte Bürger durch ihre Flüchtlingspolitik seit 2015 aufgegeben, lässt sich empirisch keineswegs stützen. Durchaus richtig ist dagegen, dass 2009 und 2017 eine nationalistische Wertorientierung die Identifikation mit der CDU/CSU signifikant erhöht hat. Ein direkter Effekt auf die Wahl der Unionsparteien liegt hingegen nicht vor. 2013 ist es gar so, dass weder ein direkter Effekt auf die Wahl von CDU/CSU noch ein indirekter Effekt über die Parteiidentifikation zur Wahl der Union festzustellen ist. Dies ist insofern von hoher Bedeutung, da der entsprechende Wahltermin rund zwei Jahre vor der Entscheidung der Regierung Angela Merkels (CDU) lag, in Ungarn angekommene Flüchtlinge in der Bundesrepublik aufzunehmen.

Während 2009 eine kosmopolitische Wertorientierung einen signifikant positiven Effekt auf eine Identifikation mit der SPD und den Linken hat, entfaltet sich bei den Wählern der FDP ein geringfügiger Einfluss auf das Wahlverhalten durch eine nationalistische Wertorientierung. Im weiteren Verlauf sind keine signifikanten Effekte für die Elektorate dieser Parteien festzustellen. Demgegenüber wird die Wählerschaft der Grünen in hohem Ausmaß durch eine kosmopolitische Wertorientierung beeinflusst. So entfaltet diese bei allen drei in dieser Untersuchung beobachteten Bundestagswahlen 2009, 2013 und 2017 einen indirekten Einfluss auf die Grünen-Wahl durch die Parteiidentifikation, wird diese doch stärker, je kosmopolitischer die Wertorientierung eines Individuums ist. Zusätzlich sind aber auch direkte Effekte auf die Wahl der Partei festzustellen. Die Wahl der Grünen wird signifikant wahrscheinlicher, je kosmopolitischer ein Individuum orientiert ist. Insbesondere der direkte Effekt auf das Wahlverhalten wird im vorliegenden Untersuchungszeitraum stärker, gewinnt also für die Wahl an Bedeutung. Zumindest für die AfD kann dann aber auch zugleich festgestellt werden, dass für ihre Wähler eine nationalistische Wertorientierung an Bedeutung gewinnt. Ist 2013 schon ein direkter Effekt seitens einer solchen Wertorientierung auf die Wahl der Partei festzustellen, nimmt 2017 nicht nur die Wahrscheinlichkeit der AfD-Wahl, sondern auch die Identifikation mit der Partei durch diese zu. Wenn im Anbetracht der Bundestagswahl 2017 konstatiert wird, dass das Land womöglich Zeuge der Entstehung einer neuen Konfliktlinie sei „mit der AfD und den GRÜNEN [sic!] in Deutschland als zentralen Antipoden an den Rändern eines entsprechenden Kontinuums“ (Pickel 2019, S. 167), kann ihr auf Basis der hier vorliegenden Analysen zugestimmt werden. Zweifelsohne ist es so, dass fremdenfeindliche Motive in der bundesdeutschen Gesellschaft nie verschwunden waren, sondern stets womöglich auch einen Bestandteil der bundesdeutschen Identität ausmachten. Nicht umsonst hält Adorno schon in einem 1967 gehaltenen und 2019 veröffentlichten Vortrag fest, „die Menschen in Deutschland scheinen in einer immerwährenden Angst um ihre nationale Identität zu leben, eine Angst, die zu der Überwertigkeit des Nationalbewußtseins sicher das Ihrige beiträgt“ (Adorno 2019, S. 22). Tatsächlich neu ist hier aber, dass es eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung hin zum Kosmopolitismus gibt, die auch in vielschichtiger Weise auf die Elektorate der hier untersuchten Parteien einwirkt. Der Kosmopolitismus ist dabei der neu hinzukommende Pol, welcher als ergänzender Faktor den Raum politischer Konfliktlinien und darauf basierenden Wahlverhaltens aufspannt. Durch die zumindest vorläufig neu entstandene Konfliktsituation, deren zukünftige Entwicklung zwar noch nicht absehbar ist, entsteht jedoch eine Situation, in welcher zumindest die strategischen Extrempositionen bereits mit AfD und Grünen – so lässt sich an ihren Wählern erkennen – erfolgreich besetzt sind.

Durch die vorliegende Analyse zeigt sich, dass die Konfliktdimensionen zwischen einer postmaterialistischen und einer materialistischen Wertorientierung sowie die einer kosmopolitischen und einer nationalistischen Wertorientierung für das Wahlverhalten verschiedener Elektorate bedeutsam sind. Überraschend ist, dass gesellschaftliche Wertorientierungen vor allem für die Parteien, welche sich entlang entsprechender Konfliktdimensionen etablieren konnten, also der Grünen und der AfD, einen hohen Beitrag für die Erklärung des Wahlverhaltens liefern. Für die Wahl der Grünen und der AfD erbringen gesellschaftliche Wertorientierungen einen annäherungsweise gleich hohen Erklärungswert wie jene Prädiktoren des Michigan-Modells. Dies ist im Fall der Elektorate der anderen großen Parteien anders, liefert dort vor allem die Parteiidentifikation den höchsten Erklärungsbeitrag. Bei den Wählern von Grünen und AfD handelt es sich hierbei um zusätzliche, komplementäre Faktoren, die das individuelle Wahlverhalten für diese Parteien besser verständlich machen.

Die vorgenommene dreistufige Modellierung zur Beobachtung derartiger Effekte hat demnach klar ihren Zweck erfüllt. Es zeigt sich so in der Tat bei der Modellierung geschachtelter Modelle, dass einige Dimensionen gesellschaftlicher Wertorientierungen dann als nicht signifikant ausgewiesen werden, wenn die Parteiidentifikation in die Modellierung aufgenommen wird. Erklärbar ist dies damit, dass die Parteiidentifikation hier in allen Modellrechnungen, mit Ausnahme der AfD zur Bundestagswahl 2013, einen signifikanten Effekt auf das Wahlverhalten für eine entsprechende Partei hat. Durch die Average Marginal Effects konnte dann auch klar nachgewiesen werden, dass der konkrete Effekt von einer Parteiidentifikation weiterhin sehr hoch und hoch signifikant ist. Sie bleibt weiterhin eine der, neben weiteren Determinanten, wichtigsten Einflussgrößen, die auf das Wahlverhalten einwirkt. Was dadurch jedoch nicht ersichtlich wurde, ist, weshalb entsprechende Wertorientierungen an Signifikanz verlieren – die im Kontrollmodell der geschachtelten Regressionsmodelle noch als signifikant ausgewiesen werden – sobald die Parteiidentifikation in die Modellierungen aufgenommen wird. Die Analyse der Pfadmodelle zeigt, dass bei 17 von 19 dieser Einflussgrößen (knapp 90 Prozent), die im Kontrollmodell der geschachtelten Regressionsmodelle noch als signifikant ausgewiesen werden, deshalb in den Gesamtmodellen an Signifikanz verlieren, weil sie als Prädiktoren signifikant auf die Parteiidentifikation einwirken. Es entsteht so der Eindruck, dass der durch gesellschaftliche Wertorientierungen ausgehende Einfluss absorbiert wird. So sind sie in der Tat eindeutig nicht als direkte Einflussgrößen identifizierbar, wirken aber durchaus indirekt über eine entsprechende Parteiidentifikation auf das Wahlverhalten zu Gunsten entsprechender Parteien ein. Ohne die hier angewandte Vorgehensweise wäre dieser wichtige und umfangreiche Effekt gesellschaftlicher Wertorientierungen unerkannt geblieben.

