“A tenet of mixed methods research is that researchers should mindfully create designs that effectively answer their research questions.“ (Johnson & Onwuegbuzie, 2004, S. 20)

Um in dieser Studie die individuelle mathematische Kreativität von Erstklässler*innen durch empirische mathematikdidaktische Forschung genauer zu beschreiben, wurde sich bei der Konzipierung einer Studie den Ausführungen des vorangegangenen Kapitels 6 entsprechend an die Teaching Experiment-Methodologie angelehnt (vgl. insbesondere Abb. 6.2). Dementsprechend lag der Schwerpunkt auf der Durchführung von Unterrichtsepisoden, in denen – durch ein Sampling-Verfahren ausgewählte – Erstklässler*innen ihre individuelle mathematische Kreativität beim Bearbeiten arithmetisch offener Aufgaben zeigen sollten. Auf diese Weise war es möglich, die fünf unterschiedlichen Forschungsfragen zu beantworten (vgl. Abschn. 5.2), die sich vor allem durch eine große Vielfalt bzgl. ihres Erkenntnisinteresses auszeichneten (vgl. für die kursiven Begriffe im Folgenden Döring & Bortz, 2016, S. 192–193): Im Vordergrund steht vor allem eine qualitative Beschreibung der individuellen mathematischen Kreativität ausgewählter Erstklässler*innen auf Basis des von mir entwickelten InMaKreS-Modells, das für die Gestaltung der Unterrichtsepisoden, in denen die Schüler*innen arithmetisch offenen Aufgaben bearbeiten sollten, strukturgebend war. Da bislang erst vereinzelte mathematikdidaktische Ergebnisse zu diesem Forschungsgegenstand veröffentlicht wurden (vgl. Abschn. 5.1), sind die ersten beiden Forschungsfragen insbesondere explorativer/theoriebildender Natur. Diese Art des Erkenntnisinteresses gilt ebenso für die dritte und vierte Forschungsfrage, die verschiedene Aspekte der Unterrichtsepisoden fokussieren, um eine geeignete kreative Umgebung im Mathematikunterricht für das Anregen der individuellen mathematischen Kreativität im Mathematikunterricht genauer zu beschreiben. Die fünfte Forschungsfrage basiert auf der theoretischen Annahme, dass bestimmte Zusammenhänge zwischen den intellektuellen sowie mathematischen Fähigkeiten von Schüler*innen und ihrer individuellen mathematischen Kreativität bestehen könnten, die in der vorliegenden Studie überprüft werden sollten (vgl. Abschn. 2.3.3.2). Damit ist die letzte Forschungsfrage vor allem explorativ/hypothesentestend, aber auch in einem gewissen Maß deskriptiv orientiert, da die Auswirkung einzelne Merkmale von Schulkindern auf ihrer individuellen mathematischen Kreativität untersucht wird.

Mit Blick auf diese unterschiedlichen Facetten der zu beantwortenden Forschungsfragen schien es notwendig und zielführend, verschiedene Methoden für die umfangeiche Auswertung der durchgeführten Unterrichtsepisoden zu verwenden. Bei der Auswertung der qualitativen Daten sollten so, je nach zu untersuchendem Aspekt, flexibel geeignete quantitative und qualitative Auswertungsmethoden eingesetzt und die Ergebnisse beider Methoden aufeinander bezogen werden können (Kuckartz, 2014a, S. 101). Mit Blick auf das Eingangszitat von Johnson und Onwuegbuzie (2004) soll daher das Ziel dieses Kapitels sein, ein Forschungsdesign zu entwerfen, das eine umfangreiche Untersuchung und Beantwortung der Forschungsfragen zur individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen ermöglicht.

In der Literatur lässt sich jedoch weder eine einheitliche Bezeichnung noch eine klare Definition für die Art von Forschungsprojekten finden, bei denen qualitative und quantitative Methoden integriert werden, um einen Forschungsgegenstand umfassend zu untersuchen (vgl. Schreier & Odag, 2010, S. 265). Neben Bezeichnungen wie “multitrait-multimethod, mono- und multimethods, multiple methods, blended research, integrative research, Triangulation, Mixed Methods, quasi Mixed Methods, mixed research, hybrids” (Schreier & Odag, 2010, S. 265) wird jedoch der Begriff Mixed Methods am häufigsten verwendet und soll daher auch im Rahmen dieser methodischen Ausführungen genutzt werden. Johnson und Onwuegbuzie (2004) verweisen zudem darauf, dass in der methodischen Diskussion zwar diverse Ansätze und Kategorisierungen zur Beschreibung von Mixed Methods-Designs vorliegen, dass alle Forschenden aber bei der Planung von Mixed Methods-Studien die Freiheit besitzen, „to be creative and not be limited by the designs listed in this [or other] article[s]“ (S. 20).

Unter dem Obergriff der Mixed Methods wurde in der methodischen Literatur bis in die frühen 2000er Jahre zwei Studientypen unterschieden, die zwar heutzutage beide als Mixed Methods-Designs verstanden werden (vgl. Kuckartz, 2014a, S. 70), dennoch bedeutsame Fokussierungen bei der Kombination quantitativer und qualitativer Methoden beinhalten:

  1. 1.

    Unter Mixed MethodFootnote 1 wird primär verstanden, dass „die Forschenden im Rahmen von ein- oder mehrphasig angelegten Designs sowohl qualitative als auch quantitative Daten sammeln“ (Kuckartz, 2014a, S. 33). Das bedeutet, dass sich die Integration verschiedener Methoden bei Mixed Method-Studien auf die Durchführung mehrerer unterschiedlich ausgerichteter Teilstudien bezieht. Dabei leisten die qualitativen und quantitativen Teilstudien einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung des gewählten Forschungsgegenstands, da deren Ergebnisse systematisch aufeinander bezogen werden (vgl. Teddlie & Tashakkori, 2003, S. 11). Die verschiedenen möglichen Mixed Method-Designs ergeben sich aus einer Kombination zweier wesentlicher Aspekte, nämlich der zeitlichen Abfolge der verschiedenen Methoden als auch deren Gewichtung: Die zeitliche Abfolge kann sowohl sequenziell orientiert sein als auch beide Methoden gleichzeitig genutzt werden. Ebenso kann die Gewichtung beider Methoden entweder gleichwertig sein oder es wird ein Schwerpunkt gesetzt (vgl. Morse, 1991, S. 122, Tab. 1; adaptiert u. a. von Johnson & Onwuegbuzie, 2004, S. 20–22, Abb. 2). Dabei ist die Wahl des Designs anhängig von der Motivation der Studie. In Anlehnung an die Ausführungen von Greene, Caracelli & Graham (1989, S. 259) und Greene (2007, S. 98–104) zielt die Triangulation auf eine Kombination quantitativer und qualitativer Teilstudien für eine wechselseitige Validierung der Forschungsergebnisse. Bei der Komplementarität wird dagegen die Ko-Konstituierung eines Forschungsgegenstandes durch beide Perspektiven (quantitativ und qualitativ) erreicht. Die Funktion der Entwicklung ermöglicht eine Vertiefung von Ergebnissen durch verschiedene, zeitlich aufeinander folgende (sequenzielle) und methodisch unterschiedliche Teilstudien. Die Initiierung wird dann genutzt, wenn eine bewusste Suche nach Divergenz zu einem Forschungsgegenstand angestrebt wird. Wird zuletzt eine Expansion angestrebt, dann werden durch verschiedene Ansätze simultan unterschiedliche Phänomene des gleichen Forschungsgegenstands untersucht.

  2. 2.

    Der Integration verschiedener Methoden aus dem quantitativen und qualitativen Forschungsparadigmen in einzelnen „stages of the research process“ (Johnson & Onwuegbuzie, 2004, S. 20, Hervorh. im Original) wird durch die Bezeichnung des Mixed Model (etwa Johnson & Onwuegbuzie, 2004, S. 20; Teddlie & Tashakkori, 2010, S. 23–25) begegnet. Diese Designform wird in der heutigen Methodendiskussion nicht mehr als gegensätzlich zum oben dargestellten Mixed Method verstanden, sondern als untergeordnete, spezielle Form von Mixed Methods-Designs (vgl. Kuckartz, 2014a, S. 70–71, 101–102; Teddlie & Tashakkori, 2003, S. 11). Durch den Begriff des Mixed Model wird insbesondere die sogenannte Binnendifferenzierung einer Studie über ihre verschiedenen Forschungsphasen berücksichtigt und nicht mehr davon ausgegangen, dass es sich bei Mixed Methods-Studien um die Kombination abgeschlossener, qualitativer und quantitativer Teilstudien handeln muss (Kuckartz, 2014a, S. 70). Unter diesen nacheinander ablaufenden Phasen im Forschungsprozess verstehen Johnson und Onwuegbuzie (2004, S. 21, figure 1) die Research Objective(s) (zu Deutsch: Forschungsziele), die Data Collection (zu Deutsch: Datenerhebung) und die Analysis (zu Deutsch: Datenauswertung). Kuckartz (2014a, S. 70) konkretisiert die erste Phase durch den Begriff der Planung, unter den dann nicht nur die Forschungsziele, sondern auch Aspekte wie die Stichprobenziehung fallen, und ergänzt zudem noch als vierte Phase die Interpretation und Bewertung der Ergebnisse. Dabei kann die Kombination quantitativer und qualitativer Methoden bei Mixed Model-Designs entweder über die verschiedenen Phasen hinweg stattfinden (across-stage mixed-model design), sodass etwa ein qualitatives Forschungsziel über eine quantitative Datenerhebung qualitativ ausgewertet und interpretiert wird. Die Integration verschiedener Methoden kann aber auch innerhalb einer Phase des Forschungsprozesses stattfinden (within-stage mixed-model designs), sodass bspw. qualitative Daten mit Hilfe qualitativer und quantitativer Methoden ausgewertet werden können (vgl. Johnson & Onwuegbuzie, 2004, S. 20).

Mit Blick auf die vorherigen Ausführungen wurde für die vorliegenden Arbeit zur individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen eine Mixed Methods-Studie geplant und durchgeführt, bei der – im Sinne des within-stage mixed model designs – während der zentralen Phase der Datenauswertung sowohl qualitative als auch quantitative Methoden zur Analyse der aus den Unterrichtsepisoden gewonnenen qualitativen Daten zur Anwendung kommen sollten.

Zudem wurde aus den Ausführungen zur Teaching Experiment-Methodologie in Abschnitt 6.2 deutlich, dass bei dieser Studie ein zielgerichtetes Sampling-Verfahren durchgeführt werden sollte. Dieses verfolgte das Ziel, über klar definierte Kriterien (vgl. Teddlie & Yu, 2007, S. 82–83), die aus der Theorie zur individuellen mathematischen Kreativität (vgl. Teil I) abgeleitet werden sollten, Erstklässler*innen für die Teilnahme an den Unterrichtsepisoden auszuwählen. Durch ein solches quantitativ orientiertes selektives Sampling (Kelle & Kluge, 2010, S. 50–55) konnten dann die ausgewählten Erstklässler*innen repräsentativ für die Diversität des Grundsamples und damit einer ersten Klasse stehen (vgl. Onwuegbuzie & Leech, 2007, S. 246–248). Durch dieses Vorgehen in der Stichprobenziehung wurde die vorliegende Studie insbesondere dem Anspruch der Teaching Experiment-Methodologie gerecht, eine gewisse Generalisierbarkeit der analysierten individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen zu erreichen. Das Sampling-Verfahren lässt sich mittels der Begriffe von Kuckartz (2014a) der Forschungsphase der Planung zuordnen. Während sich also die Datenerhebung (Durchführung von Unterrichtsepisoden) einer qualitativen Methode bediente und die Datenauswertung sowie -interpretation aus der Kombination von qualitativen und quantitativen Methoden bestand, wurde das Sampling-Verfahren mit quantitativen Methoden verwirklicht. Dadurch ergab sich bei meiner Mixed Methods-Studie mit Blick auf den Einsatz verschiedener Forschungsmethoden auch über die unterschiedlichen Phasen des Forschungsprozesses hinweg eine Kombination qualitativer und quantitativer Methoden (across-stage mixed-model design). Das in dieser Studie zur individuellen mathematischen Kreativität verwendete Mixed Methods-Design veranschaulicht die nachfolgende Abbildung 7.1.

Abb. 7.1
figure 1

Mixed Methods-Design in dieser Studie zur individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen

Aus den vorherigen Erläuterungen zum Mixed Methods-Design der vorliegenden Studie sollen nun die wesentlichsten Erkenntnisse zusammengefasst und in die Grafik zum Studiendesign (vgl. Abb. 6.2) integriert werden:

  • Da diese Mixed Methods-Studie über die fünf formulierten Forschungsfragen eine deskriptive, explorative und hypothesentestende Forschung zur individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen beim Bearbeiten arithmetisch offener Aufgaben anstrebt, wurde sich für ein Mixed Methods-Design entschieden. Dabei setzte sich die vorliegende Studie nicht aus mehreren qualitativ und/oder quantitativ ausgerichteten und in sich abgeschlossenen Teilstudie zusammen, sondern die Kombination sowie Integration qualitativer und quantitativer Methoden fand innerhalb der verschiedenen Phasen des Forschungsprozesses (Planung, Datenerhebung, Datenauswertung, Dateninterpretation) statt (vgl. Abb. 7.1).

    1. Es wurde mit Hilfe quantitativer Methoden ein Sampling- Verfahren durchgeführt, um anhand theoriebasierter Kriterien im Sinne eines selektiven Samplings Erstklässler*innen für die Teilnahme an den Unterrichtsepisoden auszuwählen. Dadurch konnte insbesondere die fünfte Forschungsfrage zum Zusammenhang der individuellen Voraussetzungen der Erstklässler*innen und deren individueller mathematischer Kreativität untersucht werden. Im Sinne eines across-stage mixed model designs (Johnson & Onwuegbuzie, 2004, S. 20) wurden demnach für die sequenziell aufeinander folgenden Phasen im Forschungsprozess unterschiedliche Methoden genutzt.

    2. Zudem wurden im Sinne eines within-stage mixed model designs (Johnson & Onwuegbuzie, 2004, S. 20) eine Integration qualitativer und quantitativer Methoden zur Auswertung der qualitativen Daten aus den durchgeführten Unterrichtsepisoden genutzt.

In der nachfolgenden Abbildung 7.2 werden die grundlegenden methodischen Entscheidungen dieser Studie veranschaulicht. Anschließend werden dann die einzelnen methodischen Aspekte des quantitativen Sampling-Verfahrens (vgl. Abschn. 7.1), der qualitativen Datenerhebung aus dem Jahr 2019 (vgl. Abschn. 7.2) und der gemischt qualitativ und quantitativen Datenauswertung und -interpretation (vgl. Abschn. 7.3) dargestellt.

Abb. 7.2
figure 2

Studiendesign mit Erweiterung durch die Mixed Methods-Studie

1 Quantitatives Sampling-Verfahren

“In fact, we would argue that sampling is an especially important component of the research process because […], if the sampling design is inappropriate, then any subsequent interpretations will […].” (Onwuegbuzie & Collins, 2017, S. 135)

Die ausführliche sowie gezielte Planung des Sampling-Verfahrens erfüllte in dieser Mixed Methods-Studie zur individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen zwei Funktionen, aus denen sich die einzelnen methodischen Entscheidungen ableiten lassen, die in den nachfolgenden Ausführungen detailliert dargestellt werden sollen.

Das Sampling-Verfahren diente primär zur kriteriengeleiteten Auswahl von Erstklässler*innen, die an den Unterrichtsepisoden teilnehmen sollten, bei denen sie ihre individuelle mathematische Kreativität beim Bearbeiten arithmetisch offener Aufgaben zeigen konnten (vgl. Abb. 7.2). Im Sinne eines selektiven Samplings nach Kelle und Kluge (2010, S. 50) wurden die Kriterien auf Grundlage der vorangegangenen Theorie zur individuellen mathematischen Kreativität von Schulkindern (vgl. Kap. 2) sowie dem aktuellen Forschungsstand zur mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen (vgl. Abschn. 5.1) gebildet und beziehen sich daher auf die individuellen Voraussetzungen der Schüler*innen. Dabei konnten die verschiedenen Kriterien für die Zusammensetzung eines geeigneten Samples gewichtet und in eine Reihenfolge gebracht werden, die auch für die Darstellungen in diesem Abschnitt strukturgebend ist: So wurden als erstes Kriterium zunächst die den Mathematikunterricht strukturierenden Lehrwerke als unterrichtliche Voraussetzungen der Kinder gewählt, worüber sich eine Auswahl von Grundschulen und damit auch teilnehmender Erstklässler*innen für die vorliegende Studie ergab (vgl. Abschn. 7.1.1). Aus diesem Grundsample wurden dann über die beiden Kriterien der mathematischen Basisfertigkeiten und der intellektuellen Grundfähigkeiten gezielt Erstklässler*innen ausgewählt (Subsample), die repräsentativ für das Grundsample und damit auch für die Diversität einer ersten Klasse stehen konnten (vgl. Abschn. 7.1.2).

