„Das Ziel der Datenanalyse war es primär, die individuelle mathematische Kreativität von Erstklässler*innen beim Bearbeiten arithmetisch offener Aufgaben herauszuarbeiten (Forschungsfrage 1), um dadurch Kreativitätstypen der Erstklässler*innen zu bilden (Forschungsfrage 2).“ (Abschn. 7.3)

In diesem und dem nachfolgenden Kapitel der empirischen Mixed Methods-Studie zur individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen beim Bearbeiten arithmetisch offener Aufgaben werden die Ergebnisse der qualitativen Studie dargestellt. Auf Basis der Clusterbildung aus dem quantitativen Sampling-Verfahrens und der damit einhergehenden Zuordnung der 78 Erstklässler*innen zu vier verschiedenen Fähigkeitsprofilen (vgl. Kap. 8, insbesondere Abb. 8.13) wurden Lernende kriteriengeleitet ausgewählt, die repräsentativ für das Grundsample stehen (vgl. Abschn. 7.1.2.3). So nahmen insgesamt 18 Erstklässler*innen an den Unterrichtsepisoden teil, in denen sie ihre individuelle mathematische Kreativität beim Bearbeiten zweier arithmetisch offener Aufgaben zeigen konnten (vgl. Abschn. 8.3). Dieser erste Ergebnisabschnitt zielt auf das qualitativ ausgerichtete Forschungsziel ab (vgl. Abschn. 5.1.2), eine Charakterisierung und Typisierung der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen beim Bearbeiten zweier arithmetisch offener Aufgaben vorzunehmen. In diesem Zusammenhang sollen die ersten beiden Forschungsfragen beantwortet werden, die für die nachfolgenden Ausführungen strukturgebend sind. Dabei wird zu Beginn jedes Abschnitts das methodische Vorgehen der Datenauswertung noch einmal knapp rekapituliert (vgl. ausführlich Abschn. 7.3), um dann im Detail die Auswertung der videografierten Unterrichtsepisoden zu präsentieren, die zu einer Beantwortung der jeweils fokussierten Forschungsfrage führen:

F1:

Inwiefern kann die individuelle mathematische Kreativität von Erstklässler*innen beim Bearbeiten arithmetisch offener Aufgaben auf Basis des InMaKreS-Modells (vgl. Abschn. 2.4.2) charakterisiert werden? (vgl. Abschn. 9.2)

F2:

Inwiefern lassen sich verschiedene Typen der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässlern ableiten? (vgl. Abschn. 9.3)

Auf Basis der Beobachtung der videografierten Unterrichtsepisoden, in denen die Lernenden je zwei arithmetisch offene Aufgaben bearbeiteten (vgl. Abschn. 7.2), wurde mit Hilfe einer mehrschrittigen qualitativen Video-Inhaltsanalyse eine Typisierung der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen erarbeitet (vgl. Abschn. 7.3.1). Das Vorgehen orientierte sich dabei an dem Typisierungsprozess nach Kelle und Kluge (2010, S. 92), die vier rekursiv zu durchlaufende Stufen in der Analyse qualitativer verbaler Daten beschreiben. In diesem Zusammenhang wurde das Ablaufschema (vgl. Abb. 9.1) der Datenauswertung für diese Studie erstellt (vgl. Abschn. 7.3.1, insbesondere Abb. 7.11):

Abb. 9.1
figure 1

Ablaufschema der qualitativen Datenauswertung auf Basis der Stufen im Typisierungsprozess

Basis für die Erstellung dieses Ablaufschemas der Datenanalyse bildete das theoretisch entwickelte InMaKreS-Modell, das nun empirisch genutzt wird. In diesem wurden die divergenten Fähigkeiten definiert und zueinander in Beziehung gesetzt, sodass die individuelle mathematische Kreativität von Schüler*innen im Mathematikunterricht gezielt angeregt und dadurch beobachtbar wird (vgl. Abschn. 2.4.2). Da sich die Unterrichtsepisoden dieser Studie an dem Modell orientierten (vgl. Abschn. 7.2.2), war es nun möglich, die individuelle mathematische Kreativität der 18 Erstklässler*innen beim Bearbeiten zweier arithmetisch offener Aufgaben retrospektiv zu analysieren.

Basierend auf dem methodischen Ablaufschema der Datenauswertung (vgl. Abb. 9.1) wird in den nachfolgenden Ausführungen zunächst die Erstellung der individuellen Kreativitätsschemata beschrieben, wobei diese auf einer Kategorisierung der Ideentypen der Erstklässler*innen basieren (vgl. Abschn. 9.1). Es schließt sich die Charakterisierung der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen auf Grundlage der divergenten Fähigkeiten Denkflüssigkeit, Flexibilität und Originalität im Sinne des InMaKreS-Modells an (vgl. Abschn. 9.2). Auf Basis dieser werden zuletzt verschiedene Typen der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen beim Bearbeiten arithmetisch offener Aufgaben herausgearbeitet (vgl. Abschn. 9.3).

1 Erstellung der individuellen Kreativitätsschemata

„Die individuelle mathematische Kreativität beschreibt die relative Fähigkeit einer Person, zu einer geeigneten mathematischen Aufgabe verschiedene passende Ideen zu produzieren (Denkflüssigkeit), dabei verschiedene Ideentypen zu zeigen und zwischen diesen zu wechseln (Flexibilität), zu den selbst produzierten Ideen und gezeigten Ideentypen weitere passende Ideen und Ideentypen zu finden (Originalität) und das eigene Vorgehen zu erklären (Elaboration).“ (Abschn. 2.4.1)

Die einzelnen Begriffsbestimmungen der vier divergenten Fähigkeiten Denkflüssigkeit, Flexibilität, Originalität und Elaboration bilden die Grundlage für die im Theorieteil dieser Arbeit entwickelte Definition und das darauf aufbauende Modell der individuellen mathematischen Kreativität von Schulkindern (InMaKreS) (vgl. Abschn. 2.4). Da dieses Modell wiederum die Basis für die vorliegende empirische Studie zur Kreativität von Erstklässler*innen bildete (vgl. Abschn. 5.2), war es in einem ersten Analyseschritt notwendig, die zentralen Grundbegriffe aus den Definitionen der divergenten Fähigkeiten empirisch herauszuarbeiten. Dazu zählen, wie bereits im methodischen Abschnitt 7.3.1.1 erläutert und im obigen Zitat ersichtlich, die Begriffe Idee und Ideentyp. Diese wurden mithilfe einer qualitativen Video-Inhaltsanalyse induktiv kategorisiert (vgl. Abschn. 7.3.1.1).

Der Begriff Idee verweist nicht nur auf die Erarbeitung verschiedener mathematischer Lösungen zu einer offenen Aufgabe, sondern vielmehr auf den schöpferischen Gedanken, der zu der divergenten Produktion der Lösungen geführt hat (vgl. Abschn. 2.4.1). Im Rahmen dieser Studie wurden die Ideen der Erstklässler*innen deshalb als das Zusammenspiel aus einem produzierten Zahlensatz zu einer arithmetisch offenen Aufgabe und die Erklärung dieser Produktion aufgrund von Zahl-, Term- und Aufgabenbeziehungen verstanden. Dafür wurden die videografierten Unterrichtsepisoden der Erstklässler*innen zunächst schematisiert (vgl. Abschn. 7.3.1.1): In chronologischer Reihenfolge wurden alle produzierten Zahlensätze zu einer arithmetisch offenen Aufgabe und die von den Kindern geleistete Erklärung zu diesem Zahlensatz notiert. Dabei wurden alle Zahlensätze, die das Kind produzierte oder die es im Verlauf der Unterrichtsepisode erneut ansprach, abgebildet. Gegebenenfalls wurde notiert, wenn der Zahlensatz einen Rechenfehler enthielt oder doppelt aufgeschrieben wurde. Da der Fokus jedoch auf dem Produzieren qualitativ verschiedener Ideen und damit vor allem auf den Erklärungen der Kinder lag, wurden diese Besonderheiten von einzelnen Zahlensätzen nicht weiter berücksichtigt. Zusätzlich wurden in den schematisierten Aufgabenbearbeitungen der Erstklässler*innen die eingesetzten (meta-)kognitiven Lernprompts am Zahlensatz notiert. Durch die Positionierung des entsprechenden Symbols wurde verdeutlicht, wann der Prompt gegeben wurde. In der nachfolgenden Tabelle 9.1 sind die Notationsvorschriften für die zuvor erläuterte Erstellung der Schematisierungen der Aufgabenbearbeitungen dargestellt:

Tab. 9.1 Notationsvorschriften für die Erstellung des Prozessschemas

Basierend auf diesen Notationsvorschriften ist nachfolgend beispielhaft das Schema der Aufgabenbearbeitung der zweiten offenen Aufgabe [Ergebnis 12] von Lars zu sehen (vgl. Abb. 9.2).

Abb. 9.2
figure 2

Prozessschema von Lars bei der zweiten offenen Aufgabe A2

In der Produktionsphase produzierte der Erstklässler zunächst die beiden Zahlensätze \(10+2=12\) sowie \(11+1=12\) und daraufhin den Zahlensatz *\(12-11=1\), der nicht der Aufgabenbedingung entsprach, da das Ergebnis nicht 12 war. Entsprechend der Notationsvorschriften (vgl. Tab. 9.1) wurde dieser Zahlensatz mit einem Sternchen versehen. Zudem war Lars in der Lage, jede Produktion seiner drei Zahlensätze nachvollziehbar durch Zahl-, Term- oder Aufgabenbeziehungen zu erklären, weshalb zwischen allen Zahlensätzen im Schema Pfeile notiert wurden. Dies setzte sich auch in der Reflexionsphase fort, weshalb im Schema zwischen allen Zahlensätzen Pfeile notiert wurden. In der Reflexion verwies der Erstklässler erneut auf seine beiden zuvor produzierten Zahlensätze, die dementsprechend grau hinterlegt wurden, und führt dabei die gleichen Erklärungen an. Da Lars aus eigenem Entschluss keine weiteren Zahlensätze finden konnte, bot die Lehrende-Forschende im Sinne des kognitiven Prompt 10 dem Kind den Zahlensatz \(13-1=12\) an. Dieser wurde ausgewählt, da der Erstklässler zuvor ausschließlich additive Zahlensätze produziert hatte und daher ein subtraktiver Zahlensatz das Entdecken weiterer Zahl-, Term- und Aufgabenbeziehungen anregen sollten. Der Erstklässler begründete die Produktion dieses vorgegeben Zahlensatzes durch einen Wechsel der Operation, produzierte daraufhin jedoch einen weiteren additiven Zahlensatz, nämlich \(8+4=12\). So zeigte Lars insgesamt bei seiner kreativen Bearbeitung der arithmetisch offenen Aufgabe A2 sieben Ideen, die durch die sieben Pfeile und Zahlensätze in seinem nebenstehenden Schema deutlich werden.

Wie dem Schema zu entnehmen ist, wurden während der gesamten Unterrichtsepisode fünf metakognitive Prompts eingesetzt (vgl. für eine Übersicht 7.2.3). Am Ende der Produktionsphase wurde dem Erstklässler durch den metakognitiven Prompt 1 die arithmetisch offene Aufgabe erläutert. Zusätzlich fragte die Lehrende-Forschende bei zwei Zahlensätzen in Form des Prompt 3 explizit nach, warum Lars den gerade produzierten Zahlensatz aufgeschrieben hatte. Dies wurde beim letzten Zahlensatz dadurch ergänzt, dass Lars durch den Prompt 4 darin unterstützt wurde, die Positionierung der Karteikarte mit dem Zahlensatz auf dem Tisch zu begründen. Eine Antwort auf diese Frage, „Wo kommt der Zahlensatz hin?“ unterstützte die Erklärung zur Produktion ebendieses Zahlensatzes.

Nachdem alle 36 Aufgabenbearbeitungen der Erstklässler*innen wie zuvor beschrieben schematisiert und dadurch die Ideen der Kinder herausgearbeitet wurden, schloss sich eine induktive Kategorisierung der verschiedenen Ideen über alle Aufgabenbearbeitungen hinweg an. Durch unterschiedliche Haupt- und Subkategorien konnten unterschiedliche Ideentypen analysiert werden (vgl. Definition Abschn. 2.4.1). Hier muss darauf verwiesen werden, dass nicht alle Ideen der Erstklässler*innen eindeutig durch eine Kategorie abgebildet werden konnten. Gründe dafür waren, dass die Kinder keine Erklärung für die Produktion des Zahlensatzes verbalisieren konnten bzw. wollten oder dass die von den Lernenden gegebene Erklärung mathematisch nicht nachvollziehbar war. In diesen Fällen wurden Ideen unkategorisiert gelassenFootnote 1. An vielen Stellen der Aufgabenbearbeitungen war es zudem nötig, zunächst mehrere mögliche Kategorien zu notieren und erst durch eine spätere Erklärung der Erstklässler*innen die Idee eindeutig einer Kategorie und damit einem Ideentyp zuzuordnen. Somit wurde der gesamte Kodierungsprozess mehrfach und bei den einzelnen Aufgabenbearbeitungen auch rekursiv durchlaufen (vgl. Abschn. 7.3.1.1). Alle gebildeten Haupt- und Subkategorien wurden an den Pfeilen in den schematisierten Aufgabenbearbeitungen der Erstklässler*innen notiert. Auf diese Weise entstand für jede Bearbeitung einer arithmetisch offenen Aufgabe der Erstklässler*innen ein sogenanntes individuelles Kreativitätsschema (IKS) (vgl. Abb. 7.8).

1.1 Kategoriensystem: arithmetische Ideentypen

„Kannst du mir erklären, wie du diese Aufgabe gefunden hast?“ (Formulierung Prompt 3, Tab. 7.6)

Im Folgenden soll das Kategoriensystem zu den Ideentypen im Detail präsentiert werden. Unter dem von mir gewählten Begriff der arithmetischen Ideentypen, der aufgrund des mathematischen Inhaltsbereichs der offenen Aufgaben gewählt wurde, konnten vier verschiedene Ideentypen induktiv analysiert werden. Diese wurden durch vier Hauptkategorien mit jeweils unterschiedlich vielen Subkategorien abgebildet:

Kategorie (Ideentyp) 1:

Frei-assoziierte Ideen

Kategorie (Ideentyp) 2:

Struktur-nutzende Ideen

Kategorie (Ideentyp) 3:

Muster-bildende Ideen

Kategorie (Ideentyp) 4:

Klassifizierende Ideen

Diese vier Ideentypen bilden die verschiedenen Zahl-, Term- und Aufgabenbeziehungen ab (vgl. Abschn. 3.2.2.2, insbesondere Tab. 3.4), welche die Erstklässler*innen zur Erklärung der Produktion ihrer Zahlensätze bei der Bearbeitung der arithmetisch offenen Aufgaben heranzogen. Die erste Hauptkategorie der frei-assoziierten Ideen bezeichnet einen Ideentypen, bei dem in den Erklärungen der Erstklässler*innen für die Produktion des Zahlensatzes keine (arithmetische) Verbindung zwischen diesem und anderen zuvor produzierten Zahlensätzen erkennbar wird. Dagegen charakterisieren die anderen drei Hauptkategorien, die struktur-nutzenden, muster-bildenden und klassifizierenden Ideen, unterschiedliche von den Lernenden erklärte Zahl-, Term- und Aufgabenbeziehungen. Über diese arithmetischen Muster und Strukturen werden verschiedene Zahlensätze miteinander in Verbindung gebracht. Im Folgende sollen nun die verschiedenen Hauptkategorien mit ihren Subkategorien im Detail definiert und anhand von Ankerbeispielen aus den kreativen Aufgabenbearbeitungen der Erstklässler*innen veranschaulicht werden.

1.1.1 Frei-assoziierte Ideen (Ideentyp 1)

Diese erste Hauptkategorie bildet alle Ideen der Erstklässler*innen bei der kreativen Bearbeitung arithmetisch offener Aufgaben ab, bei denen ein Zahlensatz ohne Verbindung zu bereits zuvor produzierten Zahlensätzen gefunden, aufgeschrieben und erklärt wurde. Die Kinder wählten demnach aus der Vielzahl an möglichen und zur arithmetisch offenen Aufgabe passenden Zahlensätzen völlig frei einen Zahlensatz zur Produktion aus. Anhand der Erklärungen der Kinder konnte jedoch analysiert werden, dass die Erstklässler*innen bei einer solchen Produktion von Zahlensätzen arithmetische Besonderheiten von Zahlen bzw. Zahlensätzen assoziierten. Aus diesem Grund wurde der erste Ideentyp als frei-assoziierte Ideen bezeichnet.

Bei dieser ersten Hauptkategorie konnten in allen 36 Aufgabenbearbeitungen der Erstklässler*innen zu den beiden arithmetisch offenen Aufgaben A1 [Zahl 4] und A2 [Ergebnis 12] insgesamt elf verschiedene Subkategorien herausgearbeitet werden. Diese stellen die von den Lernenden erläuterten arithmetischen Besonderheiten dar, die sie bei der Produktion der Zahlensätze assoziierten. An dieser Stelle sollen Ankerbeispiele zu allen Subkategorien der frei-assoziierten Ideen vorgestellt werden, um die Definitionen ebendieser zu explizieren (vgl. vollständiges Codebuch im elektronischen Zusatzmaterial):

  • Als eine von den Erstklässler*innen häufig assoziierte Aufgabenbeziehung ist zunächst der sogenannte Operationswechsel zu nennen. Dabei entschieden die Lernenden plötzlich, einen Zahlensatz mit einer anderen Operation zu produzieren. Dabei wurde vor allem zwischen der Addition und Subtraktion gewechselt. Nur selten wurde zur Multiplikation gewechselt, was aufgrund der schulmathematischen Erfahrungen der Kinder am Ende der ersten Klasse nicht verwundert. So erklärte bspw. die Erstklässlerin Melina ihre Produktion des Zahlensatzes \(1\cdot 12=12\) mit „Weil (…) mir ab jetzt keine Minus- und Plusaufgaben mehr eingefallen ist“ (45-D-w_A2, 00:29:05–00:29:55).

  • Die Subkategorie besondere Zahlensätze bildet verschiedene Zahl-, Term- und Aufgabenbeziehungen ab, die sich auf besondere und vor allem leicht zu rechnende Zahlensätze beziehen. Dazu gehören die nachfolgenden Subkategorien:

    1. o

      Als Beispiel für die häufige Fokussierung auf Verdopplungsaufgaben erläuterte Marie etwa die Produktion ihres Zahlensatzes \(6+6=12\) damit, „weil wir die Verdopplungsaufgaben hatten schonmal“ (6-W-w_A2, 00:00:23–00:00:42).

    2. p

      Die Kraft der 5 für die Produktion von Zahlensätzen zu nutzen, wurde vor allem aus den beobachteten Rechenwegen der Erstklässler*innen ersichtlich. So notierte etwa Sophia die Zahl 5, rechnete dann mit den Fingern oder im Kopf bis zum Ergebnis 12 und schrieb schließlich den Zahlensatz \(5+7=12\) auf (vgl. 65-D-w_A2, 00:01:10–00:01:30).

    3. q

      Lukas hatte erst bis zu der Zehn ge[rechnet)“ (9-W-m_A1, 00:00:53–00:01:48) und so den Zahlensatz \(6+4=10\) produziert, was ein Beispiel für die Subkategorie der Zehnerzahl darstellt. Unter dieser wird die Produktion von Zahlensätzen mit einem Fokus auf Zehnerzahlen verstanden.

    4. r

      Neben den Zahlen 5 und 10 als arithmetische Besonderheiten, welche die Erstklässler*innen nutzten, um die Produktion ihrer Zahlensätze zu erklären, wurde zudem die Zahl 0 fokussiert. Bspw. erklärte Alina ihren produzierten Zahlensatz \(0+12=12\) damit, „Weil Null ist ja gar nichts und dann kann man ja da noch zeigt mit Daumen und Zeigefinder gleichzeitig auf die Zwölf als zweiten Summanden und als Ergebnis dann weiß ich das ja schon“ (13-W-w_A2, 00:09:02–00:09:17).

    5. s

      Die Erklärung für die Produktion des Zahlensatzes \(3+1=4\) von Marie lautete: „Nach der Drei kommt ja die Vier und dann sind ja noch Eins“ (6-W-w_A1, 00:12:49–00:13:13). So ist dies ein passendes Beispiel für die Subkategorie + /‒1. Bei dieser werden Zahlensätze produziert, bei denen eine gewählte Startzahl (zumeist der erste Summand oder Minuend) um Eins erhöht oder vermindert wird.

  • Nicht überraschend konnten auch Ideen von Erstklässler*innen identifiziert werden, bei denen die Kinder Zahlensätze bereits automatisiert hatten und diese, ohne lange zu überlegen oder offensichtlich zu rechnen, aufschreiben konnten. In diesem Fall wurde die Subkategorie gewusst kodiert. Auch dies formulierten einige Lernende wie etwa Alim durch Erklärungen wie, „weil wir die Aufgabe ein bisschen öfters in Mathe [hatten]“ (vgl. 42-D-m_A1, 00:01:40–00:02:17).

  • Einige Erstklässler*innen entwickelten bei der Produktion von Zahlensätzen zu den arithmetisch offenen Aufgaben die Idee, ein anderes Aufgabenformat zu nutzen wie bspw. Alina, welche die Lehrende-Forschende in der Unterrichtsepisode explizit nach dieser Option fragte: „Geht auch eine Minus- oder Plustraube?“ (vgl. 13-W-w_A1, 00:9:56–15:44). Sie produzierte daraufhin mit Unterstützung die nachfolgende Minustraube (vgl. Abb. 9.3).

  • Eine weitere Subkategorie, die innerhalb der frei-assoziierten Ideen der Erstklässler*innen analysiert wurde, fokussiert die Anzahl der Operationen innerhalb der Zahlensätze. So erklären einzelne Lernende die Produktion eines Zahlensatzes damit, dass sie die Anzahl der verwendeten Operationen absichtsvoll erhöhten oder erniedrigten. Melina etwa erklärte ihren produzierten Zahlensatz \(1+1+10=12\) zur zweiten arithemtisch offenen Aufgabe mit der Aussage: „Ich könnte hier natürlich auch \(2+10\) nehmen, aber am Anfang wollte ich zweimal Plus“ (vgl. 45-D-w_A2, 00:33:50–00:34–42).