Bezöge sich die hier vorliegende Analyse einzig auf die Bundestagswahl 2017, so wäre festzustellen, dass die in den Hypothesen postulierten Effekte nahezu alle zutreffen. In der Tat wirkt dort eine links-materialistische Wertorientierung auf die Wahl der Linken, eine religiöse Wertorientierung auf die Wahl der CDU/CSU, eine postmaterialistische Wertorientierung auf die Wahl der Grünen, eine rechts-materialistische Wertorientierung auf die Wahl der FDP und eine nationalistische Wertorientierung auf die Wahl der AfD ein. Einzig die für die SPD postulierten direkten Effekte auf das Wahlverhalten liegen zu keinem Zeitpunkt vor. Darüber hinaus zeigt sich aber, auch mit Ausnahme der SPD-Wählerschaft, dass verschiedene Wertorientierungen zu verschiedenen Zeitpunkten durchaus an einigen Stellen mehr und an anderen Stellen weniger das Wahlverhalten für diese Parteien signifikant beeinflussen. Die hier festgestellten Effekte sind auch theoretisch plausibel. Einzig der Umstand, dass das Wahlverhalten für die SPD nicht unter Zuhilfenahme gesellschaftlicher Wertorientierungen erläutert werden kann, ist vor allem für die Partei generell überaus problematisch.

Politische Verlässlichkeit zeichnet sich auch dadurch aus, dass gesellschaftliche Wertorientierungen in Parteien gespiegelt werden, weshalb diese dann bei Wahlen entsprechend unterstützt werden. Neben fehlenden direkten Effekten auf das Wahlverhalten sind im fortschreitenden Verlauf immer geringfügigere indirekte Effekte über die Parteiidentifikation nachzuvollziehen. Sollte sich dieser Trend derartig fortführen, sind Werte oder Wertorientierungen als solche, die grundsätzlich eher langfristig denn kurzfristig angelegt sind, nicht ausschlaggebend für die Wahl der SPD. Eine schwerwiegendere Diagnose ist für eine Partei, die aus einem wertebasierten Kampf um sozio-ökonomische Gerechtigkeit und der Forderung nach der demokratischen Teilhabe weiter Bevölkerungsteile wie der Arbeiterschaft entstanden ist, kaum zu fällen.

Während Cleavages so als Ausdruck sozialstruktureller Konfliktlinien immer mehr an Bedeutung einbüßen, ist dies für die von Campbell et al. (1960) beschriebene Einflussgröße einer individuellen Parteiidentifikation auf das Wahlverhalten nicht der Fall. Mit Ausnahme der AfD bei der Bundestagswahl 2013 lassen sich bei allen Elektoraten signifikante Effekte durch eine Parteiidentifikation auf die spezifische Wahlentscheidung feststellen. Die Grundannahme des Trichters der Wahlentscheidung gilt insofern weiterhin, dass eine Parteiidentifikation in der Tat durch Wertorientierungen beeinflusst wird und dann auf das spezifische Wahlverhalten einwirkt. Neu ist aber die hier erbrachte Erkenntnis, dass Wertorientierungen nicht nur, wie so beschrieben, indirekt auf die Wahlentscheidung einwirken, sondern auch einen direkten Effekt auf diese entfalten können. Dass die für die Konstitution bestimmter Parteien relevanten gesellschaftlichen Konfliktlinien auch heute noch immens auf die Identifikation mit denen durch sie vertretenden Parteien wirken, ist darüber hinaus bemerkenswert. Es zeigt sich einmal mehr, dass Wertmuster und aus ihnen entstandene politische „Gruppierungen (…) Systeme und Katastrophen [überdauern]“ (Adorno 2019, S. 25). Dies muss aber, wie von Adorno beschrieben, nicht nur für Rechtsradikale gelten, denen sich sein Vortrag widmete, sondern gilt gleichermaßen auch für Parteien-Wähler-Koalitionen, die aus den Konfliktlinien zwischen Kapital und Arbeit oder Kirche und Staat hervorgingen. Dennoch kommt die ursprünglich zweidimensionale Betrachtung von Parteiensystemen und dem dazugehörigen Wahlverhalten schnell an ihre Grenzen, wenn auch eine sich wandelnde Gesellschaft abgebildet werden soll. Die Heterogenität der Wählerschaften hat immens zugenommen, gleichwohl es keine prinzipielle Abkehr von das Wahlverhalten für eine Partei erklärenden Faktoren im hier vorgestellten Untersuchungszeitraum gegeben hat. Die festgestellten Muster zur Erklärung der individuellen Wahlentscheidungen bleiben innerhalb der jeweiligen Elektorate konsistent oder werden ineffektiv, an manchen Punkten allenfalls reaktiviert. Eine grundlegende Trendumkehr ist allerdings nicht feststellbar.

Werte sind und bleiben demnach auch weiterhin für Wähler und Parteien essenziell, vor allem dann, wenn sie in Form von (gesellschaftlichen) Wertorientierungen zu handlungsanleitenden Maßstäben erklärt werden. Der hier erarbeitete Vorschlag zur Messung von Wertorientierungen hat den intendierten Zweck erfüllt und ist in der Lage, vor allem für das Bundestagswahljahr 2017, relevante Einflussgrößen für das Wahlverhalten adäquat abzubilden. Vor allem die Konfrontation mit Zielkonflikten erscheint so auch aus theoretischer Perspektive für die Messung von gesellschaftlichen Wertorientierungen zielführender als das klassische Ranking- oder Rating-Verfahren. Insbesondere vor dem Hintergrund, weil hier der Beleg erbracht wurde, dass gesellschaftliche Wertorientierungen durchaus direkte Effekte auf die individuelle Wahlentscheidung haben, gilt es, diese Gegebenheit in der Zukunft weitergehend zu erforschen. Fraglich ist beispielsweise, ob es sich hierbei um einen für die Bundestagswahl 2017 besonderen, singulären Effekt handelt oder ob gesellschaftliche Wertorientierungen in Zukunft noch deutlich stärker das Wahlverhalten direkt prädeterminieren als zunächst angenommen werden konnte.