Die kriterien- sowie theoriegeleitete Auswahl von Erstklässler*innen (vgl. Abschn. 7.1.2.3) bildet die Basis für eine weiterführende Analyse der Ergebnisse aus der Studie zur individuellen mathematischen Kreativität der Erstklässler*innen, da so ein möglicher Zusammenhang zwischen den intellektuellen, mathematischen und unterrichtlichen Voraussetzungen der Schüler*innen und deren individueller mathematischer Kreativität untersucht werden kann (vgl. Abschn. 7.3.2).

1.1 Unterrichtliche Voraussetzungen der Erstklässler*innen

„Instead of sampling individual units, which might be geographically spread over great distances, the researcher samples groups (clusters) that occur naturally in the population, such as neighborhoods or schools or hospitals.” (Teddlie & Yu, 2007, S. 79)

Da zunächst eine Gruppe von Individuen ausgewählt werden sollte, die so natürlicher Weise in der gesamten Population an Schüler*innen der ersten Klasse vorkommt, wurde an dieser Stelle des Sampling-Verfahrens ein Cluster Sampling (Teddlie & Yu, 2007, S. 79) durchgeführt, das durch das Eingangszitat charakterisiert wird. So wurden zunächst alle Erstklässler*innen aus insgesamt fünf Klassen zweier städtischer Grundschulen angefragt, an dieser Studie zur individuellen mathematischen Kreativität teilzunehmen. Dabei wurden die nachfolgenden Merkmale zur Bildung eines Grundsamples berücksichtigt:

  • Als erstes Kriterium ist hier das von den Schulen verwendete Mathematiklehrwerk zu nennen, sofern der Mathematikunterricht durch die entsprechenden Bücher, Arbeitshefte und darin verwendeten Materialien vollständig strukturiert wurde. Durch ihre Studie konnten Sievert, van den Ham & Heinze (2021) deutlich zeigen, dass die Fähigkeiten von Erstklässler*innen, arithmetische Strukturen wie etwa Tauschaufgaben oder Umkehraufgaben (vgl. Abschn. 3.2.2.2) bei der Bearbeitung mathematischer Aufgaben zu nutzen, in einem signifikanten Zusammenhang zum verwendeten Lehrwerk stehen (vgl. Sievert et al., 2021, S. 10). Dabei konnten die Mathematikdidaktiker*innen aufzeigen, dass verschiedene Mathematiklehrwerke für die erste Klasse eine unterschiedliche Qualität in ihren Lernangeboten, bei denen die Kinder arithmetische Strukturen entdecken, verknüpfen, anwenden oder üben sollen, aufweisen (vgl. Sievert et al., 2021, S. 9). So zeigten Erstklässler*innen, die in ihrem Mathematikunterricht mit Lehrwerken von geringerer Qualität arbeiten, seltener arithmetische Strukturen und umgekehrt (vgl. Sievert et al., 2021, S. 10–11). Mit Blick auf den Einsatz arithmetisch offener Aufgaben zur Anregung der individuellen mathematischen Kreativität von Schüler*innen in dieser Studie scheint es aus diesen Forschungsergebnissen möglich und bedeutsam, das verwendete Lehrwerk als (eine) wichtige unterrichtliche Voraussetzung der Erstklässler*innen und damit als Sampling-Kriterium zu wählen.

Eine der beiden ausgewählten Schulen arbeitete im Mathematikunterricht aller Klassen lehrwerkstreu mit der Reihe Denken & Rechnen (Buschmeier et al., 2017b), während die andere Schule Welt der Zahl (Rinkens, Rottmann & Träger, 2015b) verwendete. In den teils nur knapp umschriebenen Konzeptionen beider Lehrwerke lässt sich hinsichtlich der grundlegenden fachdidaktischen Prinzipien wie einem konstruktivistischen Verständnis von Mathematiklernen, einer Kompetenzorientierung an den Bildungsstandards, einer bewussten Sprachförderung im Fachunterricht und Angeboten zur Differenzierung der inhaltlichen Anforderungen keine Unterschiede feststellen (vgl. Buschmeier et al., 2017a, S. 3–7; Rinkens, Rottmann & Träger, 2015a, S. 5–6). Während jedoch die Autor*innen des Lehrwerks Welt der Zahl 1 einen Schwerpunkt auf das entdeckende Lernen von mathematischen Mustern und Strukturen über verschiedene Aufgabenformate wie kreative und ergiebige Aufgaben, Aufgaben, die den Zahlenblick schärfen, oder Starke Aufgaben zum Erkennen von Gesetzmäßigkeiten und Fortsetzen von Aufgabenfolgen legen (vgl. Rinkens et al., 2015a, S. 5–6), wird im Lehrwerk Denken & Rechnen 1 der Schwerpunkt „mit wenige[n verschiedenen] Aufgabenformaten, aber eine[r] großen Anzahl an Aufgaben für ein differenziertes, ausgiebiges Üben“ (Buschmeier et al., 2017a, S. 4) gelegt. Mit Rückgriff auf die bereits zuvor angesprochene Studie von Sievert, van den Ham und Heinze (2021) können zwischen den beiden Lehrwerken Denken und Rechnen 1 sowie Welt der Zahl 1 in Bezug auf die Entdeckung, Anwendung und Übung grundlegender arithmetischer Strukturen qualitative Unterschiede festgestellt werden. Basierend auf einer umfassenden Schulbuchanalyse (vgl. Sievert et al., 2021, S. 4–5) zeigen die Autor*innen, dass Denken und Rechnen u. a. im Vergleich zu dem Lehrwerk Welt der Zahl insgesamt die geringste Qualität in seinen arithmetischen Lernangeboten bietet (vgl. Sievert et al., 2021, S. 4–5, 9). Dagegen zeigt das Lehrwerk Welt der Zahl vor allem in Bezug auf die Förderung einer flexible Anwendung verschiedenster Rechenstrategien und damit auch arithmetischer Strukturen eine besonders hohe Qualität (vgl. Sievert et al., 2021, S. 9, table 3).

  • Des Weiteren wurden ökonomische Aspekte für die Durchführung dieser Studie berücksichtigt. Die Grundschulen sollten jahrgangshomogen und mindestens zweizügig unterrichten, um eine geeignete Anzahl an Kindern für das Sample zusammenstellen zu können, sowie von der Universität Bielefeld in einer annehmbaren Zeit erreichbar sein. Die Voraussetzung für die Teilnehme der Kinder an dieser Studie war zudem die von den Erziehungsberechtigten unterschriebene Einverständniserklärung mit DSGVO-konformen Datenschutzrichtlinien (vgl. Anhang 1 im elektronischen Zusatzmaterial).

So lag die erste Schule im Stadtgebiet Bielefeld und unterrichtete die erste Klasse im Schuljahr 2018/2019 dreizügig. Aus dieser Schule haben im März 2019 insgesamt 49 (von 68) Kinder an dieser Studie teilgenommen. Die zweite Schule lag im Landkreis Paderborn und unterrichtete zweizügig, wovon 29 (von 47) Kindern an der Studie teilnahmen. Das bedeutet, dass die Eltern von rund 68 % aller Schüler*innen der ersten Klasse ihr Einverständnis für die Teilnahme an dieser Studie zur individuellen mathematischen Kreativität gegeben haben. Somit setzt sich das Grundsample aus \(N = 78\) Erstklässler*innen zusammen.

1.2 Intellektuelle und mathematische Voraussetzungen der Erstklässler*innen

„Die Herausforderung besteht somit darin, innerhalb einer möglichst kurzen Zeitspanne ein möglichst umfassendes Bild der mathematischen [und hier auch intellektuellen] Kompetenzen von jüngeren Kindern zu erhalten.“ (Benz, Peter-Koop & Grüßing, 2015, S. 77)

Aus den 78 Erstklässler*innen sollten nun kriteriengeleitet Kinder ausgewählt werden, die das gesamte Grundsample und damit auch die Diversität einer ersten Klasse in Bezug auf die mathematischen und intellektuellen Fähigkeiten der Lernenden repräsentierten. Dafür wurden ebendiese Fähigkeiten der teilnehmenden Erstklässler*innen über zwei standardisierte Tests erhoben. Auf Basis der Ergebnisse in diesen Tests wurden die Lernenden dann mittels einer Clusteranalyse zu Gruppen von Kindern zugeordnet, die ähnliche mathematische Basisfertigkeiten und Grundintelligenz aufwiesen. Aus diesen Gruppen wurden dann über weitere Kriterien Erstklässler*innen ausgewählt, die für ihr Cluster repräsentativ stehen. Im Folgenden wird daher ausführlich die Auswahl der standardisierten Tests erläutert (vgl. Abschn. 7.1.2.1) sowie die Clusteranalyse methodisch beschrieben (vgl. Abschn. 7.1.2.2), um daraufhin die endgültige Auswahl repräsentativer Erstklässler*innen für diese Studie zur individuellen mathematischen Kreativität beim Bearbeiten arithmetisch offener Aufgaben begründen zu können (vgl. Abschn. 7.1.2.3).

1.2.1 Auswahl der standardisierten Tests

Die Auswahl der standardisierten Tests erfolgte aufgrund ihrer Passung zu dieser Studie sowie ihrer Ökonomie in der Umsetzung. Es sollten zwei Tests ausgewählt werden, wobei der erste die mathematischen Fähigkeiten der Kinder vor allem im Bereich der Arithmetik und der zweite die intellektuellen Fähigkeiten der Lernenden, die vor allem für den Bereich der individuellen mathematischen Kreativität bedeutsam sind, darstellten. Dabei war es wichtig, dass die beiden Tests eine möglichst geringe Korrelation untereinander aufweisen, da jedes Kind beide Tests durchlaufen und die Ergebnisse aufeinander bezogen werden sollten. Zudem sollten die beiden Testinstrumente als Gruppentest realisiert werden können, um die Erstklässler*innen sowie den Schulalltag durch meine Datenerhebung nicht länger als nötig zu belasten.

Nach einer Sichtung der im deutschsprachigen Raum verfügbaren Tests, die als Gruppentest in der ersten Klasse durchgeführt werden können, wurde sich für den Test mathematischer Basiskompetenzen bei Schuleintritt (MBK 1 + ) (Ennemoser, Krajewski & Sinner, 2017a) und dem Grundintelligenztest Skala 1 – Revision (CFT 1-R) (Weiß & Osterland, 2013a) entschieden. Die einzelnen Gründe für diese Entscheidungen und die Tests an sich werden nachfolgend ausführlich erläutert.

Test mathematischer Basiskompetenzen bei Schuleintritt (MBK 1 + )

Der MBK 1 + (Ennemoser et al., 2017a) ist ein neu entwickelter Mathematiktest, der die mathematischen Basiskompetenzen von Erstklässler*innen differenziert erfasst und dadurch gut geeignet ist, um einen grundsätzlichen Einblick in den Leistungsstand der Schüler*innen zu bekommen. Neben dem Anwendungsbereich in der Regelschule ab sechs Wochen nach Schuleintritt bis zum Ende der ersten Klasse kann der MBK 1 + auch in sonderpädagogischen, pädagogisch-psychologischen oder lerntherapeutischen Arbeitsfeldern bis zur vierten Klasse oder zur Forschung eingesetzt werden (vgl. Ennemoser, Krajewski & Sinner, 2017b, S. 12, 23).

Der MBK 1 + ist sowohl als Gruppen- als auch als Einzeltest nutzbar, wobei er eine Pseudo-Parallelform mit Version A und BFootnote 2 sowie eine Kurz- und Langform anbietet (vgl. Ennemoser et al., 2017b, S. 21). Die Einsatzmöglichkeit als Gruppentest war für diese Studie aus ökonomischen Gründen notwendig. Durch dieses Kriterium wurde sich gegen einige Test wie bspw. den TEDI-MATH (Kaufmann et al., 2009) oder MARKO-D1 + (Fritz, Ehlert, Ricken & Balzer, 2017) entschieden. In dieser Studie wurde die umfassende Langform in Parallelform verwendet, um ein vollständiges Bild der mathematischen Basiskompetenzen der Erstklässler*innen abzubilden. Die reine Testzeit beträgt in dieser Form 21 Minuten, weshalb pro sinnvoll gewählter Testgruppe eine Schulstunde angesetzt wurde (vgl. Ennemoser et al., 2017b, S. 23–24).

Der inhaltliche Aufbau des MBK 1 + orientiert sich am entwicklungspsychologischen Modell des Erwerbs der Zahl-Größen-Verknüpfung (ZGV-Modell) nach Krajewski (2013, S. 156), das „einen klaren Fokus auf das konzeptuelle Verständnis der Zahl als Repräsentation von Größen und Größenrelationen“ (Ennemoser et al., 2017b, S. 13) setzt. Es werden drei Ebenen unterschieden, über die sich der schrittweise Erwerb mathematischer Basiskompetenzen für die Entwicklung des Zahlbegriffs vollzieht: Zahlwörter und Ziffern ohne Größenbezug (Ebene 1), Zahl-Größen-Verknüpfung (Ebene 2) sowie Zahlrelationen (Ebene 3) (vgl. dazu ausführlich Krajewski, 2007, S. 325–327, 2013, S. 155–161). Die Langform beinhaltet 11 Subtests, in denen die Kinder insgesamt 54 verschiedene Aufgaben zur Schreibweise von Ziffern und Zahlenfolge bis 20 (Ebene 1), zu Größenvergleichen von Zahlen und der Zahl-Menge-Zuordnung (Ebene 2) sowie zur Zahlzerlegung, dem Teil-Ganzes-Konzept und zu Textaufgaben (Ebene 3) bearbeiten sollen (vgl. Ennemoser et al., 2017b, S. 21–22). Durch die gezielte Fokussierung auf arithmetische Inhalte war der MBK 1 + für diese Studie insofern gut geeignet, als dass die individuelle mathematische Kreativität von Erstklässler*innen bei der Bearbeitung arithmetisch offener Aufgaben untersucht werden sollte.

Der MBK 1 + wird anhand von einzelnen Normwerttabellen für die Regelschule sowie Förderschule ausgewertet, wobei sich die Normstichprobe aus 6084 Kindern aus 14 Bundesländern zusammensetzt (vgl. Ennemoser et al., 2017b, S. 11). Es steht neben Auswertungstabellen auch ein digitales Auswertungsprogramm zur Verfügung, mit dessen Hilfe die Testergebnisse auf den Tag genau ausgewertet werden können (vgl. Ennemoser et al., 2017b, S. 26–29). Da der MBK 1 + und der Zusatztest Basisrechnen einen einzelnen Gesamtrohwert-Score ermittelt, der dann als T-Wert (inkl. T-Wert-Band) und Prozenträngen normiert angegeben wird, ist dieser Test eindimensional (Döring & Bortz, 2016, S. 430). Nach der Auswertung erfolgt die Interpretation der Normwerte. Dabei gibt der Prozentrang an, „wie viel Prozent der Vergleichsgruppe (hier z. B. Kinder im selben Quartal des 1. Schuljahres) im durchgeführten Test ein gleich gutes oder schwächeres Ergebnis erzielt haben“ (Ennemoser et al., 2017b, S. 29).

Für die Nutzung der Testergebnisse in dieser Studie als Sampling-Verfahren sind insbesondere die T-Werte von Bedeutung. Dieser Standardwerte mit Mittelwert von 50 und einer Standardabweichung von 10 lässt sich üblicherweise über eine Quartalsbildung interpretieren, was die nachfolgende Tabelle 7.1 veranschaulicht.

Tab. 7.1 Interpretation von T-Werten nach Ennemoser et al. (2017b, S. 30)

Die Gütekriterien wurden alle in der Testkonstruktion bestätigt (vgl. Ennemoser et al., 2017b, S. 45–47). Auffällig war zudem, dass bei der Bestimmung der diskriminanten Validität des MBK 1 + korrelative Zusammenhänge mit dem Intelligenztest CFT 1 in der Version von 1997 (Cattell, Weiß & Osterland, 1997) in den ersten drei Quartalen des ersten Schuljahres \(\left( {r = .50\:bis\:.65} \right)\). Dieser Hinweis war jedoch nur eingeschränkt bedeutsam, da zum einen die beiden standardisierten Test zur Erfassung der mathematischen und intellektuellen Fähigkeiten der Erstklässler*innen im vierten Quartal der ersten Klasse eingesetzt werden sollten. Zum anderen wurde in dieser Studie die aktuelle Version des CFT von 2013 genutzt. Zudem sei auf die Interpretation dieser mittleren positiven Korrelation von Ennemoser, Krajewski und Sinner (2017b) selbst verwiesen: „Dennoch kann daraus nicht der Schluss gezogen werden, dass der MBK 1 + lediglich Intelligenz erfasst“ (S. 47), da die konvergente und vor allem prognostische Validität mit anderen Mathematiktests wie dem TEDI-MATH oder dem DEMAT 1 + (Krajewski, Küspert & Schneider, 2002) deutlich höher ist (vgl. Ennemoser et al., 2017b, S. 45–47).