  • Eine bewusste Veränderung des verwendeten Zahlenraums diente bei einigen Erstklässler*innen als Erklärung für die Produktion ihrer Zahlensätze. Entsprechend der Schulstufe der Kinder wurden die Zahlensätze überwiegend im Zahlenraum bis 10, öfter auch im Zahlenraum bis 20 und seltener bis 100 gebildet. An dieser Stelle kann exemplarisch Lukas angeführt werden, der die Lehrende-Forschende direkt nach dieser Möglichkeit fragte: „Darf man auch über Vi… Also über Zwanzig?“ (9-W-m_A1, 00:11:50–00:12:13). Daraufhin produzierte er den Zahlensatz \(40-36=4\).

  • Die letzte Subkategorie Position der besonderen Zahl aus der Aufgabenbedingung stellt eine weitere Zahl-, Term- und Aufgabenbeziehung dar, auf welche die Erstklässler*innen bei der Erklärung ihrer Zahlensätze zurückgriffen. Bei der ersten arithmetisch offenen Aufgabe Finde Aufgaben mit der Zahl 4 stellt die Veränderung der Position der Zahl 4 innerhalb der Zahlensätze eine adäquate Idee dar, weitere Zahlensätze zu produzieren. Max fragte nach dieser Möglichkeit, indem er formulierte: „Kann man auch die Zahl höher als Vier sein? […] Zum Beispiel, wenn ich jetzt fünf minus (.) vier nehme?“ (72-D-m_A1; 00:03:20–00:04:30) und schrieb den Zahlensatz \(5-4 =1\) auf. Bei der zweiten arithmetisch offenen Aufgabe Finde Aufgaben mit dem Ergebnis 12 führte eine Veränderung der Position der 12 hingegen unweigerlich zu einer unpassenden Idee, da die 12 nicht mehr das Ergebnis der Aufgabe war.

Die nachfolgenden drei Hauptkategorien bilden Ideentypen der Erstklässler*innen beim Bearbeiten der beiden arithmetisch offenen Aufgaben ab, bei denen zur Erklärung der Produktion eines Zahlensatzes über bestimmte Zahl-, Term- und Aufgabenbeziehungen eine Verbindung zwischen mehreren Zahlensätzen hergestellt wurde. So entstanden die Hauptkategorien der struktur-nutzenden Ideen, muster-bildenden Ideen und klassifizierende Ideen, die in den nachfolgenden Abschnitten definiert und anhand ausgewählter Ankerbeispiele präsentiert werden (vgl. Codebücher im elektronischen Zusatzmaterial).

Abb. 9.3
figure 3

Minustraube von Alina

1.1.2 Struktur-nutzende Ideen (Ideentyp 2)

Die zweite Hauptkategorie umfasst und kategorisiert alle Ideen der Erstklässler*innen bei der Bearbeitung der beiden arithmetisch offenen Aufgaben, bei denen die Lernenden zwischen zwei oder mehr Zahlensätzen eine Verbindung über bestimmte Zahl-, Term- und Aufgabenbeziehungen herstellten. Dabei werden durch die neun verschiedenen Subkategorien in dieser Hauptkategorie ausschließlich solche Verbindungen beschrieben, die auf arithmetischen Strukturen beruhen. Diese wurden im ersten Teil dieser Arbeit im Abschnitt zum Zahlenblick, insbesondere der Zahl-, Term- und Aufgabenbeziehungen (vgl. Abschn. 3.2.2.2, Tab. 3.4), bereits theoretisch zusammengetragen. Dadurch, dass in der mathematikdidaktischen Forschung diverse arithmetische Strukturen und deren Bezeichnungen aufgelistet sind, wurden die Subkategorien dieser Hauptkategorie dem Material deduktiv zugeordnet. Anhand der Erklärungen der Erstklässler*innen konnte festgestellt werden, dass viele der arithmetischen Strukturen den Kindern aus dem Mathematikunterricht bekannt waren und mehr oder minder präzise erklärt werden konnten. Jedoch fiel es den Lernenden schwer, die entsprechenden Bezeichnungen anzuwenden. Vor allem die beiden Fachbegriffe der Tausch- und Umkehraufgaben wurden häufig verwechselt. Andere arithmetische Strukturen wie etwa Nachbaraufgaben, die über das gegensinnige oder gleichsinnige Verändern entstehen, wurden gar nicht benannt, aber häufig genutzt und beschrieben. Dadurch, dass die Erstklässler*innen in jedem Fall eine arithmetische Struktur nutzen, wurde dieser Ideentyp als struktur-nutzende Ideen bezeichnet.

Nachfolgend werden die neun Subkategorien der struktur-nutzenden Ideen erläutert und anhand von Ankerbeispielen aus den 36 Aufgabenbearbeitungen der Erstklässler*innen verdeutlicht (vgl. Codebuch im elektronischen Zusatzmaterial):

  • Eine arithmetische Struktur, die im Mathematikunterricht der ersten Klasse bereits sehr früh mit den Kindern erarbeitet wird, sind Tauschaufgaben (vgl. Padberg & Benz, 2011b, S. 98). Daher ist es nicht verwunderlich, dass diese Subkategorie in den Erklärungen der Erstklässler*innen zur Produktion der Zahlensätze häufig wiederzufinden ist. Henry etwa erklärt diese Struktur beispielgebunden an seinem Zahlensatz \(9+4=13\) und dem zuvor produzierten Zahlensatz \(4+9=13\) wie folgt: „Weil (.) zeigt immer auf die Zahlen in den Zahlensätzen, die er benennt die Neun da ist und die Neun einfach nach da ist; und die Vier ist da und da; und die Dreizehn gibt es auch doppelt“ (15-W-m_A1, 00:20:26–00:21:20). Trotz dieser passenden Erklärung bezeichnete Henry seine erklärte Struktur als Umkehraufgabe. Dies verdeutlicht, dass Henry wie auch einige andere Erstklässler*innen die mathematikdidaktischen Fachbegriffe (noch) nicht verinnerlicht hatten.

  • Neben den Tauschaufgaben sind auch Umkehraufgaben als besondere Zahl-, Term- und Aufgabenbeziehungen in den Erklärungen der Erstklässler*innen für die Produktion weiterer Zahlensätze zu finden. So erklärte bspw. Sebastian seine Produktion des Zahlensatzes \(10-4=6\), indem er auf den Zahlensatz \(6+4=10\) deutete und sagte, „weil das die Tauschaufgabe ist. […] Die Zehn ist dahin getauscht und die Vier bleibt stehen und die Sechs ist auch verwechselt“ (1-W-m_A1, 00:26:14–00:26:53). An dieser Stelle wird erneut deutlich, dass viele der Lernenden in der Lage sind, ihre genutzte arithmetische Struktur zu beschreiben, aber nicht fachsprachlich zu benennen.

  • Nutzten Erstklässler*innen für ihre Produktion von Zahlensätzen sowohl Tausch- als auch Umkehraufgaben, dann hatten einzelne Lernende die Idee, eine Aufgabenfamilie zu bilden. Dieser Begriff beschreibt theoretisch alle additiven und subtraktiven Möglichkeiten mit den gleichen drei Zahlen vier verschiedene Zahlensätze zu bilden, wodurch zwei Tausch- und zwei Umkehraufgaben entstehen, z. B. \(1+2=3, 2+1=3, 3-1=2, 3-2=1\) (vgl. Padberg & Benz, 2011b, S. 118). Dabei wurde diese Subkategorie dann kodiert, wenn die Erstklässler*innen in ihren kreativen Aufgabenbearbeitungen zu zwei Tausch- oder Umkehraufgaben mindestens einen dritten passenden Zahlensatz produzierten. Hier kann das Beispiel von Jana herangezogen werden, die ihre Produktion des Zahlensatzes \(10-6=4\) erklärte, indem sie auf ihre beiden zuvor produzierten Zahlensätze \(10-4=6\) und \(4+6=10\) deutete und sagte: „Und dieses Mal sind die beiden umgekehrt zeigt auf die Zahlen Sechs und Vier in dem neu produzierten Zahlensatz“ (61-D-w_A1, 00:24:22–00:24:58).

  • Die Subkategorie Nachbaraufgaben bildet drei verschiedene Möglichkeiten von Zahl-, Term- und Aufgabenbeziehungen ab, bei denen sich die Erklärung der Produktion von Zahlensätzen auf die Nähe der Zahlensätze untereinander bezieht.

    1. o

      Die Subkategorie Veränderung beider Elemente des Terms bezieht sich auf das gegensinnige oder gleichsinnige Verändern, je nachdem ob die Erstklässler*innen additive oder subtraktive Zahlensätze produzieren. Lars erklärte die Produktion der nacheinander aufgeschriebenen Zahlensätze \(10+2=12\) und \(11+1=12\) wie folgt: „zeigt auf die hintere Ziffer 1 der Zahl 11 Wenn das. Wenn da jetzt eine Null wäre. Dann ist jetzt hier die Eins dahin gekommen zeigt auf den zweiten Summanden Dann wären das ja hier zwei zeigt auf den zweiten Summanden des ersten Zahlensatzes“ (57-D-m_A2, 00:01:57–00:02:44). Dadurch, dass Lars die Veränderung beider Summanden in Beziehung zueinander beschrieb, konnte hier eindeutig die Nachbaraufgabe als arithmetische Struktur kodiert werden.

    2. p

      Die zweite Subkategorie der Nachbaraufgaben bildet die Ideen der Erstklässler*innen ab, eine Veränderung eines Elements im Term vorzunehmen. Mona produzierte passend zur ersten arithmetischen Aufgabe bspw. der Reihe nach die Zahlensätze \(4+1=5\), \(4+2=6\) und \(4+3=7\). Sie erklärte ihre Idee mit den folgenden Worten: „Weil alles am Anfang 4 ist. […] Weil das Ergebnis Fünf, Sechs, Sieben ist“ (35-D-w_A1, 00:07:34–00:07:56). Obwohl sie diese Auffälligkeit nicht explizit erläutert, folgt aus ihrer Erklärung, dass sich der zweite Summand immer um Eins erhöhen muss.

    3. q

      Eine besondere Form der Nachbaraufgaben bildeten einzelne Erstklässler*innen, indem sie Zahlensatzfolgen durch Kettenaddieren oder -subtrahieren zeigen. Diese induktiv erarbeitete Subkategorie soll durch das Beispiel von Marie veranschaulicht werden. Die Erstklässlerin produzierte den Zahlensatz \(10+4=14\) und erklärte diesen, indem sie auf den zuvor produzierten Zahlensatz \(6+4=10\) verwies und kommentierte: „Weil ich von da zeigt auf das Ergebnis 10 des vorherigen Zahlensatzes weiterrechne deutet auf die + 4 des neu produzierten Zahlensatzes“ (61-D-w_A1, 00:01:56–00:02:20). Mit dieser Struktur, bei der in einem weiten Sinne benachbarte Zahlensätze gebildet werden, produzierte das Kind noch weitere Zahlensätze.

  • Einzelne Erstklässler*innen nutzten in ihren Aufgabenbearbeitung die Subkategorie des Zerlegens, bei der einzelne Zahlen der Zahlensätze bewusst zerlegt wurden. Dabei griffen die Lernenden auf die (zum Teil automatisierten) Zahlzerlegungen aller Zahlen bis Zehn zurück, die einen wesentlichen Lerninhalt des Mathematikunterrichts des ersten Halbjahres der ersten Klasse darstellen (vgl. Hasemann & Gasteiger, 2014, S. 120–124, 126–127). Mona bspw. erklärte die Produktion ihres Zahlensatzes \(1+9+1+1=12\), den sie in Verbindung zu dem Zahlensatz \(10+2=12\) brachte, dadurch, „weil ich als erstes ‘ne Eins genommen hab und dann ‘ne Neun. Dann hatte ich schon Zehn und dann wollte ich nicht wieder ‘ne Zwei legt den Zahlensatz neben den zuvor geschriebene Zahlensatz 10 + 2 = 12“ (35-D-w_A2, 00:00:58–00:01:42).

  • Das Nutzen der arithmetischen Struktur der Analogie, welche die Erstklässler*innen durch die Begriffe wie Analogieaufgaben (Buschmeier et al., 2017b, S. 70–71) oder kleine und große Schwesteraufgabe (Rinkens et al., 2015b, S. 86) kennen, stellt ebenfalls eine in den Aufgabenbearbeitungen analysierte Subkategorie dar. Dabei wird mit Hilfe eines automatisierten Zahlensatzes im Zahlenraum bis Zehn ein Zahlensatz, bei dem mindestens eine Zahl um einen Zehner erhöht bzw. erniedrigt wurde, produziert. Noah erklärte etwa die Produktion des Zahlensatzes \(4-3=1\) durch den Zahlensatz \(14-13=1\) und sagt: „das ist die kleine Schwesteraufgabe“ (20-W-m_A1, 00:01:47–00:02:17).

  • Als letzte Subkategorie sind Verdopplungen zu nennen. Dabei werden zwei Zahlensätze in eine strukturelle Verbindung gebracht, da der eine Zahlensatz das Doppelte oder die Hälfte des anderen darstellt. So erklärte Sebastian: „die Sechzig deutet auf den ersten Faktor des Zahlensatzes \(60\cdot 9=540\) gehört zur Dreizig deutet auf den ersten Faktor des Zahlensatzes \(30\cdot 9=270\), weil die Sechzig das Doppelte von Dreizig ist“ (1-W-m_A1, 00:23:30–00:23:55).

Neben der in diesem Abschnitt beschriebenen Hauptkategorie der struktur-nutzenden Ideen konnten in den 36 Aufgabenbearbeitungen der Erstklässler*innen noch zwei weitere Hauptkategorien entwickelt werden. Die muster-bildenden und klassifizierenden Ideen bilden ebenfalls Ideentypen ab, bei denen die Lernenden Zahl-, Term- und Aufgabenbeziehungen zur Erklärung heranziehen und so Zahlensätze miteinander verbinden. Diese sollen im Folgenden dargestellt werden.

1.1.3 Muster-bildende Ideen (Ideentyp 3)

Die zuvor dargestellte Hauptkategorie der struktur-nutzenden Ideen beschreibt einen arithmetischen Ideentyp, bei dem die Erklärungen der Erstklässler*innen zur Produktion von Zahlensätzen auf das Nutzen arithmetischer Strukturen verweist. Zudem ließen sich auch Erklärungen der Kinder analysieren, bei denen sich die Erstklässler*innen ausschließlich auf einzelne numerische Auffälligkeiten und Veränderungen innerhalb der Zahlensätze fokussierten. So brachten die Erstklässler*innen bei der kreativen Bearbeitung arithmetisch offener Aufgaben Zahlensätze über verschiedenartige, selbst gebildete Zahlenmuster miteinander in Verbindung. Daher wird diese Hauptkategorie als muster-bildende Ideen bezeichnet.

Nachfolgenden werden die vier Subkategorien dieses Ideentyps definiert und wie zuvor anhand von Ankerbeispielen erläutert (vgl. Codebuch im elektronischen Zusatzmaterial):

  • Als dynamische numerische Auffälligkeit kann die Subkategorie wachsende Zahlenfolge beschrieben werden. Dabei brachten die Erstklässler*innen innerhalb von mindestens zwei Zahlensätzen einzelne Zahlen oder gar Ziffern in eine auf- oder absteigende Reihenfolge. Die Zahlensätze mussten nicht unbedingt auch eine Verbindung auf Grund einer arithmetischen Struktur aufweisen oder – was häufig der Fall war – ebendiese strukturelle Verbindung wurde von den Lernenden nicht als solche identifiziert. Vielmehr blieb der Fokus bei der Erklärung der produzierten Zahlensätze auf der Zahlebene. So erklärt bspw. Marie, dass ihre Zahlensätze \(3+1=4\), \(2+2=4\) und \(3+4=7\) in einer Verbindung stehen, weil rückwärts gesehen „da die Drei zeigt auf den Zahlensatz 3 + 4 = 7, da die Zwei zeigt auf den Zahlensatz 2 + 2 = 4, da die Eins zeigt auf den Zahlensatz 3 + 1 = 4. Und hier ist noch die Vier“ (6-W-w_A1, 00:13:15–00:13:50). Bei Letzterem zeigte sie auf den Subtrahenden des geradeaufgeschriebenen Zahlensatzes \(14-4=10\) und legte diesen neben die anderen. Der gelegten Reihenfolge nach verweist sie also im ersten Zahlensatz auf den zweiten Summanden (1), dann auf den ersten Summanden (2), auf den ersten Summanden (3) und auf den Minuenden (4). Die Abgrenzung dieser Subkategorie der muster-bildenden Ideen zur Subkategorie der Nachbaraufgaben der struktur-nutzenden Ideen liegt demnach in der Fokussierung auf einzelnen Zahlen und nicht auf der ganzheitlichen Betrachtung einer Veränderung eines Zahlensatzes zum nächsten. Dies soll am folgenden Beispiel noch einmal verdeutlicht werden: Marie produzierte nacheinander die (zumeist durch Rechenfehler gekennzeichneten) Zahlensätze *\(1+7=12\), *\(2+7=12\) und \(4+8=12\) bis hin zu dem Zahlensatz \(11+1=12\). Bei ihrer Erklärung fokussierte sie nicht etwa das gegensinnige Verändern als arithmetische Struktur, sondern eine in den Zahlensätzen erkennbare Zahlreihenfolge, „weil hier die Eins, dann die Zwei, dann die Drei […]“ (6-W-w_A2, 00:07–50–00:08:00). Deshalb wurde in diesem Fall die kindliche Idee als wachsende Zahlenfolge kategorisiert.

  • Die anderen drei Subkategorien der muster-bildenden Ideen beschreiben im Gegensatz zur ersten Subkategorie statische numerische Muster. Die zweite induktiv herausgearbeitete Subkategorie Plus-Minus ist insofern einzigartig, als dass die Erstklässler*innen zwei Zahlensätze als zusammengehörig beschrieben, die auf numerischer Ebene starke Übereinstimmungen aufweisen, mathematisch gesehen aber durch keine arithmetischen Gesetze oder Axiome verbunden werden können. So wird ein additiver und ein subtraktiver Zahlensatz in Verbindung gebracht, bei denen die Zahlen des Terms exakt übereinstimmen, d. h. \(a+b=c\,und \,a-b=d\). Lukas erklärte etwa, dass sein Zahlensatz \(12-0=12\) eine Verbindung zu dem zuvor produzierten Zahlensatz \(12+0=12\) aufweisen würde, weil er bei der Produktion „einfach dabei das gleiche aber nur mit Minus gemacht [hatte]“ (9-W-w_A2, 00:02:36–00:03:02).

  • Bei der Subkategorie Zahlenparallele erklären die Erstklässler*innen die Produktion eines Zahlensatzes, da dieser mit einem anderen Zahlensatz zwei gleiche Zahlen oder Ziffern aufweist. Dabei ist die Position der übereinstimmenden Zahlen oder Ziffern innerhalb der Zahlensätze unerheblich. Jessika erklärte die Produktion der Zahlensätze \(10+2=12\) und *\(3+10=12\) damit, „weil hier Zehn, Zehn [und da] Zwölf, Zwölf (21-W-w_A2, 00:06:07–00:06:20). An diesem Beispiel wird insbesondere deutlich, dass auch bei der Produktion unpassender Zahlensätzen wie *\(3+10=12\) (Rechenfehler) durch die Erklärung der Erstklässler*innen die zugrundeliegende Idee kategorisiert werden konnte.

  • Die letzte Subkategorie der muster-bildenden Ideen bildet eine weitere Aufgabenbeziehung ab, bei der die Erstklässler*innen arithmetische Muster über Zahlensätzen bilden, diese in Form bestimmter Aufgabenformate wie etwa Zahlenmauern anordnen und zur Produktion weiterer Zahlensätzen nutzen. So ordnete Lana ihre Zahlensätze \(7-3=4,\) \(2+2=4\) und \(4+2=6\) in eine Zahlenmauer an (vgl. Abb. 9.4), verwies explizit auf dieses Aufgabenformat und erklärte, „weil Vier deutet auf das Ergebnis des unteren linken Zahlensatzes plus Zwei deutet auf den ersten Summanden des unteren rechten Zahlensatzes Sechs ergibt deutet auf das Ergebnis der oberen Zahlensatzes“ (53-D-w_A1, 00:13:13–00:13:36).

Abb. 9.4
figure 4

Zahlenmauer Lana

An dieser Stelle kann zusammengefasst werden, dass bei struktur-nutzenden Ideen die Erstklässler*innen in ihren Erklärungen zur Produktion von Zahlensätzen arithmetische Strukturen fokussierten. Der Ideentyp der muster-bildenden Ideen umfasst solche, bei denen die Lernenden ihre Aufmerksamkeit auf numerische Auffälligkeiten bzw. numerische Veränderungen in mehreren Zahlensätzen richteten. Nachfolgend wird die letzte Hauptkategorie erläutert, die nun den letzten arithmetischen Ideentypen abbildet, die klassifizierenden Ideen.

1.1.4 Klassifizierende Ideen (Ideentyp 4)

Die Hauptkategorie der klassifizierenden Ideen bildet alle Ideentypen der Erstklässler*innen bei der Bearbeitung arithmetisch offener Aufgaben ab, bei denen diese eine Verbindungen zwischen zwei oder mehr Zahlensätzen ausschließlich aufgrund äußerlicher Merkmale der Zahlensätze wie etwa bestimmte Zahlen oder die verwendete Operation herstellten. Damit unterscheidet sich dieser Ideentyp deutlich von der Idee, arithmetische Strukturen zu nutzen (struktur-nutzende Ideen (Ideentyp 2)) sowie dem Bilden von Zahlenmustern (muster-bildende Ideen (Ideentyp 3)). Bei der Analyse der 36 Aufgabenbearbeitungen war auffällig, dass dieser Ideentyp häufig am Ende der kreativen Bearbeitungen der Erstklässler*innen und nachdem Ideen der anderen Ideentypen gezeigt wurden, kodiert wurde. Hier liegt die Vermutung nahe, dass die klassifizierenden Ideen von den Kindern genutzt werden, um die Produktion von Zahlensätzen zu erklären, die nicht über eine arithmetische Struktur oder ein Zahlenmuster in Verbindung zu anderen Zahlensätzen stehen. Dieses Vorgehen konnte durch die Impulsfrage „Was fällt dir auf?“ in der Reflexionsphase der Unterrichtsepisoden angestoßen worden sein (vgl. Unterrichtsleitfaden Tab. 7.5).