Alles in allem kann die vorliegende Untersuchung belegen, dass die ursächlich das Wahlverhalten und damit auch das Parteiensystem strukturierenden gesellschaftlichen Wertorientierungen auch weiterhin eine Bedeutung haben. Gleichzeitig sind die Elektorate der untersuchten Parteien deutlich heterogener als erwartet und werden in ihrer Wahlentscheidung von bedeutend mehr Dimensionen – direkt wie indirekt – beeinflusst als zunächst postuliert. Ferner sind diese nicht bei allen Elektoraten gleichermaßen wirkungsstark.

Auf Basis der hier vorgestellten Ergebnisse lässt sich sodann auch für die jeweiligen Parteien eine inhaltliche Nische ausmachen, die diese inhaltlich erfolgreich besetzen können. Vor allem die Grünen, die in Folge eines postmaterialistischen Wertewandels entstanden, aber auch die AfD, die Ausdruck eines immer mehr in die Defensive geratenden gesellschaftlichen Nationalismus ist, sind in der Lage, Wähler für sich zu gewinnen, die einander auf allen Dimensionen konfliktär gegenüberstehen. Auch der Linken, der CDU/CSU und der FDP gelingt es zweifelsohne sehr erfolgreich, die Pfadabhängigkeiten ihrer historisch-politischen Wurzeln zu bedienen, deuten darauf doch die gesellschaftlichen Wertorientierungen der jeweiligen Wählerschaften hin. Zusätzlich zeigen sich hierbei Effekte, die zwar durchaus plausibel erscheinen, in ihrem Umfang aber nicht vorhersehbar gewesen sind. Beispielhaft ist die säkulare Prägung der Linken-Wählerschaft zu nennen, die auch das Wahlverhalten zu Gunsten der Partei zu strukturieren vermag.

Einzig für die SPD sind die hier vorgestellten theoretischen Ansatzpunkte immer weniger erklärungsstark. Die hier vorgenommene Modellierung ist nicht in der Lage, direkte Effekte gesellschaftlicher Wertorientierungen auf die Wahl der SPD zu erfassen, gleichermaßen sinken die zu erfassenden Effektstärken, welche indirekter Natur sind. So kann auch eine Identifikation mit der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands durch diese immer weniger erklärt werden. Ob dies einem fortschreitenden und demnach auch existenziell bedrohlichen Bedeutungsverlust der Partei geschuldet ist oder einer nicht zu erklärbaren Problematik mit der Messung, kann hier nicht abschließend geklärt werden. Fest steht aber eines: Gesellschaftliche Wertorientierungen haben sich zwischen 2009 und 2017 nicht nur in der Gesellschaft, sondern insbesondere auch in Folge dann in den Elektoraten der hier untersuchten Parteien verändert. Sie sind so nicht nur heterogen, sondern insbesondere auch vielschichtig in ihrer Wirkungsweise. Wenn festzustellen ist, dass es in einer sich wandelnden Welt „auf politische Kunst, taktische Beweglichkeit, strategische Raffinesse und ein wertefundiertes Ethos [ankommt], das den Elastizitäten Richtung und Ziel verleiht“ (Walter 2013, S. 291), so erscheint dies, zweifelsohne mit Blick auf ihre Wählerschaften, manchen Parteien offenkundig besser zu gelingen als anderen. Bleiben perspektivisch die Themenfelder der Migrations- und Klimapolitik auch in Zukunft salient, so haben vor allem die Grünen und die AfD in Teilen aber auch CDU/CSU, FDP und Linke die Möglichkeit, eine wertfundierte Antwort auf daraus abzuleitende Fragen zu geben und Orientierungspunkte für ihre Wähler zu sein. In diesen und in anderen Bereichen sind die entsprechenden Parteien aber auch heute schon vergleichsweise breit aufgestellt, weshalb weitere Anknüpfungspunkte durchaus vorhanden sind. Für die SPD-Wählerschaft hingegen lässt sich, zumindest auf Basis der Ergebnisse der vorliegenden Analyse, kein klares Werteprofil identifizieren, durch welches die Parteiwahl begünstigt wird. Auch die Ausbildung einer individuellen Parteiidentifikation wird kaum noch durch Wertorientierungen beeinflusst. Fraglich ist dann also, an welchen Werten die Partei in Zukunft ihre Politik ausrichten soll, um Wähler für sich gewinnen zu können. Gelingt ihr aber nicht, dies zeitig hervorzuheben, können mögliche Wähler die Partei und ihre Politik, ebenso wie die durch sie vertretenen Werte, nicht als Orientierungs- und Identifikationspunkte ausmachen. Die möglicherweise für eine Wahl der SPD hinreichenden Prädispositionen gesellschaftlicher Wertorientierungen könnten, wie sich bereits ansatzweise zeigt, die Wahlentscheidung zu Gunsten anderer Parteien begünstigen. Es erscheint ungewiss, ob diese sich schon über mehrere Bundestagswahlen erstreckende Entwicklung noch reversibel ist.

5.2 Methodische Reflexion

In dieser Untersuchung wurde der Versuch unternommen, gesellschaftliche Wertorientierungen nicht nur theoretisch, sondern gleichermaßen konzeptionell näher erfassen zu können, um sie einer anschließenden, empirischen Analyse zu unterziehen. In diesem Zusammenhang wurden Vor- und Nachteile beschrieben, die sich aus Anwendung des Ranking- oder Rating-Verfahrens ergeben. Hierbei wurde auf entsprechende Defizite verwiesen, die sich aus den jeweiligen Verfahrensweisen ergeben. Dies mündete schließlich in der Entscheidung für eine andere Vorgehensweise, welche als eine Art Mittelweg beschrieben werden kann.

Der hier konzeptionell eingeschlagene Weg zwischen beiden Verfahren besteht darin, dass gesellschaftliche Wertorientierungen nur durch eine Konfrontation mit Zielkonflikten sichtbar werden. Hierfür ist allerdings auch die Möglichkeit zur Abstufung zwischen entsprechenden Extrempositionen notwendig. Von essenzieller Bedeutung ist dabei, dass die Extrempositionen dasselbe Politikfeld betreffen müssen oder ein Spannungsverhältnis nur dann hergestellt werden darf, wenn entsprechende Zielvorstellungen wirklich in einem derartigen Verhältnis zueinanderstehen. Darüber hinaus soll auch die Konsequenz, die aus der Entscheidung für die jeweiligen Extrempositionen erwachsen würde, klar definiert werden. Auf dieser Grundlage können dann auch aus individueller Perspektive in sich kohärentere Standpunkte eingenommen werden. Das Rating-Verfahren etwa ist, wie hier dargestellt, für Inkonsistenzen im Antwortverhalten anfällig. Die hier beschriebene und konzeptionell vorgeschlagene Vorgehensweise ist aus zweierlei Gründen aber auch kritisch zu hinterfragen. Zum einen besteht das Risiko, dass beispielhaft an der Dimension des Links-Rechts-Materialismus, bei der ein Zielkonflikt zwischen einem Mehr an Sozialstaat und höheren Steuern, um ihn zu finanzieren, auf der einen Seite und niedrigeren Steuern, die dann auch gleichbedeutend sind mit einem Abbau des Sozialstaats auf der anderen Seite, auch das Risiko bieten, in sich inkonsistent zu sein. So wird insbesondere von sozio-ökonomisch eher links orientierten Parteien nicht das Ziel verfolgt, Steuern per se für alle Gesellschaftsschichten zu erhöhen, sondern vielmehr eher vermögende Bevölkerungsteile höher zu besteuern, um den Sozialstaat zu finanzieren und Menschen mit geringem Einkommen steuerlich zu entlasten. Aus individueller Perspektive wird aber hier der Eindruck erweckt, höhere Steuern würden zwangsläufig alle Teile der Gesellschaft betreffen. Die Einführung einer Vermögenssteuer trifft aber beispielhaft im Regelfall keine Geringverdiener.