Grundintelligenztest Skala 1 – Revision (CFT 1-R)

Der Grundintelligenztest Skala 1- Revision (CFT 1-R) von Weiß und Osterland (2013a) wurde ebenso aufgrund seiner Passung zu dieser Studie und zu den Teilnehmer*innen ausgewählt. Es sollte ein Test genutzt werden, der die kognitiven Grundfertigkeiten der Kinder darstellt, die dann auf deren Fähigkeit im mathematischen Test bezogen werden konnten. Um eine möglichst geringe Korrelation zwischen den beiden Tests aufzuweisen, durften bei der Intelligenzdiagnostik nicht erneut basale rechnerische Fähigkeiten überprüft werden wie etwa beim THINK 1–4 (Baudson, Wollschläger & Preckel, 2017). Außerdem sind die meisten Intelligenztests erst ab dem Jugendalter einsetzbar, weshalb die Auswahl hier bereits beschränkter war. Des Weiteren sind viele Intelligenztests wie bspw. der SON-R 2–8 (Tellegen, Laros & Petermann, 2018) oder der vielfach genutzte HAWIK-IV (Petermann & Petermann, 2010) komplexe Einzeltests, die den Rahmen dieses Sampling-Verfahrens überschritten hätten.

Der CFT 1-R hingegen kann in einem Alter von 5;4 bis 9;11 Jahren im Kindergarten bzw. der Vorschule, der Förderschule Klasse 1 bis 4 und der Grundschule Klasse 1 bis 3 eingesetzt werden. Dabei kommen für die Durchführung verschiedenste Personen aus dem pädagogischen oder psychologischen Bereich wie bspw. Beratungslehrer*innen, Förderschullehrkräfte oder klinische Psycholog*innen in Frage. Dies gilt für Beratungsanlässe bzgl. der Schullaufbahn ebenso wie für den Einsatz zu Forschungszwecken (vgl. Weiß & Osterland, 2013b, S. 11–12). Die Durchführung kann zu jedem Zeitpunkt stattfinden, da die Normwerte vom Alter der Kinder abhängig sind. Soll neben einer individuellen Auswertung auch die Klassennorm verwendet werden, dann ist ein Zeitfenster von September bis November einzuhalten (vgl. Weiß & Osterland, 2013b, S. 12). In dieser Studie wurden beide Tests zum gleichen Zeitpunkt im März 2019 eingesetzt. Zudem wird für den CFT 1-R eine Durchführungsdauer von etwa 50 Minuten benötigt, was in den Schulalltag zu integrieren war. Des Weiteren kann dieser Test in Gruppen von bis zu 10 Kindern pro Testleiter*in durchgeführt werden, was der Ökonomie dieser Studie zu Gute kam (Weiß & Osterland, 2013b, S. 11).

Der CFT 1-R ist die Revision des CFT 1 (Cattell et al., 1997), der die deutsche Adaption des Culture Fair Intelligence Test Scale 1 (Cattell, 1950) darstellt. Bei der Revision wurde vor allem eine neue Normierung im Jahr 2010 mit 4.641 Proband*innen aus 7 Bundesländern erarbeitet (vgl. Weiß & Osterland, 2013a, S. 75). Außerdem wurden die Testaufgaben in den Untertests erhöht und zusätzlich ein weiterer Subtest ergänzt. Somit umfasst der CFT 1-R zwei Testteile mit jeweils drei Untertests und wiederum jeweils 15 Items. Dadurch ermöglicht er eine Bestimmung der Grundintelligenz nach der Intelligenztheorie von Cattell (1963). Der Begriff der Grundintelligenz wird von Weiß und Osterland (2013b) wie folgt beschrieben:

„die Fähigkeit eines Kindes, in neuartigen Situationen und anhand von sprachfreiem, figuralem Material, Denkprobleme zu erfassen, Beziehungen herzustellen, Regeln zu erkennen, Merkmale zu identifizieren und rasch wahrzunehmen“ (S. 10).

Cattell (1963) beschreibt weiterhin, dass die allgemeine intellektuelle Leistungsfähigkeit (Englisch: general ability), der g-Faktor, sich in zwei Intelligenzformen aufgliedert. Trotz, dass diese zwei unabhängige Intelligenzkomponenten darstellen, korrelieren sie stark miteinander und stehen daher in einem sich bedingenden Verhältnis (vgl. Dörfler, Roos & Gerrig, 2018, S. 341):

  • Unter der fluiden Intelligenz, fluid general ability (gf) (Cattell, 1963, S. 2), wird ein „weitgespannter Faktor“ (Weiß & Osterland, 2013a, S. 20) verstanden, der die angeborene und genetisch bedingte Grundfähigkeit menschlichen Denkens, sozusagen das intelligente Potential eines Menschen, abbildet. Dabei zeigt sich dieser Intelligenzfaktor vor allem durch das „rasche und abstrakte Denken beim Lösen unbekannter logischer Aufgabe“ (Myers, 2014, S. 418). Diese Fähigkeit kann bspw. über Matrizentests oder Tests zu räumlichen Anordnungen gemessen werden, „die regelfindendes, schlussfolgerndes Denken erfordern und bei denen die für die Lösung notwendigen Hintergrundinformationen bereits in der Aufgabendarstellung enthalten sind“ (Dörfler et al., 2018, S. 341). Damit gilt die fluide Intelligenz als notwendige Grundlage für einen kulturell geprägten Wissenserwerb sowie die Anwendung von Wissen und daher als Voraussetzung für den zweiten Intelligenzfaktor.

  • Die kristalline Intelligenz, crystallized general ability (gc) (Cattell, 1963, S. 2), basiert auf „stark umweltabhängigen Primärfähigkeiten“ (Weiß & Osterland, 2013a, S. 20), die unter anderem in der Schule sowie in anderen Bildungseinrichtungen erlernt und gefestigt werden. Dieser Intelligenzfaktor ist daher kulturabhängig und zeigt sich in der Anwendung des „gesammelte[n] Wissen[s] eines Menschen“ (Myers, 2014, S. 418), das vor allem über Rechen-, Wortschatz- und/oder Allgemeinwissenstest gemessen werden kann. Damit ermöglicht die kristalline Intelligenz jedem Menschen, „gut mit wiederkehrenden und konkreten Herausforderungen des Lebens umzugehen“ (Dörfler et al., 2018, S. 341).

Um dem Anspruch der Kultur- und damit auch Sprachfreiheit gerecht zu werden, fokussiert der CFT 1-R in einem deutlich stärkeren Maß die fluide Intelligenz und kann daher auch als Wahrnehmungstest bezeichnet werden (vgl. Weiß & Osterland, 2013a, S. 20). Die verschiedenen Subtests haben einen unterschiedlich großen Einfluss auf die fluide Intelligenz: Der erste Testteil (Substitutionen, Labyrinthe, Ähnlichkeiten) bildet vor allem die Wahrnehmungsfähigkeit, -geschwindigkeit und den Umfang der visuellen Aufmerksamkeit ab. Durch den Speed-Charakter ist das Ergebnis in diesen Untertests jedoch stark abhängig von der Motivation der Kinder (vgl. Weiß & Osterland, 2013a, S. 20–21). Der zweite Testteil (Reihenfortsetzen, Klassifikationen, Matrizen) bildet hingegen deutlich stärker die allgemeine fluide Intelligenz ab, da „die Faktoren Beziehungsstiftendes Denken, Erkennen von Regelhaftigkeiten und Gesetzmäßigkeiten […] als wesentliche, die sog. Grundintelligenz konstituierenden Merkmale angesehen werden [können]“ (Weiss, 1969 nach Weiß & Osterland, 2013a, S. 22). Damit unterschiedet sich der CFT 1-R insgesamt deutlich von eher konventionellen Intelligenztestungen mit verbalen, figuralen und numerischen Anteilen wie etwa dem HAWIK-IV (Petermann & Petermann, 2010).

Die Auswertung des CFT 1-R findet im Vergleich zum MBK 1 + mehrdimensional (Döring & Bortz, 2016, S. 430) statt. Die Rohwerte werden für den Teil 1 (figurale Wahrnehmung) sowie den Teil 2 (figurales Denken) einzeln ermittelt, dann über die Normwerttabellen in T-Werte und schließlich in IQ-Werte umgewandelt. Es kann außerdem ein Gesamtrohwert durch die Addition der beiden Testteil-Rohwerte errechnet werden, der ebenfalls in T-Werte bzw. IQ-Werte normiert werden kann. Dabei beträgt die „kritische Differenz zwischen erstem und zweitem Testteil […] auf der 5 %-Stufe 7 T-Werte. Ein Proband hat demnach nur dann eine signifikant bessere Leistung im 1. oder 2. Testteil, wenn die T-Wert-Differenz um 7 T-Werte höher liegt“ (Weiß & Osterland, 2013b, S. 29). Wird diese kritische Differenz bei einem Kind signifikant, dann sollte der Gesamtwert nicht interpretiert werden (vgl. Weiß & Osterland, 2013b, S. 21). Da jedoch bei der Testerstellung eine Korrelation von (nur) \(.52\) zwischen dem ersten und zweiten Testteil errechnet wurde, die auf einem \(0,1\:\%\)-Niveau signifikant ist (vgl. Weiß & Osterland, 2013b, S. 36), verwundert es nicht, dass bei der vorliegenden Studie die kritische Differenz bei rund der Hälfte der Erstklässler*innen überschritten wurde.

Mit einer mittleren Ladung von 75 des zweiten Teils des CFT 1-R (erster Teil liegt bei 65) am g-Faktor „kann […] abgeleitet werden, dass die Untertests 4, 5 und 6 (Reihenfortsetzen, Klassifikationen und Matrizen) bei Kindern im gesamten Vor- und Grundschulbereich am stärksten die grundlegenden intellektuellen Fähigkeiten (sprachfreie Denkkapazität) […] zu erfassen gestatten […]“ (Weiß & Osterland, 2013b, S. 39). Dieser Umstand erklärt, weshalb nur der Teil 2 der CFT 1-R oder CFT 1 in diversen Studien aus der Entwicklungspsychologie, pädagogischen Psychologie oder der Pädagogik verwendet wird (etwa Heine et al., 2018, S. 18; Szardenings, Kuhn, Ranger & Holling, 2017, S. 4–5; Voß et al., 2014, S. 122–124). In dieser Tradition wurde in dieser Studie zur individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen ebenso ausschließlich der zweite Testteil des CFT 1-R verwendet, um vor allem die Grundintelligenz der teilnehmenden Lernenden abzubilden. Durch diese Einschränkung kann außerdem eine sehr geringe Korrelation des CFT 1-R Teil 2 mit dem MBK 1 + (vgl. Abschn. 7.1.2.1) erwartet werden, da beide standardisierte Tests sehr differente kognitive Konstrukte (Grundintelligenz und mathematische Fähigkeiten) messen. Dies bildet die Voraussetzung für die Durchführung einer Clusteranalyse (vgl. Abschn. 7.1.2.2), welche die Basis für die Auswahl repräsentativer Erstklässler*innen für die qualitative Studie bildete.

1.2.2 Gruppierung der Erstklässler*innen mittels Clusteranalyse

Im Sinne des Sampling-Verfahren soll in diesem Abschnitt nun methodisch erläutert werden, wie die Gruppierung der Erstklässler*innen mittels einer Clusteranalyse über ihre mathematischen und intellektuellen Fähigkeiten, d. h. basierend auf den T-Wert-Ergebnissen im MBK1 + und CFT 1-R Teil 2, erfolgte. Aus diesen Gruppen sollten dann einzelne repräsentative Teilnehmer*innen für die nachfolgende Studie zur individuellen mathematischen Kreativität ausgewählt werden (vgl. Abschn. 7.2 und 7.3).

Da zwischen den T-Werten aus dem CFT 1-R Teil 2 und dem MBK 1 + aus der Theorie heraus eine gewisse positive Korrelation anzunehmen ist (vgl. Ennemoser et al., 2017b, S. 47), wurde ein eher linearer Zusammenhang dieser beiden Variablen vermutet, der jedoch eine gewisse Streuung aufweist. Daher war die Einteilung beider T-Werte nach normativen Kriterien, die im Kreuzprodukt zu einer Gruppierung der Erstklässler*innen geführt hätteFootnote 3, wenig sinnvoll, da niemals alle Gruppen zahlenmäßig vergleichbar besetzt worden wären. Durch die eher geringe Größe des Grundsamples hätte so kein repräsentatives Subsample für die qualitative Studie gezogen werden können.

Außerdem war anzunehmen, dass das Sample mit 78 Erstklässler*innen in seiner Zusammensetzung der Testergebnisse einzigartig ist, sodass ein Verfahren zur Typenbildung gewählt wurde, das die Daten des Samples selbst benutzt. So wurde sich für eine Clusteranalyse als strukturentdeckendes Verfahren der multivariaten, schließenden Statistik entschieden (vgl. Raithel, 2006, S. 118). Sie verfolgt das Ziel, Objekte (zumeist Individuen) in möglichst homogene Gruppen einzuteilen, wobei die einzelnen Individuen innerhalb eines Clusters möglichst ähnlich (interne Homogenität) und gleichzeitig möglichst unterschiedlich zu Individuen eines anderen Clusters sein sollen (vgl. Micheel, 2010, S. 159).

Im Folgenden werden die einzelnen Analyseschritte theoretisch beschrieben und die konkrete Umsetzung in der vorliegenden Studie erläutert, was die nachfolgende Grafik schematisch zusammenfasst (vgl. Abb. 7.3).

Abb. 7.3
figure 3

Clusteranalyse in dieser Studie

  1. 1.

    In einem ersten Schritt wurde sich für ein agglomerativ-hierarchisches Clusterverfahren entschieden, dessen Ergebnis notwendigerweise in einem zweiten Schritt durch ein nicht-hierarchisches Verfahren verbessert werden sollte (vgl. Bortz & Schuster, 2010, S. 459). Agglomerative Clusterverfahren beginnen immer mit der kleinsten Objektaufteilung, in dem sie paarweise Distanzen zwischen den Objekten bzw. Individuen berechnen und dann diejenigen Objekte zu einem Cluster fusionieren, welche die kleinste Distanz zueinander aufweisen. Die verbleibenden Cluster werden hierarchisch nach dem gleichen Schema erneut verglichen und entsprechend fusioniert, bis das gesamte Sample zu einem Cluster zusammengefasst wurde. Dabei bestehen unterschiedliche Clusterdistanzen zwischen den einzelnen Clustern (vgl. Backhaus, Erichson, Plinke & Weiber, 2018, S. 459–460). Der gesamte Ablauf wird dann in einem Dendrogramm grafisch dargestellt (vgl. Bortz & Schuster, 2010, S. 464). Der Nachteil und gleichzeitig der Grund, weshalb nach diesem Verfahren ein nicht-hierarchisches Clusterverfahren genutzt werden muss, ist der, dass bei hierarchischen Verfahren die Fusionierung von Clustern nicht mehr revidiert werden kann (vgl. Bortz & Schuster, 2010, S. 459).

Die systematische Gruppierung der Erstklässler*innen dieser Studie auf Basis des quadrierten euklidischen Distanzmaßes gebildet, da die beiden Variablen, also die T-Werte des MBK 1 + und des CFT 1-R Teil 2, beide intervallskaliert und bereits t-transformiert waren (vgl. Bortz & Schuster, 2010, S. 456). Als hierarchisches Clusterverfahren wurde zunächst eine Single-Linkage-Analyse durchgeführt, bei der als Fusionskriterium zweier Cluster der minimalste Abstand zwischen paarweisen Objekten aus den Clustern eingesetzt wird (vgl. Backhaus et al., 2018, S. 461–464; Bortz & Schuster, 2010, S. 460). Dieses Verfahren wurde genutzt, um etwaige Ausreißer in dem gesamten Datenset zu identifizieren und dann zu eliminieren, da sie die Bildung der Cluster sonst verzerren würden. Ausreißer sind solche Individuen, die im Dendrogramm erst sehr spät zu einem Cluster fusioniert werden (vgl. Backhaus et al., 2018, S. 463). Als zweite agglomerativ-hierarchische Clusteranalyse wurde das Ward-Verfahren genutzt, da als Distanzmaß die euklidischen Distanzen gewählt wurden und dieses Verfahrens dann die besten Ergebnisse erzielt (vgl. Backhaus et al., 2018, S. 466). Diese Methode fusioniert hierarchische Cluster, „mit deren Fusion die geringste Erhöhung der gesamten Fehlerquadratsumme einhergeht“ (Bortz & Schuster, 2010, S. 462). So werden in verschieden vielen Fusionsstufen alle Individuen zu Clustern zusammengefasst. Das so entstehende Dendrogramm kann auch in ein Struktogramm umgewandelt werden. Dieses zeigt den Zusammenhang der Fusionsstufen und der entsprechenden Fehlerquadratsummen. So können größere Anstiege optisch ausgemacht werden (vgl. Bortz & Schuster, 2010, S. 462–464). Nach dem graphentheoretischen Elbow-Kriterium werden dann optimale Cluster-Anzahlen bestimmt (vgl. Backhaus et al., 2018, S. 476).

  1. 2.

    In einem zweiten Schritt der Analyse müssen alle möglichen, plausiblen Clusterlösung aus dem Ward-Verfahren mit Hilfe eines nicht-hierarchischen Clusterverfahrens weiter verbessert werden, um die Individuen endgültig einem der Cluster zuzuordnen (vgl. Bortz & Schuster, 2010, S. 461). Dazu ist es notwendig, die Zugehörigkeit der Individuen zu einem Cluster sowie die Anzahl der Cluster zu kennen. Das Verfahren überprüft dann schrittweise durch Verschieben der Individuen in andere Cluster die optimale Zugehörigkeit dieser (vgl. Bortz & Schuster, 2010, S. 461–462).

