„At present, there is a need for more dynamic conceptions of creativity in educational settings.“ (Beghetto & Corazza, 2019, S. 2)

Auf dem Weg hin zu einer ausführlichen Darstellung der Zielsetzung dieser empirischen Arbeit wird nun zunächst begründet, warum die individuelle mathematische Kreativität von Erstklässler*innen fokussiert wird (vgl. Abschn. 5.1). Dazu werden relevante Ergebnisse aus vor allem mathematikdidaktischen Forschungen aufgeführt, die ein aktuelles Forschungsdesiderat aufzeigen. Der Anspruch der empirischen Studie dieser Arbeit besteht darin, einen Beitrag zur Klärung dieses Desiderats zu leisten. Welche Ziele im Einzelnen verfolgt werden und welche Forschungsfragen dementsprechend formuliert wurden, wird deshalb subsequent erläutert (vgl. Abschn. 5.2). Dieses Kapitel bildet somit insgesamt die Basis für die Wahl der spezifischen Methodik (vgl. Kap. 6 und 7) sowie der empirischen Befunde (vgl. Teil III) zur individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen beim Bearbeiten arithmetisch offener Aufgaben.

1 Warum die individuelle mathematische Kreativität von Erstklässler*innen bedeutsam ist

„Young students, who have had little experience with standard mathematical problems, may be more open and creative in their thinking than older children who have been acculturated by years of solving standard one solution problems.“ (Tsamir et al., 2010, S. 228)

In den theoretischen Grundlagen dieser Arbeit wurde das Konstrukt der individuellen mathematischen Kreativität für das Mathematiklernen von Schüler*innen vielschichtig erarbeitet sowie definiert, um darauf aufbauend das Modell der individuellen mathematischen Kreativität von Schulkindern (InMaKreS) zu entwickeln (vgl. Kap. 2). Anschließend wurden zum einen (arithmetisch) offene Aufgaben als geeignete mathematische Umgebung für das Zeigen der individuellen mathematischen Kreativität von Lernenden dargestellt (vgl. Kap. 3) und zum anderen mögliche Unterstützungsmöglichkeiten der Schüler*innen in Form von (meta-)kognitiven Lernprompts durch Mathematiklehrkräfte aufgezeigt (vgl. Kap. 4).

Im Sinne des grundlegenden Verständnisses von Kreativität als domänenspezifisches und relatives Konstrukt wurde die Dimension der kreativen Person in den Mittelpunkt der Betrachtungen gerückt (vgl. Abschn. 2.2). Da durch die mathematikdidaktische Ausrichtung dieser Arbeit entsprechend als Kreativitätsdomäne das Mathematiktreiben und -lernen von Schüler*innen gewählt wurde, wurde in den weiteren Ausführungen die individuelle mathematische Kreativität von Schulkindern fokussiert. Das forschungs- und unterrichtspraktische InMaKreS-Modell ist daher für die kreativen Bearbeitungen von Lernenden aller Schulformen nutzbar. Dieser Personenkreis soll nun für die empirische Forschung der vorliegenden Arbeit begründet auf Erstklässler*innen eingeschränkt werden.

In Kapitel 2 und 3 wurden bereits Argumente für die Bedeutsamkeit der individuellen mathematischen Kreativität von jüngeren Schulkindern präsentiert, die hier noch einmal kurz zusammengefasst werden:

  • Torrance (1968) stellte bereits vor fast einem halben Jahrhundert den „fourth-grade slump“ (S. 195) in der Kreativität der Schüler*innen fest. Das bedeutet, dass die Kreativität der betrachteten Schüler*innen in der vierten Klasse plötzlich stark absank und sich nur wenige Lernende in den folgenden Schuljahren davon wieder signifikant erholten (vgl. Torrance, 1968, S. 198–199). Dieses Forschungsergebnis erklärt Amabile (1996) dadurch, dass der Anpassungsdruck der Kinder an ihre Peer-Gruppe mit zunehmendem Alter steigt. Folglich sind die Lernenden immer weniger bereit, bei Aufgabenbearbeitungen neue Wege zu beschreiten, d. h. vor allem ihre Fähigkeit der Flexibilität als ein Merkmale der individuellen mathematischen Kreativität zu zeigen (vgl. Amabile, 1996). Eine Betrachtung von jüngeren Schulkindern wie Erstklässler*innen scheint deshalb besonders bedeutsam für eine Beschreibung der individuellen mathematischen Kreativität, da sie (vermutlich) bei der Bearbeitung mathematischer Aufgaben besonders kreativ tätig werden (vgl. ausführlich Abschn. 2.3.2.1).

  • Bezogen auf eine eher kognitive Ebene resümieren Tsamir, Tirosh, Tabach und Levenson (2010, S. 228) auf Basis ihrer qualitativen Interviewstudie mit 163 Kindergartenkindern (5 bis 6 Jahre alt), dass junge (Schul-)Kinder möglicherweise kreativer sind als ältere Mathematiklernende, da sie weniger Erfahrung mit algorithmischen Bearbeitungsverfahren aufweisen und dadurch insgesamt offener in ihrem mathematischen Denken sind (vgl. ausführlich Abschn. 3.1.4). Daher könnte die wissenschaftliche, aber auch diagnostische Beobachtung von jungen Schüler*innen bei deren Bearbeitung offener Aufgaben einen relevanten Einblick in ihre individuelle mathematische Kreativität liefern (vgl. ausführlich Abschn. 3.1.5).