Zum anderen ist die Frage, ob und wie eine derartige Messung in der wissenschaftlichen Praxis umzusetzen ist. Mit den Nachwahlbefragungen der German Longitudinal Election Study (GLES) hat sich für die hier vorgenommene Untersuchung die passende Datengrundlage gefunden. So wurden durch diese Befragungen Daten erhoben, welche die hier beschriebenen Dimensionen gesellschaftlicher Wertorientierungen bestmöglich abbilden, zum anderen aber auch weitere wahlverhaltensrelevante Faktoren wie eine Parteiidentifikation oder die Kandidatenorientierung inkludiert werden. Eine Betrachtung alternativer Datenquellen zeigt, dass insbesondere die wahlverhaltensrelevanten Faktoren in originären Wahlstudien umfassender abgefragt werden als dies in anderen Erhebungen der Fall ist. Nichtsdestotrotz haben auch die Daten der GLES-Wahlstudien Schwächen. So zeigt sich, dass aus theoretischer Perspektive beispielsweise die hier verwendete Kirchgangshäufigkeit auch heute noch als Proxy für die Messung einer individuellen Religiosität verwendet wird, was jedoch nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass durchaus Potenzial besteht, um das Messverfahren in Zukunft zu verbessern. Dies gilt insbesondere dann, wenn das hier dargelegte Argument darin besteht, Wertorientierungen und gesellschaftliche Wertorientierungen im Spezifischen nur über Zielkonflikte abbilden zu können. Mit der hier beschriebenen Vorgehensweise wurde diese Prämisse allerdings aufgrund bestehender Defizite in der Datenverfügbarkeit verletzt. Die daraus entstandene Konsequenz ist, unabhängig davon, ob die Kirchgangshäufigkeit ein gängiger Prädiktor ist, nicht wünschenswert, da es somit zum Einsatz unterschiedlicher Messinstrumente bei der Erfassung gesellschaftlicher Wertorientierungen gekommen ist. Dem ist in Zukunft Abhilfe zu schaffen, um mögliche Messfehler auszuschließen beziehungsweise die Fehleranfälligkeit zu reduzieren, die durch diese Vorgehensweise entstehen können. Als ebenso problematisch hat sich herausgestellt, dass eine Differenzierung nach Religionsgemeinschaften nicht möglich war. Dies ist vor dem Hintergrund einer wachsenden muslimischen Gemeinde von Bedeutung, da so keine differenzierte Betrachtung religiöser Individuen nach spezifischer Konfessionszugehörigkeit möglich war.

Für die Konfliktlinie zwischen Postmaterialismus und Materialismus wiederum ergibt sich vor allem die Problematik, dass in der GLES-Wahlstudie 2009 noch die Position der befragten Individuen zur Kernkraft abgefragt worden ist. Dabei wurde zwar eine Darstellung in Form von Zielkonflikten bemüht, jedoch keine möglichen Implikationen aus der Entscheidung für die jeweiligen Extrempositionen mit ausgewiesen. Dies ändert sich ab 2013, wird doch seit diesem Zeitpunkt eine Gegenüberstellung zwischen dem Vorrang für Wirtschaftswachstum und dem Vorrang für die Bekämpfung des Klimawandels mit entsprechenden Implikationen zur Erfassung genutzt. Demnach kann die Dimension zwischen einer postmaterialistischen und einer materialistischen Wertorientierung nicht konsistent mit dem gleichen Item abgebildet werden. Der dafür zu nennende Kritikpunkt ist, dass sich das Antwortverhalten durchaus unterscheiden kann, wenn keine Implikationen – wie in den Daten von 2013 und 2017 vorliegend – für eine jeweilige Entscheidung auf dieser Skala enthalten sind. Dem entgegnet werden kann einzig, dass bei Trendstudien wie der hier vorliegenden, im Zweifel, sofern nicht anders möglich, auch auf inhaltlich vergleichbare Items zurückgegriffen werden muss. Tatsächlich fallen sowohl eine Positionierung zur Kernenergie als auch zu Fragen des Wirtschaftswachstums und Klimawandels durchaus theoretisch in den Bereich jener „postökonomisch-idealistische[n]“ (Welzel 2009, S. 124) Werte, die Inglehart (1977) im Konzept der Stillen Revolution auch aufgreift und die auch charakteristisch für diese Konfliktlinie sind. Nichtsdestotrotz handelt es sich hierbei um eine nicht intendierte Inkonsistenz, die aber aufgrund der vorliegenden Datenlage nicht zu vermeiden war. Ähnlich wie bei der Messung einer religiösen Wertorientierung wäre es folglich wünschenswert, wenn dies in künftigen Wahlstudien, beispielsweise bei der GLES, hinreichend berücksichtigt würde.

Die Konfliktlinie zwischen Kosmopolitismus und Nationalismus, die sich hier über die individuelle Positionierung der befragten Personen zwischen einer liberalen und einer restriktiven Einwanderungspolitik aufspannt, eignet sich inhaltlich sehr gut, um diese gesellschaftliche Wertorientierung abzubilden. Einzige Schwachstelle ist hier, dass die Individuen keinerlei Implikationen aus den jeweiligen Entscheidungen für eine der entsprechenden Extrempositionen erfahren. Eine ähnliche Problematik zeigt sich auch bei den hier nicht verwendeten Datenquellen, die einer entsprechenden Begutachtung unterzogen wurden. Dieses Defizit kann und konnte demnach nicht geheilt werden. Dies bedeutet in letzter Instanz allerdings auch, dass nicht abschließend geklärt werden kann, ob die Befragten eine möglichst konsistente Entscheidung in der Abwägung beider Zielvorstellungen treffen konnten, weil ihnen daraus resultierende Konsequenzen bewusst waren. Als essenzielle Herausforderung erscheint dabei die Entwicklung entsprechender Items, die bei der Darstellung möglicher Implikationen keine (rassistischen) Ressentiments schüren oder gar suggestiv sind.