In dieser Studie zur individuellen mathematischen Kreativität wurde als nicht-hierarchisches Verfahren die k-Means-Methode (Bortz & Schuster, 2010, S. 465) genutzt. Bei dieser wurden die anfänglichen Clusterzentren ermittelt und in mehreren Schritten die Zugehörigkeiten der Erstklässler*innen zu den Clustern verschoben, sodass optimale Clusterzentren entstanden. Diesen wurden dann diejenigen Kinder zugeordnet, die zu den verschiedenen Clusterzentren die geringste Distanz aufwiesen (vgl. Bortz & Schuster, 2010, S. 456–466). Damit entstand eine Clusterbildung, die das gesamte Sample von 78 Erstklässler*innen mit unterschiedlichen intellektuellen und mathematischen Fähigkeiten graphisch über ein Streudiagramm adäquat abbildete. Die Cluster bildeten daher gewisse Fähigkeitsprofile ab und ermöglichten dadurch in Zusammenhang mit den Ergebnissen aus der qualitativen Studie die Beantwortung der fünften Forschungsfrage.

1.2.3 Endgültige Auswahl von Erstklässler*innen

In diesem Abschnitt soll nun die endgültige Auswahl von Kindern für die qualitative Studie zur individuellen mathematischen Kreativität dargestellt werden. Wie bereits erläutert, stellt dieses ein Subsample, d. h. eine repräsentative Auswahl der Kinder des Grundsamples dar (vgl. 7.1.2.3, insbesondere Abb. 7.4). Dieses bestand aus \(N = 78\) Erstklässler*innen und ließ sich nach der durchgeführten Gruppierung mittels Clusteranalyse über zwei Kriterien beschreiben (vgl. Abschn. 7.1.2.2): Die Cluster wurden über die T-Werte aus den standardisierten Tests zu den mathematischen Basiskompetenzen der Erstklässler*innen (MBK 1 + ) und den intellektuellen Fähigkeiten der Kinder (CFT 1-R Teil 2) gebildet, sodass sie letztlich Fähigkeitsprofile aus den mathematischen und intellektuellen Fähigkeiten der Kinder darstellten. Aus diesen sollten nun einzelne Erstklässler*innen kriteriengeleitet ausgewählt werden.

Dazu wurden als Kriterien das verwendete Lehrwerk und das Geschlecht der Kinder genutzt, da das qualitative Sample aus der gleichen Anzahl an Jungen und Mädchen bestehen sollte. Dabei wurde zudem versucht, aus jedem Cluster jeweils ein Junge und ein Mädchen, die mit dem Lehrwerk Denken & Rechnen sowie Welt der Zahl unterrichtet wurden, auszuwählen. Auf diese Weise sollte als drittes Kriterium die schulischen Voraussetzungen der Erstklässler*innen über die Lehrwerke abgebildet werden. Da so idealerweise aus jedem Cluster vier Erstklässler*innen ausgewählt werden sollten und aus der recht übersichtlichen Anzahl an 78 Erstklässler*innen insgesamt drei bis fünf Cluster zu erwarten waren, wurde die Größe des qualitativen Samples auf \(12 \le N \le 20\) geschätzt. Diese Stichprobengröße war für die Durchführung der qualitativen Studie annehmbar (vgl. Döring & Bortz, 2016, S. 302).

1.3 Zusammenfassung

Aus der vorangegangenen methodischen Beschreibung des Sampling-Verfahrens ergaben sich für das gesamte Studiendesign (vgl. Abb. 7.2) folgende Ergänzungen:

  • Das Grundsample setzte sich aus 78 Erstklässler*innen von zwei städtischen Grundschulen in NRW zusammen, die mit zwei verschiedenen Lehrwerken – Denken & Rechnen sowie Welt der Zahl – im Mathematikunterricht arbeiteten. Dabei ermöglichen diese beiden Lehrwerke in Anlehnung an Sievert, van den Ham und Heinze (2021) den Lernenden einen unterschiedlichen unterrichtlichen Zugang zum Entdecken, Anwenden und Üben arithmetischer Strukturen und Muster (vgl. Abschn. 7.1.1).

  • Die mathematischen und intellektuellen Fähigkeiten der Erstklässler*innen bildeten weiterhin die Grundlage für eine repräsentative Auswahl einzelner Lernender für die Studie zur individuellen mathematischen Kreativität (vgl. Abschn. 7.1.2):

    1. Es wurden zwei standardisierte Tests, nämlich der MBK 1 + zur Erfassung der mathematischen Basiskompetenzen und der CFT 1-R zur Erfassung der Grundintelligenz, mit den Kindern im März 2019 durchgeführt und beide mittels Normwerttabellen ausgewertet (vgl. Abschn. 7.1.2.1).

    2. Zur strukturierten Gruppierung des Grundsamples wurde eine Clusteranalyse gerechnet. Diese bestand aus einem zunächst agglomerativ-hierarchischen Clusterverfahren (Single-Linkage-, und Ward-Methode) und einem dieses erste Ergebnis überprüfenden, nicht-hierarchischen Clusterverfahren (\(k\)-Means-Methode). Das Ergebnis dieser Analyse wurde in Form eines Streudiagramms abgebildet, aus dem die Zuordnung der Erstklässler*innen zu verschiedenen Fähigkeitsprofilen basierend auf ihren intellektuellen und mathematischen Fähigkeiten verdeutlicht werden konnte (vgl. Abschn. 7.1.2.2).

    3. Für die endgültige Auswahl an Erstklässler*innen sollten aus jedem Cluster nach Möglichkeit zwei Jungen und zwei Mädchen ausgewählt werden, die jeweils mit dem Lehrwerk Denken & Rechnen sowie Welt der Zahl in der ersten Klasse arbeiteten. So wurde die Größe des Samples auf 12 bis 20 Erstklässler*innen geschätzt (vgl. Abschn. 7.1.2.3), wobei letztendlich 18 Erstklässler*innen an den Unterrichtsepisoden teilnahmen (vgl. ausführlich Abschn. 8.3).

Die Konkretisierungen aus diesem Abschnitt zum Sampling-Verfahren wurden erneut in das Studiendesign eingepflegt (vgl. Abb. 7.4) und werden nachfolgend durch die methodischen Entscheidungen zur qualitativen Studie ergänzt.

Abb. 7.4
figure 4

Studiendesign mit methodischen Entscheidungen aus dem Sampling-Verfahren

Die im Folgenden ausführlich dargestellte qualitative Studie stellt den Kern meiner empirischen Forschungsarbeit zur individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen beim Bearbeiten arithmetisch offener Aufgaben dar. Dazu wurden angelehnt an die Teaching Experiment-Methodologie mit den ausgewählten Erstklässler*innen jeweils zwei mathematische Unterrichtsepisoden durchgeführt, in denen die Kinder kreativ werden konnten (vgl. Abschn. 6.2). Eine umfassende retrospektivische und rekursive Analyse ermöglichte daher eine direkte Beantwortung der ersten vier, aufeinander aufbauenden ForschungsfragenFootnote 4. Vor dem Hintergrund der individuellen Voraussetzungen der Kinder, die durch das kriteriengeleitete, selektive Sampling-Verfahren exakt umschrieben wurden (vgl. Abschn. 7.1), kann die fünfte Forschungsfrage bzgl. des Zusammenhangs der individuellen mathematischen Kreativität der Kinder und deren Voraussetzungen beantwortet werden (vgl. Abschn. 5.2). In den nachfolgenden Ausführungen werden daher die qualitative Datenerhebung (vgl. Abschn. 7.2) sowie im Sinne des Mixed Methods-Designs qualitative und quantitative Datenauswertung (vgl. Abschn. 7.3) im Detail präsentiert.

2 Erhebung qualitativer Daten mittels der Technik des lauten Denkens

„Das laute Denken steht als Erhebungsmethode zwischen den Befragungs- und den Beobachtungsverfahren.“ (Hussy, Scheier & Echterhoff, 2013, S. 135)

In dieser Studie sollten in Anlehnung an die Teaching Experiment-Methodologie Unterrichtsepisoden durchgeführt werden, in denen die Erstklässler*innen ihre individuelle mathematische Kreativität beim Bearbeiten arithmetisch offener Aufgaben zeigen sollen (vgl. Abschn. 6.2). So wurden vorrangig qualitative verbale Daten (Hussy et al., 2013, S. 223) aus dem Gesprochenen während der Unterrichtsepisoden erhoben, die einen „Zugang zur Innensicht der Teilnehmenden“ (Hussy et al., 2013, S. 223) ermöglichten. Zudem wurden die Unterrichtsepisoden auch videografiert, sodass zusätzlich auch qualitative visuelle Daten (Hussy et al., 2013, S. 223, 238) für die deskriptive und explorative Analyse der individuellen mathematischen Kreativität von Schulkindern zur Verfügung standen. In der Welt erziehungswissenschaftlicher Erhebungsmethoden lassen sich zwei übergreifende Verfahren feststellen, aus denen qualitative Daten gewonnen werden können (vgl. Döring & Bortz, 2016, S. 322; Hussy et al., 2013, S. 223): Während bei der Befragung verbale Daten erhoben werden können, ermöglicht die Beobachtung eine Fokussierung auf visuelle Daten. In den nachfolgenden Abschnitten werden die wesentlichen Eigenschaften dieser beiden Verfahren kurz skizziert, um daraufhin zu begründen, warum sich in der vorliegenden Studie für das laute Denken (Hussy et al., 2013, S. 235) als Datenerhebungsmethode entschieden wurde, das im Sinne des obigen Eingangszitats eine Zwischenposition zwischen der Befragung und der Beobachtung einnimmt.

Die wissenschaftliche Befragung von Studienteilnehmer*innen erfolgt entweder über absichtsvoll geplante mündliche Interviews, Gruppendiskussionen oder schriftlich offen gestaltete Fragebögen (vgl. für eine Übersicht Hussy et al., 2013, S. 224–235; Döring & Bortz, 2016, Kap. 10.2, 10.3), in denen Lernende anhand gezielt gestellter Fragen über bestimmte mathematikdidaktische Themen sprechen oder spezielle Fähigkeiten bzw. Kompetenzen beim Bearbeiten mathematischer Aufgaben zeigen. Bei dieser Studie wurde hingegen das explorative Ziel formuliert, die individuelle mathematische Kreativität von Erstklässler*innen in mathematischen Unterrichtsituationen anzuregen und dadurch genauer zu beschreiben. In diesem Sinne bestand die Hauptintention dieser Studie aus der Durchführung von, in Anlehnung an das InMaKreS-Modell geplanten, Unterrichtsepisoden mit jedem Kind aus dem zuvor gebildeten Subsample (vgl. Abschn. 7.1). Die Durchführung dieser Unterrichtsepisoden im Mai bis Juni 2019 unterscheidet sich daher wesentlich von dem Einsatz fragen- sowie gesprächsorientierter Methoden wie dem Interview, weshalb eine Befragung als Datenerhebungsmethode für diese Studie nicht passend war.

Wissenschaftliche Beobachtungen zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass sie „zielgerichtet und systematisch im Kontext eines empirischen Forschungsprozesses“ (Döring & Bortz, 2016, S. 326) stattfinden. Dabei werden in der empirischen Bildungsforschung je nach Forschungsfrage von den Forschenden nicht eigens geplante (nicht experimentelle) videografierte Lehr-Lern-Situationen beobachtet und dabei einzelne Forschungsaspekte fokussiert (vgl. Dinkelaker & Herrle, 2009, S. 15, 22–23; Döring & Bortz, 2016, S. 326). Solche Studien folgen dann insbesondere dem seit der ersten TIMSS-Studie (Baumert, Lehmann & Lehrke, 1997) aufkommenden Trend, über Videostudien qualitative Daten aus einer Beobachtung zu erfassen. Dabei kann etwa die Intramethod Mixed Observation, wie sie Kemper, Stringfield & Teddlie (2003, S. 313) darstellen, zum Einsatz kommen, bei der sowohl Charakteristika der quantitativen als auch der qualitativen Beobachtung mit unterschiedlichem Schwerpunkt genutzt werden können. Bei dieser Studie zur individuellen mathematischen Kreativität orientierte sich die Gestaltung der Unterrichtsepisoden an dem von mir entwickelten InMaKreS-Modell und kann daher als absichtsvoll eingestuft werden. Zudem nahm ich als Lehrende-Forschende aktiv am Unterrichtsgeschehen teil, um die Erstklässler*innen während ihrer kreativen Bearbeitung der arithmetisch offenen Aufgaben zu begleiten sowie zu unterstützen. Da dies dem oben skizzierten Grundsatz einer wissenschaftlichen Beobachtung widerspricht, konnte für die vorliegende Studie diese Datenerhebungsmethode nicht gewählt werden.

Um einen Einblick in die individuelle mathematische Kreativität der Erstklässler*innen zu erhalten, war insbesondere die divergente Fähigkeit der Elaboration bedeutsam. Darunter wird verstanden, dass die Erstklässler*innen während der gesamten Unterrichtsepisode ihre Bearbeitung der arithmetisch offenen Aufgabe, vor allem ihre Ideen und evtl. auch ihre Ideentypen, verbalsprachlich sowie mimisch und gestisch erklären und ausarbeiten (vgl. Abschn. 2.4). Dadurch, dass diese Fähigkeit einen Einfluss auf die anderen drei divergenten Fähigkeiten Denkflüssigkeit, Flexibilität und Originalität und damit auf die individuelle mathematische Kreativität der Kinder nimmt, galt es die Elaborationsfähigkeit der Erstklässler*innen von Seiten der Lehrenden aktiv zu begleiten und zu unterstützen (vgl. Abschn. 4.2). In diesem Sinne eignete sich die Methode des lauten Denkens (verschiedene Begriffe bei Buber, 2007, S. 557) bei der vorliegenden Studie zur Kreativität von Erstklässler*innen für die Erhebung qualitativ verbaler Daten, da die Lernenden dabei aufgefordert werden, „alles, was ihnen beim Lösen einer vorgegebenen Aufgabenstellung durch den Kopf geht, laut auszusprechen“ (Hussy et al., 2013, S. 236). Somit eignet sich diese Methode insbesondere dafür, „Einblicke in die Gedanken, Gefühle und Absichten einer lernenden und/oder denkenden Person zu erhalten“ (Konrad, 2010, S. 476) und dadurch für die Untersuchung kognitiver Prozesse. Im Rahmen dieser Studie wurden auf diese Weise die kreativen Prozesse der Lernenden sichtbar, über die dann (in Kombination mit den kreativen Produkten) die individuelle mathematische Kreativität der Erstklässler*innen qualitativ beschrieben werden konnte (vgl. zu dem kreativen Dimensionen, Abschn. 2.2.3). Dadurch, dass die teilnehmenden Erstklässler*innen während der Bearbeitung der arithmetisch offenen Aufgaben dazu aufgefordert wurden, ihre Gedanken zu verbalisieren, wurde in dieser Studie das periaktionale laute Denken (Hussy et al., 2013, S. 236) angewendet. Auf diese Weise können Verzerrungen, die bei einer Versprachlichung nach der Aufgabenbearbeitung (postaktionales lautes Denken (Hussy et al., 2013, S. 237)) entstehen, möglichst vermieden werden. Zudem konkretisiert Konrad (2010, S. 476–477) das laute Denken nicht nur durch seine zeitliche Abfolge, sondern auch in Bezug auf die Inhalte der Verbalisierungen: In diesem Zusammenhang werden die Erstklässler*innen in dieser Studie nicht nur dazu aufgefordert Inhalte aus dem Kurzzeitgedächtnis zu versprachlichen (Introspektion). Vielmehr sollen sie „Beschreibung und Erklärung von Gedankeninhalten, die in nicht-sprachlicher Form existieren und erst noch oral enkodiert werden müssen“ (Konrad, 2010, S. 477) (unmittelbare Retrospektion) und vor allem in der Reflexionsphase der Unterrichtsepisoden auch „die Erklärung von Gedanken und Gedankenprozessen“ (Konrad, 2010, S. 477) (verzögerte Retrospektion) meistern. Für diese dritte Form des lauten Denkens beschreiben Ericsson & Simon (1993, S. 79), dass Lernende explizit dazu aufgefordert werden sollen, relevante Aspekte oder Inhalte zu erklären, was sich mit dem Verständnis von (meta-)kognitiven Prompts in dieser Arbeit deckt (vgl. Abschn. 4.2). So bedeutet insgesamt diese spezielle Form der Datenerhebung zwar einen zusätzlichen kognitiven Aufwand bei den Teilnehmer*innen (vgl. Hussy et al., 2013, S. 236), aber durch die verlangsamte Verbalisierung auch eine „Tendenz zu einem überlegten und planvolleren Vorgehen“ (Buber, 2007, S. 562). Vor allem mit Blick auf das Alter der Kinder scheint daher eine Unterstützung der Erstklässler*innen durch adaptiv eingesetzte metakognitive und kognitive Lernprompts angemessen (vgl. Abschn. 7.2.3).