Nachfolgend werden die fünf induktiv gebildeten Subkategorien der klassifizierenden Ideen mithilfe von Ankerbeispielen definiert und präsentiert (vgl. Codebuch im elektronischen Zusatzmaterial):

  • Eine Term- bzw. Aufgabenbeziehung, welche die Erstklässler*innen in ihren Erklärungen zur Produktion von Zahlensätzen anführten, bezog sich auf die verwendete Operation als äußerliche Auffälligkeit von Zahlensätzen. Bei dieser Subkategorie werden Zahlensätze ausschließlich aufgrund der verwendeten Operation in additive und subtraktive Zahlensätze geordnet und in diesem Sinne weitere Zahlensätze produziert. Bspw. sortiert Annika ihre additiven Zahlensätze \(4+5=9\) und \(4+4=8\) genauso wie die subtraktiven Zahlensätze \(4-2=2\) und \(4-3=1\) jeweils untereinander und damit in zwei parallelen Reihen. Dies erklärte sie mit, „weil hier ist Minus und hier ist Plus“ (30-W-w_A1, 00:02:45–00:2:57).

  • Die Subkategorie Anzahl der Elemente in den Zahlensätzen bildet alle Erklärungen der Erstklässler*innen ab, bei denen sie Zahlensätze über die Anzahl der Elemente (zumeist Summanden) sortierten. So erklärte Alina, dass der Zahlensatz \(1+4+1+4+2=12\) „zu den Langen“ (13-W-w_A2, 00:06-58–00:07:02) gehörte und sortierte ihre weiteren Zahlensätze \(10+2=12\), \(2+5+5=12\) und \(1+4+1+4+2=12\) daher nach der Länge des Terms.

  • Eine weitere äußerliche Auffälligkeit, welche die Erstklässler*innen zur Erklärung ihrer Zahlensätze nutzten, war die Position einer bestimmten Zahl innerhalb der Zahlensätze. So wurden Zahlensätze als zusammengehörend bezeichnet, wenn sie alle an der gleichen Stelle (oft im Ergebnis oder als erster Summand bzw. Minuend) die gleiche Zahl aufwiesen. Ben verband auf diese Weise seine beiden Zahlensätze \(60-20=40\) und \(70-3=40\), „weil da am Ende steht eine Vierzig und hier auch“ (40-D-m_A1, 00:25:05–00:25:31).

  • Nicht nur die Position einer Zahl innerhalb der Zahlensätze konnte als Erklärung zur Produktion dieser dienen, sondern auch eine bestimmte Zahl selbst. Max setzte bspw. die Zahl 5 in den Mittelpunkt seiner Erklärung des produzierten Zahlensatzes *\(8+5=12\), den er dem Zahlensatz \(7+5=12\) zuordnete. Er erklärte dies damit, „weil das ist ja schon ‚ne Fünf-Aufgabe“ (72-D-m_A2, 00:07:00–00:07:20).

  • Unter der letzten Subkategorie Auffälligkeiten werden alle klassifizierenden Ideen der Erstklässler*innen gefasst, bei denen die Kinder einzelne äußerliche Merkmale benannten. Die benannten Merkmale unterscheiden die Zahlensätze deutlich von anderen produzierten Zahlensätzen. Damit wurde hier ein eher ausschließendes als verbindendes Kriterium für eine Sortierung gefunden. Ein Beispiel dafür ist die Antwort von Alim auf die Frage der Lehrenden-Forschenden zu Beginn der Reflexionsphase, was ihm denn an seinen produzierten Zahlensätzen auffiele: „Also, dass hier keine Eins ist deutet auf den ersten Summanden des Zahlensatzes \(6+6=12\) und da keine Zwei ist deutet auf den ersten Summanden des Zahlensatzes \(10+2=12\)“ (42-D-m_A2, 00:20:10–00:20:32). Damit grenzte er diese Zahlensätze von seinen anderen ab, die alle über eine wachsende Zahlenmusterfolge miteinander verbunden wurden.

Aus den Erläuterungen der Subkategorien des Ideentyps der klassifizierenden Ideen lässt sich festhalten, dass die Erstklässler*innen bei diesem Ideentyp in ihren Erklärungen äußerliche Merkmale der produzierten Zahlensätze fokussierten. Darin liegt der Unterschied zu den struktur-nutzenden Ideen, bei denen arithmetische Strukturen in den Blick genommen werden, sowie zu den muster-bildenden Ideen, bei denen numerische Auffälligkeiten und Veränderungen innerhalb der Zahlensätze beachtet werden. Damit bilden diese drei Hauptkategorien alle Ideentypen ab, bei denen die Erstklässler*innen zwei oder mehr Zahlensätze über verschiedene Zahl-, Term- und Aufgabenbeziehungen in Verbindung setzten. Die frei-assoziierten Ideen stellen dagegen einen Ideentyp dar, bei dem die Lernenden frei weitere Zahlensätze produzieren und dabei arithmetische Besonderheiten von (Zahlen-)sätzen assoziierten. Die für alle Hauptkategorien gebildeten Subkategorien differenzieren die verschiedenen arithmetischen Ideentypen noch weiter aus.

Im nachfolgenden Abschnitt soll die Kategorisierung der Unterrichtsepisoden der Erstklässler*innen exemplarisch anhand von Lars‘ Bearbeitung der arithmetisch offenen Aufgabe A2 präsentiert werden (vgl. Abschn. 9.1.2). Die Analyse mündet in der Erstellung seines individuellen Kreativitätsschemas (vgl. Abschn. 9.1). Anschließend wird die Reliabilität des gerade vorgestellten Kategoriensystems dargestellt. Die Berechnung dieses zentralen Gütekriteriums ist deshalb notwendig, da die Kategorien als Ausgangspunkt für die weiteren Analysen der individuellen mathematischen Kreativität der Erstklässler*innen dienen (vgl. Abschn. 9.1.3). So kann in Abschnitt 9.2 die Charakterisierung und anschließend in Abschnitt 9.3 die Typisierung der individuellen mathematischen Kreativität der Erstklässler*innen erarbeitet werden.

1.2 Das individuelle Kreativitätsschema (IKS) am Beispiel von Lars

„Findest du verschiedene Aufgaben mit dem Ergebnis 12?“ (arithmetisch offene Aufgabe A2, Abschn. 7.2.2)

Alle Ideen der Erstklässler*innen, die in den schematisierten Aufgabenbearbeitungen veranschaulicht wurden (vgl. Einführung zu Abschn. 9.1), wurden durch das dargestellte Kategoriensystem der arithmetischen Ideentypen (vgl. Abschn. 9.1.1) analysiert. Dabei war es notwendig, die gesamte Unterrichtsepisode mehrfach zyklisch zu durchlaufen, um alle Erklärungen der Erstklässler*innen herausarbeiten und analysieren zu können. Die Kategorisierung der einzelnen Ideen gestaltete sich individuell herausfordernd und insgesamt interpretativ (vgl. Ausführungen in Abschn. 7.3.1.1). Bereits im methodischen Rahmen dieser Studie (vgl. Abschn. 7.3.1.1) als auch in der Erläuterung zur Erstellung der Bearbeitungsschemata (vgl. Abschn. 9.1) wurde darauf verwiesen, dass nicht alle Ideen der Erstklässler*innen bei ihrer kreativen Bearbeitung der beiden arithmetisch offenen Aufgaben kategorisiert werden konnten. Zum einen waren die Erklärungen der Erstklässler*innen trotz des Einsatzes (meta-)kognitiver Prompts nicht ausreichend vorhanden bzw. mathematisch nachvollziehbar, als dass eine eindeutige Kodierung möglich gewesen wäre. Zum anderen ergaben sich innerhalb der Unterrichtsepisoden – vor allem in der Reflexionsphase – Momente, in denen die Lernenden immer paarweise zwei Zahlensätze über bestimmte Zahl-, Term- und Aufgabenbeziehungen in Verbindung zueinander setzen und ihr Vorgehen erklärten. Zwischen solchen Paaren von Zahlensätzen bestand nur selten ein erkennbarer mathematischer Zusammenhang und es existierte daher auch keine zu kategorisierende Idee. In beiden Fällen wurde zur Kennzeichnung, dass keine Kategorisierung möglich war, das -Symbol verwendet.

Schlussendlich wurden die entsprechenden Codes für die gebildeten Haupt- und Subkategorien (vgl. Codebuch im elektronischen Zusatzmaterial) neben den Pfeilen in den Schemata der kindlichen Aufgabenbearbeitungen notiert. Dabei stellt der erste Teil des Codes die Abkürzung der Hauptkategorie und der zweite Teil die Abkürzung der Subkategorie dar. So verweist der Code must-wachs bspw. auf den Ideentyp der muster-bildenden Ideen (must) und zwar konkret auf die Subkategorie der wachsenden Zahlenfolge (wachs). Der Übersichtlichkeit halber wurden den vier Hauptkategorien wiederkehrende, zufällig ausgewählte Farben zugeordnet. Frei-assoziierte Ideen wurden grün, struktur-nutzende Ideen rot, muster-bildende Ideen blau und klassifizierende Ideen lila markiert.

Am Beispiel der zweiten Aufgabenbearbeitung von Lars (vgl. Einführung zu Abschn. 9.1) soll der Kategorisierungsprozess nun dargestellt und das so entstandene individuelle Kreativitätsschema (IKS) dieses Erstklässlers exemplarisch veranschaulicht werden (vgl. Abb. 9.5).

Abb. 9.5
figure 5

Individuelles Kreativitätsschema der zweiten arithmetisch offenen Aufgabe von Lars

Lars produzierte in der Produktionsphase als erstes den Zahlensatz \(10+2=12\). In seiner Erklärung formulierte er, dass er diesen Zahlensatz produziert hat, „weil Zehn plus Eins Elf ist“ (57-D-m_A2, 00:01:24–00:01:31) und verwies dadurch auf die besondere Bedeutung der Zahl 10 für die Produktion dieses Zahlensatzes. Da dieser von dem Erstklässler zunächst frei, d. h. im Sinne von unverbunden, produziert wurde, konnte diese erste Idee als frei-assoziierte Idee (ass) mit besonderem Blick auf die Zehnerzahl (bes-10) kategorisiert werden. Im Anschluss produzierte er den Zahlensatz \(11+1=12\) und erklärte diesen wie folgt: „Weil es fast die gleiche ist. […] zeigt auf die hintere Ziffer 1 der Zahl 11 Wenn das. Wenn da jetzt eine Null wäre. Dann ist jetzt hier die Eins dahin gekommen zeigt auf den zweiten Summanden. Dann wären das ja hier zwei zeigt auf den zweiten Summanden des ersten Zahlensatzes“ (57-D-m_A2, 00:01:57–00:02:44)“. Diese Szene diente bereits als Ankerbeispiel für die Subkategorie Veränderung beider Elemente des Terms (nach-beid) der struktur-nutzenden Ideen (struk) (vgl. Abschn. 9.1.1), da Lars hier das gegensinnige Verändern als arithmetische Struktur beschreibt. Als Lars von mir als Lehrende-Forschende aufgefordert wurde, verschiedene (weitere) Zahlensätze mit dem Ergebnis 12 zu produzieren, schrieb er noch den Zahlensatz *\(12-11=1\) auf. Dieser ist zwar unpassend, da er die Aufgabenbedingung von A2 [Ergebnis 12] nicht beachtet, jedoch konnte die dem Zahlensatz zugrundeliegende Idee durch Lars‘ Erklärung kategorisiert werden. In dieser beschrieb er, dass die Zahl 12 jetzt „vorne“ (57-D-m_A2, 00:03:05–00:03:37) stehe. Somit zeigte er hier eine frei-assoziierte Idee (ass) mit Betonung auf der Position der besonderen Zahl aus der Aufgabenbedingung (pos). Der Zahlensatz wurde nach der Feststellung, dass er nicht der arithmetisch offenen Aufgabe A2 entsprach, vom Tisch gelegt. Da Lars keine weiteren Zahlensätze produzieren konnte oder wollte, wurde die Produktionsphase an dieser Stelle beendet.

In der Reflexionsphase der Unterrichtsepisode wiederholte Lars zunächst, dass die beiden von ihm schon zuvor produzierten Zahlensätze \(10+2=12\) und \(11+1=12\) Nachbaraufgaben waren, „weil das fast die gleichen sind“ (57-D-m_A2, 00:04:25–00:04:40). Daher wurde diese Idee erneut dem Ideentyp der struktur-nutzenden Ideen (struk) und dabei den Nachbaraufgaben (nach) mit der Veränderung beider Zahlen im Term (beid) kodiert. Im Übergang von der Produktions- zur Reflexionsphase, d. h. von der Produktion des Zahlensatzes \(12-11=1\) und dem erneuten Ansprechen des Zahlensatzes \(10+2=12\), ist aufgrund der angesprochenen Paarbildung keine Idee zu kategorisieren, weshalb das notiert wurde. Vielmehr wurden die Zahlensätze von Lars noch einmal rekapituliert und die Verbindung der beiden Zahlensätze über eine arithmetische Struktur bestärkt. Anschließend wurde Lars im Kontext des kognitiven Prompts Nr. 10 der Zahlensatz \(13-1=12\) angeboten. Zu diesem erklärte der Erstklässler nach langer Überlegung, dass „die [Aufgabe] hier nicht passen [würde]“ (57-D-m_A2, 00:04:41–00:05:28), sondern ein neuer, im Sinne von unverbundener, Zahlensatz darstellt. Somit zeigte Lars hier eine frei-assoziierte Idee (ass). Dabei fokussierte er mit dem Finger und seinem Blick vor allem auf das Subtraktionszeichen, weshalb ihm hier der Operationswechsel (op) von seinen additiven zu dem subtraktiven Zahlensatz auffiel. Zum Schluss produzierte Lars noch den Zahlensatz \(8+4=12\), der in keiner mathematischen Verbindung zu den vorherigen Zahlensätzen stand. Dadurch, dass Lars seine Produktion an dieser Stelle nicht erklärte, den Zahlensatz aber verhältnismäßig schnell und routiniert aufgeschrieben hatte, wurde hier eine frei-assoziierten Idee (ass) und die Subkategorie gewusst (gew) kodiert.

1.3 Reliabilität: Stabilität und Reproduzierbarkeit der Ergebnisse

„As perfect reliability may be difficult to achieve, especially when coding tasks are complex and so require elaborate cognitive processes, analysts need to know by how much the data deviate from the ideal of perfect reliability and whether this deviation is above or below accepted reliability standards.” (Krippendorff, 2009, S. 221)

Zur Absicherung der Qualität des vorgestellten Kategoriensystems zu den arithmetischen Ideentypen (vgl. Abschn. 9.1.1) und um die daraus entstandenen individuellen Kreativitätsschemata als Basis für die Charakterisierung und Typisierung der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen verwenden zu können, wurde die Reliabilität der Ergebnisse berechnet. Krippendorff (2009, S. 214–216) unterscheidet dabei drei Arten von Reliabilität, die über verschiedene Methoden berechnet werden: Die Stabilität der Ergebnisse, d. h. in diesem Fall des Kategoriensystems, wird mit Hilfe der Intracoder-Übereinstimmung berechnet und stellt diejenige Reliabilitätsart mit der geringsten Aussagekraft dar. Die Reproduzierbarkeit hat eine höhere Aussagekraft, da zusätzlich zur Intracoder-Übereinstimmung die Intercoder-Übereinstimmung berechnet wird. Zuletzt weist die Reliabilitätsart der Genauigkeit die stärkste Aussagekraft auf, da hierbei zusätzlich zur Intra- und Intercoder-Übereinstimmung ein Vergleich mit einem Standard berechnet wird (vgl. Krippendorff, 2009, S. 215, Tab. 11.1). Da das Kategoriensystem der arithmetischen Ideentypen vor allem induktiv erarbeitet wurde, existiert kein solcher Standard (wie etwa bei einem standardisierten Test), mit dem dieses verglichen werden konnte. Daher sollte für diese Studie zur individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen die Reliabilitätsart der Reproduzierbarkeit erreicht werden. Dazu musste die Inter- und Intracoder-Übereinstimmung berechnet werden.

Da der interpretative Anteil bei der Kategorisierung der kindlichen Ideen recht hoch war (vgl. Abschn. 7.3.1.1 und 9.1.2), schien es sinnvoll, meine Kodierung auszugsweise zu wiederholen (Intracoder-Übereinstimmung). Dazu wurden fünf Unterrichtsepisoden mit insgesamt 161 Ideen in einem Abstand von drei Monaten (Oktober 2019 und Januar 2020) erneut analysiert und kategorisiert. Dies entsprach einem Anteil von 13,9 % der Unterrichtsepisoden bzw. 13,3 % der Ideen und lag damit innerhalb des Umfangs des üblicherweise erneut kodierten Datenmaterials von 10–20 % (vgl. Döring & Bortz, 2016, S. 558).

Um noch weitere, stärkere Aussagen über die Reliabilität des Kategoriensystems der arithmetischen Ideentypen zu erhalten, wurden zusätzlich Ausschnitte des Datenmaterials im Februar 2020 von vier unabhängigen KodiererinnenFootnote 2 erneut analysiert (Intercoder-Übereinstimmung). Dabei ist zu beachten, dass das gesamte Kategoriensystem induktiv entwickelt wurde, wohingegen die Fremd-Kodiererinnen hauptsächlich mit dem fertigen Codebuch gearbeitet und dabei Kategorien zu den entsprechenden Stellen in den Aufgabenbearbeitungen zugewiesen haben. Selten bildeten sie weitere Kategorien für einzelne Ideen. Alle Kodiererinnen erhielten die gleiche Kodierschulung und analysierten dann unabhängig voneinander jeweils dieselben fünf Unterrichtsepisoden mit insgesamt 161 Ideen, die bereits für die Berechnung der Stabilität genutzt wurden.

In dieser empirischen Arbeit wurde eine qualitative und daher für quantitative Methoden kleine Beobachtungsstudie (\(N=36\)) mit sequenzieller Analyse der Daten mittels qualitativer Video-Inhaltsanalyse durchgeführt (vgl. Abschn. 7.3.1.1). Die entstandenen Kategorien waren daher nominal skaliert und es gab fehlende Werte in Form einer Nicht-Kategorisierung von Ideen (vgl. Abschn. 9.1.2). Aufgrund dieser Eigenschaften wurde als Kennwert für die Reliabilität des Kategoriensystems der Krippendorffs Alpha Koeffizient (Hayes & Krippendorff, 2007, S. 77–78) ausgewählt. Für alle Aspekte der Reliabilität gilt, dass die Ergebnisse bei \({\alpha }\) ≥ .800 als reliabel angenommen werden können. Bei .667 ≤ \({\alpha }\) ≤ .800 sind zudem vorsichtige Schlussfolgerungen mit einer vor allem bei qualitativen Daten ausführlichen Begründung möglich (vgl. Krippendorff, 2009, S. 241).

Bei den nachfolgenden Berechnungen wurde das KALPHA Macro (Hayes & Krippendorff, 2007, S. 82–88) für SPSS genutzt, das sowohl Alpha als auch das dazugehörige 95 %-Konfidenzintervall bei einem Bootstrapping von 10.000 angibt. Das Konfidenzintervall zeigt an, in welchem Bereich Alpha mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 % liegt. Zusätzlich wird die Wahrscheinlichkeit der Nichterreichung von \({\alpha }_{min}\) angegeben (vgl. Krippendorff, 2009, S. 237–238). Die Ergebnisse für die Reliabilitätsberechnungen sind für die Intra- und Intercoder-Übereinstimmung und jeweils für die vier Hauptkategorien sowie für die 29 Subkategorien in der folgenden Tabelle 9.2 zu finden:

Tab. 9.2 Reliabilität für das Kategoriensystem der arithmetischen Ideentypen

Aus der Aufstellung kann entnommen werden, dass das Kategoriensystem für die Hauptkategorien der arithmetischen Ideentypen als reliabel angenommen werden konnte. Alpha sowie das 95 %-Konfidenzintervall lagen sowohl für die Intercoder- als auch für die Intracoder-Übereinstimmung deutlich über .800 und die Wahrscheinlichkeit, dass Alpha kleiner als .800 ist, lag gerundet nur bei 1,5 %. Dagegen zeigte sich, dass die Kodierung der vielfältigen Subkategorien der vier Ideentypen etwas diverser ausfiel und die Ergebnisse diesbezüglich etwas vorsichtiger gehandhabt werden sollten. Dennoch lag Alpha bei beiden Aspekten, der Inter- und der Intracoder-Übereinstimmung, mit dem Konfidenzintervall deutlich um .800. Mit Blick auf die hohe Interpretationsleistung bei der Analyse der Unterrichtsepisoden und der starken qualitativen Orientierung dieser Studie konnten somit auch die Subkategorien als reliabel angenommen werden. Damit wurde insgesamt die Reliabilität der qualitativen Ergebnisse bzw. der herausgearbeitete Kategoriensystems zu den arithmetischen Ideentypen deutlich gezeigt.

1.4 Zusammenfassung

In diesem ersten Abschnitt hin zur Charakterisierung und Typisierung der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen beim Bearbeiten arithmetisch offener Aufgaben wurde zunächst die Erstellung der individuellen Kreativitätsschemata erläutert.

Diese Schemata entstanden als Resultat einer Schematisierung der 36 Aufgabenbearbeitungen der Erstklässler*innen, wobei chronologisch die verschiedenen Ideen identifiziert wurden (vgl. Einführung zu Abschn. 9.1). Daran schloss sich eine erste qualitative Analyse der von den Erstklässler*innen gezeigten verschiedenen arithmetischen Ideentypen an (vgl. Abschn. 9.1.1). Das so induktiv erarbeitete Kategoriensystem besteht aus vier Hauptkategorien, frei-assoziierten, struktur-nutzenden, muster-bildenden und klassifizierenden Ideen, mit ihren jeweiligen spezifischen Subkategorien. Diese Ideentypen stellen die verschiedenen Zahl-, Term- und Aufgabenbeziehungen dar, welche die Kinder in ihren Erklärungen zur Produktion von Zahlensätzen mit der Zahl 4 (A1) oder mit dem Ergebnis 12 (A2) zeigten. Die Erstellung der individuellen Kreativitätsschemata wurde dabei exemplarisch an der Bearbeitung der zweiten arithmetisch offenen Aufgabe A2 [Ergebnis 12] von Lars erläutert (vgl. Abschn. 9.1.2).