Die schließlich in der vorliegenden Analyse verwendeten Items sind zwar inhaltlich passgenau zu den relevanten Dimensionen gesellschaftlicher Wertorientierungen, gleichwohl diese aufgrund der Datenlage nur durch je ein Item abgebildet werden können. Auch hier besteht ein umfassender Bedarf zur konzeptionellen Entwicklung weiterer Items, die der adäquaten Messung gesellschaftlicher Wertorientierungen gerecht werden. In der Summe behalten Bauer-Kaase und Kaase (1998) somit Recht: Die Messung von (gesellschaftlichen) Wertorientierungen ist nur mit konzeptionellen Kompromissen umzusetzen. Im vorliegenden Fall betrifft dies insbesondere die Anzahl der Items, die schlussendlich für die Abbildung und Messung gesellschaftlicher Wertorientierungen verwendet werden konnten, aber auch die Replizierbarkeit entsprechender Indikatoren.

Die positiven Aspekte der GLES-Daten wurden in dieser Arbeit bereits hinreichend gewürdigt, die sich unter anderem auch auf die Repräsentativität für die bundesdeutsche Bevölkerung beziehen und demnach hochwertige Analysen ermöglichen. Wünschenswert wäre jedoch, wenn auch für die jeweiligen Elektorate eine entsprechende Anzahl von Befragten erfasst würde, um eine höhere Aussagekraft für darauf basierende Analysen zu erzielen. Die besonders geringe Fallzahl für die Elektorate von FDP und AfD im Bundestagswahljahr 2013 hat im Fall der Wähler der letztgenannten Partei dazu beigetragen, dass eine Pfadmodellierung statistisch nicht möglich war. Die GLES-Daten sind nichtsdestotrotz von hoher Qualität, entsprechen – wie in dieser Studie dargelegt – diese doch den höchsten Standards für Stichprobenerhebungen. Allerdings geben die hier verwendeten Querschnittdaten nur Auskunft über die Befragten zu einem Zeitpunkt, in diesem Fall nach der entsprechenden Bundestagswahl. So kann auch nicht abschließend geklärt werden, ob gesellschaftliche Wertorientierungen, obgleich sie als langfristig angelegte Prädiktoren zu verstehen sind (Campbell et al. 1960; Dalton 1988), nicht auch im Rahmen der Mobilisierung in einem Bundestagswahljahr gewissen Schwankungen unterliegen. Ein weiterer kritischer Aspekt, der hier zu nennen wäre, bezieht sich explizit auf die Verwendung der Querschnittdaten der GLES-Nachwahlbefragung. Es kann mit diesen nicht einwandfrei sichergestellt werden, ob das Wahlverhalten Ausdruck einer koalitionstaktischen Überlegung ist oder auf tiefgehenden Überzeugungen beruht. Spezifische Koalitionspräferenzen wurden im Rahmen der GLES-Studien nur einmalig 2013 in der Nachwahlbefragung erhoben, weswegen für eine tiefergehende Analyse keine Vergleichbarkeit gewährleistet werden könnte.

Eine weitere Schwäche der vorliegenden Ausarbeitung liegt darin, dass in die hier vorgenommenen Modellierungen keine Einstellungsvariablen aufgenommen werden konnten. Der dafür ursächliche Grund liegt erneut in der Datenverfügbarkeit, die keine langfristige Vergleichbarkeit ermöglichte. Erst durch die Aufnahme einer umfangreicheren Issuebatterie im Rahmen der Nachwahlbefragung von 2017 (Roßteutscher et al. 2019) ist eine solche Analyse nun zwar für die entsprechende Bundestagswahl, nicht jedoch rückwirkend möglich. Eine Ergänzung von Einstellungsvariablen hätte zu einer sich verändernden Modellkomplexität geführt, die wiederum entsprechende Vergleiche zwischen den Bundestagswahljahren eingeschränkt hätte. Aus diesem Grund wurde eine derartige Modellierung hier unterlassen, diese sollte aber in Folgestudien aufgegriffen werden.

Dass in der Untersuchung von Effekten gesellschaftlicher Wertorientierungen auf das Wahlverhalten auf eine dreischrittige Vorgehensweise zurückgegriffen wurde, bei der binär-logistische Regressionsanalysen, die Berechnung von Average Marginal Effects sowie der Berechnung von Pfadmodellen Anwendung fand, hat sich als gute Entscheidung erwiesen. So konnten unterschiedliche, direkte wie indirekte, Effekte gesellschaftlicher Wertorientierungen nachgewiesen werden, die ohne eine Pfadmodellierung nicht sichtbar geworden wären. Auch die Schachtelung entsprechender Regressionsmodelle hat zu einem stärkeren Verständnis beigetragen, in welcher Konstellation gesellschaftliche Wertorientierungen eine signifikante Wirkung entfalten und ab wann ein solcher Effekt nicht länger vorzuliegen scheint.

5.3 Praktische Schlussfolgerungen

Welche praktischen Schlussfolgerungen lassen sich aus den Ergebnissen der hier vorliegenden Studie ableiten? Zwar konnte gezeigt werden, dass die Parteielektorate untereinander durchaus in einem hohen Maß heterogen sind, eine gewisse Heterogenität gar innerhalb der jeweiligen Elektorate vorzufinden ist, manche gesellschaftliche Wertorientierungen, die für die Parteien in ihrer Geschichte Relevanz besaßen, jedoch bis heute Bedeutung haben.

Wenn für die Union aus CDU und CSU seit jeher die religiöse Wertorientierung der eigenen Anhänger eine Rolle spielte, so führt diese auch bis heute zu einer höheren Identifikation mit den Christdemokraten und Christsozialen. Der entsprechende Effekt ist weiterhin hoch. Für die CDU/CSU zeigt dies im Wesentlichen zunächst, dass die historischen Entwicklungspfade auch weiterhin Einfluss haben – zumindest dann, wenn der Blick, wie hier vorgenommen, auf die Wähler verengt wird. Demgegenüber steht allerdings eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung einer zunehmenden Säkularisierung, die sich sukzessive in der bundesdeutschen Bevölkerung zu vollziehen scheint.

Daraus entstehen Chancen für alle Parteien, insbesondere für die CDU/CSU, gleichermaßen aber auch Risiken. Die Chance besteht für alle Parteien darin, auch säkular orientierte Individuen noch stärker in die eigene Wählerschaft zu integrieren. Für die CDU/CSU ist ein solches Vorgehen aber als politischer Drahtseilakt zu verstehen, denn eine Öffnung gegenüber Individuen mit einer säkularen Wertorientierung könnte gerade auch zu einer Entfremdung religiös orientierter Wählerschichten führen. Potenziale bestehen hier insofern vor allem für Parteien, deren Wählerschaft durch eine säkulare Wertorientierung geprägt ist. Gleichwohl muss der immer stärker zurückgehende Anteil religiös orientierter Wähler innerhalb der Gesamtbevölkerung Anlass für die CDU/CSU sein, auch diesen Wählern ein inhaltliches Angebot zu machen. Der Wettbewerb um entsprechende Wählerstimmen ist folglich keineswegs ausgemacht und könnte in Zukunft durchaus auch wieder an inhaltlicher Brisanz gewinnen, wenn es beispielsweise um Fragen des technologischen Fortschritts geht, die sich in einem Spannungsfeld mit ethischen oder religiösen Themen befindet.