Die technischen Möglichkeiten der Videografie erlauben es, die verbalen Daten aus dem lauten Denken zu konservieren und zudem weiterführende visuelle Daten durch die retrospektive Beobachtungen der durchgeführten Unterrichtsepisoden zu gewinnen (vgl. Mayring et al., 2005, S. 2–3). Knoblauch & Schnettler (2007, S. 588) sprechen keinem anderen Aufzeichnungsmedium eine derart große Fülle an Wahrnehmungsaspekten zu, die von Beobachter*innen und Interpretierenden erfasst werden können. Darunter verstehen die Autoren „Sprache, Gestik, Mimik, Körperhaltung und -formationen [..] ebenso [wie] Settings, Accessoires, Bekleidungen, Prosodie und Geräuschen“ (Knoblauch & Schnettler, 2007, S. 588). Gleichzeitig warnt Dinkelaker (2018) vor dem Problem der „Überkomplexität pädagogischer Situationen“ (S. 154), der etwa durch eine bewusste Positionierung von Kamera oder Tonaufnahmegeräten entgegengewirkt werden kann (vgl. Dinkelaker, 2018, S. 156–160), weshalb nachfolgend die verwendete Kameraposition in dieser Studie dargestellt wird (vgl. Abschn. 7.2.1). Dadurch, dass bei einer Videoaufzeichnung zudem der Ablauf der Geschehnisse konserviert wird, kann eine chronologische Analyse erfolgen, die im Rahmen dieser Studie für die divergenten Fähigkeiten als Eigenschaften der individuellen mathematischen Kreativität notwendig war (vgl. Abschn. 2.4). So können die Videos sowohl synchron als auch asynchron analysiert werden, was ein umfassendes Bild des Forschungsgegenstandes ermöglicht (vgl. Knoblauch & Schnettler, 2007, S. 587–588).

In den sich anschließenden Ausführungen werden nun die einzelnen methodischen Entscheidungen bzgl. der Kameraposition (vgl. Abschn. 7.2.1), der Auswahl der arithmetisch offenen Aufgaben und die Gestaltung der Unterrichtsepisoden auf Basis der InMaKreS-Modells (vgl. Abschn. 7.2.2) sowie die Auswahl der (meta-)kognitiven Prompts (vgl. Abschn. 7.2.3) erläutert.

2.1 Kamerapositionen

„Im Fokus der Forscherkamera stehen sowohl in visuell-räumlicher wie auch in zeitlicher Hinsicht eben genau diese [hier kreativen] Situationen“ (Tuma, Schnettler & Knoblauch, 2013, S. 72)

Um die mathematisch kreativen Aktivitäten der Erstklässler*innen beim Bearbeiten der arithmetisch offenen Aufgaben vollständig zu konservieren, wurden zur Videografie zwei Kameras platziert:

Kamera 1:

Diese Kamera filmte das Geschehen von hinten oben über die Köpfe des Kindes und der Forschenden-Lehrenden hinweg. Sie konnte auf diese Weise die Handlungen der Kinder mit dem Unterrichtsmaterial aufnehmen.

Kamera 2:

Die zweite Kamera ergänzte diese Aufnahme, indem sie die Unterrichtsituation von vorne filmte und so vor allem die Mimik und Gestik beider Teilnehmer*innen erfasste.

Der technische Aufbau der Kameras ist in der nachfolgenden Grafik verdeutlicht (vgl. Abb. 7.5). Sie gibt einen ersten Einblick in die örtliche Gestaltung der Unterrichtsepisoden. Alle weiteren Einzelheiten in Bezug auf die Aufgaben, den Ablauf sowie das verwendete Material werden nachfolgend dargestellt.

Abb. 7.5
figure 5

Kamerapositionen bei den Unterrichtsepisoden

2.2 Unterrichtsepisoden mit zwei arithmetisch offenen Aufgaben

„A teaching experiment involves a sequence of teaching episodes […].“ (Steffe & Thompson, 2000, S. 273)

An jeder Unterrichtsepisode nahmen ein Kind der ersten Klasse und ich als Lehrende-Forschende teil. Im Sinne von Einzelunterricht wird in dieser Studie deshalb der konkretere Begriff der Einzel-Unterrichtsepisode verwendet. Beide Teilnehmenden saßen nebeneinander an einem Gruppentisch (vgl. Abb. 7.5). Auf diese Weise wurde in jeder Unterrichtsepisode an einer arithmetisch offenen Aufgabe gearbeitet. In Abschnitt 3.2.1 und Tabelle 3.3 wurden auf theoretischer Ebene verschiedene arithmetisch offene Aufgaben vorgestellt, die auf Basis des Frameworks von Yeo (2017) bzgl. ihrer Offenheit klassifiziert werden können und für das Zeigen der individuellen mathematischen Kreativität von Schulkindern geeignet sind (vgl. Abschn. 3.1.6). Auf Grund der spezifischen Schulerfahrung der untersuchten Kinder im zweiten Halbjahr der ersten Klasse wurde sich für arithmetisch offene Aufgaben in Form verbalisierter Zahlaufgaben entschieden, da Textaufgaben aufgrund der sich noch entwickelnden Lesekompetenz eine höhere Eingangsschwelle bei der Bearbeitung aufweisen. Vom inhaltlichen Kern wurden zudem Aufgaben ausgewählt, welche die Kinder zum Entdecken und Nutzen von Zahl-, Term- und Aufgabenbeziehungen im Sinne des Zahlenblicks (vgl. Abschn. 3.2.2.2) anregen sollten. Aus diesen Gründen wurde sich für die beiden nachfolgenden arithmetisch offenen Aufgaben entschieden:

  1. A1.

    Finde verschiedene Aufgaben mit der Zahl 4.

  2. A2.

    Finde verschiedene Aufgaben mit dem Ergebnis 12.

Wird auf beide Aufgaben die für den Forschungsgegenstand der Kreativität angepasste Klassifizierungsmatrix (vgl. Abschn. 3.1.6) angewendet, dann fällt auf, dass sich die Aufgaben lediglich im Grad der Offenheit der Antwort und damit auch des Vorgehens unterscheiden (vgl. Tab. 3.2). Während bei der ersten offenen Aufgabe mit der Zahl 4 sämtliche Rechenoperationen verwendet sowie Zahl-, Term- und Aufgabenbeziehungen genutzt werden können, schränkt die zweite Aufgabe diese durch die Festlegung des Ergebnisses auf die Zahl 12 ein. So können bspw. keine Umkehraufgaben (außer \(12 + 0 = 12\) und \(12 - 0 = 12\)) gebildet werden. Daher wurde sich dafür entschieden, die Aufgabe A1 von den Kindern zuerst und anschließend die Aufgabe A2 bearbeiten zu lassen. Um eine Beeinflussung der zweiten Bearbeitung auf Grund eines zu präsenten Erinnerns an die erste Aufgabe zu verhindern, lagen beide Unterrichtsepisoden vier Wochen auseinander. Die nachfolgende Tabelle 7.2 zeigt die zeitliche Planung der qualitativen Datenerhebung zwischen den Oster- und Sommerferien 2019 mit den Erstklässler*innen abhängig von ihrem verwendeten Lehrwerk:

Tab. 7.2 Zeitliche Planung Unterrichtsepisoden im Jahr 2019

Durch die Nutzung eines Unterrichtsleitfadens für jede Unterrichtsepisode wurde vor allem die Vergleichbarkeit der zwei Lernsituationen eines Kindes sowie zwischen allen Erstklässler*innen sichergestellt, was ein hohes Maß an Objektivität für die sich anschließende Datenanalyse garantierte. Auf diese Weise war es möglich, die individuelle mathematische Kreativität von Erstklässler*innen umfassend zu rekonstruieren. Die Struktur des Leitfadens orientierte sich dabei am InMaKreS-Modell (vgl. Abschn. 2.4.2). So wurde die Einteilung in eine Produktionsphase, in der die Kinder ihre divergenten Fähigkeiten der Denkflüssigkeit und Flexibilität zeigen konnten, und in eine sich anschließende Reflexionsphase mit dem Fokus auf die Originalität der Lernenden beachtet. Die Fähigkeit der Elaboration wurde durch die verbale Begleitung der Kinder im Sinne einer eher analytischen Interaktion Raum gegeben. Insgesamt konnten die tatsächlich genutzten Impulsfragen in den Unterrichtsepisoden auch von den nachfolgend dargestellten leicht abweichen, um sich durch eine reagierende Interaktion stärker auf das individuelle Kind einstellen zu können (vgl. für die Interaktionsstile Abschn. 6.1.3).

Der genutzte Unterrichtsleitfaden orientierte sich an der von Heckmann & Padberg (2014, S. 53–58) vorgeschlagenen Grobstruktur für Unterrichtseinheiten im Fach Mathematik und gliederte sich in drei wesentliche Phasen: Einführung, Erarbeitung und Reflexion bzw. Ergebnissicherung. Dabei wurde die Produktionsphase des InMaKreS-Modells in der Einführung und Erarbeitung abgedeckt.

  1. 1.

    Einführung: Auf dem Tisch lag eine Auswahl an bunten, kindgerechten Permanentmarkern und ein Stapel blanko Karteikarten in DIN A7-Format. Ziel dieser Phase war es, die Erstklässler*innen an die arithmetisch offene Aufgabe und deren kreative Bearbeitung heranzuführen. Dazu wurde mit den Kindern ein Dreischritt erarbeitet: Zunächst sollte ein zu der offenen Aufgabe passender ZahlensatzFootnote 5 gefunden und auf eine blanko Karteikarte aufgeschrieben werden. Dann wurden die Erstklässler*innen aufgefordert, die Produktion dieses Zahlensatzes zu erklären. Anschließend sollten die Lernenden den aufgeschriebenen Zahlensatz auf dem Tisch platzieren, diesen in Bezug auf bereits abgelegte Zahlensätze sortieren und auch diesen Vorgang begründen. Dadurch konnten, neben den verbalen Erklärungen der Schüler*innen, Rückschlüsse auf die zugrundeliegenden Zahl-, Term- oder Aufgabeziehungen hinter der Produktion eines Zahlensatzes gezogen werden.

    Insgesamt sollten die Kinder in einem kleinschrittigen und ausführlichen Vorgehen ganz bewusst den ersten und zweiten Zahlensatz finden, um sich darin zu üben, ihren Bearbeitungsprozess durchgehend zu verbalisieren. Dies ist im Sinne der divergenten Fähigkeit der Elaboration notwendig, um einen Einblick in die Denkweise der Kinder und damit ihre individuelle mathematische Kreativität zu erhalten. Zur Unterstützung hatte die Lehrende-Forschende Karten mit fünf vordefinierten metakognitiven (Nr. 1 bis 5) und fünf kognitiven Prompts (Nr. 6 bis 10) zur Hand (vgl. ausführlich Abschn. 7.2.3). Dabei werden die für eine bestimmte Aktivität der Erstklässler*innen innerhalb der Unterrichtsepisode zur Verfügung stehenden Prompts durch ein farbiges Kästchen in der nachfolgenden Tabelle 7.3 angezeigt. Die in diesen Kästen stehende Zahl gibt die Nummer des konkreten metakognitiven (orange) oder kognitiven (blauen) Prompts an. Die Übersicht zeigt den Unterrichtsleitfaden in der Einführungsphase am Beispiel der arithmetisch offenen Aufgabe A1 Finde verschiedene Aufgaben mit der Zahl 4.

Tab. 7.3 Unterrichtsleitfaden – Einführung
  1. 2.

    Erarbeitung: Die Erarbeitungsphase als zweiter Teil der Produktionsphase im Sinne des InMaKreS-Modells bestand aus der eigenständigen Bearbeitung der arithmetisch offenen Aufgabe. Dies bedeutete, dass die Lernenden im zuvor eingeführten Dreischritt weitere Zahlensätze finden und auf dem Tisch anordnen sollten (vgl. Tab. 7.4). Dies wurde so lange von den Kindern ausgeführt bis diese von selbst die Produktion beendeten.

Tab. 7.4 Unterrichtsleitfaden – Erarbeitung
  1. 3.

    Reflexion: In der letzten Phase ging es darum, die Originalität als die vierte divergente Fähigkeit und damit Merkmal der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen anzuregen und beobachten zu können. Das bedeutet, dass die Erstklässler*innen ihre in der Produktionsphase erarbeitete Antwort zu der arithmetisch offenen Aufgabe sowie ihr Vorgehen reflektieren und daraufhin erweitern sollten. Dazu wurden die Kinder zunächst gefragt, ob sie ihre eigene Anordnung aller Zahlensätze beschreiben könnten. Dann sollten sie versuchen, noch weitere Zahlensätze zu finden. Hier wurde zudem immer ein kognitiver Prompt eingesetzt, wobei den Erstklässler*innen ein Zahlensatz präsentiert wurde, den sie noch nicht aufgeschrieben hatten (vgl. Abschn. 7.2.3, Prompt 10). So war es möglich, das Entdecken weiterer Zahl-, Term- oder Aufgabenbeziehungen anzuregen. Diese Phase endete dann, wenn das Kind von sich aus die weitere Produktion von Zahlensätzen über den eingeführten Dreischritt beendete. Die nachfolgende Tabelle 7.5 zeigt die Reflexionsphase schematisch.

Tab. 7.5 Unterrichtsleitfaden – Reflexion

Die gesamte Unterrichtsepisode wurde ursprünglich für etwa 20 Minuten geplant, wobei die einzelnen Phasen in Abhängigkeit von den Erstklässler*innen unterschiedlich lang dauern konnten. Mit Blick auf alle durchgeführten Unterrichtsepisoden scheint diese Schätzung adäquat, da die durchschnittliche Länge bei 18 Minuten und 42 Sekunden lag, wobei sich eine sehr weite Spanne zeigte (\(MIN = 3:55 \,min\); \(MAX = 46:03 \,min\)).

2.3 Auswahl und Einsatz der Lernprompts

„scaffolding that combines cognitive and metacognitive support and uses […] prompting seems to assure the best results“ (Saks & Leijen, 2019, S. 3)

Während der Einzel-Unterrichtsepisoden wurden im Sinne der Theorie zum Scaffolding (vgl. Kap. 4) jeweils fünf kognitive und metakognitive Lernprompts eingesetzt, um die Erstklässler*innen bei der Bearbeitung der arithmetisch offenen Aufgaben zu unterstützen. Während die metakognitiven Prompts dazu dienten, die Kinder auf einer reflexiven Ebene im Bearbeitungsprozess zu unterstützen, boten die kognitiven Prompts auf konkret mathematisch-inhaltlicher Ebene weitere Unterstützungsmöglichkeiten an. Die bewusste Definition und der sensible Einsatz der verschiedenen Prompts ermöglichten anschließend eine systematische Analyse der Bedeutung der Prompts als Unterstützungsmöglichkeit für die Erstklässler*innen. Dadurch konnte die vierte Forschungsfrage beantwortet werden (vgl. Abschn. 5.2).

In der nachfolgendenden Übersicht (vgl. Tab. 7.6) sind die zehn verschiedenen ausgewählten Prompts erneut am Beispiel der ersten arithmetisch offenen Aufgabe A1 [Zahl 4] dargestellt. Dabei wurde für jeden Lernprompt eine Funktion innerhalb der Unterrichtsepisoden formuliert. Außerdem wurde eindeutig definiert, wann dieser Prompt einzusetzen war. Zentral ist zudem die rahmenhafte Ausformulierung des Lernprompts, bei der zu betonende Wörter fett markiert wurden. Alle diese Informationen über die zehn verschiedenen Prompts wurden auf Karten gedruckt und standen der Lehrenden-Forschenden während der Unterrichtsepisoden zur Verfügung (vgl. Abschn. 7.2.2).

Tab. 7.6 Definierte Lernprompts am Beispiel der ersten Aufgabe

Für den kognitiven Prompt 6 wurden Zahlensätze vorbereitet, die den Erstklässler*innen in den Unterrichtsepisoden präsentiert wurden. So war dies im Rahmen der ersten arithmetisch offenen Aufgabe [Zahl 4] als Beispiel der Zahlensatz \(4 + 1 = 5\) und für die zweite Aufgabe A2 [Ergebnis 12] der Zahlensatz \(6 + 6 = 12\). Diese Zahlensätze bildeten beide einen guten Ausgangspunkt für das Finden weiterer Zahlensätze über verschiedenste Zahl-, Term- oder Aufgabenbeziehung und damit das Zeigen der individuellen mathematischen Kreativität der Erstklässler*innen.

Die Bedeutung des kognitiven Lernprompts 10 für die Reflexionsphase wurde bereits in der Erläuterung des Unterrichtsleitfadens angesprochen (vgl. Abschn. 7.2.2). Dieser wurde bei allen Unterrichtsepisoden individuell eingesetzt, um die Erstklässler*innen anzuregen, weitere Zahlensätze zu finden sowie ihre Ideen und eventuell auch Ideentypen zu erweitern. Somit wurden neben der Denkflüssigkeit insbesondere die beiden divergenten Fähigkeiten Flexibilität und Originalität als Merkmale der individuellen mathematischen Kreativität der Erstklässler*innen angeregt. Die konkret den Kindern präsentierten Zahlensätze wurden während der Unterrichtepisoden passend zum kreativen Bearbeitungsprozess der Lernenden ausgewählt und aufgeschrieben. Je nachdem, welche Zahl-, Term- und Aufgabenbeziehungen die Erstklässler*innen bereits entdeckten bzw. nutzten, wurde ein Zahlensatz angeboten, an dem weitere arithmetische Muster und Strukturen entdeckt werden konnten. Die Interpretation dieses Zahlensatzes im Zusammenhang zu den Zahlensätzen der Kinder wurde jedoch ausschließlich von diesen konstruiert.