Dadurch, dass das Kategoriensystem zu den arithmetischen Ideentypen die Basis für die Analyse der divergenten Fähigkeiten Denkflüssigkeit, Flexibilität und Originalität bildete und diese wiederum zur Charakterisierung und Typisierung der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen genutzt werden sollten (vgl. Abschn. 9.1), musste das gebildete Kategoriensystem reliabel sein. Daher wurde in einem letzten Abschnitt mit Hilfe des Krippendorffs Alpha Koeffizient die Stabilität und Reproduzierbarkeit der Ergebnisse berechnet. Als Ergebnis konnte festgehalten werden, dass sowohl die Haupt- als auch die Subkategorien reliabel sind (vgl. Abschn. 9.1.3).

2 Charakterisierung der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen (F1)

„Dieser möglichst «ganzheitliche» Blick [durch die Beobachtung von videografiertem Unterricht] erlaubt ein tieferes und damit valideres Verständnis des Forschungsobjekts [hier der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen].“ (Mayring et al., 2005, S. 13)

Wie im methodischen Rahmen ausführlich begründet (vgl. Abschn. 7.3.1.1) und in Abbildung 9.1 kompakt zusammengefasst, bildeten die individuellen Kreativitätsschemata die Grundlage für die sich anschließende, mehrschrittige Analyse der divergenten Fähigkeiten Denkflüssigkeit, Flexibilität und Originalität als Merkmale der individuellen mathematischen KreativitätFootnote 3. Auf Basis dieser war die Beantwortung der ersten qualitativen Forschungsfrage der vorliegenden Studie möglich:

F1:

Inwiefern kann die individuelle mathematische Kreativität von Erstklässler*innen beim Bearbeiten arithmetisch offener Aufgaben auf Basis des InMaKreS-Modells charakterisiert werden?

Im vorangegangenen Abschnitt wurde die Erstellung der individuellen Kreativitätsschemata der 36 Aufgabenbearbeitungen der Erstklässler*innen bereits ausführlich präsentiert (vgl. Abschn. 9.1, insbesondere Abb. 9.5). Sie verdeutlichen die folgenden, grundlegenden Kreativitätsaspekte:

  • In den Schemata werden die von den Erstklässler*innen nacheinander gezeigten Ideen sichtbar. Eine Idee besteht dabei immer aus der divergenten Produktion oder dem erneuten Ansprechen von Zahlensätzen in Zusammenspiel mit den dazugehörenden Erklärungen der Erstklässler*innen. Dadurch wird vor allem der schöpferische Gedanke der Kinder in den Mittelpunkt gerückt (vgl. Abschn. 7.3.1.1).

  • Es können in chronologischer Reihenfolge die von den Kindern gezeigten arithmetischen Ideentypen abgelesen werden. Diese verweisen auf die unterschiedliche Zahl-, Term- und Aufgabenbeziehungen, welche die Erstklässler*innen zur divergenten Produktion ihrer Zahlensätzen nutzten. Dabei erlauben die im individuellen Kreativitätsschema notierten, farblich gekennzeichneten Codes die Zuordnung der Idee zu einer der vier Hauptkategorien (frei-assoziierte, struktur-nutzende, muster-bildende oder klassifizierende Idee) sowie der spezifischen Subkategorie (vgl. Abschn. 9.1.1).

Da diese beiden grundlegenden Begriffe Idee und Ideentyp die Basis für alle einzelnen Definitionen der divergenten Fähigkeiten Denkflüssigkeit, Flexibilität und Originalität bilden (vgl. Abschn. 2.4.1), war es anhand der individuellen Kreativitätsschemata möglich, die Kategoriensysteme ebendieser divergenten Fähigkeiten als Merkmale der individuellen mathematischen Kreativität zu entwickeln. Mit Blick auf das relative Verständnis der individuellen mathematischen Kreativität (vgl. Abschn. 2.2.2) bestand die Notwendigkeit, die Analyse der divergenten Fähigkeiten immer vor dem Hintergrund aller Aufgabenbearbeitungen durchzuführen. Bspw. sollte die Anzahl an verschiedenen Ideen eines Kindes (Denkflüssigkeit) immer in Bezug zu seiner Peer-Gruppe, d. h. in dieser Studie zu allen 18 teilnehmenden Erstklässler*innen gesetzt werden. Dies wurde über eine Kombination qualitativer (kategorienbildender) und quantitativer (häufigkeitsstatistischer) Auswertungsmethoden erreicht (vgl. hierzu Abschn. 7.3.1.1).

Die entwickelten Kategoriensysteme der divergenten Fähigkeiten bildeten anschließend die Basis für weitere Analysen, die dann zu einer Charakterisierung und Typisierung der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen führten. Im methodischen Abschnitt 7.3.1.1 zu dieser Studie wurde bereits erläutert, dass die mathematischen Handlungen der Erstklässler*innen während der Produktionsphase als kreative Vorgehensweisen bezeichnet werden. Darunter ist auf Grundlage des InMaKreS-Modells (vgl. Abschn. 2.4) eine Kombination ihrer divergenten Fähigkeiten Denkflüssigkeit und Flexibilität zu verstehen. Entsprechend dieses Modells waren die Erstklässler*innen in der Reflexionsphase angehalten, ihre Originalität zu zeigen. Dies bedeutete, dass beobachtet werden konnte, inwiefern die Kinder ihre bisherige Antwort zu der arithmetisch offenen Aufgabe reflektierten und erweiterten. Diese mathematischen Handlungen der Erstklässler*innen in der Reflexionsphase werden als kreative Verhaltensweisen bezeichnet.

In Abbildung 9.6 wurde das theoretisch entwickelte InMaKreS-Modell (vgl. Abb. 2.9) durch die beiden empirisch gebildeten Begriffe der kreativen Vorgehensweise in der Produktionsphase und der kreativen Verhaltensweise in der Reflexionsphase ergänzt. Außerdem wurde die mathematische Umgebung, in der die individuelle mathematische Kreativität der Schüler*innen sichtbar wird, für diese Studie konkretisiert und so von der divergenten Bearbeitung einer arithmetisch offenen Aufgabe gesprochen.

Abb. 9.6
figure 6

InMaKreS-Modell mit Konkretisierung und Erweiterung für die empirische Studie

Zusammenfassend ist das Ziel dieses Abschnitts die Charakterisierung der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen beim Bearbeiten arithmetisch offener Aufgaben auf Basis des InMaKreS-Modells. Dazu werden die individuellen Kreativitätsschemata der Erstklässler*innen analysiert, um so induktiv Kategoriensysteme zunächst für die Denkflüssigkeit, Flexibilität und Originalität der Kinder sowie darauf aufbauend die kreativen Vorgehens- und Verhaltensweisen derselben zu erstellen. Nachfolgend wird daher zuerst die Produktionsphase und damit die kreativen Vorgehensweisen der Erstklässler*innen in den Blick genommen (vgl. Abschn. 9.2.1). Es schließt sich eine Fokussierung auf die Reflexionsphase, d. h. die kreativen Verhaltensweisen der Lernenden, an (vgl. Abschn. 9.2.2). In beiden Abschnitten dient die Unterrichtsepisode des Erstklässlers Lars, der darin die zweite arithmetisch offene Aufgabe A2 [Ergebnis 12] bearbeitete (vgl. Abb. 9.5), als Veranschaulichung der Kategorienbildung(en).

2.1 Kreative Vorgehensweisen der Erstklässler*innen in der Produktionsphase

„[…] die mathematische Handlung der Erstklässler*innen in der Produktionsphase, die vor allem durch die beiden Fähigkeiten Denkflüssigkeit und Flexibilität geprägt ist, [wird] als kreative Vorgehensweise in der selbstständigen Bearbeitung der arithmetisch offenen Aufgabe [bezeichnet].“ (Abschn. 7.3.1.2)

In den Unterrichtsepisoden wurden zunächst die Produktionsphasen der Erstklässler*innen in den Blick genommen. Anhand der erstellten individuellen Kreativitätsschemata und entsprechend dem InMaKreS-Modell wurden daher die beiden divergenten Fähigkeiten Denkflüssigkeit und Flexibilität sowie daran anknüpfend die verschiedenen kreativen Vorgehensweisen der Kinder durch qualitative Kategoriensysteme abgebildet (vgl. Abb. 9.6). Letzteres erfolgte im Sinne von Kelle und Kluge (2010, S. 96–97) durch eine Kombination der beiden Kategoriensysteme Denkflüssigkeit und Flexibilität in Form einer Kreuztabelle (vgl. Abschn. 7.3.1.2).

2.1.1 Denkflüssigkeit

Die Denkflüssigkeit wurde am Ende des Theorieteils dieser Arbeit definiert als die divergente Fähigkeit kreativer Personen, „zu einer mathematischen Aufgabe in einer bestimmten Zeit eine gewisse Anzahl passender Ideen zu produzieren“ (Abschn. 2.4.1). Den zeitlichen Rahmen bildete die individuelle Länge der Unterrichtsepisode, die durchschnittlich bei 18 Minuten und 42 Sekunden lag. Die Anzahl der passenden Ideen konnte in den 36 Aufgabenbearbeitungen mittels der individuellen Kreativitätsschemata ausgezählt werden. Obwohl die Hauptkategorie Denkflüssigkeit aufgrund ihrer Definition quantitativ orientiert ist, sollten qualitativ beschreibende Subkategorien gebildet werden, da insgesamt eine qualitative Charakterisierung der individuellen mathematischen Kreativität von Interesse war. Vor dem Hintergrund der Relativität der individuellen mathematischen Kreativität (vgl. Abschn. 2.2.2) wurde sich dazu entschieden, die Anzahl der Ideen eines jeden Kindes in der Produktionsphase zu dem Mittelwert der gezeigten Ideen aller Kinder in den kreativen Aufgabenbearbeitungen in Relation zu setzen.

So wurde zunächst für beide arithmetisch offenen Aufgaben der Mittelwert an gezeigten Ideen in der Produktionsphase ermittelt. Bei jeweils 18 Aufgabenbearbeitungen waren dies bei der ersten offenen Aufgabe A1 [Zahl 4] \({\overline{Df} }_{P\_A1\:[Zahl\:4]}=\mathrm{16{,}0}\:\mathrm{Ideen}\) und bei der zweiten offenen Aufgabe A2 [Ergebnis 12] \({\overline{Df} }_{P\_A2\:[Ergebnis\:12]}=\mathrm{13{,}4}\:\mathrm{Ideen}\). Anhand dieser Kennwerte wurden zwei Subkategorien gebildet:

  • Die Erstklässler*innen zeigen bei ihrer Bearbeitung einer der arithmetisch offenen Aufgaben viele Ideen, wenn die individuelle Anzahl an Ideen über dem Durschnitt der jeweiligen arithmetisch offenen Aufgabe liegt.

  • Die Lernenden zeigen wenige Ideen, wenn die individuelle Anzahl unter dem Durchschnitt der entsprechenden arithmetisch offenen Aufgabe liegt.

Im Beispiel von Lars‘ Bearbeitung der zweiten arithmetisch offenen Aufgabe (vgl. Abb. 9.5) wurde seine Denkflüssigkeit mit wenige Ideen kodiert, da er in der Produktionsphase drei Ideen zeigte. Diese Anzahl erwies sich bei einem Durchschnitt von \(\mathrm{13{,}4}\) Ideen für A2 als unterdurchschnittlich.

2.1.2 Flexibilität – Diversität und Komposition

Die Hauptkategorie Flexibilität der Erstklässler*innen galt es, über ihre beiden Teilaspekte – die Komposition und die Diversität – qualitativ zu beschreiben. Diese beiden Subkategorien wurden in Hinblick auf die entwickelte Definition der Flexibilität als ein Merkmal der individuellen mathematischen Kreativität deduktiv bestimmt:

„Unter [Flexibilität] wird die Fähigkeit von Schüler*innen verstanden, innerhalb der eigenen Ideen verschiedene Ideentypen zu zeigen (Diversität) und so Ideenwechsel zu vollziehen (Komposition).“ (Abschn. 2.4.1)

Es wurde zunächst der Aspekt der Diversität in den kreativen Aufgabenbearbeitungen der Schüler*innen analysiert. Die dafür induktiv gebildeten Kategorien sollten einen qualitativen Einblick in den Ideenreichtum der Erstklässler*innen ermöglichen. Folglich wurden an dieser Stelle die detaillierten Subkategorien der von den Kindern gezeigten arithmetischen Ideentypen genauer in den Blick genommen, da diese eine stärkere Differenzierung und Spezifizierung der einzelnen Ideen abbilden als die vier Hauptkategorien (vgl. Abschn. 7.3.1.1). Der Erstklässler Lars zeigte dementsprechend in seiner Produktionsphase drei verschiedene Ideentypen, nämlich der chronologischen Reihenfolge nach, ass-bes-10, struck-nach-beid und ass-pos (vgl. ausführlich Abschn. 9.1.2).

Aus dem gleichen Grund wie bei der Kategorienbildung zur Denkflüssigkeit wurde auch bei der Diversität die Variation der verschiedenen Ideentypen in den einzelnen Produktionsphasen im Vergleich zu allen 36 Aufgabenbearbeitung betrachtet. Dafür mussten zunächst die durchschnittlichen Anzahlen an verschiedenen arithmetischen Ideentypen (auf Ebene der Subkategorien) für die beiden arithmetisch offenen Aufgaben ermittelt werden. Bei der ersten offenen Aufgabe A1 [Zahl 4] zeigten die Erstklässler*innen \({\overline{D} }_{P\_A1\:[Zahl\:4]}=\mathrm{6{,}2}\:\mathrm{Ideentypen}\) und bei der zweiten offenen Aufgabe A2 [Ergebnis 12] \({\overline{D} }_{P\_A2\:[Ergebnis\:12]}=\mathrm{5{,}3}\:\mathrm{Ideentypen}\). So entstanden hier zwei verschiedene Subkategorien für die Diversität:

  • In der Produktionsphase der kreativen Aufgabenbearbeitungen zeigen die Erstklässler*innen eine geringe Diversität, wenn ihre individuelle Anzahl verschiedener arithmetischer Ideentypen (Ebene der Subkategorien) unter dem Durchschnitt aller Aufgabenbearbeitungen der jeweiligen arithmetisch offenen Aufgabe liegt.

  • Für die Produktionsphase der Aufgabenbearbeitungen wird eine hohe Diversität kodiert, wenn die individuelle Anzahl unterschiedlicher arithmetischer Ideentypen (Ebene der Subkategorien) über dem Durchschnitt der jeweiligen arithmetisch offenen Aufgabe liegt.

Da Lars in seinem individuellen Kreativitätsschema auf Ebene der Subkategorien drei verschiedene arithmetische Ideentypen erkennen ließ und diese Anzahl deutlich unter dem Durschnitt von 6,2 arithmetischen Ideentypen für die zweite arithmetisch offene Aufgabe lag, wurde seine Diversität als gering kodiert.

Mit Rückgriff auf die eingangs wiederholte Definition der Flexibilität wird die Komposition als die chronologische Zusammensetzung aller arithmetischen Ideentypen in der Produktionsphase verstanden. Insofern mussten alle Stellen im Bearbeitungsprozess identifiziert werden, an denen das jeweilige Kind den Ideentyp wechselte. Dafür stellte sich eine Konzentration auf die vier Hauptkategorien der arithmetischen Ideentypen als besonders geeignet heraus, denn – im Gegensatz zur Diversität – sollten bei der Komposition die großen mathematischen Veränderungen im gesamten Bearbeitungsprozess herausgearbeitet werden. Diese konnten über eine Betrachtung der vier übergeordneten arithmetischen Ideentypen besonders gut erreicht werden, da diese die grundlegenden Kategorien an Ideen der Erstklässler*innen repräsentierten (vgl. Abschn. 7.3.1.1). Die Anzahl der von den Erstklässler*innen gezeigten Ideenwechsel wäre jedoch für die Bildung qualitativer Subkategorien zur Komposition nicht aussagekräftig genug, da auf diese Weise nicht abgebildet werden würde, inwiefern die Lernenden die gezeigten arithmetischen Ideentypen während der Aufgabenbearbeitung verfolgten. Dies stellt aber ein wesentliches Charakteristikum der einzelnen kreativen Aufgabenbearbeitungen der Erstklässler*innen dar und soll nachfolgend anhand eines Beispiels verdeutlicht werden.

In Abbildung 9.7 sind die beiden Produktionsphasen der individuellen Kreativitätsschemata von Lars und dem Erstklässler Noah gegenübergestellt. In beiden individuellen Kreativitätsschemata können jeweils zwei Ideenwechsel identifiziert werden. Zufälligerweise wechselten beide Kinder von der Hauptkategorie der frei-assoziierten Ideen zu den struktur-nutzenden Ideen und wieder zurück. Dennoch unterscheidet sich die chronologische Zusammensetzung der arithmetischen Ideentypen in beiden Aufgabenbearbeitungen deutlich, indem Noah nach dem zweiten Wechsel wesentlich mehr verschiedene frei-assoziierte Ideen zeigte als Lars. Dieser zeigte nur eine Idee pro arithmetischem Ideentyp und damit insgesamt eine andere Flexibilität:

Abb. 9.7
figure 7

Gegenüberstellung individuelle Kreativitätsschemata Lars_A2 und Noah_A1

Um diese Eigenschaften der Komposition in der Produktionsphase zu berücksichtigen, wurde die Anzahl der Ideenwechsel der einzelnen Erstklässler*innen in Bezug zu ihrer individuellen Anzahl an produzierten Ideen gesetzt. Damit beinhaltet die Komposition als ein Teilaspekt der Flexibilität gleichsam auch eine Aussagekraft über die Fähigkeit der Denkflüssigkeit der Erstklässler*innen, welche die Anzahl der gezeigten Ideen abbildet. Für alle individuellen Kreativitätsschemata wurde die Anzahl der Ideenwechsel und die Anzahl aller Ideen in der Produktionsphase ausgezählt und daraus der sogenannte Kompositionsquotient gebildet: \({K}_{P}=\frac{Anzahl\,Ideenwechsel}{Anzahl\,Ideen}\). Vergleichsweise liegt dieser Kompositionsquotient für die Aufgabenbearbeitung von Lars bei \({K}_{P\_Lars}=\) \(\frac{2}{3}=0,\overline{6 }\approx \mathrm{0{,}7}\) und für diejenige von Noah bei \({K}_{P\_Noah}=\) \(\frac{2}{9}=0,\overline{2 }\approx \mathrm{0{,}2}\). Je niedriger also der Kompositionsquotient für ein individuelles Kreativitätsschema ausfällt, desto seltener wechselt das einzelne Kind zwischen seinen gezeigten arithmetischen Ideentypen (Ebene der Hauptkategorien) im Verhältnis zu seiner Gesamtanzahl produzierter Ideen.

Um dem Vorgehen in der qualitativen Kategorienbildung auch für die Komposition treu zu bleiben und damit dem relativen Charakter der individuellen mathematischen Kreativität gerecht zu werden, wurden in einem zweiten Schritt aus allen berechneten Kompositionsquotienten die Mittelwerte für beide arithmetisch offenen Aufgaben einzeln ermittelt. Für die erste offene Aufgabe A1 [Zahl 4] liegt dieser bei \({\overline{K} }_{P\_A1\:[Zahl\:4]}=\mathrm{0{,}34}\) und für die zweite offene Aufgabe A2 [Ergebnis 12] bei \({\overline{K} }_{P\_A2\:[Ergebnis\:12]}=\mathrm{0{,}36}\). Hierbei fällt auf, dass die Anzahl durchschnittlicher Ideenwechsel pro Gesamtzahl an gezeigten Ideen in den Produktionsphasen beider Aufgaben vergleichbar ist. So konnten schlussendlich zwei Subkategorien für die Komposition als zweiten Teilaspekt der Flexibilität gebildet werden:

  • In der Produktionsphase der kreativen Aufgabenbearbeitungen zeigen die Erstklässler*innen häufige Ideenwechsel, wenn deren individueller Kompositionsquotient (Anzahl Ideenwechsel im Verhältnis zur Anzahl an Ideen) über dem Durchschnitt der jeweiligen arithmetisch offenen Aufgabe liegt.

  • Liegt der Kompositionsquotient für ein individuelles Kreativitätsschema unter dem Durchschnitt der jeweiligen arithmetisch offenen Aufgabe, dann zeigt das Kind in seiner Produktionsphase seltene Ideenwechsel.

Für die Komposition in der Produktionsphase unseres Beispielskindes Lars wurden daher häufige Ideenwechsel kodiert, da sein Kompositionsquotient mit 0,67 über dem Durchschnitt von 0,36 bei der zweiten arithmetisch offenen Aufgabe liegt. Für Noah wurde hingegen die Subkategorie seltene Ideenwechsel kodiert (vgl. Abb. 9.7).

Das Ergebnis des gesamten Kategorisierungsprozesses der beiden divergenten Fähigkeiten Denkflüssigkeit und Flexibilität zeigt die nachfolgende Tabelle 9.3.

Tab. 9.3 Kategoriensysteme für die divergenten Fähigkeiten Denkflüssigkeit und Flexibilität

2.1.3 Kreative Vorgehensweisen

Mit Rückgriff auf das InMaKreS-Modell können die kreativen Vorgehensweisen der Erstklässler*innen während der Produktionsphasen bei der Bearbeitung arithmetisch offener Aufgaben über die Kombination der beiden divergenten Fähigkeiten der Denkflüssigkeit und Flexibilität beschrieben werden (vgl. Abb. 9.6). Deshalb wurde auf Basis der zuvor präsentierten Kategoriensysteme (vgl. Tab. 9.3) durch eine gezielte Kombination einzelner ausgewählter Subkategorien ein mehrdimensionaler Merkmalsraum geschaffen (vgl. ausführlich Stufe 2 im Typisierungsprozess, Abschn. 7.3.1.2), der die verschiedenen kreativen Vorgehensweisen der Erstklässler*innen in der Produktionsphase abbildet.