Dass die Unionsparteien nach der Bundestagswahl 2017 wiederum nicht den klimapolitischen Kurs der Grünen eingeschlagen haben, bei dem wirtschaftliches Wachstum der Bekämpfung des Klimawandels hintangestellt wird, scheint sich vor dem Hintergrund der hier durchgeführten Datenanalyse als nicht unklug herauszustellen. Waren die Wähler der Union historisch gesehen stets akzentuiert materialistisch orientiert, so zeigt sich in der Wählerschaft inzwischen eine vergleichsweise moderate Haltung. Die CDU/CSU ist daher gut beraten, dieser Position Aufmerksamkeit zu zollen. Die spezifische Abwägung ökologischer und ökonomischer Interessen scheint, so zumindest bei den hier vorgestellten Ergebnissen, bisweilen ein Erfolgsrezept für den Erfolg der CDU/CSU zu sein, wirkt sich diese doch auf die Identifikation mit der Partei und auch ihre Wahl aus. Eine nationalistische Wertorientierung hatte wiederum bereits 2013 keine für die CDU/CSU relevante Effektgröße – nicht auf eine Identifikation mit der Union, aber auch nicht auf deren Wahl. Folglich scheint sich eine liberalisierende Einwanderungspolitik für die Unionsparteien langfristig auszuzahlen, sofern diese behutsam umgesetzt wird. Vorschläge, welche auf der Darstellung eines umfassenderen Repräsentationsdefizits beruhen und ein Versagen der Unionsparteien in dieser Frage attestieren, erscheinen wenig zielführend in dieser komplexen Debatte.

Für die SPD lassen sich in der hier vorliegenden Analyse allenfalls nur geringfügige Effekte feststellen, die gesellschaftliche Wertorientierungen indirekt auf die Parteiwahl entfalten. Es kann an dieser Stelle nicht abschließend geklärt werden, ob es sich hierbei um das Resultat eines langfristigen Bedeutungsverlusts handelt oder ob die Analysen für die Bundestagswahlen 2009, 2013 und 2017 einen seit jeher geltenden Status quo widerspiegeln. Für einen Bedeutungsverlust gesellschaftlicher Wertorientierungen lässt sich allenfalls als Anhaltspunkt der Rückgang der Effektstärken feststellen, welche gesellschaftliche Wertorientierungen auf die Parteiidentifikation haben. Möglich ist allerdings auch, dass sich inzwischen überhaupt immer weniger Menschen mit der SPD identifizieren und die kausalen Mechanismen des Trichters der Wahlentscheidung (Campbell et al. 1960; Dalton 1988) folglich nicht mehr funktional sind. Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse lassen sich demnach kaum praktische Empfehlungen geben, die über Mutmaßungen hinaus gehen, welche Ratschläge der SPD aus dieser – möglichen – Misere helfen könnten. Einzig eine Fokussierung auf eine links-materialistische Sozialpolitik, die verbunden wäre mit einer postmaterialistischen Gesellschaftstransformation, könnte wieder zur Revitalisierung der Partei beitragen. Dies ist darin begründet, dass der Effekt durch eine postmaterialistische Wertorientierung auf eine Identifikation mit der SPD 2013 sogar jenen übersteigt, den eine links-materialistische Wertorientierung zu entfalten vermag. Mit den Grünen und der Linken gibt es jedoch zwei Konkurrenzparteien, die auf diesen Enden der jeweiligen Konfliktachsen ebenso um Wählerstimmen konkurrieren. Der Ausgang einer solchen Neuausrichtung erscheint ungewiss.

Waren die vergangenen drei Bundestagswahlen ein Wechselbad der Gefühle für die FDP, hat sie doch 2009 das beste und 2013 schließlich das schlechteste Wahlergebnis ihrer Geschichte erzielt, was in letzterem Fall auch zum Ausscheiden aus dem Bundestag führte, so scheint bis 2017 ein gewisser Grad an Normalisierung zurückgekehrt zu sein. Eine besitzstandswahrende und eine die Ökonomie der Ökologie gegenüber bevorzugende Grundhaltung der eigenen Wähler entfaltet zu dieser Wahl klar messbare Einflüsse – auf eine Identifikation, aber auch auf eine Wahl der Partei. Dies darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass auf der sozio-ökonomisch definierten Konfliktachse des Links-Rechts-Materialismus keine signifikante Unterscheidbarkeit zwischen den Wählern der FDP einerseits und den Wählern der Union oder AfD andererseits vorliegt. Für die Liberalen ist dies als Chance und Risiko gleichermaßen zu verstehen. Das Risiko ergibt sich daraus, dass auch andere Parteien hier offensichtlich in Konkurrenz um entsprechend orientierte Wähler stehen. Die FDP ist gut beraten, zumindest diesen Wählern ein politisches Angebot zu unterbreiten, da diese für ihre politische Existenz eine immense Bedeutung haben – auch historisch gesehen haben diese stets eine Stütze der Partei gebildet. Daraus ergibt sich sodann aber auch eine Chance, da gerade die CDU/CSU durch Regierungsformationen unter der Ära Merkel sozio-ökonomisch immer stärker von marktwirtschaftlichen Werten abgerückt ist und daraus ein Repräsentationsdefizit entstehen kann oder bereits entstanden sein könnte. Dieses Defizit auf Seiten der Unionsparteien kann die FDP mit einem klar erkennbaren wirtschaftsliberalen Profil für sich nutzen und inhaltlich besetzen. Langfristig ist sodann abzuwarten, ob es zu einer Neuausrichtung im Gefüge des deutschen Parteiensystems kommt, bei der die AfD dem Weg vieler rechtspopulistischer Parteien folgen wird und einer eher sozialprotektionistisch linken Politik folgen wird. In diesem Fall könnte es der FDP gelingen, jene rechts-materialistisch orientierten Wähler zurückzugewinnen, die sie im AfD-Gründungsjahr 2013 an die Partei verloren hatte – wenn sie diese nicht längst zurückgewonnen hat.