  • In der Domäne der mathematischen Kreativität konnten jüngere Studien (etwa Juter & Sriraman, 2011; R. Leikin & Lev, 2013) zeigen, dass vielmehr die mathematische Fähigkeiten als die Intelligenz einen Einfluss auf die individuelle mathematischen Kreativität von Schüler*innen haben. Dieser Zusammenhang gilt insbesondere auch für Grundschüler*innen, deren mathematische Fähigkeiten und Kompetenzen sehr individuell ausgeprägt sind (etwa Aßmus & Fritzlar, 2018), weshalb eine Betrachtung dieser kreativen Personen bedeutsam erscheint (vgl. ausführlich Abschn. 2.2.3).

Trotz dieser theoretisch basierten Argumente für die Bedeutung einer wissenschaftlichen Betrachtung der individuellen mathematischen Kreativität von Kindern im Elementar- und Primarbereich adressieren in der englischsprachigen Forschungsliteratur von 2010 bis 2020 nur rund 4,4 % aller Artikel zum Thema mathematische Kreativität Schüler*innen von 0 bis 12 JahrenFootnote 1. Bei einer genaueren Betrachtung der Methodik dieser Studien ist zum einen ein Trend in Richtung quantitativer Verfahren zu findenFootnote 2. Zum anderen können die Studien im Sinne des 4P-Modells von Kreativität (vgl. Abschn. 2.2.3) vor allem den beiden Dimensionen der kreativen Person oder der kreativen Umgebung zugeordnet werdenFootnote 3. Das bedeutet, dass aktuelle Forschungsarbeiten darauf abzielen, geeignete und gezielte Fördermöglichkeiten der mathematischen Kreativität von jüngeren Schüler*innen zu entwickeln und/oder zu evaluieren. Dafür wird der Begriff der Kreativität vor allem auch im Kontext des sozialen Lernens betrachtet (vgl. hierzu Abschn. 2.3.2). Das in dieser Arbeit gebildete InMaKreS-Modell auf Basis des divergenten Denkens versucht hingegen die individuelle mathematische Kreativität von Schulkindern qualitativ zu charakterisieren und Möglichkeiten aufzuzeigen, wie Kinder im alltäglichen Mathematikunterricht ihre individuelle mathematische Kreativität zeigen können. Doch welche aktuellen Forschungsergebnisse lassen sich zu diesem Thema aus den gefilterten Studien zusammenfassen?

Zunächst sollen einige ausgewählte Ergebnisse aus qualitativen und quantitativen Studien zur mathematischen Kreativität von jüngeren Kindern (etwa drei bis zehn Jahre) vorgestellt werden (vgl. Abschn. 5.1.1), um anschießend den Blick auf Forschungen zu geeigneten Lernangeboten für die Förderung der mathematischen Kreativität von Schüler*innen zu werfen (vgl. Abschn. 5.1.2). Aus dem so ausführlich skizzierten Forschungsstand und daraus resultierendem Forschungsdesiderat werden anschließend die Forschungsziele und -fragen für diese empirische Arbeit abgeleitet (vgl. Abschn. 5.2).

1.1 Ergebnisse internationaler Studien mit dem Fokus auf Kita- und Grundschulkinder als mathematisch kreative Personen

“Age is significantly associated with children’s OFE [originality, flexibility, elaboration] development at lower grades but not at upper grades […]” (Sak & Maker, 2006, S. 288)

Kattou, Christou & Pitta-Pantazi (2016, S. 105–109) nehmen in ihrer quantitativen Studie 476 griechische Grundschüler*innen im Alter von 9–12 Jahren in den Blick, die verschiedene standardisierte und selbst entworfene Kreativitäts-, Intelligenz- und Mathematiktests absolvierten. Mit Hilfe von ausführlichen Korrelations- und konfirmatorischen Faktorenanalysen (vgl. Kattou et al., 2016, S. 109–110) können die Autor*innen ein Definitionsmodell von mathematischer Kreativität bestehend aus den drei sich gegenseitig beeinflussenden und interagierenden divergenten Fähigkeiten Denkflüssigkeit, Flexibilität und Originalität ähnlich zu dem Begriffsverständnis in dieser Arbeit (vgl. Abschn. 2.4.1) empirisch nachweisen (vgl. Kattou et al., 2016, S. 117). Ein anderer Schwerpunkt dieser Studie lag auf der Untersuchung der Eigenschaften kreativer Personen. Die Autor*innen stellen fest, dass die PersönlichkeitFootnote 4 der Kinder einen vorhandenen, wenn auch nur geringen, Einfluss auf ihre mathematische Kreativität im folgenden Sinn nimmt: „students should understand how creative they are in order to be able to ´create´“ (Kattou et al., 2016, S. 119). Dagegen ist ein wichtiges Forschungsergebnis, dass das mathematische Wissen bzw. die Entwicklung der individuellen mathematischen Fähigkeiten der Schüler*innen und nicht etwa deren Intelligenz einen Einfluss auf deren mathematische Kreativität nimmt (vgl. Kattou et al., 2016, S. 118–119). Die ebenso quantitativen Studienergebnisse von Leu & Chiu (2015, S. 46) konkretisieren diese Annahme noch weiter, indem die Autor*innen aufzeigen, dass vor allem die kreative VerhaltensweisenFootnote 5 component association und outcome improvement signifikant mit den mathematischen Fähigkeiten der 372 untersuchten taiwanischen Viertklässler*innen korrelierten (vgl. Leu & Chiu, 2015, S. 42). Dies kann dadurch erklärt werden, dass diese Kompetenzen durch das Schulcurriculum und den Mathematikunterricht stärker trainiert werden als die anderen drei kreativen Verhaltensweisen space imagination, representation invention und alternative curiosity (vgl. Leu & Chiu, 2015, S. 46). Jedoch konnten die Autor*innen herausstellen, dass „all of the 5 creative behaviours in mathematics positively and most moderately relate to the 3 gifted behaviour (passion, creativity, and intelligence)“ (Leu & Chiu, 2015, S. 47). Dies widerspricht den Studienergebnissen von Kattou, Christou und Pitta-Pantazi (2016) und verdeutlicht, dass bis zum heutigen Tag nicht eindeutig erforscht werden konnte, inwiefern die mathematische Kreativität und die Intelligenz von Kindern zusammenhängen (vgl. dazu auch Abschn. 2.3.3.2). Daher soll auch in der vorliegenden empirischen Studie zur individuellen mathematischen Kreativität dieser Aspekt, d. h. der Zusammenhang zwischen der Kreativität auf Basis des InMaKreS-Modells, der Intelligenz und den mathematischen Fähigkeiten von Schüler*innen, untersucht werden.

In Bezug auf ein für weitere Forschungen bedeutsames Alter von Schüler*innen, deren mathematische Kreativität untersucht werden soll, können die Ergebnisse der ebenso quantitativ ausgerichteten Studie von Sak und Maker (2006) mit 841 Erst- bis Fünftklässler*innen richtungsweisend sein. Durch verschiedene statistische Analysen divergenter sowie konvergenter Bearbeitungen verschiedener mathematischer offener (Problem-)Aufgaben (vgl. Sak & Maker, 2006, S. 282–285), konnten die Autor*innen schlussfolgern, dass das Alter die Fähigkeit der Denkflüssigkeit nur wenig beeinflusst. Dagegen zeigte sich, dass das Alter der Kinder in Verbindung mit deren Flexibilität, Originalität und Elaboration steht: Je älter die Kinder sind, desto deutlicher sind ihre kreativen Fähigkeiten ausgeprägt. Dieses Ergebnis wird insbesondere nur bei jüngeren Schulkindern signifikant (vgl. Sak & Maker, 2006, S. 288–289). Die Klassenstufe der Schüler*innen nimmt jedoch keinen solchen Einfluss auf die mathematische Kreativität der Lernenden (vgl. Sak & Maker, 2006, S. 290). Das bedeutet, dass die Erforschung der individuellen mathematischen Kreativität vor allem von jungen Schulkindern bedeutsam scheint.

Doch inwiefern nehmen körperliche Beeinträchtigungen einen Einfluss auf die Entwicklung der kindlichen Kreativität und müssen daher bei der Auswahl von Kindern für (mathematikdidaktische) Studien berücksichtigt werden? M. Leikin & Tovli (2019) nehmen diesbezüglich eine weitere Forschungsperspektive ein und untersuchten in ihrer Studie, die (mathematische) Kreativität von 45 einsprachigen, israelischen Vorschulkindern mit spezifischer Sprachentwicklungsstörung (SSES)Footnote 6 (im Englischen: Specific Language Impairment (SLI)) basierend auf dem Kreativitätsmodell von R. Leikin (2009c) (vgl. M. Leikin & Tovli, 2019, S. 23–24). Dabei wiesen die Kinder mit SSES Defizite auf „areas of nonverbal cognition, including such executive functions as inhibition, verbal working memory, and cognitive flexibility […]“ (M. Leikin & Tovli, 2019, S. 23). Alle teilnehmenden Kinder bearbeiteten in Einzelinterviews die beiden kreativitätsanregend offenen Aufgaben CEN-task (vgl. Tsamir et al., 2010, siehe Abschn. 2.1.4) und PMS-task (vgl. ausführlich M. Leikin, 2013, S. 437–438), die dann mittels Varianzanalysen ausgewertet wurden (vgl. M. Leikin & Tovli, 2019, S. 25–27). Aus den Ergebnissen ihrer Analysen schlussfolgern die Autor*innen, dass Sprachentwicklungsstörungen die mathematische Kreativität der Kinder nur „to some extent, but not critically and probably in an indirect way“ (M. Leikin & Tovli, 2019, S. 30) beeinflussen. Kreativität als eine kognitive Fähigkeit entwickelt sich insgesamt bei Kindern mit SSES gleichermaßen, nur etwas langsamer als bei Kindern ohne etwaige Beeinträchtigungen (vgl. M. Leikin & Tovli, 2019, S. 30). Das bedeutet, dass eine Erforschung der individuellen mathematischen Kreativität von allen Schulkindern mit und ohne sprachliche Entwicklungsstörung möglich und bedeutsam ist.

1.2 Ergebnisse internationaler Studien mit dem Fokus auf verschiedenartige Lernangebote als mathematisch kreative Umgebungen

„Collective [and individual] creativity is partly the result of a climate that allows the free flow of ideas and a teacher who is flexible enough to allow and perhaps foster this climate“ (Levenson, 2011, S. 231)

Im vorangegangenen Abschnitt konnte durch aktuelle Studienergebnisse herausgestellt werden, dass die Betrachtung der individuellen mathematischen Kreativität von jungen Schulkindern vor dem Hintergrund ihrer intellektuellen und mathematischen Fähigkeiten bedeutsam ist. Im Folgenden sollen nun Forschungsergebnisse zu geeigneten Lernangeboten, die Kinder dazu anregen, ihre mathematische Kreativität zu zeigen, dargestellt werden. Diese können eine wichtige Ergänzung zu den Ausführungen zu offenen Aufgaben (vgl. Kap. 3) bieten und daher für die Planung der empirischen Studie nützlich sein.

Zunächst sollen zwei große (internationale) Forschungsprojekte –„Camp Invention®“ (Saxon, Treffinger, Young & Wittig, 2003) und „Creative Little Scientists“ (Stylianidou & Rossis, 2014) – vorgestellt werden, die beide inquiry-based (auf Deutsch: fragenstellende) Lernangebote zur Förderung von Kreativität eingesetzt haben. Darunter wird ein Lernangebot verstanden, dass von den Interessen und konkreten Fragen der Schüler*innen ausgeht und daher im besonderen Maß dem konstruktivistischen Verständnis von Lernen gerecht wird (etwa Jaworski, 1996, S. 10–12). Dieses ist auch für den Kreativitätsbegriff grundlegend (vgl. Abschn. 2.3.2).

  • Das internationale Forschungsprojekt „Creative Little Scientists“ (Stylianidou & Rossis, 2014) hat in einer 30-monatigen Langzeitstudie von 2011–2014 das Potential einer Förderung der Kreativität in Mathematik und Naturwissenschaft von drei- bis achtjährigen Kindern qualitativ untersucht. Durch verschiedene Feldstudien in europäischen Ländern kommen Cremin, Glauert, Craft, Compton & Stylianidou (2015) zum Schluss, dass „IBSE [inquiry-based science education] and CA [creative approaches] to teaching and learning are closely connected in practice; they operate in a synergistic relationship“ (S. 415). Dies verweist somit auf einen starken Zusammenhang zwischen dem entdeckenden Lernen und kreativem Handeln von Schüler*innen im Mathematikunterricht. Zudem wurde deutlich, dass je älter die Kinder wurden, spielerische und explorative Angebote durch stärker gelenkte, fragenstellende und bewusst anregende Zugänge zur Mathematik und den Naturwissenschaft abgelöst wurden (vgl. Cremin et al., 2015, S. 415). Dabei merkten jedoch viele pädagogische Fach- und Lehrkräfte an, dass sie in ihrer Berufsausbildung keine expliziten Möglichkeiten zur Förderung der Kreativität von Kindern erlernt hatten, dies aber notwendig sei, um entsprechend Angebote zu konzipieren (vgl. Cremin et al., 2015, S. 415–416). Vor allem diese letzte Feststellung der Lehrer*innen, dass ihnen fachdidaktische Konzepte zur Anregung und Förderung von Kreativität fehlen, stellt einen wichtigen Ausgangspunkt für mathematikdidaktische Forschungen zur individuellen mathematischen Kreativität von jungen Kindern dar.

  • Das „Camp Invention®“ (Saxon et al., 2003) ist ein amerikanisches Forschungsprojekt, an dem im Zeitraum von 1990–2001 etwa 30.000 Schüler*innen der zweiten bis sechsten Klasse (sechs bis zwölf Jahre alt) in über 400 Camps in 38 Bundestaaten der Vereinigten Staaten von Amerika teilgenommen haben. An den fünf Tagen der Ferienfreizeit hatten die Lernenden die Möglichkeit, an fünf verschiedenen Lernmodulen aus den Bereichen Naturwissenschaft, Mathematik, Geschichte und Kunst teilzunehmen, deren „curriculum is designed to promote creative learning by providing children with interactive activities that encourage creative solutions and stimulate imaginations“ (Saxon et al., 2003, S. 65). Dieses Ziel wurde dadurch erreicht, dass die Lernmodule – ähnlich wie bei dem Creative Little Scientist-Projekt – fragenbasiert, offen, die individuellen Erfahrungen akzeptierend, prozessorientiert und thematisch gerahmt waren (vgl. Saxon et al., 2003, S. 66–67). In einer groß angelegten Evaluierung dieser game-like creative thinking activity (Saxon et al., 2003, S. 69) im Jahr 2001 in Form eines Prä-Post-Interviews konnte „a significant positive increase in fluency of thinking (the ability to generate many possibilities […])” gezeigt werden (Saxon et al., 2003, S. 69). Dabei verweisen die Autoren darauf, dass zwar Kreativität von allen teilnehmenden Schüler*innen gezeigt werden konnte, dafür aber eine individuelle Unterstützung aller Kinder und Jugendlichen notwendig war (vgl. Saxon et al., 2003, S. 73).

Doch wie können mathematische Aufgaben neben offenen, inquiry-based Lernangeboten noch charakterisiert werden, um bei jungen Schüler*innen das Zeigen ihrer individuellen mathematischen Kreativität anzuregen? Zur Beantwortung dieser Frage kann die Studie von Stokes (2014) exemplarisch herangezogen werden. Die Autorin evaluierte am Beispiel des Zehnersystems ein neues Mathematikcurriculum für Vorschulkinder, das auf der Problem Space Theorie von Newell & Simon (1972) basiert und wie folgt charakterisiert ist:

„A problem space has three parts: an initial state, a goal state, and between the two, a search space for creatively constructing a solution path. The construction is creative because the path is new.“ (Stokes, 2014, S. 101)

Dazu wurde ein Prä-Post-Testverfahren bei einer Pilotklasse mit 23 und einer Kontrollklasse mit 20 amerikanischen Kindern durchgeführt (vgl. Stokes, 2014, S. 106–110). Die Analysen zeigen deutlich, dass die Vorschulkinder der Pilotgruppe, die mit dem neuen kreativ orientierten Mathematikcurriculum unterrichtet wurden, die Kinder der Kontrollgruppe bzgl. ihrer mathematischen Fähigkeiten im Bereich des Zehnersystems, ein- und zweistelliger Addition und Subtraktion sowie dem Umgang mit dem Zahlenstrahl übertrafen (vgl. Stokes, 2014, S. 113). Dies erklärt Stokes (2014, S. 113–114) dadurch, dass das Modell des Curriculums eine Lösungssuche durch untypische und neue Vorgehensweisen fördert, was zu einem tieferen (und individuelleren) Verständnis von mathematischen Inhalten führt. Basis dafür ist jedoch eine gewisse Regelmäßigkeit in der Anwendung dieses Curriculums sowie eine ausreichende Schulung des pädagogischen Fachpersonals (vgl. Stokes, 2014, S. 114–115).

So erwächst aus allen drei zuvor präsentierten Studien konsequenterweise die Frage danach, welchen Einfluss Lehrende über ihre Lernangebote auf das Zeigen und die Entwicklung der individuellen mathematischen Kreativität von jungen Kindern nehmen können. Die qualitative Studie von Schoevers et al. (2019) verfolgte das Ziel, Unterrichtsbedingungen und Strategien von Lehrkräften herauszuarbeiten, durch welche die mathematische Kreativität der Schüler*innen angeregt werden kann. Dazu wurde der Unterricht einer niederländischen vierten Klasse im Jahr 2017 dreimal videografiert und anschließend mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet (vgl. Schoevers et al., 2019, S. 325–328). Dabei wurden bewusst drei verschiedene Unterrichtssettings, nämlich eine außerschulische interdisziplinäre Stunde, eine schulische interdisziplinäre Stunde und eine reguläre Mathematikstunde, beobachtet (vgl. Schoevers et al., 2019, S. 328–329). Nur bei den beiden offenen und interdisziplinären Unterrichtsstunden konnten die Autor*innen Ausdrücke mathematischer Kreativität bei den Lernenden bedingt durch ein offenes Klima und längerer Klassendialoge, bei denen die Schüler*innen ihre Ideen ausdrücken und weiterentwickeln konnten, analysieren. Interessanterweise wurden solche Aspekte auch bei der schulbuch-basierten regulären Unterrichtsstunde beobachtet, jedoch führten sie hier nicht zu kreativem Verhalten der Kinder. Dies kann möglicherweise auf die unterschiedlichen Lernziele zurückgeführt werden. Nur wenn das Anregen der mathematischer Kreativität der Schüler*innen gezielt fokussiert wird (und nicht inhaltliche mathematische Themen), kann diese auch bei den Schüler*innen entstehen (vgl. Schoevers et al., 2019, S. 332). Die vorgestellten Forschungsergebnisse verweisen zum einen darauf, dass insbesondere die Nutzung offener Aufgaben für das Anregen der individuellen mathematischen Kreativität bei Schüler*innen, wie es auch das InMaKreS-Modell vorsieht, geeignet sind. Zum anderen zeigt die Studie von Schoevers et al. (2019) auch, dass das Anregen der kindlichen Kreativität im Mathematikunterricht ein bedeutsames sowie eigenständiges Unterrichtsthema sein kann und sollte.

In einer quantitativen Langzeitstudie haben sich Schacter, Thum & Zifkin (2006) der Beantwortung der Frage angenähert, inwiefern ein Zusammenhang zwischen mathematischen Lernangeboten, die das Zeigen mathematischer Kreativität fördern, und den Schülerleistungen im Lesen, der Sprache und der Mathematik besteht. Dafür beobachteten die Autoren insgesamt 48 Lehrer*innen dritter bis sechster Klassen mit zusammen 816 Schüler*innen über das Schuljahr 2001/2002 an acht Messzeitpunkten je eine Schulstunde lang und ermittelten dabei, wie oft und mit welcher Qualität die Lehrkräfte kreative Verhaltensweisen zeigten (vgl. Schacter et al., 2006, S. 49–52). Diese basieren auf 19 verschiedenen deskriptiven Verhaltensweisen der Lehrenden in den Bereichen Teaching Creative Strategies, Opportunities for Choice and Discovery, Intrinsic Motivation, Environment Conducive to Creativity und Imagination and Fantasy (vgl. ausführlich Schacter et al., 2006, S. 56–57). Auf Basis einer umfassenden Faktorenanalyse (vgl. Schacter et al., 2006, S. 58–59) kommen die Autoren zu folgendem Schluss:

„(a) the majority of teachers do not implement any teaching strategies that foster student creativity; (b) teachers who elicit student creativity turn out students that make substantial achievement gains; and (c) classrooms with high proportions of minority and low performing students receive significantly less creative teaching” (Schacter et al., 2006, S. 61)

Die Ergebnisse dieser Studie machen darauf aufmerksam, dass eine gezielte Kreativitätsförderung in der Schule einen großen Einfluss auf die schulischen, vor allem auf die mathematischen Leistungen der Lernenden hat und deshalb Lehrer*innen eine Lehr-Lern-Haltung einnehmen sollten, welche die Kreativität von Kindern – insbesondere auch der Lernenden mit schwächeren Leistungen im Vergleich zu ihren Peers – zulässt und unterstützt. Daher fordern Schacter, Thum und Zifkin (2006, S. 62–63), dass creative teaching techniques (S. 63) wie etwa das divergente Denken und metakognitive Strategien ein wichtiges Element in der Lehrer*innenbildung sein müssen.

In Bezug auf den Einfluss der Lehrperson auf die mathematische Kreativität ihrer Schüler*innen können die Ergebnisse aus der qualitativen Beobachtungsstudie von Levenson (2011) herangezogen werden. Die Autorin beobachtete ebenfalls über einen Zeitraum von einem Jahr zwei vierte und eine sechste Klasse jeweils etwa zehn Unterrichtsstunden lang (vgl. Levenson, 2011, S. 220–221). Der Schwerpunkt lag hier jedoch auf dem Lern- und Arbeitsverhalten aller Beteiligten (Lehrende und Lernende), um die Forschungsfrage zu beantworten, inwiefern eine collective mathematical creativity (Levenson, 2011, S. 220) im Kontext des divergenten Denkens entstehen kann. Aus der qualitativen Analyse von vier exemplarischen Unterrichtsstunden schlussfolgert die Autorin, dass sich die kollektive Kreativität nur dann entwickeln kann, wenn die Lehrkräfte ein entsprechendes Klima schaffen, in dem Ideen frei fließen können (s. Einganszitat, vgl. Levenson, 2011, S. 231). Dabei nehmen die Lehrenden eine Doppelrolle ein, nämlich als Gruppenmitglied und Gruppenanführer*in, durch die sie einen starken Einfluss auf die Denkflüssigkeit und Flexibilität als zwei Merkmale der individuellen mathematischen Kreativität nehmen (vgl. Levenson, 2011, S. 231–232). Eine wichtige Erkenntnis aus der Studie von Levenson (2011, S. 232–233) ist demnach, dass sich die individuelle mathematische Kreativität aller Gruppenmitglieder auf die kollektive mathematische Kreativität insofern auswirken, als dass bei der gemeinsamen Bearbeitung einer mathematischen Aufgabe alle Schüler*innen individuelle Einsichten, Ideen und Lösungsrichtungen beitragen, die dann schlussendlich zu einer gemeinsamen Idee verschmelzen.

1.3 Zusammenfassung

In diesem Abschnitt wurde die Bedeutsamkeit einer empirischen Forschungsarbeit zur individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen begründet. Dazu wurden theoretische Argumente aus mathematikdidaktischen Studien der letzten zehn Jahre zusammengefasst (vgl. Abschn. 5.1.1 und 5.1.2). Bereits durch die bei der Literatursuche geringen Anzahl an neueren, relevanten Studien wurde ein Bedarf an qualitativen Studien zur individuellen mathematischen Kreativität von jüngeren Kindern und Schüler*innen deutlich. Der aktuelle Forschungsstand in diesem Bereich kann wie folgt zusammengefasst werden:

  • Die mathematische Kreativität von Kindern in einem Alter von drei bis zwölf Jahren lässt sich durch ein Zusammenspiel der vier divergenten Fähigkeiten Denkflüssigkeit, Flexibilität, Originalität und Elaboration angemessen beschreiben und wird eher durch die mathematischen Fähigkeiten der Lernenden als deren Intelligenz beeinflusst (etwa Aßmus & Fritzlar, 2018; Kattou et al., 2016; Leu & Chiu, 2015). Dabei zeigten Sak und Maker (2006), dass das Alter der Kinder in den unteren Schuljahrgängen einen signifikanten Einfluss auf die kindliche Flexibilität, Originalität und Elaboration hat, wobei die nonverbale Sprachverarbeitung der Kinder nur einen geringen, indirekten Einfluss auf deren Kreativität nimmt (vgl. M. Leikin & Tovli, 2019). Dies stützt insgesamt die These von Tsamir, Tirosh, Tabach und Levenson (2010), dass jüngere Kinder kreativer sind als ältere Lernende, weshalb der Blick auf Erstklässler*innen relevant wird. Unklar bleibt an dieser Stelle jedoch, wie das genannte Zusammenspiel der divergenten Fähigkeiten von jungen Schulkindern qualitativ beschrieben werden kann und inwiefern die Personeneigenschaften der Kinder (Intelligenz, mathematische Fähigkeiten, unterrichtliche Voraussetzungen) einen Einfluss auf die Qualität ihrer individuellen mathematischen Kreativität nehmen.

  • In Bezug auf geeignete kreative Umgebungen, in denen Lernende ihre individuelle mathematische Kreativität zeigen können, kann festgehalten werden, dass vor allem entdeckende, fragenstellende (inquiry-based) Lernangebote (etwa Saxon et al., 2003; Stylianidou & Rossis, 2014) oder solche Unterrichtsumgebungen, die auch jungen Schüler*innen eine eigenständige Suche nach Erklärungen für mathematische Zusammenhänge ermöglichen (etwa Stokes, 2014), erfolgreich sind. Zudem scheint es in Anlehnung an Schoevers et al. (2019) wichtig, offene und eventuell auch interdisziplinäre Unterrichtsstunden zu planen, deren Lernziel explizit auf das Ermöglichen von individueller mathematischer Kreativität ausgerichtet ist. So hat eine direkte Kreativitätsförderung im Mathematikunterricht durch geeignete Lehr-Lern-Angebote einen signifikanten Einfluss auf die mathematische Leistungen der Schulkinder (vgl. Schacter et al., 2006). Zudem unterstreicht Levenson (2011) durch ihre Studie die Bedeutsamkeit der individuellen mathematischen Kreativität auf Basis des divergenten Denkens jeden Kindes für eine kollektive mathematische Kreativität, die bei einer im Klassenverbund bearbeiteten mathematischen Aufgabe entstehen kann. In diesem Zusammenhang müssen auch die Rolle der Lehrkräfte und mögliche Unterstützungsangebote bei kreativen mathematischen Handlungen mit in den Blick genommen werden.

2 Forschungsziele und daraus resultierende Fragestellungen

„Möglich ist dies [Rückschlüsse und Konsequenzen in Bezug auf fachdidaktische Optimierungen] jedoch nur, wenn aus der Perspektive und in profunder Kenntnis des Fachs Forschungsfragen präzisiert und Forschungsdesigns modifiziert werden.“ (Brunner, 2015, S. 242)

Im vorherigen Abschnitt 5.1 wurde auf Grundlage verschiedener Studien herausgearbeitet, dass ein Bedarf an mathematikdidaktischen Forschungsarbeiten besteht, die das Konstrukt der individuellen mathematischen Kreativität von jungen Kindern (etwa Beginn der Kita bis Ende der Grundschulzeit) untersuchen. Vor dem Hintergrund des grundlegenden Verständnisses der individuellen mathematischen Kreativität als relatives Konstrukt wird zudem allen (jungen) Schüler*innen zugesprochen, bei der Bearbeitung offener Aufgaben im Mathematikunterricht kreativ werden zu können (vgl. Abschn. 2.2.2). Zusammen mit der inhaltlichen Fokussierung auf die verschiedenen Ideen der Lernenden, also deren schöpferische Tätigkeiten bei der Bearbeitung offener Aufgaben (vgl. Abschn. 2.3.3.1), kann angenommen werden, dass sich Unterschiede in der individuellen mathematischen Kreativität der Kinder vor allem auf einer qualitativen Ebene zeigen.

Deshalb besteht das übergeordnetes Forschungsziel meiner empirischen Arbeit darin, die individuelle mathematische Kreativität (vgl. Abschn. 2.4) von Erstklässler*innen qualitativ zu beschreiben und die kreative Umgebung, in der eine adäquate Kreativitätsförderung im Mathematikunterricht der ersten Klasse stattfinden kann, genauer zu umschreiben. Diese bezieht sich vor allem auf den Einsatz arithmetisch offener Aufgaben (vgl. Kap. 3) und (meta-)kognitiver Prompts (vgl. Kap. 4).

Im Sinne der Übersichtlichkeit und Umsetzbarkeit dieses großen, übergeordneten Forschungsanliegens wurden drei subsequente Teilziele formuliert, denen wiederum spezifische Forschungsfragen untergeordnet wurden.

Ziel 1: Zunächst soll eine qualitative Charakterisierung der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen beim Bearbeiten arithmetisch offener Aufgaben geschehen. Dazu wird das theoretisch abgeleitete und hinreichend erläuterte InMaKreS-Modell, das alle divergenten Fähigkeiten in Beziehung setzt, als Basis dienen (vgl. Abschn. 2.4.2). In diesem Zusammenhang ergeben sich daher zwei aufeinander aufbauende Forschungsfragen:

F1:

Inwiefern kann die individuelle mathematische Kreativität von Erstklässler*innen beim Bearbeiten arithmetisch offener Aufgaben auf Basis des InMaKreS-Modells charakterisiert werden?

F2:

Inwiefern lassen sich verschiedene Typen der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen ableiten?

Ziel 2: Neben dem im ersten Ziel formulierten Blick auf Erstklässler*innen als kreative Personen soll zudem die kreative Umgebung in dieser Studie genauer untersucht werden, in die das InMaKreS-Modell eingebettet ist (vgl. Abschn. 2.4.2). Mit Blick auf die Bearbeitung arithmetisch offener Aufgaben soll deshalb der Einsatz dieser Aufgaben und deren Auswirkung auf die individuelle mathematische Kreativität der Erstklässler*innen genauer dargestellt werden. Zusätzlich muss die Interaktion zwischen den Lernenden und mir als Lehrende, insbesondere der Einsatz unterstützender (meta-)kognitiver Prompts, ausdifferenziert werden. Aus diesen Erkenntnissen können dann erste unterrichtspraktische Konsequenzen für die Förderung der kindlichen Kreativität im mathematischen (Anfangs-)Unterricht herausgearbeitet werden. Dafür dienen die beiden folgenden Fragen als leitend:

F3:

Inwiefern nimmt die Auswahl der beiden arithmetisch offenen Aufgaben einen Einfluss auf die individuelle mathematische Kreativität der bearbeitenden Erstklässler*innen?

F4:

Inwiefern unterstützen kognitive und metakognitive Lernprompts Kinder dabei, ihren Bearbeitungsprozess von arithmetisch offenen Aufgaben sprachlich zu begleiten und dadurch ihre individuelle mathematische Kreativität zu zeigen?

Ziel 3: Ein letzter Fokus liegt im Sinne des dargestellten Forschungsdesiderats (vgl. Abschn. 5.1.1) auf der Herausarbeitung eines möglichen Zusammenhangs zwischen der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen und deren intellektuellen, mathematischen und unterrichtlichen Voraussetzungen. Hier schließt sich demnach eine letzte Forschungsfrage an:

F5:

Welcher Zusammenhang besteht zwischen der individuellen mathematischen Kreativität der Erstklässler*innen und deren individuellen, d. h. intellektuellen, mathematischen und unterrichtlichen, Voraussetzungen?

In den vorangegangenen theoretischen Ausführungen wurde mehrfach darauf verwiesen, dass einige psychologische, bildungswissenschaftliche und mathematikdidaktische Kreativitätsforschungen explizit affektive und/oder motivationale Aspekte kreativer Personen in den Forschungsmittelpunkt rücken (vgl. insbesondere Abschn. 2.2.3.1, 2.2.3.2, 2.3.2 und 2.3.3.2). Aus den präsentierten Studien kann insgesamt festgehalten werden, dass zum Zeigen kreativer Verhaltensweisen auch eine gewisse (intrinsische) Motivation und Personeneigenschaften wie Neugier, Intuition oder Durchhaltevermögen vorhanden sein sollten bzw. dass diese Aspekte einen positiven Einfluss auf die Kreativität der Schüler*innen nehmen (etwa Amabile, 1996; Chamberlin & Mann, 2021; Klavir & Gorodetsky, 2009; Starko, 2018). Trotz dieses bedeutsamen Forschungsergebnisses wurde sich aus Gründen der Fokussierung auf die Exploration der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen auf Ebene des InMaKreS-Modells und aus Gründen der Forschungsökonomie in der vorliegenden Studie dafür entschieden, ausschließlich die zuvor begründeten und ausgearbeiteten Forschungsziele mit ihren untergeordneten Forschungsfragen in den Blick zu nehmen. Eine Betrachtung affektiver und motivationaler Aspekte stellt jedoch eine bedeutsame sowie mögliche Erweiterung dieser Studie dar (vgl. ausführlich Abschn. 12.2).

Mit dem Ziel eine geeignete empirische Studie zu planen, die es mir ermöglicht, die zuvor aufgeführten Forschungsziele und konkreten Forschungsfragen zur individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen umfänglich beantworten zu können, war insbesondere die mathematische Umgebung bedeutsam, in der Schüler*innen kreativ werden können. Das InMaKreS-Modell, welches den theoretischen Rahmen meiner Studie darstellt, basiert auf der kindlichen Bearbeitung arithmetisch offener Aufgaben. Dabei wurde bereits konkretisiert, dass diese kreative Bearbeitung aus einer Produktions- und einer Reflexionsphase bestehen sollte, damit die jungen Schüler*innen alle divergenten Fähigkeiten (Denkflüssigkeit, Flexibilität, Originalität und Elaboration) und dadurch ihre individuelle mathematische Kreativität zeigen können. Aus einer unterrichtspraktischen Perspektive fokussiert das InMaKreS-Modell somit auf Mathematikunterricht als Umgebung, in der Kreativität angeregt werden kann. Der Begriff Unterricht (vgl. für eine Übersicht verschiedener Definitionen Glöckel, 2003, S. 322) wird hier weit gefasst, indem darunter eine absichtsvoll geplante pädagogische Situation verstanden wird, an der mindestens ein Kind und mindestens eine Lehrperson teilnehmen und bei der die individuelle (mathematische) Entfaltung der Schüler*innen angestrebt wird. Damit reicht die Spannweite möglicher Unterrichtsformen in Bezug auf die verwendete Sozialform von Einzelunterricht bis hin zu Klassenunterricht (vgl. Meyer, 2011, S. 136–143). Vor dem Hintergrund von Mathematikunterricht als Umgebung, in der Schüler*innen im Sinne des InMaKreS-Modells kreativ werden können und der Fokussierung auf eine qualitative Beschreibung der individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen (Forschungsziele 1 und 2) sollte eine geeignete Forschungsmethodologie gewählt werden.

Das Ziel meiner empirischen Studie lag dabei nicht auf der Entwicklung von mathematikdidaktischen Theorien zur individuellen mathematischen Kreativität von Schulkindern, was etwa die Grounded Theory (Glaser & Strauss, 1967) als theoriegenerierende, sozialwissenschaftliche Methodologie anstrebt. Ganz im Gegenteil wurde die Theorie zur Kreativität von mir bereits ausführlich beschrieben, ausdifferenziert und im Rahmen des InMaKreS-Modells operationalisiert, sodass sie nun durch vielschichtige, empirische Eindrücke aus der Arbeit mit Erstklässler*innen qualitativ beschrieben werden soll (vgl. Abschn. 2.4). Ebenso wurde kein Schwerpunkt auf die „thematische Entwicklung in Interaktionsprozessen“ (Krummheuer, 2012, S. 234, Hervorh. im Original) zwischen den Erstklässler*innen und den Lehrpersonen während der kreativen Bearbeitung arithmetisch offener Aufgaben gelegt. Daher eignete sich eine interpretative Unterrichtsforschung durch eine Interaktionsanalyse (Krummheuer & Neujok, 1999) als methodologischer Rahmen für die vorliegende Studie ebenso nicht. Beim sogenannten Design-based Research (The Design-Based Research Collective, 2003) wird durch die rekursive Konzeptionierung, Durchführung und Weiterentwicklung von Lehr-Lern-Prozessen eine „lernprozessfokussierende Fachdidaktische Entwicklungsforschung“ (Prediger & Link, 2012, S. 29) betrieben. Obwohl bei dieser Methodologie explizit Mathematikunterricht in den Mittelpunkt der Forschung gerückt wird, war diese Methodologie für die vorliegende Studie deshalb nicht passend, da diese nicht das Ziel verfolgen sollte, spezifische Unterrichtsarrangements theoriegenerierend weiterzuentwickeln.

Vielmehr sollte eine Methodologie ausgewählt werden, die Erkenntnisse über das mathematische Denken und Handeln von Schüler*innen in bestimmten Unterrichtssettings zulässt, um so die individuelle mathematische Kreativität von Erstklässler*innen qualitativ beschreiben zu können. Dabei musste beachtet werden, dass es zur Kreativität von jungen Schulkindern, die im Sinne meines InMaKreS-Modells arithmetisch offene Aufgaben bearbeiten würden, noch keine erprobten Studiendesigns gab, auf die zurückgegriffen werden konnten. Aufgrund dieser auf methodischer Ebene gewissermaßen experimentellen Charakteristik und der Fokussierung auf unterrichtliche Situationen, in denen Erstklässler*innen kreativ werden können sollten, wurde sich dafür entschieden, das Forschungsdesign an die Teaching Experiment-Methodologie (Steffe & Thompson, 2000) anzulehnen. Diese wird in ihren Grundzügen im nachfolgenden Kapitel 6 ausführlich dargestellt, um dadurch zu erläutern, inwiefern diese spezifische mathematikdidaktische Methodologie für meine Studie zur individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen einen passenden Forschungsrahmen bietet. Aus diesem sowie aus der Formulierung der zu Beginn dieses Abschnitts präsentierten fünf Forschungsfragen lässt sich so das Design dieser Studie ableiten. Da die ersten vier Forschungsfragen qualitativ und die fünfte Forschungsfrage quantitativ orientiert sind, wird in Kapitel 7 das Forschungsdesign dieser Studie im Sinne des Mixed Methods präsentiert.