Zur Bildung der Subkategorien der Komposition wurde bei der Berechnung des Kompositionsquotienten die Anzahl der Ideen der Erstklässler*innen in der Produktionsphase genutzt und dadurch auch die kindliche Fähigkeit der Denkflüssigkeit mit abgebildet. Deshalb reichte es aus, die Subkategorien der Diversität (hoch, gering) und diejenigen der Komposition (häufige Ideenwechsel, seltene Ideenwechsel) miteinander zu kombinieren, um die verschiedenen kreativen Vorgehensweisen der Erstklässler*innen in der Produktionsphase umfassend darzustellen. Auf diese Weise entstanden über die nachfolgende Tabelle 9.4 die folgenden vier kreativen Vorgehensweisen:

Tab. 9.4 Kreuztabelle zur Bildung kreativer Vorgehensweisen aus den Subkategorien der Flexibilität (Diversität und Komposition)

Die Benennung der vier kreativen Vorgehensweisen wurde von den Subkategorien der beiden gekreuzten Teilaspekte, der Diversität und der Komposition, wie folgt abgeleitet: Zeigten die Erstklässler*innen in den individuellen Kreativitätsschemata häufige Ideenwechsel, dann wird ihr Vorgehen als sprunghaft charakterisiert. Wurde in den Aufgabenbearbeitungen hingegen für die Komposition ein seltener Ideenwechsel kodiert, dann wird ihr Vorgehen als geradlinig bezeichnet. In Bezug auf die Diversität innerhalb der von den Erstklässler*innen gezeigten arithmetischen Ideentypen wird das Vorgehen in der Produktionsphase als vielfältig betitelt, wenn die Diversität zuvor als hoch analysiert wurde. Im Kontrast dazu wird im Falle einer festgestellten geringen Diversität die Bezeichnung gleichmäßig verwendet. Die nachfolgende Tabelle 9.5 zeigt die Definitionen der vier kreativen Vorgehensweisen in der Produktionsphase der kreativen Aufgabenbearbeitungen über die verschiedenen gekreuzten Subkategorien der Flexibilität.

Tab. 9.5 Definitionen der vier kreativen Vorgehensweisen in der Produktionsphase

Mit Blick auf die Stufen des Typisierungsprozesses nach Kelle und Kluge (2010, S. 92) müssen anschließend an das begründete Kreuzen relevanter (Sub-)Kategorien die inhaltlichen Sinnzusammenhänge des entstandenen Merkmalsraums analysiert werden, um auf dieser Grundlage eine Anpassung der entstandenen neuen Kategorien vorzunehmen (vgl. ausführlich Abschn. 7.3.1.3). Das Ziel der Analyse der Unterrichtsepisoden in diesem Abschnitt besteht darin, eine qualitative Charakterisierung der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen vorzunehmen, auf deren Basis dann eine überschaubare sowie praktikable Anzahl an Typen der individuellen mathematischen Kreativität herausgearbeitet werden soll. Dadurch, dass dafür die verschiedenen kreativen Vorgehensweisen der Erstklässler*innen in der Produktionsphase auch noch mit deren kreativen Verhaltenswiesen in der Reflexionsphase gekreuzt werden sollten (vgl. Abschn. 9.2.2), war es sinnvoll, sich auf wenige aussagekräftige kreative Vorgehensweisen zu beschränken. Dies bedeutete konkret, dass die vier kreativen Vorgehensweisen der Erstklässler*innen in der Produktionsphase ihrer Aufgabenbearbeitungen empirisch sowie inhaltlich in Bezug auf das InMaKreS-Modell genauer betrachtet und komprimiert werden sollten.

Daher wurde in einem nächsten Schritt die statistische Verteilung der vier kreativen Vorgehensweisen in den Produktionsphasen der 36 kreativen Bearbeitungen der beiden arithmetisch offenen Aufgaben fokussiert. Diese zeigte sich laut der nachfolgenden Tabelle 9.6 wie folgt.

Tab. 9.6 Statistische Verteilung der kreativen Vorgehensweisen bei den 36 Aufgabenbearbeitungen

Statistisch gesehen fiel auf, dass die beiden kreativen Vorgehensweisen sprunghaft-vielfältig und geradlinig-gleichmäßig deutlich häufiger in den 36 Aufgabenbearbeitungen vertreten waren als die beiden anderen beiden Vorgehensweisen sprunghaft-gleichmäßig und geradlinig-vielfältig. Zudem ließ sich bei den beiden paarweisen Vorgehensweisen (sprunghaftes oder geradliniges Vorgehen) erkennen, dass jeweils eine kreative Vorgehensweise deutlich häufiger kodiert wurde als die andere: Ein sprunghaft-vielfältiges Vorgehen konnte 3,25-mal so häufig zugeordnet werden, wie eine sprunghaft-gleichmäßige Vorgehensweise. Zudem zeigten die Erstklässler*innen bei ihren kreativen Aufgabenbearbeitungen 2,8-mal so häufig eine geradlinig-gleichmäßige Vorgehensweise wie ein geradlinig-vielfältiges Vorgehen. Dadurch zeigten sich hier zwei wesentliche Tendenzen: Ein sprunghaftes Vorgehen, das bei einer überdurchschnittlichen Anzahl an Ideen (Denkflüssigkeit) häufige Ideenwechsel in der Aufgabenbearbeitung (Komposition) anzeigt, bedingte öfter einen gewissen Ideenreichtum durch eine überdurchschnittliche Anzahl verschiedener arithmetischer Ideentypen (Diversität). Ebenso ging ein geradliniges Vorgehen, d. h. dass bei einer unterdurchschnittlichen Anzahl an Ideen selten Ideenwechsel vollzogen wurden, meistens mit einer geringen Diversität und daher einer gewissen Ideenarmut einher. Diese statistische Auswertung der Häufigkeitsverteilung stellte einen ersten Indikator dafür dar, die gebildeten vier kreativen Vorgehensweisen der Erstklässler*innen bei der Bearbeitung der beiden arithmetisch offenen Aufgaben auf zwei Vorgehensweisen, eine sprunghafte und eine geradlinige, zu reduzieren.

Zusätzlich zu dieser statistischen Betrachtung war eine Analyse der inhaltlichen Sinnzusammenhänge auf Basis des InMaKreS-Modells notwendig, um eine Komprimierung der vier Vorgehensweisen vorzunehmen. Anhand der Tabelle 9.6 wird verdeutlicht, dass die Schüler*innen bei der Bearbeitung arithmetisch offener Aufgaben ihre divergenten Fähigkeiten der Denkflüssigkeit und Flexibilität zeigen können. Über die beiden Teilaspekte Komposition und Diversität wurde die kindliche Fähigkeit der Flexibilität über geeignete qualitative Subkategorien abgebildet. Dabei wurde zuvor bereits darauf hingewiesen, dass im Rahmen der Komposition die Fähigkeit der Denkflüssigkeit der Erstklässler*innen miterfasst wurde. Weiterhin wurden bei der Analyse der Diversität in den individuellen Kreativitätsschemata der Erstklässler*innen die detaillierten Subkategorien der vier arithmetischen Ideentypen fokussiert, während sich der Blick bei der Analyse der Komposition auf die vier Hauptkategorien selbst richtete (vgl. Tab. 9.5). Dadurch, dass sich somit beide Teilaspekte der Flexibilität auf die von den Erstklässler*innen gezeigten Ideentypen beziehen, stehen auch die erstellten Subkategorien in Beziehung zueinander. Daher konnten aufgrund der Analyse der Komposition auch erste Tendenzen für die Auswertung der Diversität in den individuellen Kreativitätsschemata abgeleitet werden: Zeigten die Erstklässler*innen in ihrer Produktionsphase eine hohe Komposition durch viele Ideenwechsel zwischen den arithmetischen Ideentypen, dann konnten häufig auch viele verschiedene Ideentypen auf Ebene der Subkategorien analysiert werden und umgekehrt genauso. Dieser inhaltliche Zusammenhang bestätigt den Eindruck aus der statistischen Auswertung der kreativen Vorgehensweisen.

Die statistische Verteilung der Aufgabenbearbeitungen auf die vier kreativen Vorgehensweisen sowie die Analyse der inhaltlichen Zusammenhänge in Bezug auf die divergente Fähigkeit der Flexibilität begünstigten die Entscheidung, die vier Vorgehensweisen auf zwei aussagekräftige zu komprimieren. Dabei war unbestreitbar, dass eine sprunghafte und eine geradlinige Vorgehensweise abgebildet werden musste. Um die Tendenz in der Diversität dieser beiden Vorgehensweisen begrifflich zu fassen, wurden die zuvor gebildeten kreativen Vorgehensweisen sprunghaft-vielfältig und sprunghaft-gleichmäßig zu sprunghaft-ideenreich sowie die beiden kreativen Vorgehensweisen geradlinig-gleichmäßig und geradlinig-vielfältig zu geradlinig-ideenarm zusammengefasst. Diese Reduzierung der zuvor vier verschiedenen kreativen Verhaltensweisen auf nun zwei geht jedoch nicht mit einem Ausschluss der neun Aufgabenbearbeitungen mit einem sprunghaft-gleichmäßig oder geradlinig-vielfältigen Vorgehen einher. Vielmehr werden immer paarweise zwei kreative Vorgehensweisen miteinander integriert und passend bezeichnet. Trotz der Verringerung des Detaillierungsgrades können so alle Aufgabenbearbeitungen der Erstklässler*innen den zwei übergeordneten kreativen Vorgehensweisen passend zugeordnet werden. Diese werden wie folgt definiert:

  1. 1.

    Die Erstklässler*innen zeigen in der Produktionsphase durch ihre divergenten Fähigkeiten der Denkflüssigkeit und Flexibilität ein sprunghaft-ideenreiches Vorgehen, wenn sie innerhalb ihrer Produktion verschiedener Ideen (über)durchschnittlich viele verschiedene arithmetische Ideentypen zeigen und dabei häufig zwischen diesen wechseln.

  2. 2.

    Die Erstklässler*innen zeigen in der Produktionsphase durch ihre divergenten Fähigkeiten der Denkflüssigkeit und Flexibilität ein geradlinig-ideenarmes Vorgehen, wenn sie innerhalb ihrer Produktion verschiedener Ideen (unter-)durchschnittlich viele verschiedene arithmetische Ideentypen zeigen und dabei nur selten zwischen diesen wechseln.

Der exemplarischen Analyse seines individuellen Kreativitätsschemas und vorherigen Definitionen der kreativen Vorgehensweisen zufolge zeigte der Erstklässler Lars (vgl. Abb. 9.5) bei der Bearbeitung der zweiten arithmetisch offenen Aufgabe in der Produktionsphase ein sprunghaft-ideenreiches Vorgehen.

2.2 Kreative Verhaltensweisen der Erstklässler*innen in der Reflexionsphase

„[…] die mathematisch kreativen Handlungen der Lernenden in der Reflexionsphase, in der die Erstklässler*innen vor allem ihre Originalität zeigen konnten, [werden] als kreative Verhaltensweisen bezeichnet.“ (Abschn. 7.3.1.2)

In diesem Abschnitt sollen nun auf die gleiche Art und Weise wie im vorherigen Abschnitt verschiedene kreative Verhaltensweisen in der Reflexionsphase der kindlichen Aufgabenbearbeitungen induktiv analysiert werden. In dieser Phase der Unterrichtsepisoden wurde es den Erstklässler*innen ermöglicht, ihre divergente Fähigkeit der Originalität als ein weiteres Merkmal der individuellen mathematischen Kreativität auszudrücken. Unter Originalität von Schüler*innen wird deren Fähigkeit verstanden, „ihre selbst produzierten Ideen und darin enthaltene verschiedenen Ideentypen zu betrachten und davon ausgehend weitere Ideen zu produzieren sowie gleichsam mit diesen evtl. auch weitere Ideentypen und Ideenwechsel zu zeigen“ (Abschn. 2.4.1). Aus dieser Definition können zwei wichtige und zugleich für die Datenauswertung wegweisende Schlüsse gezogen werden:

  • Dadurch, dass die jungen Schulkinder angehalten wurden, ihre Produktionsphase zu reflektieren und weitere Ideen zu produzieren sowie Ideentypen zu zeigen, muss die Fähigkeit der Originalität in der Reflexionsphase immer vor dem Hintergrund der in der Produktionsphase gezeigten Fähigkeiten der Denkflüssigkeit und Flexibilität analysiert werden (vgl. Abschn. 2.4). Für die Auswertung der individuellen Kreativitätsschemata in dieser Studie bedeutete dies, dass es zu untersuchen galt, ob die Erstklässler*innen ihre Vorgehensweise von der Produktions- zur Reflexionsphase veränderten oder ob diese gleichblieb (vgl. Abschn. 7.3.1.1).

  • Indem die Erstklässler*innen in der Reflexionsphase angeregt wurden, weitere Ideen zu produzieren (Denkflüssigkeit) und so weitere Ideentypen zu zeigen (Flexibilität), bezieht sich die divergente Fähigkeit Originalität auf die anderen beiden für die individuelle mathematische Kreativität charakteristischen Fähigkeiten Denkflüssigkeit und Flexibilität (vgl. Abschn. 2.4). Im Rahmen dieser empirischen Studie zur individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen musste daher analysiert werden, inwiefern die Lernenden ihre Produktion in der Reflexionsphase auf Ebene der Denkflüssigkeit und Flexibilität erweiterten (vgl. Abschn. 7.3.1.1).

Die beiden Aspekte der Originalität – Veränderung des Vorgehens und Erweiterung der Produktion – wurden in das InMaKreS-Modell integriert (vgl. Abb. 9.8). Sie stellen die beiden Kategorien dar, die nun induktiv durch weitere Subkategorien qualitativ beschrieben werden sollten.

Abb. 9.8
figure 8

InMaKreS-Modell mit letzten Konkretisierungen und Erweiterung für die empirische Studie

Auf Basis der Reflexionsphasen in den individuellen Kreativitätsschemata der 36 Aufgabenbearbeitungen der Erstklässler*innen wird im nachstehenden Abschnitt die Veränderung des Vorgehens analysiert. Darauf folgt die Kategorienbildung zu dem zweiten Originalitätsaspekt, der Erweiterung der Produktion. Durch eine anschließende Kreuzung der jeweiligen Subkategorien konnten so die verschiedenen kreativen Verhaltensweisen der Erstklässler*innen während der Reflexionsphase begründet sowie aufgrund inhaltlicher Sinnzusammenhänge komprimiert werden. Auch bei diesen Ausführungen soll das individuellen Kreativitätsschema von Lars‘ Bearbeitung der zweiten arithmetisch offenen Aufgabe exemplarisch zur Veranschaulichung der einzelnen Kategorienbildungen dienen (vgl. Abb. 9.9).

Abb. 9.9
figure 9

Individuelles Kreativitätsschemata Lars A2

2.2.1 Originalität – Veränderung des Vorgehens

Um die Veränderung des Vorgehens der Erstklässler*innen von der Produktions- zur Reflexionsphase qualitativ zu beschreiben, war es zunächst notwendig, die kreative Vorgehensweise in der Reflexionsphase auf die gleiche Art und Weise wie zuvor für die Produktionsphase zu analysieren (vgl. Abschn. 9.2.1). In einem zweiten Schritt wurden dann die beiden Vorgehensweisen in der Produktions- und Reflexionsphase miteinander verglichen, mit dem Ziel zu bestimmen, ob eine Veränderung des Vorgehens stattgefunden hatte oder nicht.

Da das Vorgehen in der Bildung der verschiedenen Subkategorien für die beiden divergenten Fähigkeiten der Denkflüssigkeit und Flexibilität auch für die Reflexionsphase beibehalten wurde (vgl. ausführlich Abschn. 9.2.1), änderten sich lediglich die einzelnen Durchschnittswerte für die Anzahl der Ideen und die Anzahl der gezeigten arithmetischen Ideentypen sowie der Kompositionsquotient.

Denkflüssigkeit::

Die durchschnittliche Anzahl der von den Erstklässler*innen gezeigten Ideen in der Reflexionsphase lag bei der ersten arithmetisch offenen Aufgabe A1 [Zahl 4] bei \({\overline{Df} }_{R\_A1\:[Zahl\:4]}=\mathrm{12{,}1}\:\mathrm{Ideen}\) und bei der Aufgabe A2 [Ergebnis 12] bei \({\overline{Df} }_{R\_A2\:[Ergebnis\:12]}=\mathrm{11{,}6}\:\mathrm{Ideen}\). Dabei wird in dieser Phase in besonderem Maße unter einer Idee nicht nur die erklärte Produktion eines Zahlensatzes gefasst. Vielmehr wird auch das erneute Ansprechen und gleichzeitige Erklären eines zuvor produzierten Zahlensatzes als Idee verstanden, da die Erstklässler*innen dabei (weitere) arithmetische Ideentypen zeigen konnten. Im Beispiel des Erstklässlers Lars zeigte dieser in der Reflexionsphase drei Ideen, wobei die Idee um den ersten Zahlensatz \(10+2=12\) in dieser Phase nicht mitgezählt wurde, da sie nicht kategorisiert werde konnte. Lars‘ Denkflüssigkeit in der Reflexionsphase ist demnach unterdurchschnittlich.

Diversität::

In der Reflexionsphase konnten bei den 18 Erstklässler*innen bei der ersten offenen Aufgabe A1 [Zahl 4] \({\overline{D} }_{R\_A1\:[Zahl\:4]}=\mathrm{3{,}8}\:\mathrm{Ideentypen}\) und bei der zweiten offenen Aufgabe A2 [Ergebnis 12] \({\overline{D} }_{R\_A2\:[Ergebnis\:12]}=\mathrm{2{,}9}\:\mathrm{Ideentypen}\) ermittelt werden. Im Vergleich zu den Durchschnittswerten aus der Produktionsphase zeigten die Lernenden in der Reflexionsphase demnach etwa halb so viele verschiedene arithmetische Ideentypen (vgl. Abschn. 9.2.1.2). Für den Erstklässler Lars wurde eine hohe Diversität kodiert, insofern er mit drei verschiedenen arithmetischen Ideentypen knapp über dem Durchschnitt von 2,9 Ideentypen bei der arithmetisch offenen Aufgabe A2 lag.

Komposition::

Die Komposition in der Reflexionsphase einer Aufgabenbearbeitung wurde über den Vergleich des individuellen Kompositionsquotienten mit dem Durchschnitt qualitativ beschrieben. Für die erste arithmetisch offene Aufgabe A1 [Zahl 4] lag dieser bei \({\overline{K} }_{R\_A1\:[Zahl\:4]}=\mathrm{0,53}\) und für die zweite Aufgabe A2 [Ergebnis 12] bei \({\overline{K} }_{R\_A2\:[Ergebnis\:12]}=\mathrm{0{,}3}\). Bei genauer Betrachtung dieser Kennwerte fiel auf, dass im Gegensatz zur Produktionsphase nun ein deutlicher Unterschied in der Komposition beider arithmetisch offener Aufgaben festgestellt werden konnte. Bei der ersten Aufgabe wurden demnach fast doppelt so viele Ideenwechsel pro Anzahl an Ideen von den Kindern gezeigt als bei der zweiten arithmetisch offenen Aufgabe. Insgesamt wiesen die Erstklässler*innen in der Reflexionsphase ein deutlich sprunghafteres Vorgehen als in der Produktionsphase beider Aufgaben auf. Dies ist auch bei der Komposition von Lars der Fall, dessen Kompositionsquotient bei 0,67 lag und er somit häufige Ideenwechsel vollzog.

Auf Basis dieser statistischen Kennwerte wurden die gleichen Subkategorien für die Denkflüssigkeit und Flexibilität in der Reflexionsphase gebildet wie zuvor für die Produktionsphase (vgl. Abschn. 9.2.1.2, insbesondere Tab. 9.3). Durch die Kreuzung der Subkategorien für die Komposition und Diversität entstanden analog zur Produktionsphase die vier verschiedenen kreativen Vorgehensweisen sprunghaft-vielfältig, sprunghaft-gleichmäßig, geradlinig-vielfältig und geradlinig-gleichmäßig (vgl. ausführlich Abschnitten 9.2.1.3, insbesondere Tab. 9.4). Die nachfolgende Tabelle 9.7 verdeutlicht die vier kreativen Vorgehensweisen und deren Definition über die Haupt- und Subkategorien der beiden Aspekte Komposition und Diversität in der Reflexionsphase.

Tab. 9.7 Definitionen der vier kreativen Vorgehensweisen in der Reflexionsphase

Auf Basis dieses Zwischenergebnisses konnte nun analysiert werden, ob die Erstklässler*innen während der Aufgabenbearbeitungen ihr Vorgehen von der Produktions- zur Reflexionsphase änderten. Dies geschah erneut mit Hilfe einer Kreuztabelle (vgl. Tab. 9.8), wobei auf den Achsen die kreativen Vorgehensweisen in den beiden Phasen eingetragen wurden. Um den Vergleich des Vorgehens in der Produktions- und Reflexionsphase präziser und detaillierter zu gestalten, wurde mit den vier kreativen Vorgehensweisen in der Kategorisierung der Originalität weitergearbeitet und nicht mit den beiden komprimierten Vorgehensweisen sprunghaft-ideenreich und geradlinig-ideenarm (vgl. Abschn. 9.2.1.3).

Tab. 9.8 Kreuztabelle der vier kreativen Vorgehensweisen in der Produktions- und Reflexionsphase

Anhand dieser Kreuztabelle ergaben sich zwei Subkategorien für die Veränderung des Vorgehens als ein Teilaspekt der Originalität der Erstklässler*innen:

  • Ändern die Erstklässler*innen ihre Vorgehensweise (sprunghaft-vielfältig, sprunghaft-gleichmäßig, geradlinig-vielfältig und geradlinig-gleichmäßig) bei der Bearbeitung einer arithmetisch offenen Aufgabe von der Produktions- zur Reflexionsphase, dann wird die Subkategorie Vorgehen verändert sich kodiert.

  • Findet keine Veränderung in der Vorgehensweise (sprunghaft-vielfältig, sprunghaft-gleichmäßig, geradlinig-vielfältig und geradlinig-gleichmäßig) der Erstklässler*innen bei der Bearbeitung einer arithmetisch offenen Aufgabe von der Produktions- zur Reflexionsphase statt, dann wird die Subkategorie Vorgehen bleibt gleich kodiert.

Dadurch, dass der exemplarisch herangezogene Erstklässler Lars bei seiner Bearbeitung der zweiten arithmetischen Aufgabe in beiden Phasen der Unterrichtsepisode verschiedene Vorgehensweisen zeigte (sprunghaft-gleichmäßig zu sprunghaft-vielfältig), wurde für den ersten Teilaspekt seiner Originalität die Kategorie Vorgehen verändert sich vergeben.