Der Einfluss metakognitiver und kognitiver Prompts auf den Grad der Offenheit von mathematischen Aufgaben, die das Zeigen der individuellen mathematischen Kreativität von Schulkindern ermöglichen, wurde bereits auf theoretischer Ebene erläutert (vgl. Abschn. 4.2.2). In diesem Zusammenhang wurde eine Übersicht im Sinne des Frameworks von Yeo (2017) entwickelt, welche die Veränderung bezogen auf die fünf Variablen darstellt (vgl. Tab. 3.2). An dieser Stelle der methodischen Ausführungen soll diese Übersicht noch dadurch ergänzt werden, welche Variablen von den definierten Lernprompts konkret beeinflusst werden (vgl. Tab. 7.7). Dieser Einfluss wird in der nachfolgenden Tabelle durch die verschiedenen Farbverläufe auf dem Kontinuum zwischen Geschlossenheit und Offenheit in den fünf Variablen illustriert. Dabei ist zunächst auffällig, dass der Einsatz (meta-)kognitiver Prompts in allen Variablen bis auf die Erweiterung dazu führt, dass die Variablen in Bezug auf solche offenen Aufgaben, die Schüler*innen das Zeigen ihrer individuellen mathematischen Kreativität ermöglichen, weiter geschlossen werden. Inwiefern eine Reduzierung der Offenheit stattfinden kann, ist dabei von den verschiedenen Prompts abhängig: Alle zehn definierten (meta-)kognitiven Lernprompts können durch ihre Funktion als Unterstützungsangebote einen Einfluss auf die Variable der Komplexität bei der Bearbeitung der arithmetisch offenen Aufgabe nehmen. Zudem bewirken insbesondere die kognitiven Prompts 7, 8, 9 und 10 eine Verringerung der Offenheit in der Variablen des Vorgehens, da bei diesen Unterstützungsmöglichkeiten den Kindern konkrete Bearbeitungshinweise gegeben werden. Der Einsatz der fünf metakognitiven Prompts führt indes zu einer weiteren Schließung der Offenheit in der Zielformulierung und dem Vorgehen, jedoch in einem geringeren Maß als bei den kognitiven Prompts. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die metakognitiven Lernprompts die Erstklässler*innen zur eigenständigen Reflexion anregen sollten, die dann zu weiteren Bearbeitungsideen führen konnten. Außerdem nimmt der kognitive Prompt 10 eine gewisse Sonderrolle ein, da er als einziger Lernprompt einen Einfluss auf die Offenheit von drei Variablen nimmt. So kann das Zahlensatzbeispiel sowohl zur Konkretisierung des Ziels als auch der Antwort und vor allem des Vorgehens beitragen.

Tab. 7.7 Klassifizierungsmatrix mit Einfluss der zehn definierten (meta-)kognitiven Prompts

Nachdem nun die Datenerhebung dieser Studie über die Methode des lauten Denkens bei den videografierten Unterrichtsepisoden zu zwei arithmetisch offenen Aufgaben (vgl. Abschn. 7.2, insbesondere Abschn. 7.2.1 und 7.2.2) sowie die Auswahl zehn (meta-)kognitiver Lernprompts (vgl. Abschn. 7.2.3) erläutert wurde, soll im weiteren Verlauf dieses Kapitels die Datenanalyse im Detail präsentiert werden

2.4 Zusammenfassung

In den vorangegangenen Abschnitten wurden die einzelnen methodischen Entscheidungen für die Datenerhebung der vorliegenden qualitativen Studie zur individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen beim Bearbeiten arithmetisch offener Aufgaben dargestellt. Dabei ergeben sich die präsentierten spezifischen Eigenschaften wie etwa die Durchführung von Unterrichtsepisoden und der Einsatz (meta-)kognitiver Prompts aus der Adaption der Teaching Experiment-Methodologie (vgl. Abschn. 6.2):

  • Als Datenerhebungsmethode wurde sich für das laute Denken entschieden, wobei die Erstklässler*innen ihre kreativen Bearbeitungen der arithmetisch offenen Aufgaben im Sinne ihrer Elaborationsfähigkeit durchgehend versprachlichen bzw. ihre Ideen erklären sollten. Die daraus entstandenen qualitativen verbalen Daten wurden durch eine Videografie der durchgeführten Unterrichtsepisoden konserviert. Diese wurden dann durch qualitative visuelle Daten aus der Beobachtung der mimischen sowie gestischen Handlungen der Kinder ergänzt (vgl. Abschn. 7.2).

    1. In jeder durchgeführten Unterrichtsepisode im Zeitraum Mai bis Juni 2019 wurde eine arithmetisch offene Aufgabe bearbeitet. Dabei wurde zunächst die Aufgabe A1 Finde verschiedene Aufgaben mit der Zahl 4 und vier Wochen später die offene Aufgabe A2 Finde verschiedene Aufgaben mit dem Ergebnis 12 eingesetzt (vgl. Abschn. 7.2.2).

    2. Jede Unterrichtsepisode folgte dem gleichen Unterrichtsleitfaden, der eine Dreiteilung in Einführung, Erarbeitung und Reflexion aufwies. In der Einführung und Erarbeitung fand die Produktionsphase im Sinne des InMaKreS-Modells statt und in der Reflexion entsprechend die Reflexionsphase. Zentral war in allen Phasen der Dreischritt aus dem Finden eines Zahlensatzes, dem Erklären der Produktion und dem begründeten Ablegen des Zahlensatzes (vgl. Abschn. 7.2.2).

    3. Zur Unterstützung der Erstklässler*innen bei der Verbalisierung ihrer Ideen wurden jeweils fünf metakognitive und kognitive Prompts definiert, die in den Unterrichtsepisoden adaptiv eingesetzt wurden (vgl. 7.2.3).

Die einzelnen methodischen Entscheidungen zur Datenerhebung wurden in die nachfolgende Abbildung 7.6 des gesamten Studiendesigns eingepflegt und werden im nachfolgenden Abschnitt 7.3 durch die Einzelheiten der Datenauswertung ergänzt:

Abb. 7.6
figure 6

Studiendesign mit methodischen Entscheidungen aus der Datenerhebung

3 Gemischt qualitative und quantitative Datenanalyse

„Von der Qualität zur Quantität und wieder zur Qualität.“ (Mayring, 2015, S. 22)

Das Ziel der Datenanalyse war es primär, die individuelle mathematische Kreativität von Erstklässler*innen beim Bearbeiten arithmetisch offener Aufgaben herauszuarbeiten (Forschungsfrage 1), um dadurch Kreativitätstypen der Erstklässler*innen zu bilden (Forschungsfrage 2). Zudem sollten Erkenntnisse über eine geeignete kreative Umgebung aus dem Einsatz der beiden unterschiedlichen, aber strukturgleichen arithmetisch offenen Aufgaben (Forschungsfrage 3) und dem Einsatz der (meta-)kognitiven Prompts (Forschungsfrage 4) abgeleitet werden. In einem letzten Schritt sollte außerdem ein möglicher Zusammenhang zwischen den individuellen Voraussetzungen der Erstklässler*innen und ihrer individuellen mathematischen Kreativität untersucht werden (Forschungsfrage 5) (vgl. Abschn. 5.2). Für die Beantwortung der ersten vier Forschungsfragen dieser Studie sollte zunächst auf Basis der videografierten Unterrichtsepisoden der Erstklässler*innen deren individuelle mathematische Kreativität in Bezug auf das in dieser Arbeit theoretisch entwickelte InMaKreS-Modell rekonstruiert werden. Die daraus resultierenden Analyseergebnisse wurden zum einen genutzt, um unterschiedliche Typen der individuellen mathematischen Kreativität empirisch zu entwickeln. Zum anderen dienten sie auch für die Beschreibung einer angemessenen kreativen Umgebung vor allem in Bezug auf den Einsatz der (meta-)kognitiven Lernprompts. Dieses Vorgehen wird nachfolgenden ausführlich dargestellt (vgl. Abschn. 7.3.1). Es schließt sich zudem eine methodische Beschreibung an, wie die fünfte Forschungsfrage zum Zusammenhang der unterrichtlichen, mathematischen sowie intellektuellen Voraussetzungen der Erstklässler*innen und deren individuelle mathematischer Kreativität beantwortet werden kann (vgl. Abschn. 7.3.2).

3.1 Typisierung mittels qualitativer Video-Inhaltsanalyse

„Ganz allgemein lässt sich der Prozess der Typenbildung in vier Teilschritte oder Stufen einteilen.“ (Kelle & Kluge, 2010, S. 91)

Unter dem Begriff Typ wird allgemein das Ergebnis eines Gruppierungsprozesses verstanden, bei dem alle Fälle anhand bestimmter Merkmale eingeteilt werden (vgl. zur Übersicht Kelle & Kluge, 2010, S. 85). Dabei gilt das Prinzip, dass die Fälle innerhalb eines Typs „möglichst ähnlich sind (interne Homogenität […]) und sich die Typen voneinander möglichst stark unterscheiden (externe Heterogenität […])“ (Kelle & Kluge, 2010, S. 85). Der Prozess der Bildung von Typen verläuft dabei nach Kelle und Kluge (2010, Kap. 5.3) in vier Stufen, die auch für die Datenanalyse der vorliegende Studie strukturgebend waren. Die folgende Abbildung 7.7 veranschaulicht die einzelnen Stufen und betont, dass die Typisierung nicht als linearer Prozess zu verstehen ist, sondern die Teilschritte mehrfach zyklisch durchlaufen werden können bzw. müssen. Dies ist von der Mehrdimensionalität der Daten abhängig (vgl. Kelle & Kluge, 2010, S. 92).

Abb. 7.7
figure 7

Typisierungsprozess (in Anlehnung an Kelle & Kluge, 2010, S. 92)

Auf der ersten Stufe werden relevante Vergleichsdimensionen, d. h. Kategorien und Subkategorien zum Forschungsgegenstand erarbeitet. Darauf aufbauend werden auf der zweiten Stufe alle Fälle gruppiert und „die Gruppen hinsichtlich empirischer Regelmäßigkeiten untersucht“ (Kelle & Kluge, 2010, S. 91). Unter dem Begriff des Merkmalsraums werden zudem alle potenziellen Kombinationsmöglichkeiten der Kategorien beschrieben und dann mit den empirisch auftretenden Fällen verglichen. Auf diese Weise wird die interne Homogenität der Gruppen hergestellt. Auf der dritten Stufe werden die inhaltlichen Sinnzusammenhänge, die den gebildeten Gruppen zugrunde liegen, erklärt. Schlussendlich werden den gebildeten Typen auf der vierten Stufe charakterisierende Bezeichnungen gegeben (vgl. Kelle & Kluge, 2010, S. 92–93). Nach dieser kurzen Übersicht der einzelnen Stufen des Prozesses wird in den nachfolgenden Abschnitten 7.3.1.1 bis 7.3.1.4 die Umsetzung der einzelnen Stufen in dieser Arbeit zur individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen ausführlich erläutert.

3.1.1 Erarbeitung relevanter Kategorien und Subkategorien

Basis der Datenauswertung bildeten die qualitativen verbalen (und visuellen) Daten, die aus dem lauten Denken der Erstklässler*innen während der videografierten Unterrichtsepisoden gewonnen wurden (vgl. Abschn. 7.2). Bei der Analyse dieser Daten wurde in der vorliegenden Studie eine qualitative Video-Inhaltsanalyse nach Mayring, Gläser-Zikuda und Ziegelbauer (2005) durchgeführt, die sich an der qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring, 2010; Kuckartz, 2014b) orientiert. Analog zu dieser sind „in den hier beschriebenen Techniken der Textanalyse qualitative und quantitative Analyseschritte zu finden“ (Mayring, 2015, S. 17), weshalb Hussy, Scheier und Echterhoff (2013, S. 256) dieses textanalytische Verfahren zu den Mixed Methods-Ansätzen zählen. So wurde in dieser Arbeit ein theoriebasierendes Kategoriensystem zur individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen erstellt, wobei die Beobachtungen auf die sichtbaren Verhaltensweisen während der Unterrichtsepisoden beschränkt und „innere Vorgänge […] nur aus den beobachtbaren mimisch-gestischen und verhaltensbezogenen Informationen erschlossen werden [konnten]“ (Mayring et al., 2005, S. 13). Damit keine Informationen bei einer Transkription der Videodaten verloren gehen, wie es bei nahezu jeder Form von Transkripten mehr oder minder stark der Fall ist, wurden keine erstellt (vgl. Dalehefte & Kobarg, 2012, S. 17–18; Derry et al., 2010, S. 19–20). Die komplexe Aufgabe, Mimik, Gestik, Sprechüberschneidungen oder sogar Stimmungen in Schriftform darzustellen, für die es vielfältigste Transkriptionsmöglichkeiten gibt (vgl. Mayring, 2002, S. 89–94), fiel deshalb weg. Dies hat auch zur Folge, dass sich die qualitative Video-Inhaltsanalyse ähnlich wie textbasierte Verfahren zwar als regelrecht aber auch stark interpretativ bei der Zuweisung von Kategorien zu Videostellen versteht (vgl. Mayring et al., 2005, S. 13).

Zur Inhaltsanalyse der Videodaten aus den Unterrichtsepisoden mussten diese zunächst in einzelne Phasen unterteilt werden, die dann analysiert und Kategorien zugeordnet werden konnten. Dies entspricht bei inhaltsanalytischen Verfahren zu Texten dem Definieren von Analyseeinheiten (vgl. Mayring et al., 2005, S. 6). Die Segmentierung von Videodaten ist dabei abhängig von dem Stichprobenplan, in dem festgelegt wird, „welche Einheiten des aufgezeichneten Materials für die Untersuchung der Fragestellung angemessen sind“ (Dalehefte & Kobarg, 2012, S. 19). Es lassen sich dabei zwei verschiedene Verfahren unterscheiden (vgl. Dalehefte & Kobarg, 2012, S. 18–19; Döring & Bortz, 2016, S. 327): Der Zeitstichprobenplan (im Englischen: Time-Sampling) unterteilt ein Video in immer gleichlange Sequenzen, die dann einzeln kodiert werden. Dieses Vorgehen eignete sich für diese Studie nicht, da der kreative Bearbeitungsprozess der Erstklässler*innen nicht durch zeitlich gleichförmige Ereignisse gekennzeichnet war. So wurde hier die zweite Form, der Ereignisstichprobenplan (im Englischen: Event-Sampling), bevorzugt, der sich zudem in besonderem Maß für Videostudien anbietet (vgl. Böhm-Kasper, Schuchart & Weishaupt, 2010, S. 88). Bei diesem wurden alle videografierten Unterrichtsepisoden in verschieden lange Sequenzen aufgeteilt, die ein zusammenhängendes und bedeutsames Ereignis bzw. mathematische Handlungen der Kinder zeigten.

Mit Blick auf den Unterrichtsleitfaden wurde als eine solche Handlung der Durchlauf eines Dreischritts, also das Finden, Erklären und Ablegen eines Zahlensatzes, gewählt (vgl. Abschn. 7.2.2). Auf diese Weise wurden in chronologischer Reihenfolge und sortiert nach den beiden Phasen Produktion und Reflexion die verschiedenen Zahlensätze und die dazugehörigen Erklärungen der Erstklässler*innen analysiert und grafisch veranschaulicht. Es fand demnach zunächst eine Schematisierung der Bearbeitungsprozesse statt. Die von den Kindern selbst erklärte mathematische Produktion eines Zahlensatzes bildet im Sinne der Definition der individuellen mathematischen KreativitätFootnote 6 eine Idee (vgl. Abschn. 2.4.1). Dieser zentrale Begriff verweist somit nicht nur auf den produzierten Zahlensatz, sondern vielmehr auf den im Sinne von Guilford (1968, S. 92) schöpferischen Gedanken des Kindes, der zu der Produktion des Zahlensatzes geführt hat. Dabei sind die sprachlichen Möglichkeiten, die Elaborationsfähigkeit, der Kinder, ihre Ideen zu erklären, unterschiedlich ausgeprägt.