Mit Blick auf die Grünen lässt sich konstatieren, dass es der Partei gut gelingt, Wähler entlang der für die Partei zentralen Konfliktlinien gesellschaftlicher Wertorientierungen zu mobilisieren. Dazu ist nicht nur die für die Grünen zentrale postmaterialistische Wertorientierung zu zählen, die die Gründungsgeschichte der Partei und eine darauffolgende Etablierung prägte, sondern auch eine kosmopolitische Wertorientierung der Wählerschaft. Essenziell ist hier insbesondere die sehr exponierte Position der Grünen-Wähler, lassen sich diese doch als die am stärksten von einer postmaterialistischen und einer kosmopolitischen Wertorientierung durchdrungen identifizieren. Wird die grüne Partei als einer von zwei sich in einem Konflikt gegenüberstehenden Polen gesellschaftlicher Spaltung wahrgenommen (Franz et al. 2019), die im direkten Widerspruch zu zentralen Werten der AfD positioniert ist, so lässt sich eine ähnliche Diagnose auch für die eigene Wählerschaft treffen. Die Wähler der Grünen „vertreten in jeder Hinsicht gegenteilige Einstellungen [zu den Wählern der AfD] und haben nichts mit ihnen gemeinsam“ (Pickel 2019, S. 163). Auch auf der Ebene gesellschaftlicher Wertorientierungen, die im Kausalmodell nach Campbell et al. (1960) eine politischen Einstellungen vorgelagerte Rolle einnehmen, bilden die Elektorate von Grünen und AfD sich zwei gegenüberstehende Konfliktpole ab, bei denen keine relevanten Überschneidungen festzustellen sind. Zusätzlich lassen sich leichte Tendenzen dahingehend feststellen, dass die Bedeutung einer links-materialistischen Wertorientierung innerhalb der Wählerschaft der Grünen im Zeitverlauf zugenommen hat, zumindest für eine Identifikation mit der Partei. Es erscheint für die Partei deswegen durchaus als relevant, derartige Entwicklungen bei künftigen Positionierungen oder Regierungsbildungen in die entsprechenden Abwägungen und Verhandlungen berücksichtigend einzubringen.

Auch das Profil der Linken-Wählerschaft ist insofern interessant, als dass hier vor allem eine säkulare Identität ebenso wie eine links-materialistische Wertorientierung relevant sind. Gerade die eindeutig säkulare Wertorientierung der Wähler der Linken mag durchaus auch auf das alte PDS-Erbe zurückführbar sein (Neu 2004), da deren Wähler und Mitglieder ähnlich säkular orientiert waren wie die der heutigen Linken. Verwunderlich ist allerdings, dass ausschließlich 2017 direkte und signifikante Effekte seitens einer links-materialistischen Wertorientierung auf das Wahlverhalten attestierbar sind. Nichtsdestotrotz prägt eine solche Wertorientierung auch noch bis 2017 in einem nicht irrelevanten Umfang eine Identifikation mit der Linken. Dass die Linke sich hiernach als sozio-ökonomisch links orientierte Partei versteht, erscheint vor dem Hintergrund der durchgeführten Analysen weiterhin sinnvoll. Grundsätzlich stellt sich aber die Frage, ob es dem Erfolg der Linken nicht zuträglich wäre, im politischen Raum einen noch stärkeren Fokus auf eine säkular orientierte Politik zu richten, auch um sich thematisch breiter aufzustellen und stärker innerhalb des linken politischen Lagers abzugrenzen. Die Wirkpfade gesellschaftlicher Wertorientierungen auf die Linken-Wahl verlaufen allerdings nicht kontinuierlich, sondern sind im Analyseverlauf gewissen Schwankungen ausgesetzt. Zumindest auf dieser Datenlage erscheinen weitreichende Empfehlungen als wenig sinnvoll.

Für die AfD legen die vorliegenden Ergebnisse nahe, dass die Grundbedingungen für eine längerfristige Etablierung als nationalistischer Gegenpol zum Kosmopolitismus der Grünen bereits 2013 auf Elektoratsebene geschaffen waren. Zwar konnten in der vorliegenden Studie keine Pfadmodelle für diese entsprechende Wahl berechnet werden, doch zeigt sich in den anderen Modellierungen bereits ein klarer Effekt. Demnach hatte 2013 einzig eine nationalistische Wertorientierung einen signifikanten Effekt auf das Wahlverhalten zu Gunsten der AfD. Zur Bundestagswahl 2017 nimmt der entsprechende Effekt deutlich zu. Die Ergebnisse der Datenanalyse deuten darüber hinaus darauf hin, dass es der AfD sehr erfolgreich gelungen ist, auch grundsätzlich als Partei ein Identifikationsobjekt für jene Individuen zu werden, die eine entsprechende Wertorientierung haben. Hinzu kommen weitere Wirkungspfade, die Grund zu der Annahme geben, dass der AfD eine inhaltlich breitere und wertefundierte Aufstellung gelungen ist. Demnach ist die Ablehnung einer sozialpolitisch redistributiven Politik, die Priorisierung wirtschaftlichen Wachstums gegenüber der Bekämpfung des Klimawandels sowie eine säkulare Wertorientierung essenziell für den Erfolg der AfD. Mit anderen Worten bedient die AfD eine vergleichsweise klar definierte Nachfrage im Elektorat – und dies recht erfolgreich, wenn sich der für die Bundestagswahl 2017 festgestellte Entwicklungstrend auch in Zukunft bestätigen sollte. Ein Zusammenspiel aus Nationalismus, Säkularismus und (Rechts-)Materialismus geben der AfD auf der Ebene gesellschaftlicher Wertorientierungen ihrer eigenen Wählerschaft ein einzigartiges Werteprofil, welches sich vermutlich in Zukunft nur marginal verändern wird. Ginge die AfD beispielsweise in der Zukunft den Weg vieler rechtspopulistischer Parteien Westeuropas, die sich schließlich sozio-ökonomisch einer eher sozialprotektionistischen Ausrichtung zuwendeten, würde dies womöglich sogar zum Erfolg der Partei beitragen. Zumindest lässt sich für 2017 nur ein geringfügiger Effekt seitens einer rechts-materialistischen Wertorientierung auf die AfD-Wahl nachweisen. Demnach erscheint für die AfD eine Kombination aus einer nationalistisch lesbaren und links-materialistisch begründeten Sozialpolitik vielversprechend. Zusammenfassend bleibt gerade die weitere Entwicklung der AfD, insbesondere dann, wenn sie als expliziter Gegenpol zu den Grünen verstanden wird, vor dem Hintergrund der hier vorgestellten Analysen spannend.

Gemessen an den Analysen zeigt sich, dass die Parteiidentifikation weiterhin der zentrale Prädiktor ist, durch und über den eine Wahlentscheidung maßgeblich beeinflusst wird. Alle hier analysierten Parteien sind demnach gut beraten, von ihnen als wahlrelevant identifizierten Bevölkerungsgruppen ein Angebot zu machen beziehungsweise eine Identifikationsfläche zu bieten, um diese Wählergruppen – optimalerweise langfristig – an sich zu binden. Maßgeblich ist hierbei allerdings auch, in welchem Umfang und wie deutlich die Parteiidentifikation durch gesellschaftliche Wertorientierungen geprägt wird.