2.2.2 Originalität – Erweiterung der Produktion

Zu Beginn dieses Abschnitts wurde begründet, dass die divergente Fähigkeit der Originalität der Erstklässler*innen durch zwei Aspekte umfassend abgebildet werden muss. Der erste Aspekt, die Veränderung des Vorgehens, wurde bereits im vorherigen Abschnitt ausführlich dargestellt. Nun soll die Analyse des zweiten Aspekts, die Erweiterung der Produktion, in den Fokus gesetzt werden. Unter Rückbezug auf die Definition der Originalität (vgl. Abschn. 2.4.1) und die daraus abgeleitete Beschreibung im Rahmen des InMaKreS-Modells (vgl. Abb. 9.8) umfasst diese Erweiterung konkret sowohl die weitere Produktion von Ideen als auch das Zeigen weiterer arithmetischer Ideentypen. Dabei können die Erstklässler*innen ihre Denkflüssigkeit und Flexibilität in der Reflexionsphase entwickeln. Für beide Unterpunkte der Erweiterung – weitere Idee und weitere Ideentypen – sollten anhand der 36 individuellen Kreativitätsschemata der Erstklässler*innen qualitative Kategorien gebildet werden.

Um die Erweiterung der Produktion auf Ebene der Denkflüssigkeit in der Reflexionsphase der kreativen Aufgabenbearbeitungen abzubilden, wurde die Anzahl der von den Kindern gezeigten Ideen in der Reflexionsphase im Verhältnis zu den Ideen in der Produktionsphase betrachtet. Daher wurde ein Quotient aus diesen beiden Anzahlen für jede der 36 Aufgabenbearbeitungen errechnet, sodass ein sogenannter Erweiterungsfaktor der Denkflüssigkeit über die nachfolgende Formel entstand: \(ErwDf= 1+\frac{Anzahl\,Ideen\,in\,der\,Reflexion}{Anzahl\,Ideen\,in\,der\,Produktion}\). Da bspw. der Erstklässler Lars sowohl in der Produktions- als auch in der Reflexionsphase jeweils drei Ideen zeigte und damit seine Anzahl an Ideen von der Produktions- zur Reflexionsphase verdoppelte, lag sein Erweiterungsfaktor für die Denkflüssigkeit bei \({ErwDf}_{Lars\_A2}=1+\frac{3}{3}=2\). Um auch an dieser Stelle der Datenauswertung dem relativen Charakter des Konstrukts der individuellen mathematischen Kreativität gerecht zu werden (vgl. Abschn. 2.2.2), wurden erneut die durchschnittlichen Erweiterungsfaktoren gebildet. Diese lagen für die erste arithmetisch offene Aufgabe A1 [Zahl 4] bei \({ErwDf}_{A1\:[Zahl\:4]}=\mathrm{1{,}88}\) und für die zweite arithmetisch offene Aufgabe A2 [Ergebnis 12] bei \({ErwDf}_{A2\:[Ergebnis\:12]}=\mathrm{2{,}05}\). Obwohl beide Faktoren recht hoch sind, ist auffällig, dass die Erstklässler*innen die Anzahl ihrer Ideen bei der zweiten arithmetisch offenen Aufgabe mehr als verdoppelten. Mit Hilfe dieser durchschnittlichen Erweiterungsfaktoren konnten zwei qualitative, beschreibende Subkategorien für die Erweiterung der Denkflüssigkeit gebildet werden:

  • Die Erstklässler*innen produzieren in der Reflexionsphase viele weitere Ideen, wenn ihr individueller Erweiterungsfaktor für die Denkflüssigkeit (Anzahl an Ideen) über dem Durchschnitt der jeweiligen arithmetisch offenen Aufgabe liegt.

  • Liegt der individuelle Erweiterungsfaktor für die Denkflüssigkeit (Anzahl an Ideen) unter dem Durchschnitt der jeweiligen arithmetisch offenen Aufgabe, wird hingegen wenige weitere Ideen kodiert.

Dementsprechend nahm der Erstklässler Lars in der Reflexionsphase seiner Bearbeitung der zweiten arithmetischen Aufgabe eine Erweiterung der Denkflüssigkeit durch wenige weitere Ideen vor, da sein individueller Erweiterungsfaktor von 2 knapp unter dem Durchschnitt von 2,05 lag.

Die kindliche Erweiterung der Produktion auf Ebene der Diversität bezieht sich zudem auf das Zeigen weiterer arithmetischer Ideentypen in der Reflexionsphase. Um die starke Variation an Ideentypen in den individuellen Kreativitätsschemata darzustellen, wurden wie zuvor bei der Diversität die verschiedenen Subkategorien der arithmetischen Ideentypen fokussiert. So wurde in den 36 Aufgabenbearbeitungen die Anzahl weiterer Ideentypen von der Produktions- zur Reflexionsphase ausgezählt. Lars etwa nutzte zwar absolut gesehen in seiner Produktions- und Reflexionsphase jeweils drei verschiedene Ideentypen, jedoch unterschieden sich diese auf qualitativer Ebene. Während er in der Produktionsphase die arithmetischen Ideentypen ass-bes-10, ass-pos und struk-nach-beid zeigte, wurden in der Reflexionsphase die arithmetischen Ideentypen struk-nach-beid, ass-op und ass-gew kodiert (vgl. Abb. 9.9). Somit zeigte Lars in der Reflexionsphase qualitativ gesehen zwei weitere arithmetische Ideentypen, nämlich die beiden frei-assoziierten Ideen ass-op und ass-gew. Seine Erweiterung der Diversität konnte deshalb analog zur Erweiterung der Denkflüssigkeit über die folgende Formel berechnet werden: \({ErwD}_{A2\:[Ergebnis\:12]}= 1+\frac{Anzahl\,weiterer\,Ideentypen\,in\,der\,Reflexion}{Anzahl\,Ideentypen\,in\,der\,Produktion}\). So ergab sich für Lars ein Erweiterungsfaktor der Diversität von \({ErwD}_{Lars\_A2}= 1+\frac{2}{3}=1{,}\overline{66 }\). Genauso wie zuvor wurden dann die durchschnittlichen Erweiterungsfaktoren für die beiden arithmetisch offenen Aufgaben berechnet. Bei der ersten arithmetisch offenen Aufgabe A1 [Zahl 4] lag der Erweiterungsfaktor der Diversität bei \({ErwD}_{A1\:[Zahl\:4]}=\mathrm{1{,}66}\) und bei der zweiten arithmetisch offenen Aufgabe A2 [Ergebnis 12] bei \({ErwD}_{A2\:[Ergebnis\:12]}=\mathrm{1{,}49}\). Das bedeutet, dass bei beiden Aufgaben die Erstklässler*innen ihre Diversität von der Produktions- zur Reflexionsphase um etwa die Hälfte erhöhten. Aufgrund des Vergleichs der individuellen Erweiterungsfaktoren der Diversität aus jeder der 36 Aufgabenbearbeitungen mit den durchschnittlichen Werten ergaben sich die beiden folgenden Subkategorien:

  • Die Erstklässler*innen erhöhen in der Reflexionsphase ihre Diversität deutlich, wenn ihr individueller Erweiterungsfaktor für die Diversität (Anzahl weiterer arithmetischer Ideentypen) über dem Durchschnitt der jeweiligen arithmetisch offenen Aufgabe liegt.

  • Liegt der individueller Erweiterungsfaktor für die Diversität (Anzahl weiterer arithmetischer Ideentypen) unter dem Durchschnitt der jeweiligen arithmetisch offenen Aufgabe, wird hingegen die Diversität in der Reflexionsphase nur etwas erweitert.

Der Erstklässler Lars erweiterte seine Diversität mit einem Erweiterungsfaktor von \(1,\overline{66 }\) deutlich, da sein individueller Erweiterungsfaktor der Diversität über dem Durchschnitt von 1,49 für die zweite arithmetisch offene Aufgabe lag.

Das Kategoriensystem für den nun dargestellten zweiten Teilaspekt der Originalität, nämlich die Erweiterung der Produktion, präsentiert die nachfolgende Tabelle 9.9.

Tab. 9.9 Kategoriensystem für die Erweiterung der Produktion als ein Teilaspekt der divergenten Fähigkeit Originalität

Mit Blick auf das InMaKreS-Modell, das ein wechselseitiges Verhältnis der beiden divergenten Fähigkeiten der Denkflüssigkeit und Flexibilität betont (vgl. Abschn. 2.4), war es an dieser Stelle der Arbeit möglich und notwendig, die Erweiterung der Produktion als zweiten Teilaspekt der Originalität auf wenige aussagekräftige Subkategorien zu konzentrieren. Dafür wurden in einem nächsten Schritt die Subkategorien der Erweiterung der Denkflüssigkeit und der Erweiterung der Diversität kreuzweise miteinander in Beziehung gesetzt. Hierfür wurde zunächst eine Kreuztabelle (vgl. Tab. 9.10) erstellt, wobei auf den beiden Achsen die verschiedenen Subkategorien abgetragen wurden.

Tab. 9.10 Kreuztabelle Erweiterung der Denkflüssigkeit und Diversität

Aus der systematischen Kreuzung der Subkategorien für die Erweiterung der Denkflüssigkeit (viele und wenige weitere Zahlensätze) und die Erweiterung der Diversität (deutlich, etwas) ergaben sich vier verschiedene Qualitäten der Erstklässler*innen, ihre eigene Produktion in der Reflexionsphase zu erweitern. Statistisch gesehen stellte sich die Verteilung der 36 kreativen Aufgabenbearbeitungen der Erstklässler*innen auf diese vier Erweiterungsqualitäten wie in Tabelle 9.11 aufgelistet dar.

Tab. 9.11 Statistische Verteilung der Aufgabenbearbeitungen auf die vier Erweiterungskategorien der Produktion

Aus der statistischen Verteilung der kindlichen Aufgabenbearbeitungen ließ sich ablesen, dass eine geringe Erweiterung der Denkflüssigkeit (Anzahl an Ideen) häufig mit einer geringen Erweiterung der Diversität (Anzahl an Ideentypen) einherging (wenige-etwas). Analog dazu schien es ein Zusammenhang zwischen dem Zeigen vieler weitere Ideen und dem gleichzeitigen Finden vieler weiterer arithmetischer Ideentypen zu bestehen (viele-deutlich). Zudem wurde ein genauerer Blick auf die individuellen Erweiterungsfaktoren für diejenigen Aufgabenbearbeitungen geworfen, die den beiden Mischformen (wenige-deutlich, viele-etwas) angehörten. Dabei zeigte sich, dass diese häufig in der Erweiterung der Denkflüssigkeit und/oder der Erweiterung der Diversität sehr nah um den jeweiligen Durchschnittswert angeordnet waren. Lars baute bspw. seine gezeigten arithmetischen Ideentypen in der Reflexionsphase deutlich aus, da sein Erweiterungsfaktor mit \(1,\overline{66 }\) über dem Durchschnitt von \(\mathrm{1{,}49}\) weiterer Ideentypen lag. Zudem erweiterte er seine Anzahl an Ideen um den Faktor von genau \(2\). Dadurch, dass der durchschnittliche Erweiterungsfaktor der Denkflüssigkeit für diese Aufgabe jedoch mit \(\mathrm{2{,}05}\) berechnet wurde, lag Lars zwar nur äußerst knapp unter diesem, musste aber die Kategorie wenige weitere Ideen für die Erweiterung der Denkflüssigkeit zugewiesen bekommen. In seiner Aufgabenbearbeitung zeigte der Erstklässler deshalb insgesamt eine Erweiterung im Sinne der Kategorie wenige-deutlich. Allerdings ergab sich aus der genaueren Betrachtung der Faktoren eine starke Tendenz hin zu der Kategorie viele-deutlich. Aus dieser Erkenntnis wurde geschlussfolgert, dass eine geringe Erweiterung der Denkflüssigkeit zumeist mit einer geringen Erweiterung der Diversität und umgekehrt eine deutliche Erweiterung der Denkflüssigkeit mit einer deutlichen Erweiterung der Diversität einhergeht. Zusätzlich kann auf inhaltlicher Ebene argumentiert werden, dass in dieser Arbeit die individuelle mathematische Kreativität von Erstklässler*innen bei der Bearbeitung arithmetisch offener Aufgaben qualitativ charakterisiert werden sollte und die divergente Fähigkeit der Diversität im Gegensatz zur Denkflüssigkeit ein qualitatives Merkmal ebendieser ist (vgl. Abschn. 2.4). Deshalb wurde die Tendenz in der Erweiterung der Diversität stärker gewichtet als die der Denkflüssigkeit und die vier durch bewusste Kreuzung entstandenen Qualitäten in der Erweiterung der Produktion (vgl. Tab. 9.10) auf die zwei folgenden, aussagekräftigen Subkategorien komprimiert.

  • In der Reflexionsphase der kreativen Aufgabenbearbeitungen der Erstklässler*innen findet eine starke Erweiterung ihrer Produktion statt, wenn die Lernenden im Vergleich zur Produktionsphase tendenziell viele weitere Ideen und dabei viele weitere arithmetische Ideentypen zeigen.

  • In der Reflexionsphase der kreativen Aufgabenbearbeitungen erweitern die Erstklässler*innen ihre Produktion schwach, wenn sie im Vergleich zur Produktionsphase tendenziell wenige weitere Ideen und dabei nur wenige weitere arithmetische Ideentypen zeigen.

In diesem Sinne wurde für den Erstklässler bzgl. seiner Erweiterung der Produktion in der Reflexionsphase die Kodierung stark vergeben.

2.2.3 Kreative Verhaltensweisen

Aus den vorherigen Ausführungen zur Analyse der Originalität der Erstklässler*innen in der Reflexionsphase ihrer Aufgabenbearbeitungen konnten jeweils zwei Subkategorien für die beiden Teilaspekte der Originalität, nämlich die Veränderung im Vorgehen und die Erweiterung der Produktion, gebildet werden. Diese werden in der nachfolgenden Tabelle 9.12 zusammengestellt.

Tab. 9.12 Kategoriensystem für die divergente Fähigkeit der Originalität

Diese vier Subkategorien der beiden Originalitätsaspekte (Veränderung des Vorgehens und Erweiterung der Produktion) dienten wiederum als Grundlage für die Erstellung verschiedener kreativer Verhaltensweisen der Erstklässler*innen in der Reflexionsphase. Da beide Aspekte in der Definition der divergenten Fähigkeit der Originalität gleichermaßen bedeutsam sind (vgl. Abschn. 2.4, Einführung zu diesem Abschn. 9.2.2 und Abb. 8.6), wurde erneut eine systematische Kombination der verschiedenen Subkategorien im Rahmen einer Kreuztabelle vorgenommen. Das Ergebnis dieses Prozesses zeigt die nachfolgende Tab. 9.13.

Tab. 9.13 Kreuztabelle zur Bildung kreativer Verhaltensweisen in der Reflexionsphase

Auf diese Weise entstandenen vier kreativen Verhaltensweisen, die wie folgt definiert wurden:

  1. 1.

    Die Erstklässler*innen zeigen die kreative Verhaltensweise gleiches Vorgehen mit starker Erweiterung, wenn sie in der Reflexionsphase ihrer Aufgabenbearbeitung die gleiche Vorgehensweise (sprunghaft-vielfältig, sprunghaft-gleichmäßig, geradlinig-vielfältig und geradlinig-gleichmäßig) wie in der Produktionsphase zeigen und dabei ihre Produktion bezogen auf die divergenten Fähigkeiten der Denkflüssigkeit und Flexibilität (Diversität) stark erweitern.

  2. 2.

    Die Erstklässler*innen zeigen die kreative Verhaltensweise gleiches Vorgehen mit schwacher Erweiterung, wenn sie in der Reflexionsphase ihrer Aufgabenbearbeitung die gleiche Vorgehensweise (sprunghaft-vielfältig, sprunghaft-gleichmäßig, geradlinig-vielfältig und geradlinig-gleichmäßig) wie in der Produktionsphase zeigen und dabei ihre Produktion bezogen auf die divergenten Fähigkeiten der Denkflüssigkeit und Flexibilität (Diversität) schwach erweitern.

  3. 3.

    Die Erstklässler*innen zeigen die kreative Verhaltensweise verändertes Vorgehen mit starker Erweiterung, wenn sie in der Reflexionsphase ihrer Aufgabenbearbeitung eine zur Produktionsphase veränderte Vorgehensweise (sprunghaft-vielfältig, sprunghaft-gleichmäßig, geradlinig-vielfältig und geradlinig-gleichmäßig) zeigen und dabei ihre Produktion bezogen auf die divergenten Fähigkeiten der Denkflüssigkeit und Flexibilität (Diversität) stark erweitern.

  4. 4.

    Die Erstklässler*innen zeigen die kreative Verhaltensweise verändertes Vorgehen mit schwacher Erweiterung, wenn sie in der Reflexionsphase ihrer Aufgabenbearbeitung eine zur Produktionsphase veränderte Vorgehensweise (sprunghaft-vielfältig, sprunghaft-gleichmäßig, geradlinig-vielfältig und geradlinig-gleichmäßig) zeigen und dabei ihre Produktion bezogen auf die divergenten Fähigkeiten der Denkflüssigkeit und Flexibilität (Diversität) schwach erweitern.

Der exemplarisch dargestellte Erstklässler Lars veränderte sein Vorgehen von der Produktions- zur Reflexionsphase, da er zunächst eine sprunghaft-gleichmäßige und daraufhin eine sprunghaft-vielfältige Vorgehensweise nutzte. Zudem erweiterte er seine Produktion insgesamt stark, da er relativ zum Durchschnitt viele weitere arithmetische Ideentypen zeigte und dabei tendenziell viele weitere Ideen produzierte. Somit ist Lars‘ Aufgabenbearbeitung der zweiten arithmetisch offenen Aufgabe A2 [Ergebnis 12] ein Beispiel für die kreative Verhaltensweise verändertes Vorgehen mit starker Erweiterung.

2.3 Zusammenfassung

Das Ziel dieses Abschnitts war es, die individuelle mathematische Kreativität von Erstklässler*innen beim Bearbeiten zweier arithmetisch offener Aufgaben qualitativ zu charakterisieren. Dazu diente das in Abschnitt 2.4.2 entwickelte InMaKreS-Modell als theoretisches Framework für die Analyse von 36 kreativen Aufgabenbearbeitungen von Kindern der ersten Klasse, das im Verlauf dieses Kapitels empirisch weiter konkretisiert wurde (vgl. Abb. 9.6 und Abb. 9.8).

Die individuellen Kreativitätsschemata (vgl. Abschn. 9.1) dienten als Basis für die nachfolgenden Analysen der divergenten Fähigkeiten Denkflüssigkeit, Flexibilität und Originalität im Sinne ihrer Definitionen und des InMaKreS-Modells (vgl. Abschn. 9.2). In Anlehnung an den Typisierungsprozess nach Kelle und Kluge (2010, S. 92) wurden schrittweise Kategoriensysteme der divergenten Fähigkeiten erstellt und dabei mit Blick auf die inhaltlichen Sinnzusammenhänge sowie statistischen Auswertungen von Häufigkeitsverteilung einzelne Subkategorien systematisch zusammengefasst. Zudem wurden die Auswertungen der 36 kreativen Aufgabenbearbeitungen der Erstklässler*innen dem InMaKreS-Modell entsprechend zunächst für die Produktions- und anschließend für die Reflexionsphase realisiert. So entstanden am Ende der einzelnen Abschnitte zwei qualitativ beschreibenden Subkategorien für die kreativen Vorgehensweisen (geradlinig-ideenarm, sprunghaft-ideenreich) der Erstklässler*innen in der Produktionsphase, die sich auf die divergenten Fähigkeiten der Denkflüssigkeit und Flexibilität beziehen (vgl. Abschn. 9.2.1), sowie vier Subkategorien für die kreativen Verhaltensweisen (gleiches/verändertes Vorgehen mit starker/schwacher Erweiterung) der Kinder in der Reflexionsphase, die die Originalität abbilden (vgl. Abschn. 9.2.2).

Als Ergebnis aus den vorangegangenen Analysen zeigt die nachfolgende Abbildung 9.10 die qualitative Charakterisierung der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen beim Bearbeiten zweier arithmetisch offener Aufgaben und beantwortet somit die erste Forschungsfrage (vgl. Abschn. 5.2):

F1:

Inwiefern kann die individuelle mathematische Kreativität von Erstklässler*innen beim Bearbeiten arithmetisch offener Aufgaben auf Basis des InMaKreS-Modells charakterisiert werden?

Abb. 9.10
figure 10

Qualitative Charakterisierung der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen

3 Typisierung der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen (F2)

„Eine Typologie ist immer das Ergebnis eines Gruppierungsprozesses, bei dem ein Objektbereich anhand eines oder mehrerer Merkmale in Gruppen bzw. Typen eingeteilt wird […].“ (Kelle & Kluge, 2010, S. 85)

Auf Basis der qualitativen Charakterisierung der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen beim Bearbeiten arithmetisch offener Aufgaben (vgl. Abb. 9.10) sollten in diesem Abschnitt nun Typen der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen (kurz: Kreativitätstypen) gebildet werden. Dadurch konnte die zweite qualitative Forschungsfrage beantworten werden (vgl. Abschn. 5.2):

F2:

Inwiefern lassen sich verschiedene Typen der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen ableiten?

Methodisch gesehen wurde zur Analyse der Kreativitätstypen auf die gleichen Instrumente zurückgegriffen wie in den Ausführungen zuvor, nämlich auf die Erstellung neuer Merkmalsräume durch die systematische Kombination verschiedener Haupt- bzw. Subkategorien (Kreuztabellen), die Analyse inhaltlicher Sinnzusammenhänge auf Ebene des InMaKreS-Modells sowie die Betrachtung statistischer Verteilungen der Aufgabenbearbeitungen (vgl. ausführlich Abschn. 7.3.1.2 und 7.3.1.3). Auf diese Weise sollten verschiedene Typen der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen ausfindig gemacht und, in einem zweiten Schritt, anhand von repräsentativen Fallinterpretationen (Kuckartz, 2010, S. 106) qualitativ charakterisiert sowie benannt werden (vgl. Abschn. 9.3.1).

Im Anschluss an die Entwicklung dieser Kreativitätstypen wurde die statistische Zuordnung der Aufgabenbearbeitungen der 18 Erstklässler*innen zu den verschiedenen Typen der individuellen mathematischen Kreativität betrachtet. Daraus können nicht nur konkretere Aussagen über das Vorkommen der verschiedenen Kreativitätstypen in diesem Sample formuliert, sondern auch vorsichtige Rückschlüsse für das Antreffen solch ähnlicher Kreativitätstypen im Mathematikunterricht gezogen werden (vgl. Abschn. 9.3.2). Zuletzt wird dann der Blick zurück auf die kreativen Bearbeitungen der beiden arithmetisch offenen Aufgaben gelegt und die von den Kindern gezeigten arithmetischen Ideentypen fokussiert. Dadurch soll die folgende lokale Forschungsfrage beantwortet werden (vgl. Abschn. 9.3.3): Inwiefern können die verschiedenen Typen der individuellen mathematischen Kreativität der Erstklässler*innen auf arithmetischer Ebene beschrieben werden?

3.1 Entwicklung vier verschiedener Kreativitätstypen

„Abschließend werden die konstruierten Typen umfassend anhand ihrer Merkmalskombinationen sowie der inhaltlichen Sinnzusammenhänge charakterisiert.“ (Kelle & Kluge, 2010, S. 92)

Wie in der Einleitung zu diesem Abschnitt dargestellt, soll im Sinne der letzten Stufe im Typisierungsprozess nach Kelle und Kluge (2010, S. 92) nun die Entwicklung verschiedener Typen der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen beim Bearbeiten arithmetisch offener Aufgaben präsentiert werden. Mit Blick auf die Ergebnisse der Charakterisierung der individuellen mathematischen Kreativität (vgl. Abschn. 9.3.1) wurden die beiden herausgearbeiteten kreativen Vorgehensweisen (geradlinig-ideenarm, sprunghaft-ideenreich) der Erstklässler*innen in der Produktionsphase der Bearbeitung arithmetisch offener Aufgaben und die vier verschiedenen kreativen Verhaltensweisen (gleiches/verändertes Vorgehen mit starker/schwacher Erweiterung) in der Reflexionsphase systematisch aufeinander bezogen. Dadurch, dass diese die divergenten Fähigkeiten Denkflüssigkeit, Flexibilität und Originalität der Lernenden und deren Verhältnis zueinander im Sinne des InMaKreS-Modells abbildeten (vgl. ausführlich Abschn. 9.2 und 9.3), konnten über die Erstellung einer Kreuztabelle verschiedene Typen der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen gebildet werden.

Dazu wurden auf den beiden Achsen der Kreuztabelle jeweils die verschiedenen kreativen Vorgehens- und Verhaltensweisen abgetragen, wobei rein rechnerisch bei zwei Vorgehensweisen und vier Verhaltensweisen insgesamt acht verschiedene Merkmalskombinationen entstehen mussten. Da jedoch das Ziel dieser Analyse darin bestand, wenige aussagekräftige Kreativitätstypen der Erstklässler*innen zu konstituieren, stellte sich die Anzahl von acht verschiedenen Typen als viel dar. Vor allem hinsichtlich der Anwendung der Kreativitätstypen von Lehrkräften im Mathematikunterricht, um die individuelle mathematische Kreativität ihrer Schüler*innen einschätzen zu können, erschien diese Anzahl als zu hoch. Daher mussten die Kreativitätstypen auf Basis der Analyse inhaltlicher Zusammenhänge, d. h. im Rahmen des InMaKreS-Modells, begründet komprimiert werden.

Unter diesem Gesichtspunkt wurden vordergründig die vier kreativen Verhaltensweisen der Erstklässler*innen in der Reflexionsphase fokussiert, welche die Originalität der Lernenden abbilden. Laut ihrer Definition wird die divergente Fähigkeit der Originalität als die kindliche Fähigkeit beschrieben, die eigene Produktion zu reflektieren und auf Grundlage dessen die Antwort zur arithmetisch offenen Aufgabe zu erweitern, indem weitere Ideen sowie Ideentypen gezeigt werden (vgl. Abschn. 2.4.1 und 9.2.2). Durch diese Begriffsbestimmung wird deutlich, dass die beiden Aspekte der Originalität (Veränderung im Vorgehen und Erweiterung der Produktion) in einem sich nachrangigen Verhältnis zueinanderstehen, was auch in der Bildung der kreativen Verhaltensweisen in Abschnitt 9.2.2 betont wurde. In diesem Sinne wurden die vier kreativen Verhaltensweisen der Kinder in der Reflexionsphase umstrukturiert. Diese bestanden jeweils aus zwei Paaren, welche die gleiche Qualität in der Veränderung des Vorgehens aufwiesen, nämlich gleiches und verändertes Vorgehen mit jeweils starker oder schwacher Erweiterung (vgl. ausführlich Abschn. 9.2.2.3, insbesondere Tab. 9.9). So wurden die beiden Subkategorien gleiches Vorgehen und verändertes Vorgehen mit den untergeordneten beiden Ausprägungen mit starker Erweiterung und mit schwacher Erweiterung als kreative Verhaltensweisen bestimmt. Es entstanden über die Kreuztabelle in Tabelle 9.14 vier verschiedene Kreativitätstypen, die jeweils zwei Ausprägungen bzgl. der Erweiterung in der Reflexionsphase aufweisen können.

Tab. 9.14 Kreuztabelle Typen der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen

Nachfolgend werden die durch die Kreuztabelle gebildeten Typen der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler* innen auf Basis der kreativen Vorgehens- und Verhaltensweisen beschrieben und anhand repräsentativer Fallinterpretationen, d. h. ausgewählter kreativer Aufgabenbearbeitungen der Erstklässler* innen, explizit charakterisiert. Dabei wird auf die Definitionen der induktiv gebildeten Kategorien zu den arithmetischen Ideentypen (vgl. Abschn. 9.1.1) und den divergenten Fähigkeiten bzw. den kreativen Vorgehens- und Verhaltensweisen (vgl. Abschn. 9.2.1 und 9.2.2) zurückgegriffen. Sie werden in den nachfolgenden Ausführungen kursiv markiert, aber nicht erneut durch Verweise belegt.

3.1.1 Kreativitätstyp 1: geradlinig-ideenarmes Vorgehen im gesamten Bearbeitungsprozess

Ein Beispiel für diesen ersten Typ der individuellen mathematischen Kreativität kann durch die Bearbeitung der zweiten arithmetischen Aufgabe A2 [Ergebnis 12] der Erstklässlerin Marie verdeutlicht werden (vgl. Abb. 9.11). Dieses Kind zeigte in beiden Phasen der Unterrichtsepisode ein geradlinig-ideenarmes Vorgehen. In Bezug auf ihre dadurch abgebildeten divergenten Fähigkeiten Denkflüssigkeit und Flexibilität bedeutet diese kreative Vorgehensweise, dass sie bei einer Anzahl von insgesamt 22 Ideen während der gesamten Aufgabenbearbeitung nur wenige einzelne arithmetische Ideentypen zeigte, nämlich zwei frei-assoziierte Ideentypen (ass-bes-um1, ass-bes-10) und einen muster-bildenden Ideentyp (must-wachs) (Aspekt der Diversität). Dementsprechend wechselte Marie selten, d. h. während der gesamten Bearbeitung nur dreimal, zwischen möglichen arithmetischen Ideentypen (Aspekt der Komposition). Im Kontext ihrer Fähigkeit der Originalität erweitert die Erstklässlerin zudem ihre Produktion in der Reflexionsphase durch einen weiteren arithmetischen Ideentypen (ass-pos) schwach.

Abb. 9.11
figure 11

Individuelles Kreativitätsschema Marie A2, Beispiel für Kreativitätstyp 1b

Aufgrund der repräsentativ beschriebenen Eigenschaften der individuellen mathematischen Kreativität von Marie wird ihr Kreativitätstyp als geradlinig-ideenarmes Vorgehen im gesamten Bearbeitungsprozess mit schwacher Erweiterung (1b) bezeichnet. Dementsprechend wird der Kreativitätstyp 1a begrifflich als geradlinig-ideenarmes Vorgehen im gesamten Bearbeitungsprozess mit starker Erweiterung gefasst.

Kreativitätstyp 1: geradlinig-ideenarmes Vorgehen im gesamten Bearbeitungsprozess

Die Erstklässler*innen zeigen bei der Bearbeitung einer arithmetisch offenen Aufgabe in der Produktionsphase eine geradlinig-ideenarme Vorgehensweise und bleiben in der sich anschließenden Reflexionsphase bei diesem gleichen Vorgehen.

1a :

Zusätzlich erweitern die Kinder der ersten Klasse ihre Produktion verschiedener Ideen über das Zeigen arithmetischer Ideentypen in der Reflexionsphase stark.

1b :

Zusätzlich erweitern die Kinder der ersten Klasse ihre Produktion verschiedener Ideen über das Zeigen arithmetischer Ideentypen in der Reflexionsphase schwach.

3.1.2 Kreativitätstyp 2: sprunghaft-ideenreiches Vorgehen im gesamten Bearbeitungsprozess

Das nachfolgende individuelle Kreativitätsschema (vgl. Abb. 9.12) zeigt Jessikas Bearbeitung der zweiten arithmetisch offenen Aufgabe A2 [Ergebnis 12], an dem der zweite Typ der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen verdeutlicht werden soll. Während der Produktionsphase zeigte Jessika ein sprunghaft-ideenreiches Vorgehen, da eine hohe Diversität in ihren arithmetischen Ideentypen analysiert werden konnte und sie zudem häufig zwischen den frei-assoziierten Ideen (ass-pos, ass-bes-um1, ass-bes-10, ass-bes-5), struktur-nutzenden Ideen (struk-tau) und muster-bildenden Ideen (must-wachs) wechselte (Aspekt der Komposition). In Bezug auf ihre divergente Fähigkeit der Originalität veränderte die Erstklässlerin ihr Vorgehen in der Reflexionsphase nicht und präsentierte auch dort eine hohe Diversität und häufige Ideenwechsel in ihrer Bearbeitung der zweiten arithmetisch offenen Aufgabe. Dadurch, dass Jessika bereits in der ersten Phase der Unterrichtsepisode viele Ideen und arithmetische Ideentypen zeigte, fiel die Erweiterung ihrer Produktion in der sich anschließenden Reflexionsphase eher gering aus: Jessika produzierte im Vergleich zu allen 36 Aufgabenbearbeitungen unterdurchschnittlich viele weitere Ideen und arithmetische Ideentypen.

Abb. 9.12
figure 12

Individuelles Kreativitätsschema Jessika A2, Beispiel für Kreativitätstyp 2b

Aus den zuvor beispielhaft erläuterten Merkmalen wird der von Jessika bei ihrer Bearbeitung der zweiten arithmetischen Aufgabe gezeigte Typ der individuellen mathematischen Kreativität 2b als sprunghaft-ideenreiches Vorgehen im gesamten Bearbeitungsprozess mit schwacher Erweiterung betitelt. Analog charakterisiert die Bezeichnung sprunghaft-ideenreiches Vorgehen im gesamten Bearbeitungsprozess mit starker Erweiterung den Kreativitätstyp 2a.

Kreativitätstyp 2: sprunghaft-ideenreiches Vorgehen im gesamten Bearbeitungsprozess

Die Erstklässler*innen zeigen bei der Bearbeitung einer arithmetisch offenen Aufgabe in der Produktionsphase eine sprunghaft-ideenreiche Vorgehensweise und bleiben in der sich anschließenden Reflexionsphase bei diesem gleichen Vorgehen.

2a :

Zusätzlich erweitern die Kinder der ersten Klasse ihre Produktion verschiedener Ideen über das Zeigen arithmetischer Ideentypen in der Reflexionsphase stark.

2b :

Zusätzlich erweitern die Kinder der ersten Klasse ihre Produktion verschiedener Ideen über das Zeigen arithmetischer Ideentypen in der Reflexionsphase schwach.

3.1.3 Kreativitätstyp 3: Veränderung des zunächst geradlinig-ideenarmen Vorgehens in der Reflexion

Am Beispiel von Sophia, die an der zweiten arithmetisch offenen Aufgabe A2 [Ergebnis 12] arbeitete (vgl. Abb. 9.13), soll der dritte Typ der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen verdeutlicht werden. Sophia bediente sich während der selbstständigen Bearbeitung der offenen Aufgabe zunächst eines stark geradlinig-ideenarmen Vorgehens. Mit Rückbezug auf die Definition der Flexibilität zeigte das Mädchen eine geringe Diversität, da sie nur drei verschiedene arithmetische Ideentypen (ass-bes-verd, ass-bes5, ass-bes-um1) zeigte. Hierbei war zudem auffällig, dass sie dreimal die Subkategorie besondere Zahlensätze als Erklärung für das Produzieren ihrer Zahlensätze angab. Dadurch, dass sie nur einen arithmetischen Ideentyp zeigte, fanden in der Produktionsphase keine Ideenwechsel statt, was den Aspekt der Komposition beschreibt. In der Reflexionsphase hingegen verwendete Sophia auch klassifizierende sowie struktur-nutzende Ideen und wechselte zwischen den verschiedenen Ideentypen insgesamt viermal. Somit konnte ihr Vorgehen in der Reflexion als sprunghaft-ideenreich kategorisiert werden, weshalb sie insgesamt ihre kreative Vorgehensweise von der Produktions- zur Reflexionsphase veränderte. Bereits durch einen ersten Blick auf das individuelle Kreativitätsschema des Kindes ist erkennbar, dass die Erstklässlerin in der Reflexionsphase ihre Produktion sowohl in Bezug auf die Denkflüssigkeit als auch die Diversität der Ideentypen stark erweiterte.

Abb. 9.13
figure 13

Individuelles Kreativitätsschemata Sophia A2, Beispiel für Kreativitätstyp 3a

Aufgrund der Charakteristika wird der Kreativitätstyp 3a mit dem Titel Veränderung des zunächst geradlinig-ideenarmen Vorgehens in der Reflexion mit starker Erweiterung versehen. Analog ist für den Typen 3b der individuellen mathematischen Kreativität die Bezeichnung Veränderung des zunächst geradlinig-ideenarmen Vorgehens in der Reflexion mit schwacher Erweiterung gewählt worden.

Kreativitätstyp 3: Veränderung des zunächst geradlinig-ideenarmen Vorgehens in der Reflexion

Die Erstklässler*innen zeigen bei der Bearbeitung einer arithmetisch offenen Aufgabe in der Produktionsphase eine geradlinig-ideenarme Vorgehensweise und verändern ihr Vorgehen in der sich anschließenden Reflexionsphase.

3a :

Zusätzlich erweitern die Kinder der ersten Klasse ihre Produktion verschiedener Ideen über das Zeigen arithmetischer Ideentypen in der Reflexionsphase stark.

3b :

Zusätzlich erweitern die Kinder der ersten Klasse ihre Produktion verschiedener Ideen über das Zeigen arithmetischer Ideentypen in der Reflexionsphase schwach.

3.1.4 Kreativitätstyp 4: Veränderung des zunächst sprunghaft-ideenreichen Vorgehens in der Reflexion

An dieser Stelle wird zur Charakterisierung des vierten Typen der individuellen mathematischen Kreativität der Erstklässler Lars als Beispiel herangezogen. Dessen individuelles Kreativitätsschema seiner Bearbeitung der zweiten arithmetischen Aufgabe A2 [Ergebnis 12] (vgl. Abb. 9.14) begleitete bereits die letzten Abschnitte. Wie zuvor ausführlich erläutert (vgl. Abschn. 9.2), drückte der Erstklässler seine Denkflüssigkeit und Flexibilität in der Produktionsphase durch ein sprunghaft-ideenreiches Vorgehen aus. Dagegen veränderte er seine kreative Vorgehensweise in der Reflexionsphase insbesondere in Bezug auf die Diversität der verschiedenen gezeigten arithmetischen Ideentypen. Diese lag mit drei verschiedenen Ideentypen (struk-nach-beid, ass-op, ass-gew) im Vergleich zu allen 36 kindlichen Aufgabenbearbeitungen knapp über dem Durchschnitt. Außerdem war Lars in der Reflexionsphase in der Lage, weitere Ideen und vor allem Ideentypen zu erzeugen und so seine Produktion verhältnismäßig zu seinen Ideen während der gesamten Aufgabenbearbeitung stark zu erweitern.

Abb. 9.14
figure 14

Individuelles Kreativitätsschemata Lars A2, Beispiel Kreativitätstyp 4a

Mit diesen Eigenschaften seiner individuellen mathematischen Kreativität wird der von Lars gezeigte Kreativitätstyp 4a als Veränderung des zunächst sprunghaft-ideenreichen Vorgehens in der Reflexion mit starker Erweiterung in der Reflexionsphase bezeichnet. Dementsprechend trägt Typ 4b den Namen Veränderung des zunächst sprunghaft-ideenreichen Vorgehens in der Reflexion mit schwacher Erweiterung.

Kreativitätstyp 4: Veränderung des zunächst sprunghaft-ideenreichen Vorgehens in der Reflexion

Die Erstklässler*innen zeigen bei der Bearbeitung einer arithmetisch offenen Aufgabe in der Produktionsphase eine sprunghaft-ideenreiche Vorgehensweise und verändern ihr Vorgehen in der sich anschließenden Reflexionsphase.

4a :

Zusätzlich erweitern die Kinder der ersten Klasse ihre Produktion verschiedener Ideen über das Zeigen arithmetischer Ideentypen in der Reflexionsphase stark.

4b :

Zusätzlich erweitern die Kinder der ersten Klasse ihre Produktion verschiedener Ideen über das Zeigen arithmetischer Ideentypen in der Reflexionsphase schwach.

3.2 Zuordnung der kreativen Aufgabenbearbeitungen der Erstklässler*innen zu den Kreativitätstypen

„So entstanden über die Tabelle 9.8 vier verschiedene Kreativitätstypen, die jeweils zwei Ausprägungen bzgl. der Erweiterung in der Reflexionsphase aufweisen können.“ (Abschn. 8.3.1)

Im vorangegangenen Abschnitt 9.3.1 wurde die Bildung sowie Charakterisierung und Benennung von unterschiedlichen Typen der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen beim Bearbeiten arithmetisch offener Aufgaben ausführlich dargestellt. In diesem Abschnitt sollen nun die statistischen Häufigkeitsverteilungen der 36 Aufgabenbearbeitungen der Erstklässler*innen auf die Kreativitätstypen präsentiert werden. Die Analyse des empirischen Vorkommens der einzelnen Kreativitätstypen in dieser Studie ermöglicht es, weitere inhaltliche Rückschlüsse bzgl. der individuellen mathematischen Kreativität der Erstklässler*innen auf Basis des InMaKreS-Modells zu ziehen. Diese können dann als Anhaltspunkt für die Identifikation und darauf aufbauende Förderung der Kreativitätstypen im Mathematikunterricht durch Lehrkräfte dienen. Zu diesem Zweck fokussiert der nachfolgende Abschnitt zusätzlich die kindlichen Bearbeitungen der beiden arithmetisch offenen Aufgaben auf mathematisch inhaltlicher, d. h. arithmetischer, Ebene (vgl. Abschn. 9.3.3).

Die untenstehende Tabelle 9.15  präsentiert die Häufigkeitsverteilungen der analysierten Kreativitätstypen der 36 Aufgabenbearbeitungen durch absolute Werte sowie durch die gerundeten relativen Häufigkeiten in Prozent.

Tab. 9.15 Häufigkeitsverteilung der Aufgabenbearbeitungen der Erstklässler*innen auf die Typen der individuellen mathematischen Kreativität

Aus der detaillierten Auswertung der statistischen Verteilung der 36 Aufgabenbearbeitungen der Erstklässler*innen auf die verschiedenen Kreativitätstypen können folgende Schlussfolgerungen über die individuelle mathematische Kreativität von Erstklässler*innen beim Bearbeiten arithmetisch offener Aufgaben gezogen werden:

  • In der Produktionsphase wurde bei 17 Aufgabenbearbeitungen der Erstklässler*innen ein geradlinig-ideenarmes Vorgehen (gerundet 47 %) und bei 19 Aufgabenbearbeitungen eine sprunghaft-ideenreiche Vorgehensweise (gerundet 53 %) analysiert. Damit halten sich die Anteile der Aufgabenbearbeitungen mit den beiden möglichen kreativen Vorgehensweisen, welche die kreativen Fähigkeiten der Denkflüssigkeit und Flexibilität fassen (vgl. dazu Abschn. 9.2.1.3), in etwa die Waage. Es besteht aber eine leichte Tendenz in Richtung eines sprunghaft-ideenreichen Vorgehens.

  • Mit Blick auf die Reflexionsphase ist festzuhalten, dass die Erstklässler*innen deutlich häufiger die Kreativitätstypen 3 und 4 zeigten (gerundet 78 %) als die Kreativitätstypen 1 und 2 (gerundet 22 %). Vor dem Hintergrund des InMaKreS-Modells bedeutet dies, dass sich die kreativen Aufgabenbearbeitungen der Erstklässler*innen in der Reflexionsphase vor allem in Bezug auf deren kreativen Verhaltensweisen, d. h. ihre Fähigkeit der Originalität und dabei insbesondere den Aspekt der Veränderung des Vorgehens (vgl. dazu Abschn. 9.2.2.1), unterscheiden.

    1. o

      Bei acht der insgesamt 36 Aufgabenbearbeitungen (gerundet 22 %) blieben die Erstklässler*innen in der Reflexionsphase bei ihrer kreativen Vorgehensweise, zeigten also die Kreativitätstypen 1 und 2. Dabei war auffällig, dass sich keine einzige Bearbeitung der arithmetisch offenen Aufgaben im Datenset fand, bei der die Erstklässler*innen bei ihrer Vorgehensweise blieben und gleichzeitig ihre Produktion in der Reflexionsphase stark erweiterten (Kreativitätstypen 1a und 2a). Dagegen wurden jeweils vier Aufgabenbearbeitungen den Kreativitätstypen 1b und 2b zugeordnet, bei denen die Lernenden ihre Produktion in der Reflexionsphase schwach ausbauten. Für die kreativen Verhaltensweisen (vgl. dazu Abschn. 9.2.2) der Erstklässler*innen, d. h. den Ausdruck ihrer divergenten Fähigkeit der Originalität, kann Folgendes geschlussfolgert werden: Wenn die Lernenden ihre kreative Vorgehensweise von der Produktions- zur Reflexionsphase nicht verändern, geht dies mit einer geringen Erweiterung ihrer Produktion einher. In Bezug auf das InMaKreS-Modell bedeutet diese Erkenntnis, dass die divergenten Fähigkeiten Denkflüssigkeit und Flexibilität der Erstklässler*innen ihre Originalität in der Reflexionsphase beeinflussen: Zeigen die Kinder in beiden Phasen der Unterrichtsepisoden eine qualitativ betrachtet etwa gleichbleibende Denkflüssigkeit und Flexibilität, dann erweitern sie ihre Produktion im Sinne der Fähigkeit Originalität nur geringfügig. Inwiefern eine Verallgemeinerung dieser Aussage über die vorliegende Studie hinaus möglich ist, gilt kritisch durch weitere Studien zu prüfen.