In einem nächsten Analyseschritt fand dann eine Kategorisierung der Ideen in Bezug auf die der Erklärung der Kinder zugrundeliegenden Zahl-, Term- und Aufgabenbeziehungen statt. Die Bildung der verschiedenen Kategorien geschah induktiv ausschließlich auf Basis aller videografierten Unterrichtsepisoden. Dabei war die Elaborationsfähigkeit der Erstklässler*innen, ihre Ideen zu erklären, naturgemäß sehr unterschiedlich konkret und nachvollziehbar. Daher war es an vielen Stellen der Analyse notwendig, Ideen durch eine Analyse der gestischen Handlungen der Lernenden (Legen und/oder Verschieben der Karteikarten) oder durch die kindlichen Erklärungen zur Produktion anderer Zahlensätze im weiteren Verlauf der Unterrichtsepisode rekursiv zu kategorisieren (vgl. Teaching Experiment-Methodologie Abschn. 6.1). War die Nachvollziehbarkeit einer Erklärung nicht möglich, dann wurden Ideen auch nicht kategorisiert. Als Ergebnis der Kategorienbildung entstand ein System an Haupt- und Subkategorien, die alle unterschiedliche Ideentypen darstellten. Somit konnte hier der zweite zentrale Begriff – die Ideentypen – aus der Definition der individuellen mathematischen Kreativität (vgl. Abschn. 2.4.1) in den Bearbeitungen der Erstklässler*innen herausgearbeitet werden. Die Subkategorien gaben dabei aufgrund ihrer Detailliertheit einen besonders differenzierten Einblick in die von den Kindern gezeigten arithmetischen Muster und Strukturen. Dagegen eigneten sich die Hauptkategorien aufgrund ihrer Komprimierung der von den Kindern gezeigten und erklärten Zahl-, Term- und Aufgabenbeziehungen vor allem dafür, diejenigen Stellen im Bearbeitungsprozess der Erstklässler*innen zu identifizieren, an denen eine bedeutsame Änderung im Vorgehen stattgefunden hatte. An diesen fand dann im Sinne der Definition der individuellen mathematischen Kreativität ein Ideenwechsel statt (vgl. Abschn. 2.4.1).

Als Resultat dieser ersten Analyse der zentralen Begriffe Idee und Ideentyp aus der Definition der individuellen mathematischen Kreativität (vgl. Abschn. 2.4.1) in den videografierten Unterrichtsepisoden entstand für jede Bearbeitung einer arithmetisch offenen Aufgabe ein sogenanntes individuelles Kreativitätsschema. Dieses ist in Abbildung 7.8 anhand eines schematischen Beispiels dargestellt. Die Darstellung verdeutlicht insbesondere den Prozess der Analyse: Links beginnend ist die Schematisierung der Bearbeitungsprozesse abgebildet, aus der die Einteilung in Ideen (graue Kästen) ersichtlich wird. Dann folgt die Kategorisierung der Ideen durch Haupt- und Subkategorien, welche die Ideentypen bilden und Ideenwechsel anzeigen:

Abb. 7.8
figure 8

Erste Analyse der Ideen, Ideentypen und Ideenwechsel im Bearbeitungsprozess zur Erstellung eines individuellen Kreativitätsschemas

Die individuellen Kreativitätsschemata der Bearbeitungen arithmetisch offener Aufgaben bildeten die Grundlage dafür, die individuelle mathematische Kreativität der Erstklässler*innen auf Basis des InMaKreS-Modells (vgl. Abschn. 2.4.2) in einer zweiten Analyse herauszuarbeiten. Auf Basis der einzelnen Definitionen der divergenten Fähigkeiten aus Abschnitt 2.4.1 wurden über alle Unterrichtepisoden der Erstklässler*innen hinweg deduktiv-induktive Kategoriensysteme entwickelt, welche die divergenten Fähigkeiten Denkflüssigkeit, Flexibilität, Originalität und Elaboration der Erstklässler*innen beschrieben. Dabei wurde der als Eingangszitat formulierte Grundsatz – „Von der Qualität zur Quantität und wieder zur Qualität“ (Mayring, 2015, S. 22) – in der Bildung der einzelnen Kategoriensysteme berücksichtigt, indem qualitative (Sub-)Kategorien am Datenmaterial erarbeitet wurden, diese daraufhin über alle Unterrichtsepisoden hinweg quantifiziert wurden, um dann wiederum qualitative (Sub-)Kategorien zu bilden:

  • So sollte die Fähigkeit Denkflüssigkeit durch Kategorien beschrieben werden, welche die Anzahl der Ideen jedes Kindes im Vergleich zum gesamten Sample abbilden.

  • Die Fähigkeit der Flexibilität sollte der Definition entsprechend aus zwei Kategorien bestehen, um die beiden Teilfähigkeiten abzubilden, „innerhalb der eigenen Ideen verschiedene Ideentypen zu zeigen (Diversität) und so Ideenwechsel zu vollziehen (Komposition)“ (Abschn. 2.4.1).

  • Zuletzt wurde die Originalität als die Fähigkeit der Schüler*innen, „ihre selbst produzierten Ideen und darin enthaltenen verschiedenen Ideentypen zu betrachten und davon ausgehend weitere Ideen zu produzieren sowie gleichsam mit diesen evtl. auch weitere Ideentypen und Ideenwechsel zu zeigen“ (Abschn. 2.4.1) definiert. Mit Rückgriff auf das InMaKreS-Modell mussten hier Kategorien erarbeitet werden, die die mathematisch kreativen Handlungen der Erstklässler*innen in der Reflexionsphase in Bezug zur Produktionsphase beschrieben. So wurden Kategorien zur Reflexion und Erweiterung der Ideen und Ideentypen der Erstklässler*innen auf Basis der divergenten Fähigkeiten Denkflüssigkeit und Flexibilität gebildet.

  • Um die Elaborationsfähigkeit der Erstklässler*innen abzubilden, wurde ebenso qualitativ wie induktiv analysiert, inwiefern die (meta-)kognitiven Lernprompts die Erstklässler*innen darin unterstützen, ihre individuelle mathematische Kreativität zu zeigen, indem sie ihren Bearbeitungsprozess von arithmetisch offenen Aufgaben sprachlich begleiteten. Daher wurde ein Kategoriensystem entwickelt, das die Beantwortung der vierten Forschungsfrage ermöglichte (vgl. Abschn. 5.2).

Das nachfolgende Schaubild (vgl. Abb. 7.9) zeigt die zweite Analyse der Unterrichtsepisoden auf dem Weg hin zu einer Charakterisierung und Typisierung der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen. Nachfolgend werden die weiteren Stufen im Typisierungsprozess (vgl. Abschn. 7.3.1.2 bis 7.3.1.4) erläutert, in denen auf Basis der Kategoriensysteme zu den divergenten Fähigkeiten Denkflüssigkeit, Flexibilität und Originalität sukzessive die individuelle mathematische Kreativität von Erstklässler*innen auf Basis des InMaKreS-Modells analysiert und typisiert wurde.

Abb. 7.9
figure 9

Zweite Analyse der divergenten Fähigkeiten Denkflüssigkeit, Flexibilität, Originalität und der (meta-)kognitiven Prompts

3.1.2 Gruppierung der Fälle und Analyse des Merkmalsraums

Auf der zuvor dargestellten ersten Stufe des Typisierungsprozesses wurden nach Kelle und Kluge (2010, S. 93–96) durch die Bildung von Kategoriensystemen für die divergenten Fähigkeiten Denkflüssigkeit, Flexibilität und Originalität sogenannte Vergleichsdimensionen (Kelle & Kluge, 2010, S. 13) erarbeitet. Auf der zweiten Stufe erfolgt nun eine Gruppierung der einzelnen Fälle, also der Unterrichtsepisoden, durch eine systematische Kombination der erarbeiteten Vergleichsdimensionen, d. h. der Haupt- und Subkategorien (vgl. Kelle & Kluge, 2010, S. 96). Dies kann bspw. durch eine Kreuztabelle geschehen, in der dann ein gegebenenfalls mehrdimensionaler Merkmalsraum geschaffen wird (vgl. Kelle & Kluge, 2010, S. 96–97; Kuckartz, 2010, S. 103). Da die Gruppierung der Fälle und die Suche nach empirischen Regelmäßigkeiten mitunter sehr umfassend sowie unübersichtlich sein können (vgl. Kelle & Kluge, 2010, S. 100), stellen explorative statistische Verfahren ein Hilfsmittel dar, um Muster innerhalb des Merkmalsraums zu identifizieren und die Fälle zu gruppieren (vgl. Kuckartz, 2010, S. 227–229). Dabei legitimiert Kuckartz (2010, S. 229) den Einsatz solcher quantitativen, variablenorientierten Vorgehensweisen innerhalb einer interpretativen Analyse, da sie nur „als Hilfsmittel bei einem bestimmten Analyseschritt eingesetzt [werden]. Anschließend können und müssen die entdeckten Muster wieder interpretativ gefüllt werden“ (S. 229). Solche statistischen Analysen dienen ausschließlich dazu, den Überblick über den Merkmalsraum zu erhöhen und dadurch im Typisierungsprozess weiter voranzuschreiten (vgl. Kelle & Kluge, 2010, S. 100). Sie können aufgrund der geringen Sample-Größe qualitativer Studien wie die vorliegende nicht die „Verallgemeinerungsfähigkeit und Repräsentativität von Aussagen erhöhen, die aufgrund qualitativer Daten getroffen werden“ (Kelle & Kluge, 2010, S. 100). Das notwendige Erklären inhaltlicher Zusammenhänge geschieht dann auf der nächsten Stufe im Prozess (vgl. Abschn. 7.3.1.3).

Abb. 7.10
figure 10

InMaKreS-Modell

Durch das in dieser Arbeit gebildete InMaKreS-Modell (vgl. Abb. 7.10) werden die divergenten Fähigkeiten der Denkflüssigkeit, Flexibilität und Originalität nicht nur definiert, sondern auch untereinander in Beziehung gesetzt (vgl. ausführlich Abschn. 2.4.2). Um diese Beziehungen zwischen den divergenten Fähigkeiten als Merkmale der individuellen mathematischen Kreativität der Erstklässler*innen in der Analyse der Unterrichtsepisoden adäquat abzubilden, wurde sich dafür entschieden, das mathematische Vorgehen der Erstklässler*innen bei der kreativen Bearbeitung der arithmetisch offenen Aufgaben in der Produktionsphase, die vor allem durch die beiden Fähigkeiten Denkflüssigkeit und Flexibilität geprägt ist, als kreative Vorgehensweisen zu bezeichnen. Zur Bildung dieses neuen Kategoriensystems wurden die beiden bestehenden Vergleichsdimensionen der Denkflüssigkeit und Flexibilität im Sinne von Kelle und Kluge (2010) sowie Kuckartz (2010) in einer Kreuztabelle systematisch aufeinander bezogen. Zudem wurden die Fälle durch statistische Verfahren gruppiert, um so neue Kategorien für die Vorgehensweise der Erstklässler*innen in der Produktionsphase zu erhalten.

Um eine sprachliche Trennung zu schaffen, wurden die mathematisch kreativen Handlungen der Lernenden in der Reflexionsphase, in der die Erstklässler*innen vor allem ihre Originalität zeigen konnten, als kreative Verhaltensweisen bezeichnet. Wie bereits in Abschnitt 7.3.1.1 erläutert, wurde zur Bildung dieses Kategoriensystems die Reflexion und Erweiterung der Produktion an Zahlensätze der Erstklässler*innen kategorisiert. Vor dem Hintergrund des Kategoriensystems zu den kreativen Vorgehensweisen in der Produktionsphase konnte auf dieser Stufe des Typisierungsprozesses das Kategoriensystem der Originalität noch konkretisiert werden. Dazu war die folgende Frage leitend: Inwiefern veränderten die Erstklässler*innen durch eine Reflexion der zuvor eigenständig produzierten Zahlensätze ihr Vorgehen bei der Produktion weiterer Zahlensätze in der Reflexionsphase? So wurde eine Kategorie gebildet, welche die Veränderung im Vorgehen der Erstklässler*innen von der Produktions- zur Reflexionsphase basierend auf den divergenten Fähigkeiten der Denkflüssigkeit und Flexibilität abbildet. Durch eine Kombination dieser mit der Kategorie zur Erweiterung der produzierten Zahlensätze entstand dann das vollständige Kategoriensystem für die kreativen Verhaltensweisen der Erstklässler*innen in der Reflexionsphase.

Insgesamt entstanden auf dieser Stufe des Typisierungsprozesses durch die gezielte Kombination der bestehenden Kategoriensysteme sowie Konkretisierung der Kategorien zu den drei divergenten Fähigkeiten (vgl. Abschn. 7.3.1.1, insbesondere Abb. 7.9) zwei neue Kategoriensysteme für die kreativen Vorgehensweisen in der Produktionsphase und kreativen Verhaltensweisen der Erstklässler*innen in der Reflexionsphase. Um die individuelle mathematische Kreativität der Erstklässler*innen auf Basis des InMaKreS-Modells umfänglich charakterisieren zu können, mussten dann die beiden Kategoriensysteme zu den kreativen Vorgehens- und Verhaltensweisen der Lernenden noch miteinander verknüpft werden. Dafür war es zielführend, eine Kombination aus Kreuztabelle und statistischen Häufigkeitsanalysen zu verwenden. Das nachfolgende Schaubild (vgl. Abb. 7.11) zeigt den gesamten Prozess der zweiten Analyse im Detail:

Abb. 7.11
figure 11

Zweite Analyse – Erstellung von Kategoriensystemen und sukzessive Kombination dieser zur Charakterisierung der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen

In Anlehnung an Kelle und Kluge (2010, S. 100–104) reicht es jedoch nicht aus, die empirischen Zusammenhänge von verschiedenen Merkmalen in Merkmalsräumen und die dadurch entstehende Gruppierung von Fällen zu betrachten, sondern es muss eine Analyse der inhaltlichen Zusammenhänge stattfinden, um Typen bilden zu können. Dieses Vorgehen wird im Folgenden ausführlich dargestellt.

3.1.3 Analyse inhaltlicher Sinnzusammenhänge und Typisierung

Kelle und Kluge (2010, S. 102) verweisen auf die besondere Bedeutung der Suche nach inhaltlichen Sinnzusammenhängen bei der Konstruktion eines Merkmalsraums (vgl. Abschn. 7.3.1.2) im Typisierungsprozess. Dazu ist es notwendig, „bestimmte Vorannahmen […] [über das Handeln der Akteure zu treffen], die ein unverzichtbares heuristisches Werkzeug zur Konstruktion ‚sinnvoller‘ und ‚verständlicher‘ soziologischer (Handlungs-)Typen bilden“ (Kelle & Kluge, 2010, S. 102). In dieser Arbeit bilden das InMaKreS-Modell und die Definition der divergenten Fähigkeiten als Merkmale der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen den Rahmen für die Analyse der inhaltlichen Sinnzusammenhänge (vgl. Abschn. 7.3.1.3).

Auf dieser Stufe im Typisierungsprozess wurden also die inhaltlichen Sinnzusammenhänge zwischen den gebildeten Kategorien des endgültigen Kategoriensystems zur individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen (vgl. Abb. 7.11) analysiert. Dazu müssen Fallvergleiche innerhalb der einzelnen Gruppen sowie zwischen ebendiesen vorgenommen werden. Diese können laut Kelle und Kluge (2010) „dazu führen, dass

  • Fälle anderen Gruppen zugeordnet werden, denen sie ähnlicher sind,

  • stark abweichende Fälle zunächst aus der Gruppierung herausgenommen und separat analysiert werden,

  • zwei oder auch drei Gruppen zusammengefasst werden, wenn sie sich sehr ähnlich sind oder

  • einzelne Gruppen weiter differenziert werden, wenn starke Unterschiede ermittelt werden.“ (S. 102)

Aufgrund der Definition der individuellen mathematischen Kreativität (vgl. Abschn. 2.4) und den theoretischen Annahmen zum Einsatz arithmetisch offener Aufgaben im Rahmen der Kreativitätsforschung (vgl. Abschn. 3.2) durften bzw. mussten die gebildeten Gruppen sowie die Zuordnungen von Erstklässler*innen zu eben diesen verändert werden. Auf diese Weise konnte das Ziel erreicht werden, den Merkmalsraum und letztendlich auch die durch die ersten beiden Phasen gebildeten Merkmalskombinationen auf wenige Typen der individuellen mathematischen Kreativität zu reduzieren (vgl. Kelle & Kluge, 2010, S. 102). An dieser Stelle im Forschungsprozess ist es dann auch möglich Anomalien oder überraschende empirische Befunde zu identifizieren, die durch eine zusätzliche, vertiefende Analyse induktiv oder deduktiv kategorisiert werden und dann erneut durch inhaltliche Sinnzusammenhänge erklärt werden können (vgl. Kelle & Kluge, 2010, S. 103–104). In dieser Studie konnten so wenige und vor allem aussagekräftige Typen der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen herausgearbeitet werden, die auch im Kontext von Mathematikunterricht für Lehrer*innen nutzbar sind, um die individuelle mathematische Kreativität ihrer Schüler*innen einzuschätzen und fördern zu können.

3.1.4 Charakterisierung der gebildeten Typen

Der letzte Schritt im Prozess der empirischen Typisierung bildet die Charakterisierung der gebildeten Typen (vgl. Kelle & Kluge, 2010, S. 105–107) auf Basis der Merkmalsräume und analysierten inhaltlichen Sinnzusammenhänge (vgl. Abschn. 7.3.1.2 und 7.3.1.3). Die Autoren verweisen dabei auf die Wichtigkeit dieses Auswertungsschritts, die häufig verkannt wird. Dabei ist eine ausführliche Charakterisierung für „die Beschreibung der Typen und die Zuordnung weiterer Untersuchungselemente“ (Kelle & Kluge, 2010, S. 105) essenziell. Gegenstand der Charakterisierungen ist das Gemeinsame aller Fälle einer Gruppe herauszustellen, wobei der Umstand, dass sich die Fälle nicht in allen Merkmalen ähneln, eine besondere Herausforderung darstellt (vgl. Kelle & Kluge, 2010, S. 105).