5.4 Ausblick und Forschungsdesiderate

Wie im vorangegangenen Kapitel beschrieben, bleibt die Parteiidentifikation ein zentraler Prädiktor, um die Wahlentscheidung von Individuen vorhersagen zu können. Die Idee der vorliegenden Studie, dass gesellschaftliche Wertorientierungen über diese Parteiidentifikation schließlich auf die spezifische Wahlentscheidung einwirken, hat sich als ebenso richtig herausgestellt wie auch die Feststellung, dass gesellschaftliche Wertorientierungen – je nach Dimension und Partei – auch einen von der Parteiidentifikation unabhängigen Wirkungspfad haben können. Die Grundannahme des Kausaltrichters der Wahlentscheidung ist demnach in der Grundtendenz bestätigt, wenngleich er aus verschiedenen Gründen auch weiterhin kritisch hinterfragt werden sollte, da er gleichermaßen partiell widerlegt wurde. Gesellschaftliche Wertorientierungen wirken tatsächlich primär über die Parteiidentifikation, jedoch auch unabhängig von dieser auf das Wahlverhalten ein. Für die Wahlforschung beziehungsweise die Politikwissenschaft stellen sich auf Basis der vorliegenden Ergebnisse einige Fragen, die in Folgestudien untersucht werden müssen.

Zentral ist hierbei nicht nur eine Untersuchung, ob gesellschaftliche Wertorientierungen beispielsweise einen direkten Effekt auf die Einstellungen zu spezifischen Kandidaten – gemeint ist hier die Kandidatenorientierung – haben. Die Wirkungsweise der Parteiidentifikation bleibt zwar weiterhin stark, gleichwohl verfügt nicht jedes Individuum über eine derartige Bindung zu einer Partei. Entsprechende Individuen stehen dadurch sozusagen im Schatten jener Individuen, die sich mit einer Partei identifizieren. Auch ist die Grundannahme des Kausaltrichters nach Campbell et al. (1960) und Dalton (1988) in einem zentralen Punkt schlichtweg unlogisch, sofern die vorliegende Studie als Ausgang für weitere Untersuchungen genommen wird: Wenn sich Einstellungen zu Themen als gesellschaftlichen Wertorientierungen nachgelagerte Einflussgrößen bestimmen lassen, immerhin leiten sich politische Einstellungen doch aus ihnen ab, so muss das Konzept des Trichters der Wahlentscheidung überarbeitet werden. Dies ist damit zu begründen, dass im Ursprungskonzept die Einstellungen zu bestimmten Themen keine direkte Beziehung zu (gesellschaftlichen) Wertorientierungen aufweisen, sondern einzig aus der Parteiidentifikation abgeleitet und von dieser beeinflusst werden. Auf Basis der hier konzeptuell unterbreiteten Vorschläge ist diese fehlende Beziehung theoretisch unlogisch.

Zu fragen ist zudem, ob die Annahme weiterhin Gültigkeit hat, dass zwischen der Kandidaten- und der Themenorientierung kein wechselseitiger Einfluss besteht. Vor dem Hintergrund zunehmender Personalisierung von Wahlkämpfen und politischen Prozessen erscheint eine derartige Untersuchung wünschenswert. Auch ist zu untersuchen, ob die Parteiidentifikation heute noch in ihrer Entstehung der kausalen Logik folgt, dass diese vor allem über Wertorientierungen, Gruppenloyalitäten oder eine familiäre Sozialisation vermittelt wird. Demnach könnte ein Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen jener sein, mögliche Effekte seitens der Kandidaten- oder Themenorientierung auf die Entstehung und Ausbildung einer Parteiidentifikation zu untersuchen. Fraglich ist dann beispielsweise auch, ob es hier altersgruppen-spezifische Unterschiede gibt oder ob die Annahme kausaler Mechanismen beispielsweise auch auf Menschen zu übertragen ist, die überhaupt nicht oder nur teilweise in Deutschland politisch sozialisiert wurden.

Dabei müssen dann die hier in Teilen bestehenden Defizite, beispielsweise die nicht mögliche Replizierbarkeit von Einstellungsvariablen, die dadurch nicht in die Analyse aufgenommen werden konnten, oder aber auch sich im Zeitverlauf verändernde Items, ausgeglichen oder behoben werden. Auch die allgemeine Anzahl an Items, die zur Abbildung der jeweiligen Dimensionen gesellschaftlicher Wertorientierungen herangezogen werden, müssen dem folgend erweitert werden. Dafür sind sodann theoretisch-konzeptionelle Schritte nötig, um entsprechende Items zu entwickeln, die einer empirischen Untersuchung sachdienlich sind. Wünschenswert ist ferner, dass derartige Wahlstudien in Zukunft noch eine bedeutsam größere Zahl an Wählern erfassen, da nur dadurch robuste Messungen auch für die Elektorate kleinerer Parteien möglich sind. Dies hätte womöglich auftretende Schwierigkeiten mit der Erklärung des Wahlverhaltens für die AfD bei der Bundestagswahl 2013 verhindern können. Auch lassen sich Pfadmodellierungen deutlich besser mit größeren Fallzahlen realisieren. Dieses Defizit konnte in der hier vorliegenden Arbeit nicht behoben werden. Mögliche Ansatzpunkte für anschließende Untersuchungen sind vielfältig und sollten verfolgt werden, um das zu Beginn dieser Untersuchung beschriebene Defizit eines stiefmütterlichen Umgangs mit gesellschaftlichen Wertorientierungen langfristig zu beheben. Auf lange Sicht könnte sich dies als lohnend erweisen. Dabei könnte sodann auch beispielhaft die Frage verfolgt werden, weshalb etwa die Konfliktdimension des Links-Rechts-Materialismus zwar die Identifikation mit allen hier einer Untersuchung unterzogenen Parteien – mit Ausnahme der AfD aufgrund der angeführten Messproblematik – signifikant beeinflusst, direkte Effekte auf das Wahlverhalten hingegen nur geringfügig festzustellen sind. In diesem Kontext sollte in Folge auch zwingenderweise ein stärkerer Fokus auf der Erklärung des Wahlverhaltens zu Gunsten der SPD liegen, da dieses hier, auf Basis der vorliegenden Analysen, nicht anhand von gesellschaftlichen Wertorientierungen zu erklären ist. Ob es sich hierbei um ein systematisches Problem der SPD oder doch nur der verwendeten Daten handelt, werden Folgestudien zeigen.

Die vorliegende Untersuchung hat vor allem den Blick darauf gerichtet, inwiefern Parteien auf sich wandelnde Wertorientierungen innerhalb der Bevölkerung reagieren und die für sie wichtigen historischen Wurzeln heute noch abzubilden vermögen. Nicht betrachtet wurde dabei aber, wie die entsprechende Angebotsseite – gemeint sind hiermit die Parteien – womöglich auch Einfluss nehmen kann auf die Ausgestaltung oder Veränderung von gesellschaftlichen Wertorientierungen, die bereits den politischen Raum prägen. Zielführend könnte hierbei etwa eine Untersuchung der programmatischen Kommunikation von Parteien oder Parteieliten sein, die auf die Forcierung entsprechender Politikziele ausgerichtet ist und zu einer langfristigen Restrukturierung im politischen Wettbewerb beitragen könnte. Alleine hieraus ergeben sich zahlreiche Anknüpfungspunkte für die Erforschung gesellschaftlicher Wertorientierungen, die den vormals stiefmütterlichen Umgang mit ihnen – so ist zumindest die hier formulierte Hoffnung – zu einer Randnotiz der Vergangenheit werden lassen.