    2. p

      Bei 28 der 36 Aufgabenbearbeitungen der Erstklässler*innen (gerundet 78 %) konnte analysiert werden, dass die Kinder ihre kreative Vorgehensweise, d. h. ihre Fähigkeiten Denkflüssigkeit und Flexibilität, veränderten und dabei ihre Produktion schwach bis stark erweiterten (Kreativitätstypen 3 und 4). Zeigten die Erstklässler*innen in der Produktionsphase ein geradlinig-ideenarmes Vorgehen und veränderten dieses in der Reflexionsphase zu einem sprunghaft-ideenreichen Vorgehen (Kreativitätstyp 3), dann geschah dies zumeist mit einer starken Erweiterung. Dadurch entfielen neun der 13 Aufgabenbearbeitungen dieses Kreativitätstyps auf den Typ 3a. Zeigten die Erstklässler*innen hingegen in der Produktionsphase eine sprunghaft-ideenreiche Vorgehensweise und veränderten diese in der Reflexionsphase zu einem geradlinig-ideenarmen Vorgehen (Kreativitätstyp 4), dann geschah dies überwiegend mit einer geringen Erweiterung der Produktion. So wurde bei zwölf von 15 Aufgabenbearbeitungen der Kreativitätstyp 4b analysiert, der damit insgesamt denjenigen Typen der individuellen mathematischen Kreativität mit der höchsten absoluten und relativen Häufigkeit darstellt (12 Bearbeitungen ≙ ∼33,5 %). In Bezug auf das InMaKreS-Modell bedeuten diese beiden konkreten Feststellungen, dass die Qualität im Originalitätsaspekt Veränderung des Vorgehens den zweiten Aspekt Erweiterung der Produktion dieser divergenten Fähigkeit als ein Merkmal der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen qualitativ beeinflusst: Wird die kreative Vorgehensweise, d. h. die Fähigkeiten Denkflüssigkeit und Flexibilität, qualitativ in Richtung eines sprunghaft-ideenreichen Vorgehens verändert, dann erweitern die Kinder ihre eigene Produktion stark. Umgekehrt führt eine Veränderung des Vorgehens hin zu einem geradlinig-ideenarmen Vorgehen zu einer nur geringfügigen Erweiterung der Denkflüssigkeit und Flexibilität im Kontext der Originalität der Kinder.

3.3 Mathematisch inhaltliche Analyse der Kreativitätstypen

„Inwiefern können die verschiedenen Typen der individuellen mathematischen Kreativität der Erstklässler*innen auf mathematischer Ebene beschrieben werden?“ (Abschn. 9.3)

Neben einer Charakterisierung der gebildeten Typen der individuellen mathematischen Kreativität auf Basis des InMaKreS-Modells (vgl. Abschn. 9.3.1) und einer Analyse der statistischen Zuordnung der Aufgabenbearbeitungen zu ebendiesen Kreativitätstypen (vgl. Abschn. 9.3.2) ist auch die mathematisch inhaltliche Analyse der Bearbeitungsprozesse der Erstklässler*innen von Bedeutung. Dadurch können die verschiedenen Kreativitätstypen um Erkenntnisse auf arithmetischer Ebene ergänzt werden, weshalb die einleitend zu diesem Abschnitt dargestellte untergeordnete Forschungsfrage formuliert wurde. Die Beantwortung dieser ermöglicht für die Praxis des Mathematikunterrichts bedeutsame Rückschlüsse auf die unterschiedlichen kreativen Bearbeitungsweisen arithmetisch offener Aufgaben zu ziehen.

Auf mathematisch inhaltlicher Ebene wurde auf die verschiedenen arithmetischen Ideentypen (vgl. ausführlich Abschn. 9.1.1) zurückgegriffen, die von den Erstklässler*innen zur Erklärung ihrer Produktion von Zahlensätzen zu den beiden arithmetisch offenen Aufgaben A1 [Zahl 4] und A2 [Ergebnis 12] gezeigt wurden. Diese induktiv kategorisierten Zahl-, Term- und Aufgabenbeziehungen bildeten die Grundlage für die Charakterisierung und Typisierung der individuellen mathematischen Kreativität und sollten nun rekursiv zu einer Spezifizierung der Kreativitätstypen genutzt werden. Es galt daher zu analysieren, inwiefern sich die verschiedenen kindlichen Aufgabenbearbeitung eines jeden Kreativitätstyps in Bezug auf die von den Erstklässler*innen in Produktions- und Reflexionsphase gezeigten arithmetischen Ideentypen ähnelten oder unterschieden: Geht bspw. ein geradlinig-ideenarmes Vorgehen (Kreativitätstypen 1 und 3) mit dem häufigen Zeigen muster-bildender Ideen im Sinne wachsender Zahlenmuster einher? Zeigen Erstklässler*innen, wenn sie ihr Vorgehen in der Reflexionsphase von geradlinig-ideenarm zu sprunghaft-ideenreich verändern (Kreativitätstyp 3), häufiger frei-assoziierte oder struktur-nutzende Ideen? Welche Kreativitätstypen zeigen in einer der beiden Phasen hauptsächlich klassifizierende Ideen?

Um diese (und weitere) Frage beantworten zu können, sollten für jede Aufgabenbearbeitung anhand der individuellen Kreativitätsschemata der Erstklässler*innen (vgl. dazu Abschn. 9.1) diejenigen arithmetischen Ideentypen bestimmt werden, welche die Produktions- und die Reflexionsphase prägten. Um diese analysieren zu können, mussten zwei Aspekte gleichermaßen berücksichtigt werden: Zum einen war entscheidend, in welchem der vier arithmetischen Ideentypen (frei-assoziierte, struktur-nutzende, muster-bildende oder klassifizierende Ideen) das Kind die meisten verschiedenen Subkategorien zeigte, also eine besonders große Variation innerhalb eines Ideentyps aufwies. Zum anderen sollte berücksichtigt werden, welcher der vier arithmetischen Ideentypen im Vergleich zur Anzahl aller Ideen in einer Phase besonders häufig von den Erstklässler*innen gezeigt wurde und daher mit Präferenz vertreten war. Durch die systematische Kombination dieser beiden Aspekte konnte ermittelt werden, welcher der vier arithmetischen Ideentypen eine bestimmte Phase der Unterrichtsepisoden dominierte.

Um die Variation der vier arithmetischen Ideentypen in den beiden Phasen einzeln darzustellen, wurde die Anzahl der verschiedenen Subkategorien in den vier arithmetischen Ideentypen ausgezählt: \({V}_{Ideentyp\_Phase}=Anzahl\,Subkategorien\,dieses\,Ideentyps\)Footnote 4. Pro individuellem Kreativitätsschema und Unterrichtsphase (Produktion und Reflexion) wurden daher vier Variationswerte angegeben. Der höchste dieser Werte gibt denjenigen arithmetischen Ideentyp an, in dem das Kind die höchste Variation bei der Bearbeitung der arithmetisch offenen Aufgabe vornahm. Mit Rückbezug auf das InMaKreS-Modell differenziert die hier ermittelte Varianz den Aspekt der Diversität der divergenten Fähigkeit Flexibilität weiter aus. Bei diesem wird die Anzahl aller Subkategorien unabhängig der Zuordnung zu den vier Hauptkategorien betrachtet (vgl. Abschn. 9.2.1.2). Die Varianz fokussiert aber im Speziellen auf die verschiedenen Subkategorien innerhalb der vier arithmetischen Ideentypen.

Die Präferenz sollte zusätzlich zur Variation angeben, welcher arithmetischer Ideentyp innerhalb der kreativen Aufgabenbearbeitung der Erstklässler*innen in den beiden Phasen verhältnismäßig den größten Anteil einnahm. Daher eignete sich eine Betrachtung der Anzahl an Ideen in den vier Hauptkategorien der arithmetischen Ideentypen in Relation zur Gesamtanzahl gezeigter Ideen. Die folgende Formel für die Präferenz wurde dabei für jeden der vier Ideentypen und für die Produktions- und Reflexionsphase separat angewendet: \({P}_{Ideentyp\_Phase}=\frac{Anzahl\,an\,Ideen\,mit\,diesem\,Ideentyp}{Anzahl\,aller\,Ideen\,in\,dieser\,Phase}\). Dadurch weist die Präferenz Parallelen zur Komposition als zweiter Aspekt der kindlichen Flexibilität auf, die angibt, wie lange die Kinder die chronologisch gezeigten arithmetischen Ideentypen verfolgten (vgl. ausführlich Abschn. 9.2.1.2). Bei der Präferenz wird jedoch eine stärkere Fokussierung auf die einzelnen arithmetischen Ideentypen und weniger auf die Chronizität sowie dabei entstehende Ideenwechseln gelegt. Deshalb gibt sie an, welcher Ideentyp von den Erstklässler*innen präferiert gezeigt wurde.

Durch die Ermittlung der einzelnen Werte für die Variation und Präferenz entstand für alle 36 individuellen Kreativitätsschemata eine solche nachfolgende Tabelle 9.16 wie sie hier für den Erstklässler Lars und seine Bearbeitung der zweiten arithmetisch offenen Aufgabe (vgl. Abb. 9.15) exemplarisch dargestellt wird.

Tab. 9.16 Berechnung der Variation und Präferenz der vier arithmetischen Ideentypen am Beispiel von Lars IKS

Beide Aspekte, die Variation und die Präferenz, sollten gleichermaßen berücksichtigt werden, um denjenigen arithmetischen Ideentypen für jede Unterrichtsphase zu bestimmen, der diese Phase prägte. Deshalb fand eine systematische Kombination der beiden Konstrukte statt. Dazu wurden pro arithmetischem Ideentyp und Phase die Werte für die Variation und die Präferenz miteinander multipliziert, sodass sich Gesamtwerte ergaben: \(Ideenty{p}_{Phase}= P\cdot V\). Bezogen auf die erläuterten Parallelen zwischen der Variation und der Diversität sowie zwischen der Präferenz und der Komposition spiegelt dieses Produkt die Fähigkeit der Flexibilität der Erstklässler*innen auf mathematisch inhaltlicher Ebene wider. Für den Erstklässler Lars sind die berechneten Werte in der nachfolgenden Tabelle 9.17 zu sehen, wobei die jeweils höchsten Werte in der Produktions- und Reflexionsphase fett erscheinen.

Tab. 9.17 Berechnung der prägenden arithmetischen Ideentypen am Beispiel von Lars IKS

Wie der obigen Tabelle 9.17 entnommen werden kann, war der prägende arithmetische Ideentyp für die Bearbeitung der zweiten arithmetisch offenen Aufgabe des Erstklässlers Lars sowohl in der Produktions- als auch in der Reflexionsphase die frei-assoziierten Ideen. Dieses Ergebnis deckt sich auch mit dem optischen Eindruck aus dem dazugehörigen individuellen Kreativitätsschema (vgl. Abb. 9.15) des Lernenden, da dieser in beiden Unterrichtsphasen am häufigsten aber auch am variationsreichsten frei-assoziierte Ideen zeigte. Für ihn wurde daher die Aufgabenbearbeitung in Bezug auf die prägenden arithmetischen Ideentypen durch das Kürzel ass-ass gekennzeichnet. Diese für alle Aufgabenbearbeitungen vergebenen Kürzel geben in chronologischer Reihenfolge die beiden bestimmenden arithmetischen Ideentypen in der Produktions- und Reflexionsphase der Aufgabenbearbeitung an

Abb. 9.15
figure 15

Individuelles Kreativitätsschema Lars A2

Auf die zuvor erläuterte Art und Weise wurden alle 36 Aufgabenbearbeitungen analysiert, sodass als Ergebnis die folgende Übersicht entstehen konnte (vgl. Tab. 9.18). In dieser wurden den verschiedenen Typen der individuellen mathematischen Kreativität in Form der beschriebenen Kürzel die das individuelle Kreativitätsschema prägenden arithmetischen Ideentypen zugeordnet, wodurch ein schneller Überblick und Vergleich ermöglicht wurde.

Tab. 9.18 Übersicht prägende arithmetische Ideentypen pro Kreativitätstypen

Auf Basis dieser Tabelle 9.18 konnte nun eine mathematisch inhaltliche Analyse der Kreativitätstypen vorgenommen werden, die folgende Schlüsse zuließ:

  • In den Produktionsphasen der Aufgabenbearbeitungen, in denen die Erstklässler*innen ihre Denkflüssigkeit und Flexibilität zeigen konnten, dominierten mit 27 von 36 Aufgabenbearbeitungen bei allen Kreativitätstypen die frei-assoziierten Ideen. Dabei zeigte sich ein Unterschied bei den beiden kreativen Vorgehensweisen: Während bei nur zehn der 17 Bearbeitungen (gerundet 59 %) mit einem geradlinig-ideenarmen Vorgehen (Kreativitätstyp 1 und 3) die frei-assoziierten Ideen die Produktionsphase prägten, war dies bei 17 von 19 Bearbeitungen (gerundet 90 %) mit einem sprunghaft-ideenreichen Vorgehen (Kreativitätstypen 2 und 4) der Fall. Aus diesen Daten konnte die Schlussfolgerung gezogen werden, dass ein sprunghaft-ideenreiches Vorgehen auf mathematischer Ebene vor allem mit dem Zeigen verschiedenster frei-assoziierter Ideentypen einherging. Beim geradlinig-ideenarmen Vorgehen in der Produktionsphase dominierten vor allem die Subkategorie der wachsenden Musterfolge bei den muster-bildenden Ideen oder die Subkategorie der Nachbaraufgaben bei den struktur-nutzenden Ideen. Diese Ideentypen wurden aufgrund ihrer Fortführbarkeit eher lange verfolgt und seltener durch andere arithmetische Ideentypen abgewechselt.

  • In den Reflexionsphasen der Unterrichtsepisoden, in denen die Erstklässler*innen ihre Originalität zeigen konnten, ergaben sich in Bezug auf die mathematische Analyse der prägenden arithmetischen Ideentypen deutliche Unterschiede in den Kreativitätstypen:

    1. o

      Bei einem geradlinigen Vorgehen über den gesamten Bearbeitungsprozess hinweg (Kreativitätstyp 1b) konnte keinerlei Tendenz in Richtung bestimmter mathematischer Besonderheiten identifiziert werden, da sich die vier Aufgabenbearbeitungen deutlich hinsichtlich der prägenden arithmetischen Ideentypen unterschieden. Bei dem Kreativitätstyp 2b hingegen waren drei der vier zugeordneten Aufgabenbearbeitungen durch die Ideentyp-Kombination ass-must geprägt. Die Erstklässler*innen zeigten demnach in der Produktionsphase ein sprunghaft-ideenreiches Vorgehen, dass von frei-assoziierten Ideen geprägt war. Blieben die Kinder bei ihrer Vorgehensweise in der Reflexionsphase, dann verlagerte sich der prägende arithmetische Ideentyp in der Reflexionsphase auf die muster-bildenden Ideen.

    2. p

      Eine Veränderung in der Vorgehensweise von der Produktions- zur Reflexionsphase (Kreativitätstyp 3 und 4) führte bei vielen Aufgabenbearbeitungen dazu, dass in der Reflexionsphase vor allem struktur-nutzende, muster-bildende oder klassifizierende Ideen gezeigt wurden.

      Unter den neun Aufgabenbearbeitungen, die dem Kreativitätstyp 3a zugeordnet wurden, finden sich insgesamt sechs, die in mindestens einer Phase durch struktur-nutzende Ideen geprägt sind. Diese starke Häufung an struktur-nutzenden Ideen lässt sich in keiner der anderen Kreativitätstypen so finden. Das bedeutet, dass die Veränderung von einem zunächst geradlinig-ideenarmen Vorgehen hin zu einem sprunghaft-ideenreichen Vorgehen das Zeigen struktur-nutzender Ideen in der Reflexionsphase begünstigte. Dabei zeigten diese Kinder eine starke Erweiterung ihrer Denkflüssigkeit und Flexibilität. Ist Letzteres wie beim Kreativitätstyp 3b nicht der Fall, dann wurden verstärkt muster-bildende Ideen in beiden Phasen der Aufgabenbearbeitung gezeigt.

      Zwölf der 15 Bearbeitungen arithmetisch offener Aufgaben, die dem Kreativitätstyp 4 zugeordnet wurden, zeigten auf mathematischer Ebene einen Wechsel in dem präferierten Ideentyp von frei-assoziierten Ideen zu muster-bildenden oder zu struktur-nutzenden Ideen. Diese Beobachtung bedeutet, dass die Erstklässler*innen in einem sprunghaft-ideenreichen Vorgehen in der Produktionsphase verschiedenste arithmetische Ideentypen ausprobierten und dann in der Reflexionsphase besonders arithmetische Muster oder Strukturen fokussierten. Bei diesen Kindern fand aber insgesamt eine nur geringe Erweiterung ihrer Produktion statt. Deshalb kann davon ausgegangen werden, dass die Erstklässler*innen in der Reflexionsphase vor allem die bereits zuvor produzierten Zahlensätze ansprachen, durch ausgesuchte Zahl-, Term- und Aufgabenbeziehungen neu miteinander in Verbindung setzten und auf diese Weise weitere Ideen sowie arithmetische Ideentypen zeigten.

3.4 Zusammenfassung

Dieser Abschnitt 9.3 der Ergebnisdarstellung der vorliegenden Studie zur individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen verfolgte das Ziel, das erste qualitativ orientierte Forschungsziel und dabei insbesondere die zweite Forschungsfrage zu beantworten (vgl. Abschn. 5.2):

F2:

Inwiefern lassen sich verschiedene Typen der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen ableiten?

Ausgehend von der Charakterisierung der kindlichen Kreativität wurden Typen der individuellen mathematischen Kreativität gebildet (vgl. Abschn. 9.3). Durch eine systematische Kreuzung der entwickelten kreativen Vorgehens- und Verhaltensweisen konnten vier verschiedene Kreativitätstypen erarbeitet werden, die jeweils zwei verschiedene Ausprägungen, nämlich starke oder schwache Erweiterung der Produktion in der Reflexionsphase, annehmen konnten (vgl. Tab. 9.14). Alle Typen der individuellen mathematischen Kreativität wurden anhand repräsentativer Fälle charakterisiert und bezeichnet (vgl. Abschn. 9.3.1):

Kreativitätytyp 1: :

geradlinig-ideenarmes Vorgehen im gesamten Bearbeitungsprozess mit a) starker oder b) schwacher Erweiterung

Kreativitätytyp 2: :

sprunghaft-ideenreiches Vorgehen im gesamten Bearbeitungsprozess mit a) starker oder b) schwacher Erweiterung

Kreativitätytyp 3: :

Veränderung des zunächst geradlinig-ideenarmen Vorgehens in der Reflexion mit a) starker oder b) schwacher Erweiterung

Kreativitätytyp 4: :

Veränderung des zunächst sprunghaft-ideenreichen Vorgehens in der Reflexion mit a) starker oder b) schwacher Erweiterung

Auf Basis einer Betrachtung der Zuordnung der 36 kreativen Aufgabenbearbeitungen zu den gebildeten Kreativitätstypen (vgl. Abschn. 9.3.2) konnte zudem geschlussfolgert werden, dass ein nahezu ausgewogenes Verhältnis zwischen dem geradlinig-ideenarmen (gerundet 47 %) und dem sprunghaft-ideenreichen Vorgehen (gerundet 53 %) in der Produktionsphase vorlag. Erstklässler*innen, die ihr Vorgehen auch in der Reflexionsphase beibehielten, erweiterten ihre Produktion durch weitere Ideen(typen) ausschließlich geringfügig (Kreativitätstypen 1b und 2b). 28 der 36 Aufgabenbearbeitungen (gerundet 78 %) zeigten jedoch eine Veränderung im Vorgehen von der Produktions- zur Reflexionsphase: Zeigen die Erstklässler*innen zunächst ein geradlinig-ideenarmes Vorgehen und verändern dieses in Richtung eines sprunghaft-ideenreichen Vorgehens, dann erweitern sie ihre Produktion häufig stark (Kreativitätstyp 3a). Umgekehrt verhält es sich bei einem Wechsel von einer sprunghaft-ideenreichen zu einer geradlinig-ideenarmen Vorgehensweise, der überwiegend durch eine schwache Erweiterung der Denkflüssigkeit und Flexibilität in der Reflexionsphase begleitet wird (Kreativitätstyp 4b).

Als letztes wurde eine mathematisch inhaltliche Analyse der Kreativitätstypen in Bezug auf die beiden arithmetischen Ideentypen, welche die Produktions- und Reflexionsphase der Aufgabenbearbeitungen prägten, vorgenommen (vgl. Abschn. 9.3.3). Durch eine Analyse der individuellen Kreativitätsschemata hinsichtlich der von den Kindern am häufigsten und zugleich am variationsreichsten gezeigten arithmetischen Ideentypen entstanden mathematische Charakterisierungen der Aufgabenbearbeitungen (vgl. Tab. 9.15). Diese wurden mit Blick auf die gebildeten Kreativitätstypen analysiert, um diese auf einer mathematischen Ebene weiter zu charakterisieren. Daraus ergab sich, dass die meisten Bearbeitungen (75 %), vor allem aber diejenigen mit einem sprunghaft-ideenreichen Vorgehen, in der Produktionsphase von frei-assoziierten Ideen geprägt sind. Zudem wurde festgestellt, dass wenn die Erstklässler*innen ihre Vorgehensweise von der Produktions- zur Reflexionsphase verändern (Kreativitätstypen 3 und 4), in der Reflexionsphase vermehrt muster-bildende und struktur-nutzende Ideen prägend sind.