Kuckartz (2010, S. 106–107) unterscheidet zwei Strategien bei der Charakterisierung von Typen. Unter der repräsentativen Fallinterpretation werden sogenannte Prototypen für die Beschreibung herangezogen, die stellvertretend für alle Fälle einer Gruppe stehen. Dabei gilt, dass durch eine „sorgfältige Lektüre der Textsegmente, die der Typisierung zugrunde liegen, der bestgeeignete Fall (es kann sich auch um mehrere Fälle handeln) identifiziert werden muss“ (Kuckartz, 2010, S. 106). Die zweite Strategie besteht aus der bewussten Konstruktion eines Modalfalls aus relevanten Textsegmenten von mehreren Fällen einer Gruppe. So werden jedoch genau genommen keine Idealtypen gebildet, da eine Montage ausgewählter Texte für die plausible Beschreibung des Typen aus realen Fällen stattfindet (vgl. Kuckartz, 2010, S. 107; Übersicht bei Kelle & Kluge, 2010, S. 105–106).

In dieser Studie zur individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen beim Bearbeiten arithmetisch offener Aufgaben wurde sich für eine repräsentative Fallinterpretation entschieden, da dadurch die Übertragbarkeit der Typen durch prototypische, reale Beispielkinder in der mathematischen Unterrichtspraxis von Lehrkräften ermöglicht wird. Die Bildung eines idealtypischen Falls weicht dabei zu sehr vom erlebten Unterrichtsalltag ab, als dass diese Form der Charakterisierung von Kreativitätstypen für den Mathematikunterricht hilfreich wäre.

3.2 Zusammenhangsberechnungen mittel Hypothesentests

“One of the intriguing points in educational research is the relationship between creativity and giftedness” (R. Leikin & Lev, 2013, S. 184)

In den theoretischen Ausführungen zur individuellen mathematischen Kreativität von Schulkindern wurde anhand älterer (etwa Haylock, 1987; Guilford, 1967) sowie neuerer (etwa R. Leikin & Lev, 2013; Kattou et al., 2016) Studien aufgezeigt, dass Uneinigkeit darüber besteht, inwiefern die mathematische Kreativität von Personen, deren mathematische Fähigkeiten und ihrer Intelligenz zusammenhängen (vgl. ausführlich Abschn. 2.3.3.2 und 5.1). Dies liegt vor allem daran, dass die zugrundeliegenden Konstrukte der drei Begriffe innerhalb der verschiedenen Studien unterschiedlich definiert wurden, weshalb auch die Ergebnisse different ausfallen mussten (vgl. Plucker et al., 2019, S. 1088). In diesem Sinne leistet die vorliegende empirische Studie ebenfalls einen Beitrag zu dieser fachdidaktischen Diskussion. Durch die Formulierung der fünften Forschungsfrage wird nach einem Zusammenhang zwischen der individuellen mathematischen Kreativität der Erstklässler*innen sowie deren individuellen Voraussetzungen gesucht. Zu diesen Voraussetzungen gehören drei Aspekte: Die intellektuellen Voraussetzungen der Lernenden wurden über deren Ergebnis im CFT 1-R Teil 2, die mathematischen Fähigkeiten über die Ergebnisse im MBK 1 + und die unterrichtlichen Voraussetzungen durch das verwendete Lehrwerk bestimmt (vgl. Abschn. 5.2):

F5:

Welcher Zusammenhang besteht zwischen der individuellen mathematischen Kreativität der Erstklässler*innen und deren individuellen, d. h. intellektuellen, mathematischen und unterrichtlichen, Voraussetzungen?

Methodisch konnte dieser Forschungsfrage über die Verknüpfung der Erkenntnisse aus dem Sampling-Verfahren und den Ergebnissen aus der Studie zur individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen begegnet werden, was ein bedeutsames Forschungselement des Mixed Methods-Designs dieser Studie darstellt (vgl. Einführung zu Kap. 7). Konkret wurden die individuellen Voraussetzungen der Kinder, d. h. ihre Fähigkeitsprofile (mathematischen Basisfertigkeiten, Grundintelligenz) sowie das verwendete Lehrwerk (Welt der Zahl, Denken & Rechnen) (vgl. Abschn. 7.1.2 und) auf die in der qualitativen Studie entwickelten Typen der individuellen mathematischen Kreativität bei der Bearbeitung der beiden arithmetisch offenen Aufgaben A1 [Zahl 4] und A 2 [Ergebnis 12] (vgl. Abschn. 7.3.1) bezogen. Dadurch, dass alle Ergebnisse erst noch empirisch, insbesondere induktiv, am Datenmaterial erarbeitet werden müssen, findet an dieser Stelle der Arbeit nur eine theoretische Beschreibung des methodischen Vorgehens statt.

Es wurde sich zunächst dafür entschieden als eine Möglichkeit des Hypothesentestens in der Statistik den \({\chi}^{2}\)-Test (Chi-Quadrat-Test) zu verwenden, um eine deskriptiv- und inferenzstatistische Analyse der Daten, die aus der qualitativen Video-Inhaltsanalyse erarbeitet wurden, durchzuführen (vgl. Döring & Bortz, 2016, S. 612–613). Dabei werden „Personen entsprechend eines oder mehrerer Merkmale kategorisiert“ (Bortz & Schuster, 2010, S. 137). Ebendiese Merkmale wurden durch die drei folgenden nominalskalierten Variablen der Erstklässler*innen bestimmt: die Zuordnung zu einem Fähigkeitsprofil (beinhaltet die mathematischen Fähigkeiten über das Ergebnis im MBK 1 + und die intellektuellen Fähigkeiten über das Ergebnis im CFT 1-R Teil 2), das verwendete Lehrwerk und die Kreativitätstypen bei der Bearbeitung der beiden arithmetisch offenen Aufgaben. So wurden Analysen zu den Häufigkeitsverteilungen der verschiedenen Ausprägungen der zuvor aufgelisteten Variablen (Frequenzanalyse) durchgeführt (vgl. Döring & Bortz, 2016, S. 559). Aus diesen konnte ein möglicher Zusammenhang zwischen der individuellen mathematischen Kreativität der Erstklässler*innen zu ihren verschiedenen individuellen Voraussetzungen geschlossen werden. Dabei unterschieden sich die beiden genannten Voraussetzungen deutlich voneinander: Die Fähigkeitsprofile stellen die unterschiedlichen intellektuellen sowie mathematischen Fähigkeiten der Lernenden dar und bestanden dementsprechend aus zwei Konstrukten, die auch in der aktuellen Forschungsliteratur mit der Kreativität von Schüler*innen in Beziehung gesetzt werden (vgl. Abschn. 2.3.3.2). Dagegen bildete das verwendete Lehrwerk als weitere Voraussetzung der Erstklässler*innen in dieser Studie einen neuen Einflussfaktor ab. Dementsprechend wurden zwei zu testende Zusammenhangshypothesen mit \(H_{1}\) (Alternativhypothesen) und \(H_{0}\) (Nullhypothesen) (vgl. Döring & Bortz, 2016, S. 660) formuliert:

\(H1_{1}\)::

Die beiden Merkmale der Aufgabenbearbeitungen Fähigkeitsprofil und Kreativitätstyp der Erstklässler*innen sind voneinander abhängig.

\(H1_{0}\)::

Die beiden Merkmale der Aufgabenbearbeitungen Fähigkeitsprofil und Kreativitätstyp der Erstklässler*innen sind voneinander unabhängig.

\(H2_{1}\)::

Die beiden Merkmale der Aufgabenbearbeitungen Lehrwerk und Kreativitätstyp der Erstklässler*innen sind voneinander abhängig.

\(H2_{0}\)::

Die beiden Merkmale der Aufgabenbearbeitungen Lehrwerk und Kreativitätstyp der Erstklässler*innen sind voneinander unabhängig.

Dadurch, dass der Stichprobenumfang für den \({\chi}^{2}\)-Test bei 36 kreativen Aufgabenbearbeitungen lag, waren mehrdimensionale Kontingenzanalysen durch \(n\) x \(m\)-Kreuztabellen, d. h. multivariate Häufigkeitsverteilungen, durch \({\chi}^{2}\)-Tests möglich (vgl. Bortz & Schuster, 2010, S. 142, insbesondere Tab. 9.3). Jedoch konnte es vorkommen, dass aufgrund des geringen Stichprobenumfangs und der explorativ bzw. induktiv gebildeten Kategorien für die Fähigkeitsprofile und Kreativitätstypen der Erstklässler*innen in den entsprechenden Kreuztabellen nicht alle Fälle zahlenmäßig häufig vertreten sind. Da in diesem Fall die Voraussetzungen für die Berechnung eines \({\chi}^{2}\)-Tests, nämlich dass nur weniger als 20 % der Fälle eine beobachtete Häufigkeit von 5 haben dürfen, nicht erfüllt werden kann, müsste dann der exakte Test nach Fischer-Freeman-Halton gerechnet werden (vgl. Bortz & Schuster, 2010, S. 141). Der Fischer-Yates-Test liefert auch für kleine Stichproben eine exakte Berechnung eines möglichen, signifikanten Zusammenhangs von zwei an einer Stichprobe erhobenen dichotom ausgeprägten Merkmalen (einseitiger Test) (vgl. Bortz & Lienert, 2008, S. 84–87). Aufgrund der Erweiterung durch den Freeman-Halton-Test können dann auch mehrstufige Kreuztabellen, d. h. Merkmale mit mehr als zwei Ausprägungen, exakt berechnet werden (vgl. Bortz & Lienert, 2008, S. 94–97). Da in dieser Studie die vorgestellten Merkmale der Erstklässler*innen, d. h. ihre individuelle mathematische Kreativität, die Fähigkeitsprofile und das verwendete Lehrwerk, überwiegend mehr als zwei Merkmalsausprägungen aufwiesen, wurde zur Überprüfung der beiden Hypothesen der exakte Fischer-Freeman-Halton-Test mit dem Statistikprogramm SPSS gerechnet.

Da in Anlehnung etwa an Plucker, Karwowski und Kaufman (2019, S. 1088) in empirischen Forschungsarbeiten unterschiedliche Zusammenhänge zwischen der mathematischen Kreativität von Schüler*innen, deren Intelligenz und mathematischen Fähigkeiten herausgearbeitet wurden, sollte in dieser Studie ein detaillierter Blick auf die Fähigkeitsprofile der Erstklässler*innen gelegt werden. Es galt zu prüfen, inwiefern die individuelle mathematische Kreativität stärker von den domänenspezifischen, also mathematischen, Fähigkeiten der Lernenden abzuhängen schien als von ihrer Intelligenz (etwa R. Leikin & Lev, 2013, S. 194–196; Kattou et al., 2016, S. 118–119). Dies konnte durch eine Auflösung der Fähigkeitsprofile in ihre zwei Bestandteile erreicht werden, nämlich in die mathematischen Fähigkeiten (Ergebnisse im MBK 1 + ) und die intellektuellen Fähigkeiten (Ergebnisse im CFT 1-R Teil 2) (vgl. Abschn. 7.1.2.2). Diese beiden individuellen Voraussetzungen der Erstklässler*innen wurden als weitere Merkmale betrachtet, die in einem Zusammenhang zu den Kreativitätstypen der Kinder stehen konnten. Um nicht zu viele Ausprägungen dieser Variablen zu erzeugen, wurde die Interpretationstabelle der T-Werte (vgl. Tab. 7.1) genutzt und diese auf drei Ausprägungen reduziert, die genauso für eine einfache Beschreibung von Testergebnissen von Ennemoser, Krajewski und Sinner (2017b, S. 30) genutzt werden: Die Erstklässler*innen konnten dementsprechend unterdurchschnittliche (\(T - Wert \le 39\)), durchschnittliche (\(40 \le T - Wert \le 59)\) oder überdurchschnittliche (\(T - Wert \ge 60\)) Fähigkeiten zeigenFootnote 7. So wurden dem Hypothesenpaar \(H1\) zwei weitere Alternativ- und Nullhypothesen \(H1a\) und \(H1b\) untergeordnet:

\(H1a_{1}\)::

Die beiden Merkmale der Aufgabenbearbeitungen (mathematische Basisfertigkeiten, Kreativitätstyp) der Erstklässler*innen sind voneinander abhängig.

\(H1a_{0}\)::

Die beiden Merkmale der Aufgabenbearbeitungen (mathematische Basisfertigkeiten, Kreativitätstyp) der Erstklässler*innen sind voneinander unabhängig.

\(H1b_{1}\)::

Die beiden Merkmale der Aufgabenbearbeitungen (Grundintelligenz, Kreativitätstyp) der Erstklässler*innen sind voneinander abhängig.

\(H1b_{0}\)::

Die beiden Merkmale der Aufgabenbearbeitungen (Grundintelligenz, Kreativitätstyp) der Erstklässler*innen sind voneinander unabhängig.

Als Ergebnis der gerechneten \({\chi}^{2}\)-Tests konnte der Zusammenhang zwischen der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen zu den mathematischen und intellektuellen Voraussetzungen statistisch näher bestimmt werden.

Um weiterführende qualitative Einblicke vor allem auf arithmetischer Ebene zu erhalten, sollte die für die statistische Berechnung erstellte Kreuztabelle, die den Zusammenhang von den Kreativitätstypen und Fähigkeitsprofilen der Erstklässler*innen aufzeigt, auch inhaltlich ausgewertet werden. Die nachfolgende Abbildung 7.12 verdeutlicht schematisch auf welche Art und Weise eine qualitative Analyse eines möglichen Zusammenhangs zwischen den individuellen Voraussetzungen der Erstklässler*innen und ihrer individuellen mathematischen Kreativität möglich war: In dieser Darstellung sind die mit Hilfe der Clusteranalyse gebildeten Fähigkeitsprofile der Erstklässler*innen in einem Koordinatensystem dargestellt. Dieses wurde über die T-Werte der Kinder in den beiden Testungen mit dem MBK 1 + (mathematische Basisfertigkeiten) und dem CFT 1-R Teil 2 (Grundintelligenz) aufgespannt (vgl. Abschn. 7.1.2.2). Für jedes der Fähigkeitsprofile wurden zum einen die Kreativitätstypen der zugeordneten Erstklässler*innen und zum anderen die arithmetischen Ideentypen (vgl. Abschn. 7.3.1.1), welche die kreative Aufgabebearbeitung der Lernenden prägten, abgebildet. Dieses Vorgehen wurde in der untenstehenden Grafik exemplarisch für einen Teil der Erstklässler*innen mit einem bestimmten Fähigkeitsprofil skizziert, indem aus dem entsprechenden Cluster herausgezoomt und darin die (inhaltlichen) Kreativitätstypen angedeutet wurden. So konnten insgesamt Rückschlüsse auf einen qualitativen Zusammenhang zwischen den individuellen Voraussetzungen der Erstklässler*innen und ihrer individuellen mathematischen Kreativität formuliert werden.

Abb. 7.12
figure 12

Qualitative Analyse des Zusammenhangs von Kreativitätstypen und Fähigkeitsprofilen

3.3 Zusammenfassung

In Ergänzung zu den methodischen Entscheidungen zur Datenerhebung in dieser qualitativen Studie zur individuellen mathematischen Kreativität (vgl. Abschn. 7.2) wurde in diesem Abschnitt 7.3 die Phase der Datenauswertung mittels umfassender, gemischt qualitativer und quantitativer Analysen dargestellt. Daraus ergeben sich die folgenden Ergänzungen für das gesamte Studiendesign (vgl. Abb. 7.4):

  • Die Auswertung der erhobenen qualitativen Daten zielte zunächst auf eine Charakterisierung und Typisierung der individuellen mathematischen Kreativität der Erstklässler*innen auf Basis des InMaKreS-Modells ab. Deshalb wurde mittels einer qualitativen Video-Inhaltsanalyse (Mayring et al., 2005) ein Typisierungsprozess nach Kelle und Kluge (2010) durchlaufen, indem die videografierten Unterrichtsepisoden systematisch kategorisiert und die Kategoriensysteme kombiniert wurden, um schließlich Typen der individuellen mathematischen Kreativität zu bilden (vgl. Abschn. 7.3.1).

  • Zudem wurden quantitative, deskriptiv- und inferenzstatistische Analysemethoden genutzt, um einen möglichen Zusammenhang zwischen den individuellen Voraussetzungen der Erstklässler*innen und ihrer individuellen mathematischen Kreativität herauszuarbeiten (vgl. Abschn. 7.3.2).

Diese methodischen Konkretisierungen wurden erneut in das Schaubild zum Studiendesign eingepflegt (vgl. Abb. 7.13), sodass sich nun ein vollständiges Bild ergibt.

Abb. 7.13
figure 13

Vollständiges Design dieser Studie zur individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen