„[…] Discussing creativity often leaves people very confused!“ (Plucker et al., 2004, S. 87)

Mein Ziel dieses ersten Theoriekapitels wird es deshalb sein, die von Plucker, Beghetto und Dow (2004) beschriebene und von mir ebenfalls immer wieder beobachtete Verwirrung über das Thema der Kreativität auf mathematikdidaktischer Ebene aufzulösen und in Verständnis sowie Interesse für dieses außergewöhnliche und bedeutsame Thema zu verwandeln.

Dazu wird ausgehend von einem alltagssprachlichen Verständnis des Begriffs der Kreativität begründet, warum Kreativität kein Mythos ist und wieso es gleichsam so herausfordernd ist, eine Definition auf fachwissenschaftlicher Ebene zu generieren (vgl. Abschn. 2.1). Am Ende dieses gesamten Kapitels soll aber eine solche explizite Definition präsentiert werden. Dazu ist es in einem ersten Schritt notwendig, das mathematikdidaktische Konstrukt der Kreativität grundlegend einzuschränken. So werden verschiedene Aspekte dargestellt und begründet ausgewählt, die zu der konkreten Formulierung des Untersuchungsgegenstandes führen (vgl. Abschn. 2.2). Die individuelle mathematische Kreativität von Schüler*innen wird in einem nachfolgenden Abschnitt dann inhaltlich definiert. Dazu werden drei große Forschungsansätze präsentiert und begründet eine Fokussierung für die mathematikdidaktische Betrachtung der Kreativität von Schulkindern in dieser Arbeit vorgenommen (vgl. Abschn. 2.3). Zum Schluss steht so eine von mir entwickelte Begriffsdefinition und ein Modell über die individuelle mathematische Kreativität von Schüler*innen (vgl. Abschn. 2.4). Diese Definition bildet den Ausgangspunkt für die weiteren theoretischen Betrachtungen der geeigneten Lernaufgaben (vgl. Kap. 3) und vor allem der empirischen Studie, die in Teil II und Teil III dieser Arbeit präsentiert werden.

1 Warum Kreativität kein Mythos ist

„Although [various] myths [about creativity] are widely held, the study of creativity is moving in a promising direction.“ (Plucker et al., 2004, S. 87)

Was bedeutet Kreativität? Wer oder was ist kreativ? Und wie wird Kreativität für den Bereich der Mathematikdidaktik definiert? Diese und noch weitere Fragen sollen im folgenden Abschnitt Beantwortung finden. Dazu wird zunächst auf den alltäglichen Gebrauch des Begriffs Kreativität bzw. kreativ sein geschaut (vgl. Abschn. 2.1.1), um ihn daraufhin aus fachwissenschaftlicher Perspektive zu betrachten (vgl. Abschn. 2.1.2). Dabei sollen eben jene Mythen und deren Bedeutsamkeit für die Forschung, von denen Plucker, Beghetto und Dow (2004) in dem Eingangszitat sprechen, dargestellt und gleichsam durch Forschungsarbeiten entkräftet werden. Aus dem Vorschlag einer empirischen Definition von Kreativität (vgl. Plucker et al., 2004, S. 90) wird dann der Aufbau der weiteren theoretischen Ausführungen abgeleitet, die den Begriff Kreativität und das diesem zugrundeliegende Konstrukt immer weiter präzisieren werden.

1.1 Kreativität im alltäglichen Sprachgebrauch

„10 gute Gründe, kreativ zu sein!“ (Bigler, 2016)

Der Begriff Kreativität leitet sich von dem lateinischen Verb „creare“ ab, das so viel bedeutet wie schaffen, erschaffen, hervorbringenFootnote 1 (Langenscheidt Online Wörterbuch Latein-Deutsch, o. J.). Das deutsche Wort kreieren hat diese Bedeutung übernommen und bezeichnet als Substantiv eine „schöpferische Kraft [oder ein] kreatives Vermögen“ (Dudenredaktion, o. J.). Ein wesentliches Merkmal dieses schöpferischen Akts ist neben der Neuartigkeit auch ein „sinnvolle[r] und erkennbare[r] Bezug zur Lösung technischer, menschlicher oder sozialpolitischer Probleme“ (Brockhaus Enzyklopädie Online, o. J.). Dabei sei darauf verwiesen, dass erst durch die Akzeptanz der Gesellschaft gegenüber kreativen Ideen oder Produkten, diese bedeutungsvoll werden – oder in anderen Worten: „The man with a new idea is a crank until the idea succeeds“ (Twain, 2009, S. 278).

Synonyme für den Begriff der Kreativität wie Erfindungsgabe, Genie oder Intelligenz, die im Duden aufgelistet werden (vgl. Dudenredaktion, o. J.), verweisen außerdem auf einen möglichen Zusammenhang von Kreativität und den intellektuellen Fähigkeiten eines Menschen. Diese können unter anderem „Problemsensitivität, Flexibilität und Eigenständigkeit sowie ein Denken, das in vielen Richtungen nach Ansätzen sucht […]“ (Brockhaus Enzyklopädie Online, o. J.) sein. In Verbindung mit weiteren Persönlichkeitsmerkmalen wie Anstrengungsbereitschaft, Neugier und Frustrationstoleranz, die laut dem Brockhaus kreativen Menschen zugesprochen werden (Brockhaus Enzyklopädie Online, o. J.), erscheint Kreativität als ein herausforderndes, wohl überlegtes, progressives aber vor allem durch individuelle Interessen geprägtes Handeln.

Dies widerspricht der fast schon inflationären Verwendung des Begriffs im Alltag sowie in verschiedenen Kontexten und Medien. Die Suchmaschine Google listet bspw. rund 51 Millionen Einträge zum Suchwort „kreativ sein“ auf (Stand: 05.04.2020). Häufig wird davon gesprochen, dass jeder kreativ sein soll, darf oder sogar muss. Im Bereich der Kunst ist der Begriff wohl am weitesten verbreitet, aber auch die Technik des kreativen Schreibens findet in vielen Bereichen wie „publishing, editing, literary studies, language, cultural analysis, psychology, and arts development“ (Harper, 2013, S. 6) ihre Anwendung. Kreativ zu sein, wird zudem als wichtiges Persönlichkeitsmerkmal, sogenannte Soft Skills, bei Bewerbungen propagiert. Laut Kanzler (2011) rangiert Kreativität bei der Bewerberwahl „mit 14 % noch vor guten Noten und einer kurzen Studiendauer“ (S. 231). Auch durch unzählige Video-Tutorials und Ratgeber-Webseiten im Internet entsteht so insgesamt der Eindruck, dass kreativ zu sein, eine für jeden Menschen notwendige und wichtige Persönlichkeitseigenschaft sei. Im Zuge dessen wird angenommen, dass jeder Mensch kreativ sein kann, weshalb diverse Übungen, Tipps und Tricks angeboten werden (siehe auch das Eingangszitat von Bigler, 2016). Dabei wird suggeriert, dass Kreativität etwas ist, das schnell erlernt und individuell entwickelt werden kann. Einige Webseiten oder Nutzer*innen von Sozial-Media-Plattformen gehen so weit, dass sie den Konsumierenden durch Kreativität ein glücklicheres und gesunderes Leben versprechen.Footnote 2 So ist es nicht verwunderlich, dass dieser Begriff wie ein notwendiges Mode-Schlagwort in diversen Lebensbereichen Anwendung findet (vgl. auch Preiser, 2006, S. 51).

Zusammenfasend hat der Begriff der Kreativität im alltäglichen Sprachgebrauch zwei wesentliche Merkmale: Kreativ zu sein bedeutet etwas (1) Neues zu (2) erschaffen, das vom sozialen Umfeld der Schaffenden als angemessen angesehen wird. Die Bedingungen dieser Neuartigkeit sowie die Art und Weise des Erschaffens sind dabei jedoch nicht genauer charakterisiert. So erscheint Kreativität insgesamt als positive und erstrebenswerte Persönlichkeitseigenschaft, in der sich jeder Mensch üben kann und sollte. Kreativität scheint modern zu sein – aber ist Kreativität ebenso ein Schlagwort in der wissenschaftlichen Forschung oder vielmehr ein ernstzunehmendes sowie ausgereiftes Forschungsgebiet? Zur Beantwortung dieser Frage, wird nachfolgend ein detaillierter Blick auf ein grundlegendes Verständnis von Kreativität in verschiedenen Disziplinen wie der (pädagogischen) Psychologie, den Bildungs- bzw. Erziehungswissenschaften und vor allem der Mathematikdidaktik geworfen.

1.2 Das „Definitionsproblem“ von Kreativität

„Yet the study of creativity is not nearly as robust as one would expect, due in part to the preponderance of myths and stereotypes about creativity that collectively strangle most research efforts in this area.“ (Plucker et al., 2004, S. 83)

Der Psychologe Guilford (1950) forderte vor genau 70 Jahren als einer der ersten eindringlich eine wissenschaftliche Zuwendung zum Thema Kreativität und prangerte die Absenz von psychologischer Forschung in diesem Gebiet an (vgl. Guilford, 1950, S. 444–446). Seine Rede wird häufig als „the beginning of the modern interest in creativity as a measurable ability“ (Piirto, 1999, S. 31) bezeichnet. So stellt Guilford (1950, S. 445) fest, dass in den 23 Jahren seit 1927 nur rund 0,2 % der Artikel, die in der Zeitschrift „Psychological Abstracts“ gelistet wurden, das Thema Kreativität adressierten. Er begründet die Wichtigkeit einer Forschung zu diesem Thema darin, dass Kreativität als Persönlichkeitseigenschaft von Menschen erforschungswürdig sei und deutet eine Vielzahl möglicher Faktoren an, die kreatives Verhalten bestimmen könnten. Dies widerspricht der damals vorherrschenden Meinung, dass Kreativität als ein Aspekt hoher Intelligenz oder Begabung kein eigenes Forschungsfeld beanspruchen kann (vgl. Guilford, 1950, S. 446–454). Außerdem verweist der Psychologe darauf, dass sobald mehr Erkenntnisse über Kreativität vorherrschen würden, es auch möglich wird, Kreativitätsförderungen im schulischen Kontext zu etablieren (vgl. Guilford, 1950, S. 445, 454). So wird bereits hier die Verbindung von Psychologie und den Erziehungswissenschaften deutlich, aus denen wiederum eine Adaption der Kreativitätstheorien für die Fachdidaktik, im Falle dieser Arbeit der Mathematikdidaktik, möglich wurde.

Trotz der Forderung von Guilford (1950) stellt Haylock (1987) rund ein Viertel Jahrhundert später erneut fest, dass seit 1966 in der ERIC Suchmaschine 4732 Artikel das Thema Kreativität behandeln und „[…] only a handful of these relate to mathematics.“ (S. 60). Sternberg & Lubart (1999) analysieren um die Jahrhundertwende, dass in der Zeitspanne von 1975 bis 1994 nur rund 0,5 % der in den Psychological Abstracts gelisteten Artikel das Thema KreativitätFootnote 3 behandelten. Das sind 0,3 % mehr als 1950 bei Guilfords identischer Analyse, was keinen großen Fortschritt für rund 50 Jahre Forschungsarbeit darstellt. Für die letzten 20 Jahren liegt die Anzahl der Publikationen mit dem Titelwort Kreativität, die in der Online-Suchmaschine APA PsychInfo, dem digitalen Nachfolger der Psychological Abstracts, aufgeführt werden, bei 0,4 %Footnote 4. Es scheint also, als hätte die psychologische Forschung in diesem Bereich wieder nachgelassen und dass es Phasen gegeben hat, in denen auch in der Forschung das Thema Kreativität „modern“ war, das Thema aber insgesamt durchweg von einer eher kleinen Anzahl Forschenden fokussiert wurde – von diesen aber umso intensiver.

Einen anderen Blickwinkel einnehmend und das reine Forschungsvorkommen in Form von Publikationszahlen verlassend, stellen Plucker et al. (2004) in einer Inhaltsanalyse verschiedenster psychologischer und erziehungswissenschaftlicher Artikel fest, dass ein „definition problem“ (S. 90) für das Konstrukt der Kreativität vorherrscht:

„These findings substantiate our fear that creativity is rarely explicated in the professional literature. Without a clear definition, creativity becomes a hollow construct–one that can easily be filled with an array of myths, co-opted to represent any number of divergent processes, and further confuse what is (and is not) known about the construct.“ (Plucker et al., 2004, S. 90)

Im Folgenden sollen im Sinne dieses Zitats die angesprochenen Mythen dargestellt werden, mit denen das „verwirrende“ Konstrukt Kreativität belegt und durch deren verschiedenste Kombinationen (kreative) Prozesse umschrieben werden. Die Ursprünge der Mythen sind laut Plucker, Beghetto und Dow (2004, S. 87) so tief in der alltäglichen Sicht auf Kreativität und auch in der Forschung verwurzelt, dass sie dazu führen, dass Kreativität nicht als Forschungsthema anerkannt wird und die fachliche Diskussion darüber mitunter zu einer gewissen Verwirrtheit führen kann.

Die Autor*innen stellen insgesamt vier verschiedene Mythen heraus, die im alltäglichen Wissen über Kreativität vorherrschen und die aber alle wiederholt durch Forschungen widerlegt bzw. bis zu einem gewissen Maß relativiert werden konnten (vgl. im folgenden Plucker et al., 2004, S. 84–87):

  1. 1.

    Wohl der weit verbreitetste Mythos ist der, dass Menschen kreativ (oder unkreativ) geboren werden. Auch Sternberg und Lubart (1999, S. 4–5) betonen diese in Teilen vorherrschende mystische Sichtweise auf Kreativität. Dabei konnten zahlreiche Studien erfolgreich die positiven Effekte von Kreativitätsförderungen oder -trainings aufzeigen, die für alle Teilnehmer*innen dieser Studien gelten. Dies widerspricht der Annahme, dass nur wenige Menschen kreativ sein können (für eine Übersicht siehe Plucker et al., 2004, S. 85).

  2. 2.

    Zudem wird „Kreativität [häufig] mit negativen Aspekten der Psychologie und Gesellschaft verflochten“Footnote 5 (Plucker et al., 2004, S. 86). Dabei wird das Bild einsamer Nonkonformist*innen mit vermeintlichem Drogenkonsum, Neigung zu Gewalt oder psychischen Erkrankungen, denen das Attribut, kreativ zu sein, zugeschrieben wird, erzeugt. Isaksen (1987, S. 3) sieht den Ursprung dieser Vorstellung darin, dass Kreativität mit Neuartigkeit gleichgesetzt wird und diese wiederum mit einer sichtbaren Abweichung von der Norm einhergehen muss. Er kann in der Forschung aber keine eindeutigen Zusammenhänge zwischen Kreativität und psychischen Erkrankungen oder Kriminalität von kreativen Personen feststellen.

  3. 3.

    Kreativität wird fälschlicherweise häufig als unscharfes Konstrukt bezeichnet, weshalb unter einigen Wissenschaftler*innen die Meinung vorherrscht, dass Kreativität eine „soft psychology“ (Plucker et al., 2004, S. 86) sei. Dabei wird das Adjektiv fuzzy wie bspw. bei Sriraman (2005, S. 20) genutzt, um zu verdeutlichen, dass eine Vielzahl verschiedener Definitionen vorherrschen, um dann eine konkrete, individuelle Definition begründet vorzustellen. Dabei lassen sich in wissenschaftlichen Artikeln oder Büchern starke und klar definierte Konstrukte von Kreativität finden, die diesen Mythos eindeutig zurückweisen. Leider lassen sich aber in der populärwissenschaftlichen Literatur, die deutlich mehr Menschen zugänglich ist, zahlreiche Beispiele von Kreativitätsratgebern oder Trainingshandbüchern finden, die diesem Mythos gerecht werden. Diese unscharfen Beschreibungen von Kreativität (für eine Übersicht siehe Davis, 2004, S. 10–12) sind häufig jedoch aus soliden Forschungen entstand und dann durch Vereinfachung verfälscht worden (vgl. Plucker et al., 2004, S. 86–87).

  4. 4.

    Der letzte Mythos bezieht sich auf die Aussage, dass Kreativität nur in Gruppen und nicht in Individuen entstehen kann. In der Forschung wird jedoch ein stärker ausbalancierteres Bild von Kreativität verfolgt, das sowohl Individual- als auch Gruppenprozesse in den Blick nimmt und diese miteinander in Verbindung setzt (vgl. Plucker et al., 2004, S. 87). Dabei zeigen Forschungen sogar, dass Brainstorming in Gruppen in einem weniger kreativen Pool an Ideen resultiert, als wenn Menschen alleine Ideen sammeln (für eine Übersicht siehe Stroebe, Nijstad & Rietzschel, 2010).

Durch das starke Vorherrschen der erläuterten Mythen und Vorurteilen gegenüber Kreativitätsforschungen in der Psychologie und den Erziehungswissenschaften stellen Plucker, Beghetto und Dow (2004, S. 87) fest, dass eine Definition des Konstrukts Kreativität in vielen Publikationen nur beiläufig, unkonkret oder fachlich wenig fundiert dargestellt wird. Als möglichen Grund dafür vermuten sie, dass Forschende in diesem Bereich befürchten, die Komplexität und die Faszination, die Kreativität auslöst, durch eine exakte Definition zu zerstören. Tatsächlich bewirkt dieses Vorgehen aber eher eine Spaltung der Forschungscommunity in diejenigen, die das Thema Kreativität leidenschaftlich verfolgen und solche, die es eher ablehnen.

So verwundert es nicht, dass eine Vielzahl – Treffinger, Young, Selby & Shepardson (2002, S. vii) sprechen von 100 – verschiedener Definitionen von Kreativität in den bei mathematikdidaktischen Forschungen in den Blick genommenen Fachdisziplinen (Psychologie, Erziehungswissenschaften und Mathematikdidaktik) vorzufinden sind, die mehr oder weniger explizit formuliert sind (Übersichten finden sich bspw. bei Haylock, 1987, S. 60–63; Sriraman, 2005, S. 23–24; Runco, 1993, S. ix; Treffinger et al., 2002, S. vii; Kwon et al., 2006, S. 52). In ihrer Studie konnten Plucker, Beghetto und Dow (2004, S. 88–90) zeigen, dass in ihrer Stichprobe von 90 Fachartikeln mit Peer-ReviewFootnote 6, die das Titelwort Kreativität enthielten, nur 34 % eine explizite, 41 % eine implizite und 21 % gar keine Definition anstellten. Dabei konnten sie auf qualitativer Ebene unterschiedliche Typen der Definition von Kreativität herausarbeiten. Auf Basis dieser Erkenntnisse entwickelten sie eine eigene, alle Definitionsaspekte inkludierende Definition:

„Creativity is the interaction among aptitude, process, and environment by which an individual or group produces a perceptible product that is both novel and useful as defined within a social context.“ (Plucker et al., 2004, S. 90, Hervorh. im Original)

In ihrer Definition betonen die Autoren vier zentrale Aspekte (im obigen Zitat kursiv hervorgehoben), die sie empirisch aus den analysierten Definitionen deduziert haben. Diese sollen an dieser Stelle kurz skizziert werden und sind strukturgebend für die nachfolgenden Theorieabschnitte dieser Arbeit, in denen sie dann ausführlich betrachtet werden.

  1. 1.

    Plucker, Beghetto und Dow (2004, S. 90–91) verstehen Kreativität als eine Interaktion zwischen den individuellen Fähigkeiten einer Person, dem Prozess und der Umgebung. Dadurch betonen sie, dass Kreativität nicht angeboren, sondern durch pädagogische Interventionen erlernbar und dadurch eine dynamische Persönlichkeitseigenschaft ist.

  2. 2.

    Der zweite Definitionsaspekt ist derjenige, dass am Ende eines kreativen Prozesses ein wahrnehmbares Produkt – eine Handlung, Idee oder Performance jeglicher Art – steht. Nur so ist es möglich, zu ermitteln, ob Kreativität stattgefunden hat, weshalb die Erforschung von Kreativität anhand der Produkte möglich und notwendig wird (vgl. Plucker et al., 2004, S. 91).

Diese beiden Annahmen liegen auch dieser Arbeit zugrunde, indem die komplexen Verbindungen zwischen den verschiedenen Dimensionen von Kreativität – die Person, der Prozess, das Produkt und die Umgebung – ausführlich in den Blick genommen werden (vgl. Abschn. 2.2.3).

  1. 3.

    Plucker, Beghetto und Dow (2004, S. 91–92) betonen den Aspekt der Neuartigkeit und Nützlichkeit von kreativen Produkten als wesentliches Merkmal von Kreativität. Dieses finden die Autor*innen nicht nur in sämtlichen ihrer analysierten Definitionen, sondern auch in allgemeiner Literatur zum Thema Kreativität. Außerdem scheint es die Grundlage für viele bereits vorgestellte Mythen und Stereotypen für Kreativität zu sein.

Diese Auffassung entspricht der bereits erläuterten alltäglichen Bedeutung des Begriffs Kreativität als das Erschaffen von etwas Neuem (vgl. Abschn. 2.1.1). Das Attribut der Neuartigkeit ist demnach wesentlich für ein Begriffsverständnis von Kreativität. Es bleibt an dieser Stelle immer noch die Frage zu klären, was genau unter „neu“ zu verstehen ist. Eine inhaltliche Definition dieser Eigenschaft von Kreativität geschieht deshalb in den nachfolgenden Abschnitten zu den verschiedener Forschungsansätzen innerhalb der mathedidaktischen Forschung (vgl. Abschn. 2.2 und 2.3).

  1. 4.

    Dem Aspekt des sozialen Kontextes weisen Plucker, Beghetto und Dow (2004, S. 92) eine besondere Bedeutung zu. Unter diesem ist eine Antwort auf die Frage „Creativity for whom and in what context“ (Plucker et al., 2004, S. 92) gemeint. So muss zunächst klar eingegrenzt werden, welche kreativen Personen fokussiert werden sollen – Kinder, Erwachsene oder Expert*innen. Außerdem gilt es den Kontext, in dem diese Personen kreativ werden, genauer zu beschreiben. Agieren sie allein oder in der Gruppe, in der Schule/dem Beruf oder zu Hause und dies bei z. B. selbstgewählten oder vorgegebenen naturwissenschaftlichen/technischen/künstlerischen Aktivitäten, Tätigkeiten oder Aufgaben unterschiedlich? Somit ist eine genaue Beschreibung und Eingrenzung des sozialen Kontextes für das Gelingen einer Begriffsdefinition von Kreativität unabdingbar. Erst dann ist es möglich, die anderen drei Aspekte der Definition von Plucker, Beghetto und Dow (2004), d. h. die Interaktion von Person, Prozess, Produkt und Umgebung, das wahrnehmbare Produkt und die Neuartigkeit, auszuschärfen.

Da sich der Aspekt des sozialen Kontextes auf alle anderen Aspekte einer Begriffsdefinition von Kreativität auswirkt, wird er im Rahmen dieser theoretischen Aufarbeitung mehrfach angesprochen werden. Eine grundlegende Präzisierung des Kontextes dieser Arbeit, wird im Folgenden unter den Begriffen der domänenspezifischen Kreativität (vgl. Abschn. 2.2.1) und der relativen Kreativität (vgl. Abschn. 2.2.2) angestellt. In inhaltlich expliziterer Form wird der Kontext dann erneut in Bezug auf das soziale Lernen im Mathematikunterricht (vgl. Abschn. 2.3.1) betrachtet.

2 Grundlegende Aspekte einer Begriffsdefinition

„[…] we argue that creativity researchers must (a) explicitly define what they mean by creativity, (b) avoid using scores of creativity measures as the sole definition of creativity […], (c) discuss how the definition they are using is similar to or different from other definitions, and (d) address the question of creativity for whom and what context.“ (Plucker et al., 2004, S. 92)

Die nachfolgenden theoretischen Ausführungen werden der im obigen Zitat aufgeführten Aufforderung an Wissenschaftler*innen jeder Fachdisziplin gerecht: Um (a) zu einer expliziten inhaltlichen Definition von Kreativität zu gelangen, die (b) qualitativen Ursprungs ist und (c) in Beziehung zu bereits bestehenden Definitionen diskutiert wird, sind zunächst drei grundlegende Fragen (d) zum Kontext der in dieser Arbeit zu entwickelnden Definition zu klären:

  • Inwiefern ist Kreativität domänenspezifisch, d. h. inwiefern bezieht sich die Definition ausschließlich auf den Bereich der Mathematik? (vgl. Abschn. 2.2.1)

  • Inwiefern unterscheidet sich die mathematische Kreativität von Schulkindern von der Erwachsener oder sogar Expert*innen? (vgl. Abschn. 2.2.2)

  • Worauf bezieht sich der Begriff Kreativität – wer oder was ist kreativ? (vgl. Abschn. 2.2.3)

Diese Fragen sollen ihrer Reihenfolge nach in den nächsten drei Abschnitten diskutiert und für die vorliegende mathematikdidaktische Arbeit beantwortet werden. Dadurch wird das Ziel verfolgt, über eine Analyse und begründete Auswahl grundlegender Definitionsaspekte das Thema Kreativität weiter zu präzisieren. Auf dieser Basis schließt sich dann eine Betrachtung inhaltlicher Definitionsaspekte an (vgl. Abschn. 2.3).

2.1 Domänenspezifische oder allgemeine Kreativität

„[…] Rather than search for domain-transcending grand theories of creativity, researchers and theorists would be wise to focus on more limited, domain-specific theories that attempt to explain how creativity works in different domains.“ (Baer, 2012, S. 27)

Zunächst soll die Frage geklärt werden, ob Kreativität als domänenspezifisch – im Falle dieser Arbeit im Gebiet des Mathematiktreibens von Schulkindern – oder als allgemein zu verstehen ist (vgl. Plucker & Beghetto, 2004, S. 153).

Unter allgemeiner Kreativität wird eine Fähigkeit verstanden, die in jedem Menschen angelegt ist und sich auf alle Lebensbereiche gleicherweise auswirkt. Wenn der Mensch sich also in einem Bereich zu einem gewissen Maß kreativ zeigt, muss er das nach dieser Auffassung genauso in jedem anderen Bereich sein. Dies bedeutet auch, dass sich ein Training von Kreativität in einer Domäne auf alle anderen Bereiche gleichsam auswirken wird (vgl. Baer, 2012, S. 21–22). Dies konnte in empirischen Studien jedoch nicht eindeutig nachgewiesen werden (etwa Ivcevic, 2007, S. 272). Dennoch verfolgen nach wie vor einzelne (psychologische) Forschende die Auffassung, dass Kreativität ein allgemeines Konstrukt sei. Bspw. bezeichnen Plucker, Beghetto und Dow (2004, S. 90) ihre, bereits im vorherigen Abschnitt vorgestellte Definition (vgl. Abschn. 2.1.2) als allgemein, wobei sie einräumen, dass die in der Definition geforderte Einschätzung wer oder was kreativ ist (Aspekt des sozialen Kontextes) domänenspezifisch betrachtet werden kann. Sie kommen daher zu dem Schluss, dass Kreativität zwar ein allgemeines Konstrukt sei, aber domänenspezifisch aussähe (vgl. Plucker & Beghetto, 2004, S. 158).

In der mathematikdidaktischen Literatur wird hingegen häufig die Annahme getätigt, dass Kreativität domänenspezifisch sei (vgl. etwa Baer, 2012, S. 21; Gardner, 1999, S. 116). Dies würde bedeuten, dass die Fähigkeit kreativ zu sein, sich nur in gewissen Bereichen zeigt und in anderen deutlich geringer, stärker oder auch gar nicht auftritt. Domänenspezifizität drückt dabei nicht aus, dass Menschen ausschließlich in einem Bereich kreativ sein können, sondern nur, dass keine (positive oder negative) Vorhersagekraft aus der Kreativität in einer Domäne für andere Bereiche besteht (vgl. Baer, 2012, S. 21). Piirto (1999, S. 42–43) argumentiert für eine domänenspezifische Kreativität, da eine geeignete Definition sich auch immer den natürlichen Eigenschaften des entsprechenden Bereichs anpassen muss. Für eine Förderung von Kreativität würde dies bedeutet, dass sie nur in demjenigen Bereich (z. B. im schulischen Mathematikunterricht) wirksam ist, in dem das Training stattfindet. Gleichzeitig führt diese Annahme auch dazu, dass es keine übergreifende Definition mehr geben kann, sondern vielmehr Forschungsansätze entstehen müssen, die sogar innerhalb einer Domäne noch einmal explizite Definitionen entwickeln (vgl. Baer, 2012, S. 24). Das Eingangszitat von Baer verdeutlicht diese Grundhaltung und begründet die Notwendigkeit dieser für die Mathematikdidaktik: Es sollte in empirischen Forschungsarbeiten vor allem darum gehen, zu erklären, wie Kreativität in der jeweiligen Domänen funktioniert (siehe auch Piirto, 1999, S. 43).

Eine Möglichkeit dies zu tun, könnte laut Haylock (1987, S. 63) darin bestehen, Aspekte aus allgemeinen Definitionen zu nutzen, um Kreativität für Kinder, die Schulmathematik betreiben, zu formulieren. Dadurch betont er, dass Kreativität eine allgemeine Fähigkeit ist, die aber in verschiedenen Bereichen wie dem Mathematikunterricht noch weiter konkretisiert werden muss, um sich den Eigenschaften dieser Domäne stärker anzupassen (siehe auch Sriraman, 2005, S. 23–24). Damit vertritt er eine Zwischenposition, bei der die Ansicht vertreten wird, dass Kreativität sowohl allgemeine als auch domänenspezifische Aspekte enthält. Sternberg (2005) bezeichnet diese als die „most popular position today“ (S. 375). Diesen Überlegungen liegt die folgende Forderung zugrunde:

„Any definition of mathematical creativity in schoolchildren must refer to both mathematics and creativity.“ (Haylock, 1987, S. 62)

Diese mathematikdidaktische Arbeit folgt den Überlegungen von Baer (2012) und Haylock (1987) und sieht Kreativität als domänenspezifisch an, was dazu führt, dass eine explizite Definition entwickelt werden muss. Um die Domänenspezifizität des Konstrukts Kreativität auch sprachlich deutlich zu markieren, wird deshalb im Folgenden bewusst von mathematischer Kreativität gesprochen. Damit wird zunächst primär die Domäne der Mathematik betont. Da diese Arbeit aber mathematikdidaktisch ausgerichtet ist, nimmt sie das schulische Mathematiktreiben von Schüler*innen in den Blick. Dies präzisiert die in dieser Arbeit fokussierte Domäne erheblich. Es schließt sich notwendigerweise die Frage an, inwiefern sich das Verständnis von mathematischer Kreativität verändert, wenn das mathematische Arbeiten von Lernenden im Gegensatz zu Expert*innen fokussiert wird. Die Antwort auf diese Frage liefert der Begriff der relativen Kreativität, der im Folgenden ausführlich erläutert werden soll.

2.2 Relative Kreativität

„My final point is whatever definition we arrive at it needs to be relativistic.“ (Liljedahl in Liljedahl & Sriraman, 2006, S. 18)

Nachdem im vorherigen Abschnitt ausführlich begründet wurde, dass Kreativität in dieser Arbeit domänenspezifisch verstanden wird, wurde der Begriff der mathematischen Kreativität eingeführt. Doch es soll nicht etwa die mathematische Kreativität von Jugendlichen, Studierenden oder sogar Mathematikexpert*innen fokussiert werden, sondern diejenige von Schulkindern. Inwiefern ist diese Einschränkung bedeutsam? Und was bedeutet sie für ein Begriffsverständnis von Kreativität?

In der Literatur besteht allgemein Einigkeit darüber, zwischen der Little-C- und der Big-C-Kreativität zu unterscheiden (vgl. Kaufman & Beghetto, 2009, S. 2–3). Ersteres bezeichnet die everyday creativity (Craft, 2003, S. 114), also die alltäglichen kreativen Handlungen von Erwachsenen wie etwa das Improvisieren eines Kochrezepts. Dagegen wird unter der Big-C-Kreativität eine extraordinary creativity (Craft, 2003, S. 114) von „Genies“ oder Professionellen verstanden, bei der ausgehend von einem kreativen Akt weitreichende Veränderung innerhalb von Wissenschaftsbereichen oder Perspektiven auf die Welt geschehen können. Ausgehend von der These, dass jeder Mensch kreativ sein kann (etwa Plucker et al., 2004, S. 92), ergänzen Kaufman und Beghetto (2009, 6–10) noch zwei weitere Abstufungen – Mini-C- und Pro-C-Kreativität –, sodass ein Four-C-Modell von Kreativität entsteht. Dieses Modell stellt vier Stufen in der Entwicklung menschlicher Kreativität dar, wobei die Stufen (Mini-, Little-, ProFootnote 7-, und Big-C) nacheinander durchlaufen werden. Dabei wird angenommen, dass jede*r Einzelne nur eine bestimmte Stufe in seinem Leben erreichen wird. Die Mini-C-Kreativität ist für diese Arbeit besonders bedeutsam, da sie die kreativen Einsichten oder Handlungen von Schüler*innen beschreibt, die in individuellen und alltäglichen Lernprozess entstehen (vgl. Kaufman & Beghetto, 2009, S. 3–4). Dieser Fokus basiert auf den Ausführungen von Vygotsky (1967/2004, Kap. 3), dass Kreativität bei Schulkindern aufgrund von persönlichen (Lern-)Entwicklungen entsteht.

Somit kann an dieser Stelle die Frage danach, ob der Fokus auf Lernende für die Definition der mathematischen Kreativität bedeutsam ist, bejaht werden. Das Modell von Kaufman und Beghetto (2009) ermöglicht eine Betrachtung der Kreativität von Kindern jeden Alters auf der Stufe der Mini-C-Kreativität und macht gleichzeitig deutlich, dass sich diese zu der von älteren aber vor allem in spezifischen Domänen erfahreneren Menschen unterscheidet.

Dieser Unterschied wird unter dem Begriff der relativen Kreativität als Gegensatz zur absoluter Kreativität gefasst (vgl. R. Leikin, 2009c, S. 131).

Relative creativity refers to a specific person in a specific group acting in a creative way.“ (R. Leikin, 2009a, S. 398)

Dieses Zitat von R. Leikin (2009c) verdeutlicht, dass die mathematische Kreativität einer Person immer relativ im Vergleich zu Mitgliedern der gleichen sozialen Peer-Gruppe betrachtet werden muss und nicht absolut wie etwa im Vergleich zu den großen mathematisch Inventionen von bspw. Fermat oder Rieman. Auf das Four-C-Modell von Plucker und Beghetto (2004) angewendet ist die Big-C-Kreativität als absolut einzuordnen, da sie das Maximum an Kreativität darstellt, dass von einer Person erreicht werden kann. Alle anderen Stufen der Kreativität, vor allem auch die der Mini-C-Kreativität von Schüler*innen, muss demnach relativ zu einer entsprechenden Peer-Gruppe betrachtet werden. Die nachfolgende Abbildung 2.1 veranschaulicht die Beziehung der verschiedenen Begriffe von Plucker und Beghetto (2004) und R. Leikin (2009c):

Abb. 2.1
figure 1

Zusammenhang zwischen dem Four-C-Modell (Plucker & Beghetto, 2004) und relativer Kreativität (R. Leikin, 2009c)

Die relative Betrachtungsweise ist deshalb notwendig, damit die kreativen Handlungen von jüngeren und in der Mathematik unerfahreneren Menschen auch als kreativ angesehen werden können. Würden etwa die Lösungen derselben mathematischen Aufgabe von einer*einem Mathematikstudierenden und von einem Schulkind gegenübergestellt werden, dann würde das Kind niemals als kreativ betrachtet werden, da ihre*seine Lösung die Neuartigkeit (vgl. Abschn. 2.1) der Lösung der*des Studierenden von Natur aus nicht erreichen kann. Wird die kindliche Lösung der Mathematikaufgabe aber in Bezug zu ihrer*seiner Bildungsbiografie oder einer passenden Peer-Gruppe wie etwa Mitschüler*innen gesetzt, dann kann diese sehr wohl als neuartig eingeschätzt werden.

Anzumerken ist, dass diese zuvor skizzierte Einschätzung der Neuartigkeit mathematischer Aufgabenbearbeitungen nicht zwangsweise auch beurteilt bzw. bewertet werden muss. Unter der Prämisse, dass jeder kreativ sein kann (vgl. Kaufman & Beghetto, 2009, S. 6), zeigen sich Unterschiede in der Kreativität der Kinder vielmehr auf einer deskriptiven Ebene. Als Indikatoren für das Vorhandensein von relativer mathematischer Kreativität bei Schulkindern schlagen R. Leikin & Pitta-Pantazi (2013, S. 161) zwei verschiedene beobachtbare Fähigkeiten vor. Schüler*innen sind kreativ, wenn sie mathematische Lösungen in einer neuen mathematischen Aufgabensituation produzieren oder wenn sie originelle Lösungen zu bereits bekannten Aufgaben(typen) produzieren. Ähnlich stellt auch Sriraman in seinem Gespräch mit Liljedahl (2006, S. 18) fest, dass es Schüler*innen möglich sei, für sie neue Einsichten oder Lösungen zu einer mathematischen Aufgabe zu entwickeln und so kreativ zu werden. Da sich die Qualität dieser Einsichten natürlicher Weise von derjenigen professioneller Mathematiker*innen unterscheidet, stellt er heraus, dass jede Definition von Kreativität immer relativ sei (vgl. Liljedahl & Sriraman, 2006, S. 19). Er entwickelt deshalb eine angepasste Definition von mathematischer Kreativität auf Schulniveau (vgl. ausführlich Sriraman, 2005, S. 24). Liljedahl verweist dazu im selben Gespräch auf das folgende Zitat von Pólya (1965):

„Between the work of a student who tries to solve a difficult problem in geometry or algebra and a work of invention there is only a difference of degree.“ (S. 104)

Des Weiteren definiert R. Leikin (2009c) den Begriff der relativen Kreativität in Anlehnung an die Ausführungen Vygotskys (1967/2004) zur Bedeutsamkeit von Kreativität für die kindliche Entwicklung. Dieser beschreibt Kreativität als eine dynamische, d. h. sich entwickelnde Persönlichkeitseigenschaft und betont dabei den relativen Charakter dieses Konstrukts (vgl. Vygotsky, 1967/2004, S. 29, 1930/1998, S. 163–165). Daraus leiten einige Autor*innen ab, dass die domänenspezifische mathematische Kreativität durch angemessene Lernangebote für Schüler*innen entwickelt werden kann (vgl. etwa R. Leikin, 2009a, S. 398; Silver, 1997, S. 79).

Es bleibt festzuhalten, dass die Betrachtung der mathematischen Kreativität von Schulkindern in dem Sinne relativ geschehen muss, als dass das kreative Tun eines Kindes immer in Bezug zu seiner Bildungsbiografie und einer geeigneten Peer-Gruppe gesehen werden muss. Dabei wird die Grundannahme verfolgt, dass jedes Kind im Sinne der Mini-C-Kreativität kreativ sein kann (vgl. Kaufman & Beghetto, 2009, S. 6). Um diese zuvor beschriebene relative und auf das Kind bezogene Eigenschaft mathematischer Kreativität auch sprachlich herauszustellen, wird im Folgenden der von Niu und Sternberg (2006) geprägte Begriff der individuellen Kreativität (S. 22–25) genutzt. Somit muss das Ziel dieser Arbeit sein, eine Definition zu erarbeiten, welche die individuelle mathematische Kreativität von Schulkindern in den Blick nimmt.

2.3 Kreative Dimensionen – das 4P-Modell

“My answer to the question, “What is creativity? ”, is this: The word creativity is a noun naming the phenomenon in which a person communicates a new concept (which is the product). Mental activity (or mental process) is implicit in the definition, and of course no one could conceive of a person living or operating in a vacuum, so the term press is also implicit.” (Rhodes, 1961, S. 305)

Bis hierhin wurden die ersten beiden einleitend formulierten Fragen zum Wesen der zu entwickelnden Definition beantwortet. Um die Anpassung des Begriffsverständnisses an die Domäne der Mathematikdidaktik zu betonen, wird von mathematischer Kreativität gesprochen (vgl. Abschn. 2.2.1). Da diese Kreativität explizit auf Schulkinder ausgerichtet ist, versteht sie sich als relatives Konstrukt, weshalb der Begriff der individuellen mathematischen Kreativität von Schüler*innen eingeführt wurde (vgl. Abschn. 2.2.2). Im Folgenden soll nun der Frage nachgegangen werden, mit welchem Fokus diese Kreativität definiert werden kann – wer oder was ist kreativ?

R. Leikin und Pitta-Pantazi (2013, S. 162) stellen in ihrem Überblicksartikel zu verschiedenen Begriffsverständnissen von Kreativität in der Mathematikdidaktik fest, dass sich in der Literatur Definitionen von Kreativität als nützlich herausgestellt haben, die einen besonderen Fokus besitzen. In Anlehnung an Rhodes (1961) stellen sie vier verschiedene Dimensionen von mathematischer Kreativität dar – die kreative Person, die kreative Pression (Umgebung), der kreative Prozess und das kreative Produkt. In der englischsprachigen Literatur wird von den „four P´s of creativity“(Rhodes, 1961, S. 307) oder dem „4P´s model“ (Klavir & Gorodetsky, 2009, S. 224) gesprochen. Dabei ist vor allem zu betonen, dass die verschiedenen Dimensionen nicht getrennt voneinander zu betrachten sind, sondern dass sie stark miteinander verbunden sind und interagieren (vgl. R. Leikin & Pitta-Pantazi, 2013, S. 163). Preiser (2006, 52–53) ergänzt noch eine fünfte Dimension, nämlich das Problem, worunter er eine domänenspezifische Aufgabe versteht, die Kreativität anregt und wodurch dann alle anderen Dimensionen beeinflusst werden. Da die Wahl einer geeigneten Aufgabe stark mit dem inhaltlichen Begriffsverständnis von Kreativität zusammenhängt (vgl. Abschn. 2.3) und vielmehr einen beeinflussenden Aspekt aller Dimensionen darstellt, wird jedoch im Folgenden das 4P-Modell genutzt (vgl. Abb. 2.2).

Abb. 2.2
figure 2

Überschneidungen der vier kreativen Dimensionen: 4P-Modell

Obwohl bei psychologischen, bildungswissenschaftlichen und fachdidaktischen Kreativitätsforschungen aufgrund der Verbundenheit der Dimensionen immer alle vier betrachtet werden müssen, verweisen R. Leikin und Pitta-Pantazi (2013) darauf, dass insbesondere solche Studien, die einen Schwerpunkt auf eine Dimension setzen, „‘useful’ definitions [of creativity]“ (S. 162) und dadurch bedeutsame Erkenntnisse hervorbringen. Vor allem durch die relative Sichtweise auf Kreativität in dieser Arbeit werden mathematiktreibende Schulkinder als kreative Personen in den Blick genommen. Eine mögliche Interaktion der vier Dimensionen mit Schwerpunkt auf den kreativen Personen kann daher wie folgt formuliert werden: Eine kreative Person erstellt ein kreatives Produkt als Ausdruck ihres kreativen Prozesses in einer kreativen Umgebung. Im Folgenden soll nun ein inhaltlicher Überblick über Forschungsaspekte der verschiedenen Dimensionen in der zuvor beschriebenen Abhängigkeit voneinander gegeben werden.

2.3.1 Kreative Person

Forschungen, die sich auf die kreative Person konzentrieren, beschäftigen sich vor allem mit Eigenschaften und/oder kognitiven Fähigkeiten einer Person, weshalb beide Aspekte nun detailliert erläutert werden sollen.

Eine Vielzahl von Persönlichkeitsmerkmalen von kreativen Personen listen R. Leikin und Pitta-Pantazi (2013) auf: „conciseness, curiosity, intuition, tolerance for ambiguity, perseverance, openness to experience, broad interest, independence and open-mindness“ (S. 162). In der deutschsprachigen Literatur lassen sich über 200 Persönlichkeitsmerkmale für kreative Personen finden (vgl. Stein, 1968, S. 928–930), von denen Preiser (2006, 61) als die wichtigsten drei die Neugier, die Konflikt- und Frustrationstoleranz und die Unabhängigkeit benennt. Preiser und Buchholz (2008, S. 32–38) unterscheiden neben kreativen Persönlichkeitsmerkmalen auch noch kreative Fähigkeiten, die eher dynamisch zu betrachten und dadurch, im Gegensatz zu den Merkmalen, trainierbar sind. Klavir und Gorodetsky (2009, S. 224) verweisen zudem auf die Motivation als entscheidende Bedingung zum Auftreten von Kreativität. Bezugnehmend auf den wichtigen Aspekt der intrinsischen Motivation (vgl. Runco, 2004, S. 661; Starko, 2018, S. 84–88) spricht Mann (2006, S. 245) von einem enjoyment factor, der für Heranwachsende vor allem in der Schule notwendig ist – ohne Spaß an Mathematik kann auch keine Kreativität entstehen.

Stark diskutiert ist der Einfluss von Intelligenz bzw. Begabung als kognitive Fähigkeiten bzw. Persönlichkeitseigenschaft auf die Kreativität einer Person. Hierzu lassen sich verschiedenste Modelle in der mathematikdidaktischen Literatur finden, die Kreativität (1) als einen essenziellen Faktor von Intelligenz oder Begabung, (2) als einen bestimmten Typ von Intelligenz oder Begabung beschreiben oder (3) die keinen Zusammenhang zwischen diesen beiden Konstrukten sehen (vgl. R. Leikin & Pitta-Pantazi, 2013, S. 161). Die wissenschaftlichen Arbeiten zu diesem Thema bleiben jedoch häufig auf einer rein theoretischen, modellhaften EbeneFootnote 8, die wiederum in nur wenigen Forschungsarbeiten empirisch überprüft wurde (vgl. R. Leikin, 2009a, S. 391–393). Für den Bereich der schulischen mathematischen Kreativität sind zudem die mathematischen Fähigkeiten der kreativen Personen bedeutsam, die auch in Abhängigkeit von der Intelligenz stehen können (etwa Schnell & Prediger, 2017, S. 147–149). Bspw. konnte Haylock (1997, S. 73) zeigen, dass Kinder mit vergleichbaren mathematischen Leistungen unterschiedliche kreative Produkte und Prozesse zeigten. Zudem stellte er fest, dass stark ausgeprägte mathematische Fähigkeiten dazu führten, dass die Kinder zur Lösung einer mathematischen Aufgabe häufig nur eine (geeignete) Strategie wählten und weniger Variationen zeigten. Da Haylock (1997, S. 68) Kreativität aber über die Neuartigkeit und Vielfältigkeit in der Lösung definiert (vgl. ausführlich Abschn. 2.3.3), schlussfolgerte er, dass hohe mathematische Fähigkeiten zu einer Limitierung der Kreativität führen können. Pehkonen (1997, S. 65) argumentiert aus neurobiologischer Sicht, dass Kinder, die häufiger logisch denken bzw. arbeiten, weniger Kreativität zeigen. Daher postuliert der Autor, dass ein einseitiger Mathematikunterricht, der vor allem auf Wissen und Logik abzielt, mit Blick auf Kreativität aufgebrochen werden muss.

Die vorausgegangenen Ausführungen implizieren, dass eine Betrachtung der Kreativität von jüngeren Schüler*innen besonders bedeutsam sein kann, da sie vom schulischen Mathematikunterricht nur gering beeinflusst und dadurch wenige Lösungsroutinen zur Bearbeitung mathematischer Aufgaben gelernt haben, sodass sie insbesondere ihre individuelle mathematische Kreativität zeigen. Dabei erscheint es zudem zielführend zu untersuchen, inwiefern sich die mathematischen Fähigkeiten und die Intelligenz von Schüler*innen auf deren individuelle mathematische Kreativität auswirken (vgl. ausführlich Abschn. 2.3.3.2).

2.3.2 Kreative Pression (Umgebung)

Die Dimension der kreativen Person steht vor allem bei der Betrachtung von Schulkindern in einer direkten Verbindung zu der Dimension der Umgebung. Diese konzentriert sich auf die kreative Pression, d. h. den Druck, der auf die kreative Person von außen einwirkt. Die Bedeutung des englischen Begriffs press wurde in Zusammenhang mit Kreativität von Murray (1938/2008, S. 41) als erstes verwendet. Damit sind jede Art von Umwelteinflüssen wie etwa die Umgebung im Sinne einer Person-Kontext-Beziehung (vgl. Csikszentmihalyi, 1988), die Gestaltung der zu bearbeitenden Aufgabe (vgl. Levenson, Swisa & Tabach, 2018), aber auch grundlegende Werte und Traditionen gemeint (vgl. Runco, 2004, S. 662). Da Kreativität als zu erlernendes und beeinflussbares Konstrukt verstanden wird, konzentrieren sich erziehungswissenschaftliche und mathematikdidaktische Forschungen in diesem Bereich vor allem auf kreativitätsfördernde Umgebungsfaktoren in der Schule. Ein wichtiger Aspekt ist dabei „time and experience“ (Mann, 2006, S. 245–246). Dies bezieht sich darauf, dass Schüler*innen die Möglichkeit gegeben werden muss, ohne Zeitdruck und durch wiederholte Übung an geeigneten Aufgaben (siehe auch Pehkonen, 1997, S. 65) kreativ werden zu können. Das folgende Zitat geht dabei auf die Selbstreflexion von Poincaré (1913, S. 383–394) bei der Kreation von mathematischen Lösungen zurück.

„creativity […] is often associated with long periods of work […]; and is susceptible to instructional and experiential influences“ (Silver, 1997, S. 75)

Weitere positive Faktoren für eine gelingende Kreativitätsförderung in der Schule sind Anregung und Aktivierung, zielgerichtete Motivation, eine offene und vertrauensvolle Atmosphäre sowie Freiräume zur Förderung der Unabhängigkeit der Kinder (vgl. Preiser, 2006, 61).

2.3.3 Kreativer Prozess

Wird eine Person in geeigneter Umgebung kreativ, dann entstehen kreative Prozesse. Diese beziehen sich auf die Art und Weise bzw. den Weg, wie kreative Produkte entstehen. Dadurch ist diese Forschung vor allem auf das Verhalten der Personen (behavioral) ausgerichtet (vgl. Runco, 2004, S. 661). Rhodes formuliert die folgenden Fragen, die seiner Meinung nach, eine Forschung zu dieser kreativen Dimension beantworten soll:

„What are the stages of the thinking process? Are the processes identical for problem solving and for creative thinking? If not, how do they differ? Can the creative thinking process be taught?“ (Rhodes, 1961, S. 308)

Diese Fragen repräsentieren einen von zwei in der Literatur vorzufindenden grundlegenden Forschungsansätzen in dieser Dimension. Auf der einen Seite stehen Forschungen, die den kreativen Problemlöseprozess in den Blick nehmen und schematisierende (Stufen-)Modelle entwickeln. Diese basieren zumeist auf der Beschreibung des kreativen Prozesses nach dem Psychologen Wallas (1926), dem Mathematiker Poincaré (1913) und der Adaption von Hadamard (1945). Auf der anderen Seite existieren Ansätze, die auf dem divergenten Denken nach Guilford (1967) sowie den Kategorien für kreative Prozesse nach Torrance (1966) basieren. Manche Arbeiten bringen auch beide Ansätze miteinander in Verbindung (etwa Klavir & Gorodetsky, 2009, S. 224). Die Ansätze sollen hier nicht weiter vertieft werden, da sie Gegenstand der nachfolgenden Abschnitte zu einer inhaltlichen Begriffsbestimmung der individuellen mathematischen Kreativität von Schüler*innen sind (vgl. Abschn. 2.3).

2.3.4 Kreatives Produkt

Am Ende eines kreativen Prozesses steht ein kreatives Produkt, worunter jede Art von schriftlichem oder mündlichem Arbeitsergebnis oder Idee abhängig von der gestellten Aufgabe zu verstehen ist. Somit sind diese beiden Dimensionen stark miteinander verbunden, da durch eine Betrachtung des kreativen Produkts, Eigenschaften des kreativen Prozesses rekonstruiert werden können (vgl. Haylock, 1987, S. 61, 1997, S. 69; Liljedahl & Sriraman, 2006, S. 19). Eine Analyse des Produkts im Gegensatz zum Prozess ermöglicht dabei eine methodisch höhere Objektivität, weshalb diese Dimension in vielen Forschungsarbeiten im Mittelpunkt steht (vgl. Runco, 2004, S. 663). Das mitunter prominenteste Beispiel für eine Produktorientierung ist die Definition von Sternberg und Lubart (1999), die Kreativität als die Fähigkeit „to produce work that is both novel (i.e. unexpected, original) and appropriate (i.e. useful, adaptive concerning task constraints)“ (S. 3) definieren. Damit enthält diese Definition auch die drei von Preiser (2006) als zentral herausgestellten Kriterien für kreative Produkte: „Neuartigkeit, Angemessenheit und gesellschaftliche Akzeptanz“ (52). Runco (2004, S. 663) verweist aber auch auf ein Problem bei der ausschließlichen Betrachtung des Produkts. Häufig wird dann nur noch die Produktivität der Person wahrgenommen und nicht mehr ihre Kreativität, obwohl dies sich zwei überlappende, aber nicht gleichzusetzende Konstrukte darstellen.

Insgesamt erscheint also das oben propagierte Vorgehen, die Rekonstruktion des kreativen Prozesses über das objektiv leichter zugängliche kreative Produkt als besonders zielführend für die Beschreibung der individuellen mathematischen Kreativität. Dabei gilt es sauber zu prüfen und darzustellen, durch welche Analysemethode vom Produkt auf den Prozess rückgeschlossen werden kann.

2.4 Zusammenfassung

Das Ziel des gesamten ersten Theoriekapitels ist es, eine Definition für das in dieser Arbeit verwendete Konstrukt von Kreativität zu entwickeln (vgl. Abschn. 2.4). In einem ersten Schritt galt es in den vergangenen zwei Abschnitten 2.1 und 2.2 die mathematikdidaktische Verwendung des Begriffs der Kreativität grundlegend zu klären.

Ausgehend von einer alltagssprachlichen Verwendung des Begriffs, die sich vor allem auf das Erschaffen von etwas Neuem bezieht (vgl. Abschn. 2.1.1), wurden in Anlehnung an Plucker et al. (2004) verschiedene vorherrschende Mythen zum Konstrukt der Kreativität vorgestellt, die dazu geführt haben, dass Kreativität häufig nur implizit oder gar nicht definiert wird. Dem dadurch entstandenen Definitionsproblem haben die Autor*innen versucht, durch eine empirische Definition entgegenzuwirken. In dieser wurden als zentrale Elemente als erstes die Interaktion zwischen der kreativen Person, dem kreativen Prozess, dem kreativen Produkten und der kreativen Umgebung, als zweites die Neuartigkeit der kreativen Produkte und als drittes der soziale Kontext, in dem Kreativität entsteht, hervorgehoben (vgl. Abschn. 2.1.2). Diese Aspekte dienten als strukturgebender Ausgangspunkt für die weiteren theoretischen Ausführungen. Im Kontext dieser mathematikdidaktischen Arbeit wurden deshalb drei grundlegende Aspekte für ein Begriffsverständnis von Kreativität als relevant gesetzt:

  • Kreativität wird vor allem als domänenspezifisch verstanden, wobei allgemeine bzw. domänenunabhängige Elemente innerhalb der Definition mathematischer Kreativität vorzufinden sind (vgl. Abschn. 2.2.1).

  • Kreativität wird als ein relatives Konstrukt verstanden, wodurch eine individuelle Betrachtung der Kreativität jedes Menschen möglich wird (vgl. Abschn. 2.2.2). Für die Domäne der Mathematikdidaktik bedeutet dies konkret, dass davon ausgegangen wird, dass sich die mathematische Kreativität von Schulkindern spezifisch und anders darstellt als die von erwachsenen Menschen.

  • Zuletzt wurden vier Dimensionen von Kreativität (4P-Modell, vgl. Abb. 2.2) dargestellt und darauf verwiesen, dass die Dimensionen bei einer Definition von Kreativität unterschiedlich intensiv in den Blick genommen werden können (vgl. Abschn. 2.2.3): Durch das Verständnis von Kreativität als domänenspezifisch und relativ wird die Dimension der kreativen Person ins Zentrum der Betrachtung gerückt. Die kreativen Prozesse der Personen werden dabei vor allem über eine Analyse des kreativen Produkts rekonstruiert. Entscheidend dafür ist zudem die Auswahl der Aufgaben (ausführlich in Kap. 3), über welche die kreative Umgebung kontrolliert wird.

Die nun begründete Auswahl und Analyse der grundlegenden Aspekte eines Begriffsverständnisses (vgl. Abb. 2.3) führen zu einer konkreten Formulierung des Konstrukts von Kreativität in dieser Arbeit:

Abb. 2.3
figure 3

Grundlegende Aspekte einer Begriffsdefinition: individuelle mathematische Kreativität

3 Inhaltliche Aspekte einer Begriffsdefinition

„Instructional approaches in school mathematics greatly depend on which definition [of mathematical creativity] is emphasized.“ (Kwon et al., 2006, S. 52)

Nachdem zuvor grundlegende theoretische Aspekte zum Konstrukt der Kreativität dargestellt wurden, entstand eine begriffliche Fassung von Kreativität, die auf die Domänenspezifizität (vgl. Abschn. 2.2.1), den relativen Charakter (vgl. Abschn. 2.2.2) und die Verbindung der Dimensionen (vgl. Abschn. 2.2.3) von Kreativität verweist. Nun gilt es, eine inhaltliche mathematikdidaktische Definition der individuellen mathematischen Kreativität aus bereits bestehenden psychologischen und mathematikdidaktischen Kreativitätsforschungen zu erarbeiten.

In der Literatur lassen sich drei große Ansätze der Kreativitätsforschung finden, die alle einen unterschiedlichen Blick auf Kreativität einnehmen und dadurch verschiedene kreative Dimensionen fokussieren.

  1. 1.

    Bei kognitiven Ansätzen (cognitive approach) wird der kreative Prozess fokussiert und dieser als Abwandlung des Problemlöseprozesses verstanden. Dabei wird vor allem die Phase der Illumination, in welcher der sogenannte Aha!-Effekt auftreten kann, als kreatives Tun in den Blick genommen (vgl. R. Leikin & Pitta-Pantazi, 2013, S. 160–161; Sternberg & Lubart, 1999, S. 7–8). Kwon, Park und Park (2006) beschreiben diese Ansätze für die mathematikdidaktische Forschung durch das Auftreten und Erweitern von „flexible problem-solving-abilities“ (S. 52).

  2. 2.

    Forschungen mit einem sozial-persönlichen Ansatz (social-personality approach) untersuchen das Konstrukt der Kreativität immer in Bezug auf spezielle soziale Kontexte wie etwa das soziale und konstruktivistische fachliche Lernen in der Schule und/oder kulturelle Besonderheiten der spezifischen kreativen Umgebung sowie Eigenschaften der kreativen Person (R. Leikin & Pitta-Pantazi, 2013, S. 161; Sternberg & Lubart, 1999, S. 8–9).

  3. 3.

    Forschungstätigkeiten mit einem psychometrischen Ansatz (psychometric approach) definieren am kreativen Produkt messbare Charakteristika von Kreativität und beschreiben darüber die Kreativität kreativer Person häufig in Bezug zu ihren intellektuellen sowie domänenspezifischen Fähigkeiten oder Persönlichkeitsmerkmalen (vgl. R. Leikin & Pitta-Pantazi, 2013, S. 160; Sternberg & Lubart, 1999, S. 6–7). So geht es bei diesen Ansätzen laut Kwon, Park und Park (2006) vor allem um die „creation of new knowledge“ (S. 52). Über verschiedene divergente Fähigkeiten bei der Bearbeitung domänenspezifischer Aufgaben, wobei verschiedene Lösungen und Methoden gefunden werden sollen, werden so Eigenschaften der Kreativität von Personen beschrieben. Dabei konnten Joklitschke, Rott & Schindler (2019) durch ihre systematische Literatursichtung zu mathematischer Kreativität feststellen, dass dieser Definitionsansatz am häufigsten Verwendung findet (vgl. S. 444).

Die nachfolgende Abbildung 2.4 zeigt die drei Strömungen in Bezug auf das 4P-Modell (vgl. Abb. 2.1) und stellt die jeweils fokussierten Dimensionen von Kreativität darFootnote 9:

Abb. 2.4
figure 4

Drei Ansätze in der Kreativitätsforschung in Bezug auf das 4P-Modell

Kwon, Park und Park (2006, S. 52–53) und vor allem Sternberg und Lubart (1999, S. 9) verweisen darauf, dass die verschiedenen Forschungsansätze nicht gänzlich voneinander zu trennen sind, sondern interagieren. So plädieren die Autor*innen dafür, Forschungsarbeiten zum Thema Kreativität anzufertigen, die nicht nur einen der drei Ansätze wählen, sondern vielmehr einzelne Aspekte aus mehreren Ansätzen zusammen verwenden (confluence approach) (Sternberg & Lubart, 1999, S. 10–11).

Dementsprechend nutzt diese Arbeit einzelne geeignete Aspekte aus den verschiedenen Ansätzen, um zu einer inhaltlichen Definition von Kreativität zu gelangen. Bei den grundlegenden Aspekten einer Definition der individuellen mathematischen Kreativität wurde bereits erläutert, dass die kreativen Personen mit ihren individuellen kreativen Fähigkeiten in Verbindung zu ihren mathematischen Fähigkeiten sowie ihrer Intelligenz fokussiert werden (vgl. Abschn. 2.2, insbesondere Abb. 2.2). Für eine inhaltliche Definition eignen sich deshalb zwei Ansätze – der sozial-persönliche und der psychometrische (vgl. Abb. 2.4). Durch die Betrachtung der individuellen mathematischen Kreativität von Schüler*innen liegt ein besonderes Interesse auf den für die Domäne der Mathematik spezifischen kreativen Produkten (vgl. Abschn. 2.2.3.4), die in Relation zu den individuellen Fähigkeiten der Lernenden gesetzt werden. Daher scheint die Nutzung eines psychometrischen Forschungsansatzes mit Ergänzungen aus Forschungen mit einem sozial-persönlichen Ansatz zielführend.

Daher werden im Folgenden Kreativitätstheorien und Studien mit einem kognitiven Forschungsansatz (Kreativität im Kontext des Problemlösens) nur überblicksartig (vgl. Abschn. 2.3.1), mit einem sozial-persönlichen Ansatz (Kreativität im Kontext des sozialen Lernens) etwas breiter (vgl. Abschn. 2.3.2) und abschließend theoretische Aspekte und Studien mit einem psychometrischen Ansatz (Kreativität im Kontext des divergenten Denkens) besonders detailliert dargestellt (vgl. Abschn. 2.3.3). Diese Ausführungen münden in einer expliziten inhaltlichen Definition der individuellen mathematischen Kreativität von Schulkindern (vgl. Abschn. 2.4), so wie es Plucker, Beghetto und Dow (2004, S. 92) fordern (vgl. Einführung zu Abschn. 2.2).

3.1 Kreativität im Kontext des Problemlösens

„Kreative Prozesse lassen sich kognitionspsychologisch als Variante von Problemlöseprozessen beschreiben.“ (Dieck, 2012, S. 30)

Forschungsarbeiten zu Kreativität mit einem kognitiven Ansatz konzentrieren sich primär auf den kreativen Prozess. Die bedeutendsten psychologischen und mathematikdidaktischen Theorien und Studien zu Kreativität im Kontext von Problemlösen sollen in diesem Abschnitt überblicksartig und der Vollständigkeit halber dargestellt werden. Insgesamt lassen sich vor allem im Bereich der Mathematikdidaktik viele Studien finden, die einen kognitiven Ansatz verfolgen, da das Feld des Problemlösens insbesondere für die Mathematik bedeutsam ist (vgl. Rott, 2013, S. 10–11) und die Kreativitätsforschung somit an dieses Forschungsfeld anknüpfen kann. Für diese Arbeit wurde dennoch ein psychometrischer Ansatz gewählt, da der Fokus wie zuvor dargestellt auf der Beschreibung der individuellen mathematischen Kreativität von kreativen Personen liegt (vgl. Abschn. 2.2.2 und die Einleitung zu 2.3).

Ausgangspunkt für nahezu alle Theorien, die einen kognitiven Ansatz verfolgen, ist die im Eingangszitat von Dieck (2012) erwähnte Erkenntnis, dass kreative Prozesse als eine Abwandlung von ProblemlöseprozessenFootnote 10 beschrieben werden können. Für jegliche Forschung grundlegend ist die Darstellung kreativer Prozesse in Wallas (1926) gestaltpsychologischer Abhandlung „The art of thought“. Er benennt vier aufeinander folgende Phasen, die zusammen einen kreativen Prozess abbilden (vgl. im folgenden Wallas, 1926, S. 80):

  1. 1.

    Preparation: Jeder Mensch sammelt in seinem alltäglichen Leben vielfältiges Wissen an, auf das er dann jederzeit zurückgreifen und zur Lösung von allgemeinen oder auch domänenspezifischen Problemen nutzen kann. Dazu ist es zunächst notwendig, ein Problem auch als solches wahrzunehmen und eine Lösungsabsicht zu entwickeln. Danach wird dasjenige Wissen aus der Gesamtheit aktiviert, das zur Lösung des Problems nützlich sein kann.

  2. 2.

    Incubation: Diese Phase gleicht einer Ruhephase, in welcher die Problemlöser*innen nicht aktiv über das zu lösende Probleme nachdenken. Meistens beschäftigen sich die Menschen dabei mit anderen Dingen. Der Autor beschreibt diese Phase als diejenige, in der die Menschen die meiste Zeit ihres Lebens verbringen.

  3. 3.

    Illumination: Diese für die Kreativitätsforschung spannendste Phase unterbricht die Inkubationsphase, indem Problemlöser*innen einen plötzlichen Einfall, d. h. eine Idee zur Lösung eines sie umgebenden Problems haben. Diese Einsicht, der Aha!- oder Heureka-Effekt genannt, ist Gegenstand vielfältiger Forschungsarbeiten im Bereich des (mathematischen) Problemlösens (etwa Bruder, 2003, S. 5) und der Kreativität (etwa Liljedahl, 2004), da hierbei Neues kreiert werden kann.

  4. 4.

    Verification: Zum Schluss des kreativen Prozesses steht die Überprüfung oder Anwendung des Denkergebnisses aus der Illuminationsphase. Diese kann je nach Domäne verschiedenartig komplex ausfallen.

Zusätzlich ist in der mathematischen Forschung die Arbeit von Poincaré (1913) zur Mathematical Creation (S. 383–394) für die Beschreibung kreativer Prozesse bedeutsam. So beschreibt er ausgehend von seinen eigenen Erfahrungen in der kreativen Bearbeitung mathematischer Probleme zwei verschiedene Phasen (vgl. Poincaré, 1913, S. 389): Während der unconscious work (unbewussten Arbeit), einer Art Pause wie etwa bei einem Spaziergang, findet keine bewusste Beschäftigung mit der Lösung des mathematischen Problems statt. Dagegen wird in einer zweiten Phase, der conscious work (bewussten Arbeit), das Problem aktiv bearbeitet. Phasen der bewussten und unbewussten Arbeit finden mehrfach abwechselnd statt bis eine „sudden inspiration“ (Poincaré, 1913, S. 389) zur Lösung des Problems am Ende der Phase einer unbewussten Arbeit auftaucht. Im Anschluss muss dann eine Phase der bewussten Arbeit folgen, um die plötzlich entstandene Idee auszuarbeiten (vgl. Poincaré, 1913, S. 390). Dabei verweist der Autor darauf, dass der Abschluss eines solchen kreativen Prozesses nicht mit der Lösung des Problems gleichzusetzen ist (vgl. Poincaré, 1913, S. 391).

Der französische Mathematiker Hadamard (1945) adaptiert das Modell von Wallas (1926) und verbindet es mit dem von Poincaré (1913). So zeigt er zum einen die Parallele auf, dass Wallas‘ Phasen der Inkubation und Illumination mit der unbewussten Arbeit von Poincaré gleichzusetzen sind, an dessen Ende ein plötzlicher Einfall bzw. eine mathematische Überlegung als Output (vgl. van der Waerden, 1953, S. 121) steht. Damit ergibt sich zum anderen, dass die Präparations- und Verifikationsphase nach Wallas im Sinne Poincarés durch bewusste Arbeit stattfinden (vgl. Hadamard, 1945, S. 56).

Auf Basis des nun ausführlich dargestellten Modells über kreative Prozesse nach Hadamard (1945), das kreative Prozesse von professionellen Mathematiker*innen beim Bearbeiten komplexer mathematischer Probleme beschreibt, sind in den letzten rund 70 Jahren verschiedene mathematikdidaktische Forschungen zu kreativen Prozessen von Schüler*innen entstanden. Bspw. konnte die Studie von Schindler & Lilienthal (2019) mit Hilfe der Eye-Tracking-Technologie den kreativen Prozess eines Schülers der schwedischen Upper Secondary School (äquivalent zu den Klassen 10–13 in Deutschland) skizzieren. Durch die Adaption des Modells von Hadamard (1945) für die Schulmathematik, wobei altersangemessene mathematische Probleme bearbeitet werden, wurde deutlich, dass der kreative Prozess nicht linear verlief und dass die Phase der Inkubation nicht durch eine Beschäftigung mit anderen Dingen auftrat, sondern in dem Moment, wenn der Schüler einen Fehler bemerkte oder eine neue Strategie wählte. Außerdem scheint die Illumination eine besonders bedeutende Rolle während der Aufgabenbearbeitung einzunehmen (vgl. Schindler & Lilienthal, 2019, S. 16–17).

Ausgehend von diesen beispielhaften Erkenntnissen werden im Folgenden nun drei weitere Aspekte detaillierter vorgestellt: Während der Um- und Neustrukturierung von Wissen der kreativen Personen in der Inkubationsphase des kreativen Prozesses (vgl. Abschn. 2.3.1.1), kann es zu Blockierungen im kreativen Prozess kommen (vgl. Abschn. 2.3.1.2), die es zu überwinden gilt, um in der Illuminationsphase einen Aha!-Moment zu erleben (vgl. Abschn. 2.3.1.3).

3.1.1 Um- und Neustrukturierung von Wissen

In psychologischen Forschungsarbeiten, die sich mit dem kreativen Prozess auf einer kognitiven Ebene beschäftigen, wird betont, dass die Auswahl eines Lösungsansatzes im Übergang von der Inkubations- zur Illuminationsphase durch eine Um- bzw. Neustrukturierung von bereits vorhandenen Wissenselementen geschieht (vgl. etwa Hasdorf, 1976, S. 16–17; Lohmeier, 1989, S. 81; Rohr, 1975, S. 21–30). Lohmeier (1989) betont, dass dazu verschiedene Kreativitätsverfahren und -technikenFootnote 11 erlernt und bewusst eingesetzt werden können. Diese ermöglichen während der Inkubationsphase das Lockern von erlernten mathematischen Verhalts- oder Verfahrensweisen, wodurch ein plötzlicher Einfall zur Lösung des Problems in der Illuminationsphase ermöglicht wird (vgl. Lohmeier, 1989, S. 87–89). Die von ihm vorgestellten Verfahren lassen sich zur Kreativitätsförderung auch in der Schule einsetzen, wobei der Autor betont, dass vor allem Schulanfänger*innen „in der Regel entwicklungsbedingte Eigenschaften ein[bringen], die ein kreatives Verhalten und kreative Leistungen geradezu herbeiführen“ (Lohmeier, 1989, S. 94).

Die Einschätzung, dass Schulkinder im Mathematikunterricht durch das Bearbeiten mathematischer Probleme in einem für sie neuen Kontext kreativ werden können, teilt auch Ervynck (1991, S. 53). Er beschreibt mathematische Kreativität als einen Prozess, bei dem bestimmte heuristische Prozeduren aufgebrochen werden (vgl. Ervynck, 1991, S. 42) und illustriert drei Phasen in der Entwicklung mathematischer Kreativität (vgl. im Folgenden Ervynck, 1991, S. 42–44):

  1. (0)

    A preliminary technical stage: Mathematische Aktivitäten bestehen zunächst daraus, auf einer praktischen Ebene mathematische Regeln und Prozeduren ohne ein Bewusstsein für die zugrundeliegenden Theorien anzuwenden.

  2. (1)

    Algorithmic stage: Auf dieser Ebene werden mathematische Techniken wie etwa die Anwendung eines Algorithmus, die Ausarbeitung einer Formel oder das Benutzen eines Computerprogramms über das Durchführen mathematischer Operationen, das Rechnen und Lösen mathematischer Probleme angewendet. Da auf dieser Stufe im Sinne der advanced mathematics grundlegende Techniken sicher erlernt werden, wird es möglich, diese auf der nächsten Stufe bewusst zu reflektieren bzw. zu manipulieren, um mathematisch kreativ zu werden.

  3. (2)

    The creative (conceptual, constructive) activity: Mathematische Kreativität entsteht auf dieser letzten Stufe und bezeichnet die Fähigkeit, eine nicht-algorithmische Entscheidung bei der Bearbeitung einer mathematischen Aufgabe zu treffen. Dabei sind zwei Elemente zentral: Die zu treffende Entscheidung kann individuell sehr unterschiedlich sein und beinhaltet immer verschiedene Wahlmöglichkeiten. Die so entstehende mathematische Kreativität kann somit im Sinne des aktiv entdeckenden Lernens bei der Bearbeitung von mathematischen Standardproblemen auftreten (etwa Spiegel & Selter, 2008, Kap. 3).

Mathematisch kreative Prozesse, die während der zuvor beschriebenen creative (conceptual, constructive) activity auftreten, bestehen für Ervynck (1991) aus vier aufeinanderfolgenden Phasen, die stark denen von Hadamard (1945) ähneln: „(1) studying, yielding familiarity with the subject, (2) intuition of the deep structure of the subject [Preparation], (3) Imagination and inspiration [Incubation und Illumination], (4) results, framed within a deductive (formal) structure [Verification]“ (Ervynck, 1991, S. 47).

3.1.2 Überwinden von Blockierungen

Während eines kreativen Prozesses und vor allem bei der Neu- und Umstrukturierung von Wissen kann es zu verschiedensten Blockierungen kommen. Verschiedene Forschende haben sich mit der Art und Überwindung solcher Blockierungen von der Illuminations- zur Inkubationsphase kreativer Prozess beschäftigt (etwa Cropley, 1978; Sikora, 2001).

Balka (1974) beschreibt als eins von sechs Kriterien für kreatives Verhalten in der Mathematik „the ability to break from established mind sets to obtain solutions in a mathematical situation […]“ (S. 634). In diesem Zusammenhang verweist Haylock (1987, S. 66) auf das Paradoxon, dass im Kontext von Schulmathematik zwar beim Problemlösen die Überwindung von Blockierungen notwendig sind, gleichzeitig das Mathematiklernen jedoch häufig aus der Aneignung von Standardprozeduren oder Algorithmen besteht. Daher schlussfolgert er, dass kreatives Verhalten die Fähigkeit sei, mit diesen Verhaltensweisen in der Mathematik zu brechen. Er definiert daraufhin zwei wesentliche Arten von Blockierungen, die es zu überwinden gilt:

  1. 1.

    Unter algorithmic fixation versteht Haylock (1987, S. 67) die Blockierung, dass erlernte mathematische Algorithmen und Methoden genutzt werden, obwohl sie für die Lösung des spezifischen mathematischen Problems ungeeignet sindFootnote 12. Luchins (1942, 16, 28) konnte in seinen umfangreichen Studien zeigen, dass je intensiver ein gewisser Lösungsalgorithmus erlernt und trainiert wird, desto weniger Schüler*innen in der Lage sind, diesen zu verlassen und dadurch eine Blockierung in der Problemlösung zu überwinden.

  2. 2.

    Dagegen beschreibt die universe fixation (Haylock, 1987, S. 67) eine Blockierung durch Selbstbeschränkung (im Englischen: self-restriction) (Verwendung des Begriffs in Anlehnung an Krutetskii, 1976, S. 142) der kreativen Personen. Das bedeutet, dass die Problemlöser*innen zur Bearbeitung des mathematischen Problems über dieses hinausdenken und Lösungsmöglichkeiten nutzen müssen, die bei der ersten Betrachtung des Problems nicht sofort ersichtlich sindFootnote 13. Krutetskii (1976) konnte in seiner umfangreichen Studie zu den mathematischen Fähigkeiten von Schulkindern zeigen, dass mathematisch begabte Kinder eine höhere mentale Flexibilität bei der Überwindung dieser Blockierung aufweisen. Dies zeigt sich unter anderem in einem freien Wechsel zwischen verschiedenen Operationen, Ungebundenheit an Stereotype und konventionelle Methoden sowie einer Leichtigkeit bei der Lösung (vgl. Krutetskii, 1976, S. 282).

3.1.3 Bedeutung des Heureka- oder Aha!-Moments

Der plötzliche Einfall im kreativen Prozess, der Heureka- oder Aha!-Moment, zeigt an, dass eine Blockierung in der Bearbeitung eines domänenspezifischen Problems überwunden wurde. Sriraman (2005, S. 27) spricht von einem magischen Moment, dessen Wert in der Schulmathematik häufig vernachlässigt wird. Dabei konnte Krutetskii (1976, S. 347) beobachten, dass Schüler*innen pure Freude bei jeder neuen mathematischen Entdeckung empfinden:

„[…] this joyous sense [of the schoolchildren] […] includes a feeling of satisfaction from the awareness that difficulties have been overcome, that one‘s own efforts have led to the goal. “ (Krutetskii, 1976, S. 347)

In seiner Dissertation hat Liljedahl (2004) die Aha!-Experience bei Studierenden, professionellen Mathematiker*innen und Lehrer*innen untersucht und konnte feststellen, dass sie alle Aufregung, Freude und Zufriedenheit bei der Überwindung von Blockierungen während der Illuminationsphase verspürten. Außerdem konnte das Erleben des Aha!-Moments bei Problemlöser*innen, die ein eher negatives Selbstkonzept über ihre mathematischen Fähigkeiten aufwiesen, transformierend in dem Sinne wirken, als dass sie die Aufgabe mit einem guten Gefühl abschließen konnten (vgl. Liljedahl, 2004, S. 198). So definiert Liljedahl Kreativität in seinem Gespräch mit Sriraman als „self-defining“ (Liljedahl & Sriraman, 2006, S. 17).

3.1.4 Zwischenfazit

In diesem Abschnitt wurden wesentliche Aspekte zu Kreativitätsforschungen, die einen kognitiven Ansatz verfolgen und den kreativen Prozess genauer beleuchten, dargestellt. Es konnte aufgezeigt werden, dass der Ausgangspunkt für kreative Prozesse bei diesen Forschungsarbeiten das Lösen eines domänenspezifischen Problems ist. Besonders für den Bereich der Mathematikdidaktik werden so kreative Prozesse als Variante von Problemlöseprozessen betrachtet (vgl. Abschn. 2.3.1).

Es wurde herausgearbeitet, dass alle Theorien auf dem Stufenmodell – Präparation, Inkubation, Illumination und Verifikation – nach Hadamard (1945) basieren. Unter dem Begriff der Neu- und Umstrukturierung von Wissen wurden die kognitiven Anforderungen an die kreativen Problemlöser*innen vor allem aus konkret mathematikdidaktischer Perspektive (vor allem Ervynck, 1991) aufgezeigt (vgl. Abschn. 2.3.1.1). Mit Haylock (1987, 1997) wurden zwei verschiedene Arten von Blockierungen und deren Überwindungsmöglichkeiten bei mathematisch kreativen Prozessen von Schulkinder dargestellt und durch empirische Studien angereichert (vgl. Abschn. 2.3.1.2). Zuletzt wurde der Aha!-Moment besonders in den Blick genommen und dargestellt, dass es vor allem für Schulkinder emotional und motivational wichtig ist, einen solchen kreativen Moment im Mathematikunterricht zu erleben (vgl. Abschn. 2.3.1.3).

3.2 Kreativität im Kontext des sozialen Lernens

„Where is creativity?“ (Csikszentmihalyi, 2014b, S. 47)

Da der Fokus dieser Arbeit auf einer Beschreibung der individuellen mathematischen Kreativität von Schulkindern und damit auf den kreativen Personen liegt (vgl. Abschn. 2.2.3.1), werden nun ausgewählte Aspekte zur kreativen Person aus Forschungsarbeiten, die einen sozial-persönlichen Ansatz verfolgen, vorgestellt. Diese Arbeiten konzentrieren sich laut Sternberg und Lubart (1999) alle auf „personality variables, motivational variables, and the sociocultural environment as source of creativity“ (S. 8).

In mathematikdidaktischen Forschungen zu Kreativität, die einen primär sozial-persönlichen Ansatz verfolgen, wird eine konstruktivistische Perspektive eingenommen. Mathematik wird dabei als Tätigkeit betrachtet, die von allen Schüler*innen aktiv „nachempfunden bzw. neu gestaltet“ (Wheeler, 1970, S. 8) werden muss. Sinn und Bedeutung mathematischer Einsichten und Handlungen werden von jedem Lernenden selbst konstruiert. Aus dieser Prämisse leitet sich ab, dass beim Lernen und Betreiben von Mathematik „schöpferisches Denken beteiligt [ist]“ (Spiegel & Selter, 2008, S. 47). Dadurch wird es möglich, dass Schulkinder ihre individuelle mathematische Kreativität zeigen.

In Anlehnung an die Theorie des situierten Lernens finden kreative Prozesse von Kindern in einem bestimmten sozialen Kontext statt und sind dort in einem gemeinsamen Austausch erlern- und erweiterbar (vgl. Lave & Wenger, 1991, 29, 47). Unter einer sozial-persönlichen Sichtweise auf mathematische Kreativität wurden demnach verschiedenste Modelle entwickelt, die dazu dienen, die verschiedenen Einflüsse auf die Lernenden, während diese mathematisch kreativ werden, zu analysieren (vgl. Plucker et al., 2004, S. 84). In diesem Abschnitt sollen von diesen Forschungsarbeiten drei wesentliche Theorien vorgestellt werden. Diese stellen die bedeutendsten Vertreter*innen dieses Ansatzes dar, die Basis für vielfältige weitere Forschungsarbeit sind (vgl. etwa Plucker et al., 2004, S. 84; Sternberg & Lubart, 1999, S. 8–11):

  1. 1.

    Amabile (1996) arbeitete drei sozialpsychologische Komponenten von Kreativität heraus, durch die kreative Produkte und Ideen unter bestimmten sozialen Bedingungen wie etwa dem Bildungskontext entstehen können (vgl. Abschn. 2.3.2.1).

  2. 2.

    Csikszentmihalyi (2014c) beschreibt in seiner Theorie des Systems Model of Creativity einen sozialen Mechanismus, in dem individuelle domänenspezifische Kreativität auftreten und wahrgenommen werden kann (vgl. Abschn. 2.3.2.2).

  3. 3.

    Sawyer (1995) beschreibt, dass Kreativität als eine Art von mediated action bei Gruppenimprovisationen über soziale Interaktionen entsteht (vgl. Abschn. 2.3.2.3).

3.2.1 Amabile (1996): Social Psychology of Creativity

Das Anliegen von Amabile (1996) bei ihrer langjährigen Forschungstätigkeit war es, eine Social Psychology of Creativity zu entwickeln. Mit Hilfe verschiedenster Studien deduzierte sie drei Komponenten kreativen Verhaltens bzw. drei Eigenschaften kreativer Personen, die in einem sich gegenseitig beeinflussendem Verhältnis zueinander stehen (vgl. im Folgenden S. 83–93):

  1. 1.

    Domänenrelevante Kompetenzen basieren auf angeborenen kognitiven Fähigkeiten, Wahrnehmungs- und motorischen Fähigkeiten sowie formeller und informeller Bildung und beinhalten dadurch domänenspezifisches Wissen, technische Fähigkeiten und ein gewisses „Talent“.

  2. 2.

    Kreativitätsrelevante Kompetenzen definieren den kognitiven Stil einer Person und beinhalten das im- und explizite Wissen über Heuristik, um neue Ideen zu generierenFootnote 14. Sie entstehen durch gezieltes Training, das Sammeln von Erfahrungen im Generieren von Ideen und bedingende Persönlichkeitseigenschaften.

  3. 3.

    Unter Aufgabenmotivation wird die Einstellung zu der gestellten Aufgabe und die damit verbundene Motivation, die Aufgabe zu bearbeiten, verstanden. Damit basiert die Aufgabenmotivation auf einer stark intrinsischen Motivation und den kognitiven Fähigkeiten, extrinsische Zwängen zu minimieren.

Während die domänen- und kreativitätsrelevanten Kompetenzen einer Person determinieren, was diese bei der Bearbeitung einer gestellten Aufgabe (technisch bzw. handwerklich gesehen) tun kann, beeinflusst die Aufgabenmotivation zusätzlich, was eine Person auch Kreatives tun möchte (vgl. Amabile, 1996, S. 93). So legt Amabile (1996, S. 115–119) einen besonderen Fokus auf den Aspekt der intrinsischen Motivation, d. h. den Anreiz eine Aufgabe bearbeiten zu wollen.

In der Überarbeitung der Erstauflage ihres Buches im Jahr 1996 stellt Amabile vor allem den Einfluss der Umgebung auf die Aufgabenmotivation heraus (vgl. Amabile, 1996, 119–121), den sie durch diverse empirische Studien belegt und konkretisiert (vgl. Amabile, 1996, Part Two). Für die vorliegende mathematikdidaktische Arbeit sind einige ihrer Erkenntnisse über die Einflüsse des Bildungsumfeldes auf die Kreativität von Schüler*innen bedeutsam: Bereits vor rund 50 Jahren machte Torrance (1968, S. 195) in seiner quantitativen Langzeitstudie von 1959 bis 1964 mit 350 amerikanischen Dritt- bis Fünftklässler*innen (Klassensystem äquivalent zu Deutschland) darauf aufmerksam, dass die Kreativität der Kinder am Ende der vierten Klasse signifikant abfällt. Dies begründet Amabile (1996, S. 204) dadurch, dass durch einen stetig steigenden Anpassungsdruck an die Peer-Gruppe, die Bereitschaft der Kinder, Risiken einzugehen und neue Wege bei der Lösungsfindung einer Aufgabe zu beschreiten, sinkt. Zusätzlich wirkt sich auch die formelle Bildung in der Schule zunehmend hemmend auf das Auftreten kindlicher Kreativität aus (vgl. Amabile, 1996, S. 229; in Anlehnung an Simonton, 1976). Dem kann eine bewusste Individualisierung in den schulischen Aktivitäten wie bspw. durch individuelle Arbeitspläne, die kreativitätsfördernd wirken können, entgegen wirken (vgl. Amabile, 1996, S. 229, ausführlich S. 205–208). Vor allem spielerische AktivitätenFootnote 15 können das Auftreten von Kreativität bei der Bearbeitung einer Aufgabe erhöhen, wenn die Objekte oder das Thema des Spiels in der Aufgabe involviert sind (vgl. Amabile, 1996, S. 229, ausführlich S. 225–227).

Die Studien von Amabile (1996) weisen in Bezug auf die Einflüsse des Bildungsumfeldes auf die Kreativität insgesamt darauf hin, dass eine Fokussierung auf junge Schulkinder bei der Betrachtung der individuellen mathematischen Kreativität bedeutsam scheint und bisher nur wenig beforscht wurde.

3.2.2 Csikszentmihalyi (2014c): Systems Model of Creativity

Csikszentmihalyi (2014b) setzt im Vergleich zu Amabile (1996) einen anderen Schwerpunkt, indem er nicht mehr einzelne Kompetenzen von Personen herausstellt, die das Auftreten von Kreativität bedingen. Er prägt hingegen eine systemische Sichtweise auf Kreativiät – das Systems Model of CreativityFootnote 16 – bei der vor allem das historische und soziale Mileu bzw. die Umgebung, in dem kreative Werke entstehen, als zentraler Aspekt untersucht wird (vgl. Csikszentmihalyi, 2014b, S. 47). Kreative Prozesse werden in Folge dessen durch die drei Komponenten Individuum, Domäne und Feld, die in einer wechselseitigen Beziehung zueinander stehen, bedingt (vgl. Csikszentmihalyi, 2014b, S. 51).

„Creativity is a process that can be observed only at the intersection where individuals, domains, and field’s interact.“ (Csikszentmihalyi, 2014a, S. 103)

Unter dem Begriff des Felds versteht der Autor spezielle soziale Systeme einer Domäne, d. h. Organisationen mit in diesem Bereich ausgebildeten Menschen, die in der Lage sind, kreative Handlungen in ihrer Domäne zu erkennen. Für die Domäne der Mathematikdidaktik sind dies üblicherweise Lehrende (vgl. Csikszentmihalyi, 2014a, S. 104) – Mathematiklehrer*innen genauso wie Dozierende an Hochschulen oder Weiterbildungsstätten. Um als Person jedoch kreativ werden zu können, ist es wichtig, die entsprechende Domäne genau zu kennen, da sie die Notationsvorschrift für Kreativität vorgibt. Nach dem Prinzip „One needs to know music to write a creative symphony“ (Csikszentmihalyi, 2014b, S. 51), bedeutet das für die Beobachtung der individuellen mathematischen Kreativität, dass den Schüler*innen grundlegende mündliche und schriftliche Notationsformen der Mathematik wie Zahlsymbole oder auch Operationszeichen bekannt sein müssen. Je präziser das kulturell geprägte Notationssystem einer Domäne ist, desto einfacher ist es für das Feld, also Menschen einer sozialen Organisation, Kreativität zu erkennen. Deshalb schlussfolgert der Autor, dass es in der Mathematik leichter sei, Kreativität zu etablieren, als bspw. in der Philosophie (vgl. Csikszentmihalyi, 2014b, S. 51).

Csikszentmihalyi (2014c) verweist auf die Notwendigkeit einer domänenspezifischen Notationsvorschrift, mit der Individuen in einem speziellen Bereich kreativ werden können und diese Kreativität von Menschen in ebendiesem Feld wahrgenommen werden kann. Für diese mathematikdidaktisch orientierte Arbeit ist dies die mündliche sowie schriftliche und altersentsprechende mathematische Fachsprache, die je nach gestellter mathematischer Aufgabe von den Kindern zunächst erlernt werden muss.

3.2.3 Sawyer (1995): Creativity as Mediated Action

Sawyer (1995) entwickelt ein Kreativitätsmodell aus dem Vergleich von kreativen GruppenimprovisationFootnote 17 in künstlerischen Bereichen wie etwa beim Tanz oder Schauspiel und der Produktkreativität wie sie klassischer Weise in der psychologischen Forschung definiert wirdFootnote 18. Beide Formen von Kreativität bezeichnet er als mediated action, was bedeutet, dass sie innerhalb eines sozialen Prozesses über ein semiotisches Medium (z. B. Musik, verbale Strukturen oder schriftlich fixierte Produkte) entstehen.

Während bei der Improvisation jedoch eine offensichtlich synchrone Interaktion zwischen den Performer*innen und dem Publikum herrscht, liegt bei der Produktkreativität eine diachrone Interkation zwischen Kreierenden und Rezipierenden vor (vgl. Sawyer, 1995, S. 172–173). Beide Formen unterliegen jedoch der gleichen Art von sozialen Interaktionsprozessen, weshalb diese für Sawyer als das zentrale Element von Kreativität angesehen werden (vgl. Sawyer, 1995, S. 181). Der Autor definiert six contract dimensions for semiotically group creativity: (1) Zunächst muss die Neuartigkeit von kreativen Handlungen oder Produkten in einer Domäne auch bewusst wahrgenommen werden können. (2) Auf Basis dessen kann sich die Dauer, wie lange die kreativen Produkte die Domäne aktiv beeinflussen, unterscheiden. (3) Dabei bestimmt jede Domäne durch ihre Eigenschaften die Art und Weise möglicher kreativer Innovationen. (4) Diese werden maßgeblich durch die verwendete Menge an bereits existierenden Ideen sowie die Fülle an getroffenen Entscheidungen bestimmt. (5) Im Interaktionsgeschehen, in dem kreative Handlungen oder kreative Produkte entstehen, nehmen die Rezipient*innen eine wichtige Rolle ein. (6) Außerdem beeinflusst jeder einzelne Mensch, der in eine solche Interaktion involviert ist, die entstehende Kreativität.

Vor allem wenn Kreativität in interaktionistischen und konstruktivistisch geprägten DomänenFootnote 19 wie bspw. der Pädagogik oder im Falle dieser Arbeit der Mathematikdidaktik betrachtet werden, wird die Bedeutsamkeit der Interaktionen deutlich (vgl. Sawyer, 1995, S. 173). Innerhalb einer Improvisation im Rahmen darstellender Künste entstehen so komplexe Interaktionen der Teilnehmer*innen, wodurch Kreativität entstehen kann.

„The study of improvisation as a visible creative process could also be helpful in understanding aspects of the individual creative process which are salient in improvisational creativity and elusive in product creativity“ (Sawyer, 1995, S. 178–188)

Diesem Zitat Sawyers zufolge ist durch eine Analyse von Interaktionsprozessen bei gemeinsam erlebten künstlerischen Improvisationen ein Rückschluss auf individuelle kreative Prozesse einzelner Teilnehmer*innen möglich. Der Aspekt der Improvisation kann in Bezug auf den Kontext des Mathematiktreibens von Schüler*innen dadurch erreicht werden, dass diese die zu bearbeitende mathematische Aufgabe vorher nicht kennen und in der Situation spontan darauf reagieren müssen. Außerdem sollte über die Art der Lernbegleitung nachgedacht werden, inwiefern den Kindern bewusst eine Interaktion in Form eines Gesprächs während der Bearbeitung der Aufgabe ermöglicht wird, um ihre individuelle mathematische Kreativität beobachten zu können (vgl. methodische Entscheidungen ausführlich in Teil II).

3.2.4 Zwischenfazit

Forschungsarbeiten zu Kreativität, die einen sozial-persönlichen Ansatz verfolgen, rahmen sich durch eine konstruktivistische Perspektive auf Lernprozesse. Indem mathematisches Lernen als Tätigkeit beschrieben wird, bei der alle Schüler*innen Wissen aktiv konstruieren bzw. kreieren müssen, wird eine Betrachtung des sozialen Kontextes von Kreativität notwendig. Dabei werden vor allem Persönlichkeitseigenschaften, die Motivation und die soziale (Lern-)Umgebung fokussiert (vgl. Einführung zu Abschn. 2.3.2).

Durch die Betrachtung der Studien von Amabile (1996) kann begründet werden, dass es in der Kreativitätsforschung lohnenswert scheint, Kinder in den Blick zu nehmen. Sie sind von der formalen Bildung und dem sozialen Anpassungsdruck an ihre Peer-Gruppe nicht so stark beeinflusst, weshalb sie höchstwahrscheinlich offen für Neues sind, neuartige Ideen zur Lösung einer domänenspezifischen Aufgabe produzieren und dadurch ihre individuelle mathematische Kreativität zeigen (vgl. Abschn. 2.3.2.1). Csikszentmihalyi (2014c) unterstreicht, dass eine gewisse Kenntnis über das sogenannte domänenspezifische Notationssystems vorhanden sein muss, damit kreative Produkte entstehen können. Das bedeutet, dass die kreativen Personen, in diesem Fall Mathematikschüler*innen, ein altersangemessenes Wissen und Techniken über die mündliche und schriftliche mathematische Fachsprache erlernt haben müssen, um mathematisch kreativ zu werden zu können (vgl. Abschn. 2.3.2.2). Dies wird jedoch im Gegensatz zur Psychologie in der mathematikdidaktischen Forschung für die Grundschule konträr diskutiert, da die Schüler*innen explizit dazu ermutigt werden, eigene Wege für die schriftliche Fixierungen ihrer mathematischen Aktivitäten zu entwickeln (vgl. etwa Götze, Selter & Zannetin, 2019, S. 97–98; Schütte, 2004, S. 132–134; Spiegel & Selter, 2008, Kap. 3). Zuletzt muss mit Sawyer (1995) noch darauf verwiesen werden, dass zum Entstehen von Kreativität, den Kindern die Möglichkeit gegeben werden sollte, an einer sozialen Interaktion teilzunehmen. Durch die Möglichkeit zur Improvisation, d. h. etwa die freie Bearbeitung einer mathematischen Aufgabe, kann so die individuelle mathematische Kreativität der Kinder sichtbar werden (vgl. Abschn. 2.3.2.3).

3.3 Kreativität im Kontext des divergenten Denkens

„Right and wrong are never known in advance, and instead of emphasis being on single, best, correct answers, it is on production of many different ideas. […] Divergent thinking branches out from the known and produces novel ideas.“ (Cropley, 1992, S. 42)

In diesem Abschnitt werden Forschungen, die einen psychometrischen Ansatz verfolgen, dargestellt. Der Begriff Psychometrie verweist hier auf das Messen psychologischer Phänomene durch definierte Variablen (vgl. Wirtz, 2014, S. 1338). Im Kontext der Kreativitätsforschung werden so über messbare Eigenschaften des kreativen Produktes, das in einem kreativen Prozess entstanden ist, Fähigkeiten der kreativen Person definiert. Auf diese Art und Weise können dann dem in dieser Arbeit spezifischen Konstrukt der individuellen mathematischen Kreativität (vgl. Definitionsaspekte in Abschn. 2.2) inhaltliche Eigenschaften zugewiesen werden, weshalb für diese Arbeit ein primär psychometrischer Ansatz gewählt wurde. Den nachfolgenden Ausführungen kommt somit eine besondere Bedeutung zu, da sie die wesentliche Grundlage für die Entwicklung meiner Begriffsdefinition und meines Modells der individuellen mathematischen Kreativität von Schulkindern bilden (vgl. Abschn. 2.4).

Basierend auf der psychologischen Definition von Kreativität als divergentes Denken (Guilford, 1967) werden nachfolgend ausführlich die verschiedenen divergenten Fähigkeiten kreativer Personen und damit Eigenschaften von Kreativität aus psychologischer und vor allem mathematikdidaktischer Perspektive dargestellt (vgl. Abschn. 2.3.3.1). Anschließend folgt die Betrachtung eines möglichen Zusammenhangs von divergenten Fähigkeiten zu den mathematischen und intellektuellen Fähigkeiten von Schüler*innen (vgl. Abschn. 2.3.3.2).

Die psychometrischen Ansätze basieren alle auf den wegweisenden theoretischen Ausführungen von Guilford (1967). Dadurch, dass diese für neuere Kreativitätsforschung nach wie vor grundlegend sind, soll die Theorie hier trotz ihres hohen Alters von über 50 Jahren ausführlich dargestellt werden. Damit wurde der Psychologe insbesondere seiner eigenen Forderung nach mehr Forschungsarbeiten zum Bereich der Kreativität gerecht (vgl. Guilford, 1950; Abschn. 2.1.2). Der Autor spezifiziert die creative-thinking abilities (Guilford, 1967, S. 62) im Rahmen seines structure-of-intellect model (SI) (Guilford, 1967, S. 60). Darin definiert er über die Kombination von drei Dimensionen, bestehend aus fünf Denkoperationen, sechs Denkprodukten und vier Denkinhalten, insgesamt 120 voneinander getrennte Fähigkeiten, die im Ganzen die Intelligenzstruktur des Menschen ausmachen sollen (vgl. Guilford, 1967, S. 63). Diese ordnet er auf einem sogenannten morphologischen Modell, nämlich einem Quader, an (vgl. Abb. 2.5).

Abb. 2.5
figure 5

Structure-of-intellect model (Guilford, 1967, S. 63, Fig. 3.9)

Durch die Unabhängigkeit der einzelnen Fähigkeiten, ist es zum einen möglich, ausschließlich die für den Bereich der Kreativität relevanten Aspekte darzustellen. Zum anderen wird dadurch deutlich, dass es einer genaueren Betrachtung des Zusammenhangs von kreativen Fähigkeiten und einem gesamten Intelligenzfaktor benötigt (vgl. Abschn. 2.3.3.2).

Aufgrund Guilfords (1967, S. 60–66) umfangreicher Faktorenanalyse kommt dieser zu dem Schluss, dass eine Unterscheidung zwischen der convergent production und der divergent productionFootnote 20 (Guilford, 1967, S. 62) notwendig ist, um kreative Fähigkeiten zu beschreiben. Während bei der konvergenten Produktion lediglich eine Antwort auf eine domänenspezifische Aufgabe erwartet wird, zielt die divergente Produktion darauf ab, mehrere verschiedene Antworten zu erzeugen und fordert von den Bearbeitenden damit kreative Fähigkeiten (vgl. Guilford, 1967, S. 62). Er spricht deshalb davon, dass der Schwerpunkt bei der divergenten Bearbeitung einer Aufgabe auf der “variety and quantity“ (Guilford, 1967, S. 213) der Antworten liegt.

Guilford (1968, S. 92) bezeichnet jede Art von Antwort zu einer Aufgabe als Idee. Dieser Begriff ist für seine Ausführungen zentral und erscheint insofern als besonders geeignet, da es den schöpferischen (kreierenden) Gedanken, der zu einer Antwort geführt hat, betont und weniger die produzierte Lösung an sich. Die zuvor zitierte Definition verweist auf ein besonderes Merkmal der divergenten Produktion, nämlich auf den Zusammenhang zwischen der Qualität und der Quantität der verschiedenen Ideen, die bei einer divergenten Produktion entstehen. Der Autor selbst diskutiert dazu verschiedene Hypothesen: Zum einen ist die Aussage möglich, dass je mehr Ideen produziert werden, desto wahrscheinlicher unter diesen auch qualitativ hochwertige sein müssen. Andersherum steht aber die Hypothese, dass wenn eine Person Zeit damit verbringt, hauptsächlich viele Ideen zu produzieren, die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass dabei auch qualitativ gute sind (vgl. Guilford, 1968, S. 104). Dabei formuliert der Autor zwar das Ziel, möglichst „gute“ Ideen (Anführungszeichen nach Guilford, 1968, S. 104) zu einer Aufgabe zu produzieren. Seine Ausführungen lassen jedoch eine Konkretisierung und Operationalisierung dieses Attributs vermissen. Guilford (1968, S. 104–105) beschreibt einzig, dass bei dem Aspekt guter Ideen eine gewisse Evaluationsfähigkeit der Betrachter*innen notwendig wird, die einen Einfluss auf das kontroverse Verhältnis von Quantität und Qualität der Ideen nimmt. Dabei betont der Autor in der gesamten Diskussion um diese zwei Aspekte, dass sich je nach gestellter AufgabeFootnote 21 das Verhältnis von Quantität und Qualität der Ideen und die Evaluation durch Bearbeitende sowie Rezipierende verschiebt.

Im Sinne seines Intelligenzstrukturmodells beschreibt Guilford (1967, S. 139) im Detail 24 verschiedenen Arten divergenter Produktion. Diese entstehen aus einer Kombination seiner vier verschiedenen Denkinhalte (figural, symbolisch, semantisch, behavioristisch), die sozusagen die Repräsentationsebene der Aufgabe sowie deren Antworten beschreiben, und der sechs verschiedenen Denkprodukte (Einheiten, Klassen, Relationen, Systeme, Transformationen, Implikationen). Letztere klassifizieren die Art der zu produzierenden Antworten zu einer Aufgabe (siehe dazu ausführlich Guilford, 1967, S. 139). Die untenstehende Aufgabe „Bilde Figuren aus diesen zwei Linien.“ (vgl. Abb. 2.6) ist ein Beispielaufgaben für eine divergente Produktion auf figuraler Ebene mit einzelnen Einheiten (vgl. Guilford, 1967, S. 140–141). Diese Aufgabe ist deshalb figural, da die Bearbeitenden dazu aufgefordert werden, mit zwei verschiedenartigen Linien verschiedene Bilder, also Figuren, zu erzeigen. Dabei kann jede produzierte Figur, d. h. genauer jede Idee zu dieser Aufgabe, als einzelne Einheit betrachtet werden.

Abb. 2.6
figure 6

Beispiel für die figurale divergente Produktion (in Anlehnung an Guilford, 1967, S. 142)

Ein weiteres, bekanntes und bis heute vielfach genutztes Beispiel für eine divergente Produktion von Einheiten ist die Aufforderung, verschiedene Nutzungsmöglichkeiten für einen Backstein (oder Bleistift, Drahtkleiderbügel etc.) zu finden. Die unterschiedlichen Antworten werden jedoch nicht wie zuvor figural dargestellt, sondern werden nun semantisch erzeugt (vgl. Guilford, 1967, S. 142). Sollen von den Bearbeitenden durch eine divergente Produktion keine Einheiten, sondern Systeme produziert werden, kann die folgende Beispielaufgabe zur Veranschaulichung herangezogen werden: Es gilt verschiedene Zwei-Wort-Kombinationen mit festgelegten Anfangsbuchstaben etwa der Form L_______ T_______ zu finden, die semantisch Sinn ergeben (vgl. Guilford, 1967, S. 151).

Für die Mathematikdidaktik sind alle möglichen Denkinhalte bedeutsam. Während die Bearbeitung geometrischer Aufgaben zumeist auf figuraler Ebene stattfindet, müssen Sach- oder Problemaufgaben oft semantisch oder verhaltensmäßig (behavioral) bearbeitet werden. Der symbolischen divergenten Produktion kommt zudem nicht nur in Bezug auf die Arithmetik eine bedeutende Rolle zu. Sie kann auch weitreichender in dem Sinn interpretiert werden, als dass alle mathematischen Aufgaben mit Hilfe mathematischer (schriftlicher sowie mündlicher) Fachsprache bearbeitet werden müssen und daher auch eine symbolische Produktion fordern (vgl. ausführlich Kap. 3). Die Anpassung der divergenten Produktion an bestimmte Domänen betont auch Guilford (1967, S. 162), da dadurch die individuelle, domänenspezifische Kreativität der Personen stark positiv beeinflusst wird. Außerdem stellt Guilford (1967) in Anlehnung an Torrance (1962, 53–54, 121–124) heraus, dass Kinder im Grundschulalter hohe divergente Fähigkeiten zeigen, da sie „conspicuously nominated for having wild, silly, and sometimes naughty ideas […]” (Guilford, 1967, S. 163). Daher erweist es sich bereits seit knapp 50 Jahren lohnend, die individuelle mathematische Kreativität junger Kinder in den Blick zu nehmen. Umso verwunderlicher erscheint die bis heute eher geringe Anzahl an Kreativitätsforschungen mit jungen Schüler*innen (vgl. ausführlich Abschn. 5.1).

3.3.1 Divergente Fähigkeiten als Eigenschaften von Kreativität: Denkflüssigkeit, Flexibilität, Originalität und Elaboration

Die divergente Produktion als Ausdruck von Kreativität beinhaltet nach Guilford (1968) verschiedene Fähigkeiten, die er durch eine faktoranalytische Analyse verschiedener psychologischer Kreativitäts- und Intelligenztheorien deduziert (vgl. Guilford, 1967, S. 60–66). Als Basis für Kreativität dient die sensibility to problems (vgl. Guilford, 1968, S. 90–91) und als Set die divergenten Fähigkeiten fluency, flexibility, originality und elaboration (Guilford, 1968, S. 98–104, 1967, S. 138–139).

Er betont, dass diese divergenten Fähigkeiten zunächst als allgemein zu verstehen sind, sie sich aber sowohl in verschiedenen Domänen als auch individuell unterschiedlich zeigen (vgl. Guilford, 1968, S. 90–91). Dies deckt sich mit den bereits zuvor ausführlich erläuterten grundlegenden Annahmen zum Begriffsverständnis der individuellen mathematischen Kreativität als domänenspezifisch (vgl. Abschn. 2.2) und unterstreicht deshalb die Wahl eines psychometrischen Forschungsansatzes.

Auf Basis dieser an einem kreativen Produkt sichtbaren divergenten Fähigkeiten – Denkflüssigkeit, Flexibilität, Originalität und Elaboration – entwickelt Guilford im Laufe seiner universitären Karriere verschiedene Tests zu den unterschiedlichen Arten divergenter Produktion (vgl. Torrance, 1962, S. 34–38; Guilford & Hoepfner, 1966, S. 9–10). Sowohl die Begriffsbestimmungen der divergenten Fähigkeiten als auch damit einhergehend Tests wurden von dem Psychologen Torrance (1966) im Kontext seines Torrance Test for Creative Thinking (TTCT)Footnote 22 weiterentwickelt und verfeinert (vgl. Cropley, 1992, S. 53). Dieser entwickelte mit dem TTCT einen ersten umfassenden Test der allgemeinen Kreativität, der insbesondere auch mit Kindern nutzbar ist (vgl. Torrance, 1966, S. 9). Die psychologischen Ausführungen von Torrance (1966) bilden wiederum die Basis für mathematikdidaktische Anpassungen und Erweiterungen der Fähigkeiten zum divergenten Denken vor allem durch Haylock (1987), Hollands (1972), R. Leikin (2009a) und Silver (1997).

Ziel der nachfolgenden Ausführungen ist es, jede der genannten divergenten Fähigkeiten zunächst aus psychologischer und dann schwerpunktmäßig aus mathematikdidaktischer Perspektive darzustellen, um die individuelle mathematische Kreativität dadurch inhaltlich zu beschreiben.

Problemsensibilität

Als grundlegende divergente Fähigkeit beschreibt Guilford (1968) die sensitivity to problems (S. 91), die es einer Person ermöglicht, kreativ zu werden. Unter dieser versteht der Psychologe die Fähigkeit, die Existenz verschiedener, domänenspezifischer Probleme wahrzunehmen und dann durch eine divergente Produktion zu bearbeiten. Dabei stellt Guilford (1968, S. 91–92) fest, dass die Problemsensibilität bei allen Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Das bedeutet, dass einige Menschen stärker nach Antworten bzw. Lösungen für ein Problem suchen, während andere die sie umgebenden Problem nicht oder nur gering wahrnehmen.

Für die Anregung der individuellen mathematischen Kreativität von Schulkindern muss daher die unterschiedliche Problemsensibilität der Schüler*innen beim Stellen einer mathematischen Aufgabe, die eine divergente Produktion verlangt, beachtet werden. Dies kann geschehen, in dem die Aufgabe so explizit ausformuliert wird, dass alle Bearbeitenden das zugrundeliegende Problem eindeutig als solches erkennen und divergente Produktionen nachfolgen (vgl. hierzu ausführlich Kap. 3). Wird dies nicht beachtet, kann es vorkommen, dass einzelne Schüler*innen gar keine Antwort geben und damit auch nicht ihre individuelle mathematische Kreativität zeigen können (vgl. dazu auch Guilford, 1968, S. 92).

Innerhalb der mathematikdidaktischen Forschungen findet sich eine Benennung dieser grundlegenden Eigenschaft der individuellen mathematischen Kreativität nur bei Hollands (1972). Im Gegensatz zu Guilford (1968) versteht Hollands (1972) unter sensitivity (S. 22) die Fähigkeit, erlernet oder eigens entwickelte Lösungsverfahren bei der Bearbeitung mathematischer Aufgaben wie etwa \(43 - 19\) eigenständig, adaptiv und begründet auszuwählen (vgl. Hollands, 1972, S. 22). Die von ihm beschriebene Sensibilität dient somit weniger der Beschreibung einer kreativen Fähigkeit, da bei einer solchen Bearbeitung von arithmetischen Aufgaben keine divergente Produktion stattfindet. Vielmehr kann diese Form der Sensibilität vor dem Hintergrund des aktuellen Verständnisses des Mathematikunterrichts in der Grundschule dem aktiv-entdeckend sowie flexiblen Rechnen zugeordnet werden. Bei diesem ist es das Ziel, die Kinder dazu zu befähigen, arithmetische Aufgaben durch die selbstständige Wahl einer geeigneten Rechenform (mündlich, halbschriftlich, schriftlich) sowie konkreten Rechenstrategien zu bearbeiten (vgl. Spiegel & Selter, 2008, Kap. 3).

Denkflüssigkeit

Fluency of thinking (Guilford, 1967, S. 138) beschreibt im Kontext von Kreativität die divergente Fähigkeit, bei der Bearbeitung einer Aufgabe in einer bestimmten Zeit eine gewisse Anzahl verschiedener Ideen zu produzieren. Torrance (1966, S. 11, 2008, S. 3) spricht daher von einem Ideenfluss bei der divergenten Bearbeitung einer Aufgabe. Unter dem Begriff der Idee wird, wie zuvor bereits erläutert, jegliche Art von Antwort zu einer Aufgabe, die ein divergentes Denken fordert, verstanden (vgl. Guilford, 1968, S. 92). Die Art der Ideen ergibt sich konsequenter Weise direkt aus der Formulierung der Aufgabe bzw. den Anforderungen, die durch die Aufgabe an die Bearbeitenden gestellt werden (vgl. Torrance, 2008, S. 5). Guilford (1968) arbeitet drei Typen von Denkflüssigkeit heraus, die er nach der Art der zu produzierenden Ideen unterscheidet:

  1. 1.

    Unter ideational fluency (Guilford, 1968, S. 100) versteht er das Produzieren von verschiedenen Ideen als einzelne Einheiten. Beispiele sind dafür etwa die Auflistung verschiedener runder Objekte (z. B. Ball, Mond, Kugel) bis hin zu der Nennung unterschiedlicher Konsequenzen, die aus einer vorgegeben Aussage wie „A new invention makes it unnecessarily for people to eat […]“ (S. 92) (z. B. keine Notwendigkeit der Nahrungsproduktion oder Einzelhändler, Jobverluste) resultieren.

  2. 2.

    Im Gegensatz dazu werden bei der associational fluency (Guilford, 1968, S. 100–101) Ideen gefordert, die Relationen vervollständigen oder aufzeigen wie etwa bei der Auflistung aller Antonyme des Wortes „gut“ (z. B. schlecht, arm, furchtbar).

  3. 3.

    Die expressional fluency (Guilford, 1968, S. 101) bezieht sich laut Guilford vor allem auf Ideen, die ein System darstellen wie etwa das Konstruieren von Sätzen. Dabei wird bspw. die Aufgabe gestellt, unterschiedliche 4-Wort-Sätze mit vorgegebenen Anfangsbuchstaben zu finden: Als Beispiel nennt der Autor die Anfangsbuchstaben W-C-E-N, mit den verschiedenen Ideen wie etwa „‘We can eat nuts,‘ ‘Willi comes every night,‘ ‘Wholesome carrots elevate nations‘, ‘Weary cats evade nothing,‘ and so on“ (Guilford, 1968, S. 101) gebildet werden können.

Das zuvor dargestellte psychologische Begriffsverständnis der Denkflüssigkeit wurde in mathematikdidaktischen Forschungen aufgegriffen und nahezu unverändert übernommen. Jedoch unterscheiden sich die möglichen Arten von Ideen auf mathematikdidaktischer Ebene erheblich. Als einer der ersten Mathematikdidaktiker arbeitete Haylock (1987) für die mathematische divergente Produktion drei Schwerpunkte bzgl. der gestellten Aufgabe und damit der Art Ideen heraus, die im Rahmen der Denkflüssigkeit produziert werden sollen, nämlich „problem-solving, problem-posing and redefinition“ (S. 71).Footnote 23 Unter problem-solving fasst der Autor mathematische Aufgaben, bei denen die Bearbeitenden viele verschiedene konkrete Ideen zur Lösung der Aufgabe produzieren müssen (vgl. Haylock, 1987, S. 71) wie etwa die Aufgabe „Finde mit den Zahlen 3, 21, 2 und 10 sowie den Rechenzeichen für die vier Grundrechenarten so viele Kombination wie möglich, die alle das Ergebnis 17 haben“ (Frei übersetzt nach Maxwell, 1974, S. 104). Aufgaben, die in den Bereich des problem-posing fallen, stellen an die Bearbeitenden die Anforderung, verschiedene Ideen in Form von Fragen zu einer mathematischen Aufgabe zu formulieren, die durch die Informationen in der Aufgabe beantwortet werden können (vgl. Haylock, 1987, S. 71). Die letzte Möglichkeit, divergente Produktionen im Mathematikaufgaben anzuregen, ist mit Hilfe von Aufgaben, die unter den Bereich der redefinition fallen. Bei dieser wird den Bearbeitenden eine mathematische Aufgabe oder Situation präsentiert, zu der sie unterschiedlichste Ideen äußern können, indem eine kontinuierliche Neudefinition und -ordnung der mathematischen Elemente stattfindet. Als Beispiel präsentiert der Autor eine Aufgabe, bei der die Bearbeitenden verschiedene Aussagen darüber aufschreiben sollen, was die Zahlen 16 und 36 gemeinsam haben (zitiert nach Haylock, 1987, S. 71–72, 1984).

Silver (1997) entwickelte die Ausführungen von Haylock (1997) weiter und beschreibt mathematische Kreativität über ein Wechselspiel von problem-posing- und problem-solving-Aktivitäten, wobei sowohl der Bearbeitungsprozess als auch das entstanden Produkt Aufschluss über die Kreativität einer Person geben können (vgl. Silver, 1997, S. 76). In Bezug auf Problemlöseaktivitäten versteht der Autor Denkflüssigkeit als die Fähigkeit von Schulkindern, bei mathematischen Aufgaben die vielschichtigen Interpretationsmöglichkeiten sowie Lösungsarten und Lösungen zu erkunden und zu produzieren. In Bezug auf das problem-posing bedeutet Denkflüssigkeit dann, dass die Kinder verschiedene Probleme oder Aufgaben generieren und an andere kommunizieren können sollen (vgl. Silver, 1997, S. 78).

Zusätzlich zu einer Explikation der Art der zu produzierenden Ideen fokussiert die Mathematikdidaktikerin R. Leikin (2009c) bei der Begriffsbestimmung der divergenten Fähigkeiten insbesondere den Aspekt der Relativität von Kreativität. Die Bedeutung einer relativen Sichtweise auf die Definition von Kreativität, wenn diese im Kontext von mathematiktreibenden Schulkindern betrachtet wird, wurde bereits in Abschnitt 2.2.2 ausführlich erläutert. Sie liegt auch dieser Arbeit zugrunde und wird vor allem durch die Formulierung der individuellen mathematischen Kreativität deutlich. Bei der Bearbeitung sogenannter multiple solution tasks (MSTs) (vgl. R. Leikin & Lev, 2007, S. 162; R. Leikin, 2009c, S. 135), d. h. mathematischen Aufgaben, die von Schüler*innen explizit auf verschiedene Arten gelöst werden sollen (vgl. dazu ausführlich Kap. 3), wird die divergente Fähigkeit der Denkflüssigkeit sichtbar. Diese bezieht sich analog zu den psychologischen Definitionen von Guilford (1967) und Torrance (1966) ebenso auf die Anzahl der produzierten Ideen zu einer Aufgabe in einer gewissen Zeit. Im Detail lässt sich aber eine deutliche Ausdifferenzierung in Richtung einer relativen Definition der Denkflüssigkeit feststellen. R. Leikin (2009c, S. 137) unterscheidet in diesem Sinne zwischen

  • der Anzahl an Ideen, die theoretisch aus Expert*innensicht aus der Aufgabe heraus möglich sind und

  • der Anzahl an Ideen, die ein Schulkind bei der Bearbeitung der Aufgabe individuell produziert.

Diese beiden Anzahlen der allgemeinen und relativen Denkflüssigkeit können sich erheblich unterscheiden und sollten bei empirischen Untersuchungen zur individuellen mathematischen Kreativität von Schulkindern, wie sie auch im Rahmen der vorliegenden Arbeit angestrebt wird (vgl. Teil II und Teil III), bewusst unterschieden und gezielt genutzt werden.

Flexibilität

Zunächst auf psychologische Definitionen blickend definieren Torrance (1966)Footnote 24 und Guilford (1968) die flexibility of thinking (S. 138) als die Bereitschaft, Ideenwechsel zu vollziehen oder die vom Problem gegebenen Informationen zu verändern. Flexibilität bei der Bearbeitung einer Aufgabe lässt sich demnach entweder durch die Anzahl verschiedener Kategorien von Ideen oder durch die Anzahl von Ideenwechseln bestimmen (vgl. Guilford, 1967, S. 143). In Erweiterung seiner faktoranalytischen Studie (vgl. Wilson, Guilford, Christensen & Lewis, 1954) entwickelt Guilford zwei verschiedene Typen von Flexibilität (vgl. im Folgenden Guilford, 1967, S. 143):

  1. 1.

    Bei der spontaneous flexibility vermittelt die gestellte Aufgabe selbst weder durch explizite Instruktion noch implizit den Anschein, dass sie flexibel bearbeitet werden soll. Dennoch zeigen die Bearbeitenden aus eigener Initiative heraus eine gewisse Flexibilität in ihren Ideen.

  2. 2.

    Dies steht im Gegensatz zur adaptive flexibility, bei der ein Wechsel zwischen Klassen von Ideen vorgenommen wird. Guilford (1968, S. 101–102) führt dazu ein Beispiel an, bei dem die Aufgabe gestellt wurde, verschiedene Verwendungsmöglichkeiten für einen gewöhnlichen Backstein zu finden. Eine Person, die zu dieser Aufgabe die Ideen „build a house, build a school, build a factory“ (Guilford, 1968, S. 102) antwortete, zeigte keine Flexibilität, da sie zwar verschiedene Ideen aufweist, diese aber alle derselben Klasse, nämlich dem Bauen, angehören. Dagegen zeigte eine andere Person eine hohe Flexibilität, da sie bei ihren Ideen „make a paper weight, drive a nail, make a baseball bases, throw at a cat, grind up for red powder, make a tombstone for a bird“ (Guilford, 1968, S. 102) häufig zwischen verschiedenen Klassen von Ideen wechselte. Durch Benennung der Klassen entstehen so verschiedene Kategorien von Ideen.

Aus mathematikdidaktischer Perspektive soll nun zunächst auf die Forschung von R. Leikin (2009c) eingegangen werden. Um die Fähigkeit der Flexibilität zu definieren, nimmt die Autorin die Verschiedenheit der produzierten Ideen in den Blick. Diese definiert R. Leikin (2009c, S. 137) entweder über einen Wechsel zwischen unterschiedlichen Repräsentationen (etwa von verbal zu schriftlich), zwischen verschiedenen Eigenschaften mathematischer Objekte (etwa von der Addition zur Subtraktion) oder zwischen unterschiedlichen Inhaltsbereichen der Mathematik (etwa von der Geometrie zur Arithmetik). Die Fähigkeit der Flexibilität wird somit über die Anzahl unterschiedlicher Ideentypen und deren Wechsel bestimmt. Mit Blick auf die Relativität des Konstrukts der Kreativität nimmt R. Leikin (2009c, S. 137) hier analog zur Denkflüssigkeit eine Ausdifferenzierung vor: Es muss zwischen der Anzahl an Ideentypen, die aus der Aufgabe heraus aus Expert*innensicht möglich sind, und der Anzahl an Ideentypen, die Schulkinder zeigen, unterschieden werden. Diese Unterscheidungen nutzt die Autorin innerhalb ihres entwickelten Bewertungsmodells der mathematischen Kreativität von Schüler*innen (vgl. im Folgenden R. Leikin, 2009c, S. 137–138). Sie misst die Fähigkeit, flexibel zu sein, in dem jede Idee chronologisch dahingehend bewertet wird, ob ein Wechsel des Ideentyps stattgefunden hat. Dementsprechend wird eine bestimmte Punktzahl vergebenFootnote 25, sodass am Ende ein Gesamtscore für diese divergente Fähigkeit entsteht. Anhand dessen Größe kann dann abgelesen werden, wie stark die Flexibilität bei der bearbeitenden Person, Gruppe oder auch der mathematischen Aufgabe selbst ausgeprägt ist. Dieses Vorgehen lässt jedoch kaum qualitative Aussagen über die inhaltliche Verschiedenheit der Ideen sowie der Ideenwechsel und damit über die Flexibilität als eine Eigenschaft der mathematischen Kreativität zu. Vielmehr sollten die verschiedenen Ideen qualitativ kategorisiert und die divergente Bearbeitung einer mathematischen Aufgabe chronologisch auf Wechsel hin untersucht werden, um die individuelle mathematische Kreativität von Schulkindern zu beschreiben (vgl. ausführlich Abschn. 2.4).

In neueren Studien mit Schüler*innen der Sekundarstufe konnten R. Leikin & Lev (2013, S. 196) zeigen, dass die beiden divergenten Fähigkeiten Denkflüssigkeit und Flexibilität in einem dynamischen, sich wechselseitig beeinflussenden Verhältnis zueinander stehen. Dies stützt die These von Guilford (1968, S. 104–105), dass durch eine hohe Quantität in den Ideen (Denkflüssigkeit) auch die Wahrscheinlichkeit für qualitativ hochwertige Ideen und Ideenwechsel (Flexibilität) steigt (vgl. Einführung zu Abschn. 2.3.3.1).

Im Unterschied zu R. Leikin (2009c) definiert Silver (1997, S. 77–78) Flexibilität als die Fähigkeit, verschiedene Lösungen zu einer mathematischen Aufgabe zu produzieren, wobei nach und nach verschiedene Bearbeitungsstrategien zum Einsatz kommen, die dann von den Schulkindern diskutiert werden sollen. Mit Rückbezug auf die grundlegende psychologische Definition von Guilford (1967) wird bei der Begriffsbestimmung von Silver (1997) die Art der verschiedenen Ideentypen explizit durch die verschiedenen Strategien festgelegt und Ideenwechsel finden durch das Produzieren einer weiteren Lösungsstrategie statt. Der Autor betont außerdem den „What-if-not?“-Ansatz, bei dem Bedingungen der Aufgabe bewusst so verändert werden, dass dadurch weitere Lösungen zu der Aufgabe entstehen (vgl. Silver, 1997, S. 78).

An dieser Stelle sei außerdem auf die Abgrenzung des Begriffs der Flexibilität zu dem der Adaptivität verwiesenFootnote 26. Adaptivität lässt sich bspw. in der Definition von Kreativität bei Sternberg und Lubart (1999) finden: “Creativity is the ability to produce work that is both novel (i.e. unexpected, original) and appropriate (i.e. useful, adaptive concerning task constraints)” (S. 3). Basierend auf einer umfangreichen Literatursicht zu diesem Thema definieren Verschaffel, Luwel, Torbeyns & van Dooren (2009), dass sich Flexibilität vor allem auf das „switching (smoothly) between different strategies“ (S. 337) – ganz im Sinne von Silver (1997) – bezieht. Dagegen betont der Begriff der Adaptivität das „selecting the most appropriate strategy“ (Verschaffel et al., 2009, S. 337). In diesem Sinne beschreibt die Adaptivität keinen Aspekt der divergenten Fähigkeiten, da bei der Auswahl einer einzelnen passenden Lösungsstrategie zu einer mathematischen Aufgabe der Grundgedanke der divergenten Produktion, nämlich das Finden verschiedener Ideen, verloren geht.

Originalität

Guilford (1968, S. 102) definiert die divergente Fähigkeit originality als die zweite Form der adaptiven Flexibilität. Im Absatz zur Flexibilität wurde bereits die adaptive Flexibilität in Bezug auf den Wechsel von Klassen an Ideen (Ideentypen) dargestellt. Es kann aber auch eine Verschiebung (im Englischen: shift) in der Interpretation der Aufgabe, möglichen Lösungsansätzen oder Strategien stattfinden, sodass sich die adaptive Flexibilität auf das Denkprodukt der Transformation bezieht (vgl. Guilford, 1968, S. 102). Dies bezeichnet Guilford (1968) dann als die Fähigkeit der Originalität. So werden aus allen verschiedenen Ideen solche ermittelt, die eine besonders bedeutende Verschiebung des Lösungsansatzes anzeigen und daher als „clever“ (Guilford, 1968, S. 103) bezeichnet werden können. Dazu entwickelte Guilford (1968, S. 136–137) einen „Cleverness test“, bei dem zu einer vorgegebenen Kurzgeschichte verschiedene Titel entwickelt werden müssen, aus denen dann die Anzahl der besonders schlauen oder ungewöhnlichen Ideen bestimmt werden, die dann als Indikator für Originalität dienenFootnote 27. Der Autor konkretisiert das Vorgehen in der Auswahl der sogenannten cleveren Ideen auch an dieser Stelle nicht weiter, sodass eine Zuweisung der Fähigkeit Originalität, subjektiv vom Betrachter abzuhängen scheint.

Torrance (1966) definiert Originalität im Unterschied dazu als die „statistical infrequency of these [ideas] or the extent to which the response represents a mental leap or departure from the obvious and commonplace“ (S. 11). In einer späteren Auflage beschreibt der Autor Originalität als die Fähigkeit, ungewöhnliche oder einzigartige Ideen zu produzieren (vgl. Torrance, 2008, S. 3). Dabei hängt die Einschätzung einer Idee als außergewöhnlich von der gestellten Aufgabe und den dazu üblicherweise gegebenen Antworten ab (vgl. Torrance, 2008, S. 7). Als Beispiel soll hier die erste Figur aus der zweiten Aktivität des TTCT dienen (vgl. Abb. 2.7). Die Aufgabe ist, das Bild zu vervollständigen und ihm einen Titel zu geben, wobei für die Originalität nur der erste Teil der Aufgabe von Interesse ist. Gewöhnliche Ideen für die Ausgestaltungen sind laut der Einschätzung von Torrance (2008, S. 7) ein Vogel, ein Herz, ein menschliches Gesicht, Buchstaben des Alphabets oder Zahlen. Dagegen listet er als ungewöhnliche Lösungen etwa Bananen, ein bestimmtes Boot, eine Schüssel, ein Messer, den Mond oder einen Mund auf.

Abb. 2.7
figure 7

Beispielaufgabe zur Originalität aus dem TTCT (in Anlehnung an Torrance, 2008a, S. 4)

Die Fähigkeit, originell zu sein, ist auch in der mathematikdidaktischen Forschung eine zentrale Eigenschaft von mathematischer Kreativität. So formuliert R. Leikin (2009c, S. 143), dass Originalität eine besondere Position in der Triade Denkflüssigkeit-Flexibilität-Originalität einnimmt:

„originality appeared to be the strongest component in determining creativity“ (R. Leikin, 2009c, S. 143)

In einer späteren Studie konnten R. Leikin und Lev (2013, S. 196) diese Aussage im Rahmen ihres evaluativen Kreativitätsmodells auch empirisch nachweisen. Dabei wird Originalität als die Fähigkeit, unkonventionelle Lösungen zu einer mathematischen Aufgabe zu produzieren, definiert. Im Gegensatz zu den bereits vorgestellten psychologischen Definitionen, die von cleveren (vgl. Guilford, 1968) oder außergewöhnlichen (vgl. Torrance, 1966) Ideen sprechen, bietet R. Leikin (2009c, S. 136–137) eine objektive Möglichkeit, originelle Ideen zu identifizieren. Gleichsam wie bei den beiden bereits vorgestellten divergenten Fähigkeiten nimmt die Autorin auch hier eine Differenzierung auf Basis der Relativität von Kreativität bei Schulkindern vor. Sie unterscheidet zwischen einer absoluten und relativen Originalität (vgl. im Folgenden R. Leikin, 2009c, S. 136):

  • In Gruppen von weniger als 10 Personen, die eine ähnliche Bildungshistorie aufweisen, wird die Fähigkeit der Originalität dann einer Person zugeschrieben, wenn diese eine unkonventionelle bzw. insight-based (R. Leikin, 2009c, S. 136) Idee zeigt (absolute Evaluation). Damit greift die Autorin den Begriff insight (zu Deutsch etwa Erkenntnis, Einblick) von Ervynck (1991) auf, der darunter „the driving force required to move towards a formulation of new knowledge“ (S. 48) versteht. Diese Triebkraft, die Schüler*innen bei der Bearbeitung mathematischer Aufgaben entwickeln können, beschreibt Ervynck (1991, S. 43) im Rahmen seines dreistufigen Entwicklungsmodell als kreative Handlung (vgl. dazu Abschn. 2.3.1.1). Somit sind unter unkonventionellen Lösungen vor allem solche zu verstehen, bei denen die Schüler*innen in einem besonderen Maße nicht-algorithmische Lösungsmethoden und dabei die zugrundeliegenden mathematischen Konzepte, Strukturen oder Theorien absichtsvoll nutzen (vgl. Ervynck, 1991, S. 43; R. Leikin, 2009c, S. 140).

  • In Gruppen von mehr als 10 Personen mit einem gemeinsamen Bildungshintergrund werden hingegen die Ideen einzelner Personen in Beziehung zu allen in der Gruppe gezeigten Ideen gesetzt, um so den Grad an Originalität zu ermitteln (relative Evaluation). Wird eine bestimmte Idee von weniger als 15 % aller Personen der Gruppe gezeigt, welche die gleiche mathematische Aufgabe bearbeiten, dann gilt diese Idee als besonders originell.

Ebenso wie bei der divergenten Fähigkeit der Flexibilität muss auch hier angemerkt werden, dass die Beurteilung der OriginalitätFootnote 28 vor allem bei der für den Bereich der Schulmathematik bedeutsamen relativen Evaluation keine Rückschlüsse auf die Qualität der Ideen gelegt werden kann. R. Leikin (2009c, S. 143) vermutet in diesem Zusammenhang, dass durch bestimmte Aktivitäten wie Elaboration, Verallgemeinerung und mathematische Erforschungen die Fähigkeit, originell zu sein, entwickelt werden kann. Dazu sind aber qualitative Analysen origineller Ideen notwendig.

Im Gegensatz zu den bisher dargestellten Definitionsansätzen zu der divergenten Fähigkeit der Originalität als Eigenschaft individueller mathematischer Kreativität schlägt Silver (1997, S. 78) eine gänzlich andere Definition vor. Basis für sein Begriffsverständnis ist die Flexibilität, unter der er die Fähigkeit, andere Lösungswege oder -methoden zu nutzen, versteht. So definiert er Originalität (er benennt es als novelty) in Bezug auf Problemlöseaktivitäten wie folgt:

„Students examine many solution methods or answers (expressions or justifications); then generate another that is different“ (Silver, 1997, S. 78, Fig. 1)

Dem Zitat entsprechend interpretiert er den Begriff der Neuartigkeit einer Idee (Lösung oder Lösungsmethode) eher pragmatisch. Schüler*innen sind originell, wenn sie die Fähigkeit besitzen, zusätzlich zu bereits bestehenden Ideen zu einer mathematischen Aufgabe eine weitere Idee zu produzieren (vgl. Silver, 1997, S. 78). Dadurch findet hier im Gegensatz zu den zuvor vorgestellten Begriffsbestimmungen der Originalität keine Bewertung der verschiedenen Ideen statt wie etwa durch die Attribute clever bei Guilford (1968), außergewöhnlich bei Torrance (1966) oder unkonventionell bei R. Leikin (2009c). Vielmehr wird allen Schüler*innen die Fähigkeit der Originalität zugesprochen, da sie während ihrer individuellen Aufgabenbearbeitung zu den bereits gezeigten Ideen eine weitere produzieren können müssen. Da die Originalität ein wesentliches Merkmal der individuellen mathematischen Kreativität darstellt, schlussfolgert Silver (1997), dass „creativity [is] an orientation or disposition toward mathematical activity that can be fostered broadly in the general school population“ (S. 79). Deshalb bietet sich für die Untersuchung der individuellen mathematischen Kreativität von Schulkindern von allen zuvor dargestellten Definitionen der Originalität diejenige von Silver (1997) am meisten an (vgl. Abschn. 2.4).

Elaboration

Unter der elaboration (Guilford, 1967, S. 138) versteht Guilford die letzte der vier divergenten Fähigkeiten (Denkflüssigkeit, Flexibilität, Originalität und Elaboration), bei der die eigenen Ideen mit Details ausgearbeitet werden. Der Autor spricht in diesem Zusammenhang von einer „variety of implications“ (Guilford, 1968, S. 103) innerhalb der Ideen. Eine Überprüfung der verschiedenen Ideen auf ihre Tauglichkeit auf Basis ihrer Details kann dazu führen, dass weitere Ideen entstehen und sich somit die Denkflüssigkeit, Flexibilität und Originalität erhöhen kann (vgl. Guilford, 1968, S. 159).

Torrance (1966, S. 11) erweitert bzw. operationalisiert diese Definition von Guilford (1967). Im Kontext einer divergenten Produktion zu elaborieren bedeutet, die individuelle Fähigkeit zu besitzen, „to develop, embroider, embellish, carry out […] ideas“ (Torrance, 2008, S. 3). Im TTCT wird bei den figuralen Aufgaben die Elaboration durch das Ausschmücken der Zeichnungen (z. B. Farbe, Schattierung, Variation des Designs, Dekorationen etc.) deutlich (vgl. Torrance, 2008, S. 10). Diese Fähigkeit drückt sich bei symbolischen, semantischen oder behavioristischen divergenten Bearbeitungen von Aufgaben durch detaillierte mündliche sowie schriftliche Beschreibungen, Erklärungen oder Begründungen aus. Dabei stellte Guilford (1967, S. 159–161) schon damals fest, dass empirische Studien zur Elaboration grundsätzlich selten sind und wenn überhaupt, dann auf figuraler und semantischer Ebene durchgeführt werden.

Bis heute lässt sich in mathematikdidaktischen Kreativitätsforschungen, die einen psychometrischen Ansatz über das divergente Denken verfolgen, nur selten auch eine Betrachtung der Fähigkeit der Elaboration finden. Bspw. schließen R. Leikin und Lev (2007, S. 162) diesen Aspekt seit Beginn ihrer Forschungstätigkeit und Entwicklung eines evaluativen Kreativitätsmodells ohne Begründung aus. Auch Silver (1997) greift ausschließlich Denkflüssigkeit, Flexibilität und Originalität als „key components of creativity assessed by the TTCT“ (S. 76) auf. Eine mögliche Begründung könnte sein, dass für die Fähigkeit der Elaboration bei der Bearbeitung mathematischer Aufgaben dann auch die Darstellung sowie Erforschung mitunter komplexer sprachlicher Fähigkeiten notwendig werden. Vor dem Hintergrund des in neueren mathematikdidaktischen Forschungsarbeiten herausgearbeiteten deutlichen Zusammenhangs von sprachlichen und mathematischen Fähigkeiten (vgl. Schröder & Ritterfeld, 2014, S. 51–53; Leiss & Plath, 2020, S. 193–195) ist eine Beachtung der divergenten Fähigkeit der Elaboration jedoch umso bedeutsamer. Vor allem mit Blick auf den von Guilford (1968, S. 159) herausgestellten Einfluss der Elaboration auf die anderen divergenten Fähigkeiten scheint ein Ausschluss dieser Fähigkeit bei der Erforschung der individuellen mathematischen Kreativität von Schüler*innen mit verschiedenen sprachlichen und mathematischen Entwicklungsbiografien wenig zielführend. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird deshalb immer das Set aus den vier divergenten Fähigkeiten – Denkflüssigkeit, Flexibilität, Originalität und Elaboration – als Merkmale der individuellen mathematischen Kreativität von Schulkindern betrachtet (vgl. Abschn. 2.4).

3.3.2 Zusammenhänge zwischen der Kreativität, Intelligenz und mathematischen Fähigkeiten kreativer Personen

Nachdem die verschiedenen divergenten Fähigkeiten als Eigenschaften mathematischer Kreativität dargestellt wurden (vgl. Abschn. 2.3.3.1), soll in diesem Abschnitt der Blick auf mögliche Zusammenhänge zwischen diesen und den intellektuellen sowie mathematischen Fähigkeiten kreativer Personen gerichtet werden. Dieser Zusammenhang wurde bereits in den Ausführungen zu den grundlegenden Aspekten eines Begriffsverständnisses von Kreativität im Rahmen des 4P-Modells (vgl. Abschn. 2.2.3.1) angerissen und soll nun vertieft werden. Doch wie wird Intelligenz in der vor allem psychologischen Literatur und dieser mathematikdidaktischen Arbeit begrifflich gefasst?

In Anlehnung an die umfangreichen (pädagogisch) psychologischen Ausführungen von Myers (2014, Kap. 11) sowie Gruber & Stamouli (2020) wird Intelligenz in dieser Arbeit als mehrdimensionales Konstrukt verstanden. Dabei definiert bspw. Myers (2014) Intelligenz als eine mentale Eigenschaft, die sich in der Fähigkeit, „aus Erfahrungen zu lernen, Probleme zu lösen und Wissen einzusetzen, um sich an neue Situationen anzupassen“ (S. 401) ausdrückt. Dabei sollte mit Blick auf den Kontext der Schule bzw. des Mathematikunterrichts ergänzt werden, dass die zuvor beschriebene Anpassung an neuartige Situationen „auf Grundlage vorangegangener Erfahrungen“ (Gruber & Stamouli, 2020, S. 29) geschehen muss. Über viele Jahrzehnte psychologischer Forschungen wurden auf Basis faktorenanalytischer Methoden verschiedenste Modelle entwickelt, welche die intelligenten Fähigkeiten von Personen darstellen. Neben Strukturmodellen wie etwa dem Zwei-Faktor-Modell von Spearman (1904, S. 272–277), das einen Generalfaktor (g-Faktor) und verschiedene Spezialfaktoren (s-Faktor) der Intelligenz unterscheidet, oder dem in dieser Arbeit ausführlich dargestellten SI-Modell von Guilford (1968) (vgl. Abschn. 2.3.3) wurden zudem Modelle der Intelligenz entwickelt, die ebendiese beiden Teilfaktoren hierarchisch in Beziehung zueinander setzen. Bspw. entwickelte Cattell (1963, S. 2) so die beiden Begriffe der fluiden und kristallinen Intelligenz (vgl. ausführlich Abschn. 7.1.2.1). Wechsler (1958, S. 13–14) unterscheidet in seinem Modell überdies zwischen verbaler und praktischer Intelligenz. Um der starken Fokussierung auf kognitive Fähigkeiten entgegenzuwirken, nahmen zunehmend Forschende auch die sogenannte emotionale Intelligenz in den Blick (vgl. Wild & Möller, 2020, S. 31). In diese Tradition ist auch Gardner (1999, S. 27–46) einzuordnen, der die Theorie der multiplen Intelligenzen aufstellte und damit den Intelligenzbegriff neu prägte sowie weitreichende psychologische, bildungswissenschaftliche sowie fachdidaktische Diskurse in Gang setze.

Kreativität und Intelligenz

Obwohl es bisher keinen empirischen Nachweis für einen eindeutigen Zusammenhang zwischen Kreativität auf Basis des divergenten DenkensFootnote 29 und der Intelligenz gibt (vgl. Plucker, Karwowski & Kaufman, 2019, S. 1088), lassen sich vielfältige theoretische Überlegungen in der psychologischen und auch mathematikdidaktischen Literatur zu diesem Thema feststellen. Plucker, Karwowski und Kaufman (2019, S. 1088) sehen diesen Umstand darin begründet, dass Forschende versuchen, das komplexe und häufig individuell definierte Konstrukt der Kreativität mit dem seit langer Zeit theoretisch und empirisch entwickelten Konstrukt der Intelligenz in Beziehung zu setzen. Theoretisch sind jedoch fünf verschiedene Intelligenz-Kreativität-Beziehungen denkbar, die Sternberg (1999, S. 304–305) in seiner Theorie einer successful intelligence darstellt. Plucker, Karwowski und Kaufman (2019) bringen diese wie folgt auf den Punkt: “creativity as a subset of intelligence; intelligence as a subset of creativity; creativity and intelligence as overlapping sets; creativity and intelligence as coincident sets; and creativity and intelligence as disjoint sets” (S. 1089). Dennoch ist in der Literatur vielfach die Theorie vorzufinden, dass Kreativität ein untergeordneter Faktor von Intelligenz sei (vgl. Jauk, Benedek, Dunst & Neubauer, 2013, S. 213) wie etwa beim SI-Modell von Guilford (1967).

Ebendieser ist jedoch auch einer der ersten Forschenden, der annimmt, dass sich Korrelationen nur zwischen bestimmten Faktoren der Intelligenz und der Kreativität von Personen zeigen (vgl. Jauk et al., 2013, S. 213). So ist die Feststellung von Guilford (1967, S. 166) bedeutsam, dass in seinen zusammengetragenen, eigenen und fremden, Studien die Korrelation zwischen dem Intelligenzquotienten von Personen und deren Fähigkeiten in der divergenten Produktion gering seienFootnote 30. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die von Guilford und seinen Kolleg*innen genutzten Intelligenztests, wie zuvor erläutert, ausschließlich kognitive Fähigkeiten maßen, wobei die divergente Produktion überwiegend unabhängig von kognitiven Faktoren definiert war (vgl. Guilford, 1967, S. 169). Dementsprechend wurden zwei aus psychometrischer Perspektive völlig verschiedene Konstrukte empirisch aufeinander bezogen, weshalb häufig eine geringe Korrelation zwischen Intelligenz und Kreativität festzustellen war und bis heute ist. Auffällig ist aber, dass die Korrelationskoeffizienten bei Studien mit Grundschüler*innen höher ausfallen als bei Studien mit erwachsenen Teilnehmenden (etwa Torrance, 1962, S. 54–64). Guilford (1967) formuliert zur Erklärung dieses Umstands die Hypothese, dass bei einem Test der divergenten Produktion für Kinder unbekannte Aufgaben eingesetzt wurden und dabei Schüler*innen mit einer geringeren Intelligenz diese nicht so schnell umsetzen, d. h. in einem geringen Maß ihre Kreativität zeigen konnten (vgl. Guilford, 1967, S. 168–169). Es bleibt demnach festzuhalten, dass das Messen der divergenten Fähigkeiten von Kindern herausfordernd ist und ein Bezug zu deden allgemeinen intellektuellen Fähigkeiten wenig sinnvoll scheint oder explizit domänenspezifisch erfolgen muss.

Eine in der Psychologie anerkannte Theorie zum Zusammenhang von Intelligenz und Kreativität ist zudem die threshold hypothesis (zu Deutsch: Schwellen-Hypothese) (Jauk et al., 2013, S. 213). Diese besagt, dass für das Erreichen einer hohen individuellen Kreativität auch eine überdurchschnittliche Intelligenz notwendig ist. Dabei wird die Existenz einer Schwelle von Kreativität bei einem Intelligenzquotienten (IQ) von 120 angenommen. Diese bedeutet konkret, dass Unterschiede in der Kreativität von Personen mit einem IQ über 120 nicht mehr empirisch relevant werden und damit auch keine Korrelation zwischen den beiden Konstrukten deutlich wird. Umgekehrt müsste bei Personen mit einem IQ unter 120 eine deutliche Korrelation zwischen der Kreativität und der Intelligenz nachweisbar sein (vgl. Jauk et al., 2013, S. 213). Jauk, Benedek, Dunst und Neubauer (2013, S. 214) fassen in ihrem Artikel verschiedenste psychologische Forschungsergebnisse zusammen und stellen fest, dass es sowohl empirische Studien gibt, in denen die threshold hypothesis bestätigt wird, als auch wenige, die sie ablehnen müssen. Als Grund für dieses diverse Ergebnis nennen sie die verschiedenen Konstruktdefinitionen, die der Messung der Kreativität in den betrachteten Studien zugrunde gelegt wurden. Dies stützt die These von Plucker, Karwowski und Kaufman (2019), dass keine eindeutigen Zusammenhänge zwischen Kreativität und Intelligenz gemessen werden können, da das Konstrukt der Kreativität auf theoretischer Ebene nicht eindeutig genug umschrieben ist. Die Autoren selber konnten in ihrer Studie zeigen, dass die Intelligenz der Teilnehmer*innen im durchschnittlichen IQ-Bereich wesentlich deren Kreativität beeinflusste (vgl. Jauk et al., 2013, S. 218). Inwiefern diese Ergebnisse auch auf die Domäne der Mathematik und damit auf die individuelle mathematische Kreativität in Zusammenhang zur Intelligenz der Schüler*innen zutreffen, ist in der Literatur bisher nicht belegt.

Neben der häufigen Betrachtung des Zusammenhangs von Kreativität und der Intelligenz kreativer Personen eröffnen Chamberlin & Mann (2021) eine andere Perspektive, indem sie den Zusammenhang von Kreativität und Affekt betrachten. Unter Affekt verstehen die Autoren ein genauso wie Kreativität facettenreiches Konstrukt, dass sich vor allem auf Erwartungen, Haltungen und Emotionen von Personen bei kreativen Problemlösetätigkeiten bezieht (vgl. Chamberlin, 2020, S. 14). Die Bedeutung von affektiven Themen – Neugierde und Spaß aber auch Teilhabe und Herausforderung – im Rahmen der Förderung von mathematischer Kreativität spielt auch für Lehrkräfte bei ihrer Auswahl sowie Gestaltung geeigneter Aufgaben eine bedeutsame Rolle (vgl. Levenson, 2013, S. 286–287). Die Five Legs of Creativity Theory (vgl. Chamberlin & Mann, 2021) umfasst insgesamt fünf Komponenten, nämlich die affektiven Zustände „Iconoclasm, Impartiality, Investment, Intuition, and Inquisitiveness“ (Chamberlin, 2020, S. 14). Wenn diese Zustände gering sind, dann ist auch der kreative Output „extremely poor and nearly impossible to this theory“ (Chamberlin & Mann, 2021, S. 2) und umgekehrt.

Kreativität und mathematische Fähigkeiten

Bevor in den weiteren Ausführungen mögliche Zusammenhänge von mathematischen FähigkeitenFootnote 31 und der individuellen mathematischen Kreativität dargestellt werden, sei zunächst auf das Verhältnis von mathematischen Fähigkeiten, vor allem von mathematischer Begabung, und Intelligenz verwiesen. Hohe mathematische Fähigkeiten können laut Schnell und Prediger (2017, S. 147–149) nicht alleine durch hohe Intelligenzquotienten erklärt werden. Auch Nolte (2015, S. 185) unterstützt diese Aussage, da in ihrem Kooperationsprojekt Kinder der Primarstufe auf verschiedenen Wegen zur Mathematik (PriMa-Projekt), das mathematisch begabte Drittklässler*innen fördert, nur etwa 11,8 % der Varianz der kindlichen Ergebnisse in dem eigens entwickelten und unveröffentlichten Mathematiktest durch Ergebnisse des Intelligenztests CFT 20-R (Weiß, 2006) erklärt werden konnten.

Haylock (1987, S. 68–70) stellte vor etwa 30 Jahren fest, dass aus verschiedenen Forschungsergebnissen aus Dissertationen der 1960- und 70er Jahren kein eindeutiger Schluss gezogen werden konnte, ob und wenn ja, inwiefern Zusammenhänge zwischen den divergenten Fähigkeiten als Eigenschaften der mathematischen Kreativität und den mathematischen Fähigkeiten der untersuchten Schüler*innen bestandenFootnote 32. Dennoch leitete Haylock (1987, S. 69–70) die Hypothese ab, dass Kreativität niemals unabhängig von mathematischen Fähigkeiten auftreten könne.

Sternberg & Lubart (1995) schreiben dem domänenspezifischen Wissen, d. h. im Falle dieser Arbeit den mathematischen Fähigkeiten der Schüler*innen, eine besondere Rolle in Bezug auf das Konstrukt der Kreativität zu. Dies begründen sie durch fünf Argumente (vgl. im Folgenden Sternberg & Lubart, 1995, S. 152–153):

  1. 1.

    Domänenspeifisches Wissen unterstützt die kreative Person darin, ein für diese Domäne spezifisches, neues Produkt zu erschaffen. Diese Perspektive ist in ausführlicher Form vor allem bei Csikszentmihalyi (2014c) zu finden (vgl. Abschn. 2.3.2.2).

  2. 2.

    Wissen über die Domäne ermöglicht Personen, die Neuheit ihres Produktes bewusst zu platzieren und herauszustellen.

  3. 3.

    Domänenspezifisches Wissen ist hilfreich, um nicht nur neue, sondern vor allem auch hoch-qualitative Produkte zu erschaffen, was als bedeutsamer Aspekt kreativer Produkte auch im Kontext des divergenten Denkens gilt (vgl. Abschn. 2.3.3).

  4. 4.

    Domänenspezifisches Wissen, das aus langjähriger Erfahrung und Übung entstanden ist, hilft der kreativen Person, sich auf die Entwicklung von Ideen und weniger auf handwerkliche Basiskompetenzen bei der Bearbeitung geeigneter Aufgaben zu konzentrieren.

  5. 5.

    Zuletzt beeinflusst das domänenspezifische Wissen auch, zufällige Ereignisse wahrzunehmen, die dazu führen, kreativ zu werden. Dies beschreibt Guilford (1968) als Problemsensibilität (vgl. Abschn. 2.3.3.1).

Ein solches domänenspezifisches Wissen bezeichnet Feldhusen (2006) als knowledge base (S. 138), das durch geeignete Lernangebote aufgebaut werden kann, um Kreativität bei der Bearbeitung von domänenspezifischen Aufgaben zu ermöglichen.

Juter & Sriraman (2011) verfolgen in ihrem Artikel die Fragestellung, ob hohe mathematische Leistungen oder Fähigkeiten gleichbedeutend sind mit Begabung und/oder mit mathematischer Kreativität. Anhand fiktiver Fallbeispiele von Jugendlichen konstruieren die Autor*innen verschiedene mathematische Lernbiographien, die ein Zusammenspiel und gegenseitige Beeinflussung von mathematischer Begabung, Kreativität und Leistung aufzeigen sollen (vgl. Juter & Sriraman, 2011, S. 56–61). Dabei schreiben sie der sozialen Umgebung, den mathematischen Aufgaben sowie der Schulpraxis, einen großen Einfluss – positiv wie negativ – auf das individuelle Zusammenspiel von Begabung, Kreativität und Leistung zu (vgl. Juter & Sriraman, 2011, S. 61–63).

In Bezug auf das Verhältnis von mathematischer Begabung und Kreativität sei an dieser Stelle auf das von Aßmus & Fritzlar (2018) theoretisch entwickelte embedded model of giftedness and creativity (S. 66) verwiesen. Wird eine kompetenzorientierte Sichtweise auf beide Konstrukte eingenommen, dann beschreiben die Autor*innen die mathematische Kreativität als Subkomponente der mathematischen Begabung, die es Schüler*innen ermöglicht, kreative Produkte zu erstellen. Aus einer leistungsorientierten Perspektive wird es den Lernenden erst durch ihre individuellen kreativen Fähigkeiten ermöglicht, kreative Produkte als ein Bereich mathematischer Leistung zu produzieren (vgl. Aßmus & Fritzlar, 2018, S. 65 – insbesondere Fig. 3.5). Aus der empirischen Forschung mit 127 Viert- und 33 Fünftklässler*innen, die mathematische Operationen erfinden sollten, kommen sie auf Basis ihres Modells zu dem Schluss, dass „in primary grades and for almost all primary school students, there are many chances to be mathematically creative […]“ (Aßmus & Fritzlar, 2018, S. 77). Dabei stellen sie fest, dass während der Aufgabenbearbeitungen insbesondere Kinder mit hoher mathematischer Begabung auf kreative Art und Weise komplexe bzw. divergente Einsichten in mathematische Operationen zeigten (vgl. Aßmus & Fritzlar, 2018, S. 77–78).

Kreativität, Intelligenz und mathematische Fähigkeiten

R. Leikin und Lev (2013) untersuchten in ihrer Studie mit insgesamt 155 Schüler*innen der elften und zwölften Klasse (high school level in Israel) einen möglichen Zusammenhang zwischen Kreativität, Intelligenz und mathematischen Fähigkeiten. Dafür nutzten sie das von R. Leikin (2009c) entwickelte Instrument, das die kreativen Fähigkeiten Denkflüssigkeit, Flexibilität und Originalität über ein Punkteverfahren misst (vgl. Abschn. 2.3.3.1). Dadurch, dass die Schüler*innen in heterogene Gruppen bzgl. ihrer allgemeinen Intelligenz und mathematischen Fähigkeiten aufgeteilt und verschiedenste multiple solution tasks (MSTs) bearbeitet wurden (vgl. Abschn. 2.3.3.1, Ausführungen zur Denkflüssigkeit), waren so Rückschlüsse auf Zusammenhänge möglich:

  1. 1.

    Die erlernten mathematischen Fähigkeiten der Schüler*innen beeinflussten positiv die Entwicklung von Denkfähigkeit und Flexibilität. Dabei steigen die Werte für Denkflüssigkeit und Flexibilität an, wenn auch die Korrektheit der Aufgabenbearbeitung steigt. Umgekehrt führt ein Anstieg der Korrektheit nicht zwangsweise zu einem Anstieg an Originalität (vgl. R. Leikin & Lev, 2013, S. 194).

  2. 2.

    Die Autorinnen stellten des Weiteren fest, dass die Ergebnisse ihrer Studie aufgabenabhängig waren. Das bedeutet, dass die allgemeine Intelligenz der Schüler*innen einen signifikanten Effekt auf die Denkflüssigkeit, Flexibilität und Originalität bei der Bearbeitung solcher Aufgaben hat, die Lösungen fordern, die in Anlehnung an Ervynck (1991) (vgl. Abschn. 2.3.1.1) auf mathematischer Einsicht und somit keinem algorithmischen Denken basieren (vgl. R. Leikin & Lev, 2013, S. 195).

  3. 3.

    Mathematisches Wissen und Fähigkeiten sind insgesamt für denkflüssige und flexible Aufgabenbearbeitungen notwendig. Bei Aufgaben, die ein gewisses Maß an mathematischer Einsicht erfordern, korrelierten die mathematischen Fähigkeiten jedoch mit der Kreativität im Ganzen, d. h. zusätzlich mit der Fähigkeit Originalität (vgl. R. Leikin & Lev, 2013, S. 195–196). Daraus schließen, die Autorinnen, dass „being creative means being original“ (R. Leikin & Lev, 2013, S. 196).Footnote 33

Die zuvor präsentierten Ergebnisse von R. Leikin und Lev (2013) verdeutlichen, dass die domänenspezifische und relative Kreativität vor allem mit den mathematischen Fähigkeiten der Schüler*innen und weniger mit deren Intelligenz zusammenhängt. Eine wichtige Erkenntnis ist dabei, dass die allgemeine Intelligenz der Lernenden dann einen besonderen Einfluss auf ihre individuelle mathematische Kreativität nimmt, wenn ihnen Aufgaben gestellt werden, die weniger algorithmisch, sondern vor allem durch mathematische Einsichten gelöst werden müssen. Somit scheint mathematische Kreativität ein Konstrukt zu sein, das aufgabenabhängig ist. Daher wird nachfolgend ein besonderer Fokus auf geeignete mathematische Aufgaben gelegt, durch die Schüler*innen kreativ werden können (vgl. Kap. 3).

3.3.3 Zwischenfazit

Psychometrische Forschungsansätze beleuchten Kreativität über messbare Eigenschaften des kreativen Produkts, um so Rückschlüsse über die kreative Person ziehen zu können (vgl. Einführung zu Abschn. 2.3.2.3). Deshalb wird dieser Ansatz primär auch für die Betrachtung der individuellen mathematischen Kreativität in der vorliegenden Arbeit verfolgt. Maßgeblich geprägt hat diese Forschungsrichtung der Psychologe Guilford (1967), der Kreativität über die divergente Produktion als ein Aspekt seines strukturierten Intelligenzmodells (vgl. Abb. 2.5) beschreibt. Dies bedeutet, dass zu einer Aufgabe nicht nur eine, sondern mehrere verschiedene Ideen, d. h. Antworten oder Lösungen der domänenspezifischen Aufgabe, produziert werden müssen. Diese Ideen sind von Person zu Person individuell sowie quantitativ und qualitativ verschieden (vgl. Einführung zu Abschn. 2.3.3.1).

Guilford (1967) formuliert im Weiteren ein Set aus vier verschiedenen divergenten Fähigkeiten, über die er kreatives Verhalten definiert: Denkflüssigkeit, Flexibilität, Originalität und Elaboration. Diese Eigenschaften wurde von Torrance (1966) dann verfeinert und innerhalb seines Torrance Test for Creative Thinking (TTCT) ausgearbeitet. Auf Basis dieser psychologischen Kategorien haben diverse mathematikdidaktisch Forschende die divergenten Fähigkeiten für das Mathematiktreiben von Kindern und Jugendlichen ausdifferenziert (etwa Haylock, 1987; Hollands, 1972; R. Leikin, 2009c; Silver, 1997). Unter Einbezug der psychologischen und mathematikdidaktischen Theorien wurden alle vier divergenten Fähigkeiten als Eigenschaften der Kreativität kreativer Personen, welche an ihren kreativen Produkten sichtbar werden und eine Manifestation des kreativen Prozesses darstellen, detailliert beschrieben (vgl. Abschn. 2.3.3.1). So ergeben sich aus der Literatur heraus an dieser Stelle die folgenden mathematikdidaktischen Begriffsbestimmungen:

  • Denkflüssigkeit beschreibt die Fähigkeit, zu einer mathematischen Aufgabe in einer bestimmten Zeit verschiedene passende Ideen zu produzieren.

  • Flexibilität beschreibt die Fähigkeit, bei der Bearbeitung einer mathematischen Aufgabe innerhalb der eigenen Ideen verschiedene Ideentypen zu zeigen und zwischen diesen zu wechseln.

  • Originalität nach Silver (1997) beschreibt die Fähigkeit, die eigenen produzierten Ideen selbst zu erforschen und weitere, neue Idee zu produzieren.

  • Elaboration nach Torrance (1966) beschreibt die Fähigkeit, die produzierten Ideen mit Details und Erklärungen zu versehen. Dadurch kann die Elaboration für die Produktion weiterer Ideen inspirierend wirken und so die anderen drei divergenten Fähigkeiten direkt beeinflussen.

Zuletzt wurde ein möglicher Zusammenhang zwischen der Kreativität im Kontext des divergenten Denkens sowie den intellektuellen und mathematischen Fähigkeiten kreativer Personen dargestellt. In psychologischen und mathematikdidaktischen Studien konnten durch die Verschiedenheit der Studiendesigns keine verallgemeinerbaren und eindeutigen Ergebnisse dazu festgehalten werden. Es lässt sich jedoch als Tendenz erkennen, dass die Kreativität von Personen mehr von ihren domänenspezifischen Fähigkeiten als von ihrer Intelligenz beeinflusst wird und sich zudem aufgabenabhängig darstellt (vgl. Abschn. 2.3.3.2). Bei einer mathematikdidaktischen Betrachtung der individuellen mathematischen Kreativität von Schulkindern ist es deshalb notwendig, die Wechselwirkung der mathematischen und intellektuellen Fähigkeiten der Schüler*innen genau darzustellen und die Gestaltung sowie den Einsatz sinnvoller mathematischer Aufgaben zu fokussieren.

3.4 Zusammenfassung

Ziel des ersten Theoriekapitels dieser mathematikdidaktischen Arbeit ist es, eine explizite Definition und ein Modell für die individuelle mathematische Kreativität von Schüler*innen zu entwickeln (vgl. Abschn. 2.4). In einem ersten Schritt wurden dafür grundlegende Aspekte einer Begriffsdefinition theoretisch dargestellt, begründet ausgewählt und so die konkrete sprachliche Formulierung des Konstrukts der Kreativität erarbeitet (vgl. Abschn. 2.2, insbesondere Abb. 2.3). Auf dieser Basis galt es, die individuelle mathematische Kreativität von Schüler*innen durch geeignete und ausgewählte Theorieaspekte inhaltlich zu beschreiben (vgl. Abschn. 2.3).

Es wurde herausgearbeitet, dass sich in der psychologischen und mathematikdidaktischen Kreativitätsforschung drei große Strömungen finden lassen:

  • Kognitive Ansätze betrachten Kreativität im Kontext von Problemlöseprozessen und fokussieren dabei vor allem den Übergang von der Inkubations- zur Illuminationsphase, dem sogenannten Aha!-Effekt, mit Rückgriff auf die Darstellung kreativer Prozesse nach Hadamard (1945). Durch die Fokussierung auf die kreativen Personen und ihre individuelle mathematische Kreativität ist ein kognitiver Forschungsansatz für diese Arbeit jedoch nicht zielführend (vgl. Abschn. 2.3.1).

  • Kreativitätsforschungen mit einem sozial-persönlichen Ansatz fokussieren das komplexe Gefüge zwischen der kreativen Person und ihrer Umwelt, in dem kreative Prozesse stattfinden und kreative Produkte entstehen. Es wurden drei Vertreter*innen dieser Forschungsansätze vorgestellt und einzelne bedeutsame Aspekte für diese mathematikdidaktische Betrachtung von Kreativität deduziert. Es scheint lohnend die Kreativität von jungen Schulkindern zu betrachten, da diese ihre individuelle mathematische Kreativität deutlich zeigen können (vgl. Amabile, 1996). Mit dem Modell von Csikszentmihalyi (2014c) muss ergänzt werden, dass Schüler*innen eine gewisse (mündliche und schriftliche) mathematische Fachsprache zur Verfügung haben müssen, damit Kreativität sichtbar werden kann. Zuletzt betont Sawyer (1995) die Wichtigkeit von sozialen Interaktionen und der Möglichkeit zur Improvisation, durch die Kreativität erst entstehen kann (vgl. Abschn. 2.3.2).

  • Diese Arbeit nutzt jedoch vor allem einen psychometrischen Forschungsansatz, da bei diesem die kreative Person in den Mittelpunkt der Betrachtungen gesetzt wird. Basierend auf dem Konzept der divergenten Produktion nach Guilford (1968) wurden vier divergente Fähigkeiten – Denkflüssigkeit, Flexibilität, Originalität und Elaboration – vorgestellt, die als Eigenschaften der kreativen Person angesehen werden. Basierend auf psychologischen Forschungen wurden dann vor allem mathematikdidaktische Theorien und Studien zu diesen Fähigkeiten vorgestellt und diese anschließend definiert (vgl. Abschn. 2.3.3). Sie bilden die Basis für die nachfolgende inhaltliche Beschreibung der individuellen mathematischen Kreativität.

Die nachfolgende Abbildung 2.8 stellt die Entscheidungen über die grundlegenden und inhaltlichen Aspekte der Begriffsdefinition der individuellen mathematischen Kreativität dar.

Abb. 2.8
figure 8

Grundlegende und inhaltliche Aspekte einer Begriffsdefinition der individuellen mathematischen Kreativität

4 Die individuelle mathematische Kreativität

Die theoretisch basierten grundlegenden (vgl. Abschn. 2.2, insb. Zusammenfassung in Abb. 2.3) und inhaltlichen (vgl. Abschn. 2.3, insb. Zusammenfassung in Abb. 2.8) Aspekte einer Begriffsdefinition von Kreativität dienen diesen Konkretisierungen als Ausgangspunkt. Ziel ist es nun, eine Begriffsdefinition (vgl. Abschn. 2.4.1) sowie ein Modell (vgl. Abschn. 2.4.2) über die individuelle mathematische Kreativität für diese Arbeit, d. h. die weiteren theoretischen Ausführungen sowie die sich anschließende empirische Studie, zu entwickeln.

4.1 Begriffsverständnis in dieser Arbeit

Der Begriff der individuellen mathematischen Kreativität verdeutlicht, dass Kreativität als domänenspezifische und relative Fähigkeit kreativer Personen verstanden wird, die in einer kreativen Umgebung und in einem kreativen Prozess ein kreatives Produkt erschaffen. Dabei werden die Eigenschaften der mathematischen Kreativität bei der Bearbeitung einer mathematischen Aufgabe durch vier individuell ausgeprägte divergente Fähigkeiten – Denkflüssigkeit, Flexibilität, Originalität und Elaboration – sichtbar. Im Folgenden werden nun die einzelnen Aspekte von mir für diese mathematikdidaktische Arbeit expliziert, um anschließend eine umfassende Definition der individuellen mathematischen Kreativität von Schüler*innen zu formulieren.

Die Denkflüssigkeit bildet eine quantitative Eigenschaft der individuellen mathematischen Kreativität ab, da unter ihr die Fähigkeit verstanden wird, zu einer mathematischen Aufgabe in einer bestimmten Zeit eine gewisse Anzahl passender Ideen zu produzieren.

  • Der Begriff Idee wird in Anlehnung an Guilford (1968, S. 92) verwendet und bezeichnet jegliche Art von Antworten zu der gestellten mathematischen Aufgabe, die das divergente Denken anspricht. So betont dieser Begriff vor allem den schöpferischen Gedanken, der zu einer Antwort geführt hat und weniger die einzelnen mathematischen Lösungen an sich.

  • Das Adjektiv passend verweist dabei darauf, dass die Ideen auch hinsichtlich ihres Inhalts eingeschätzt werden müssen, um zu verhindern, dass wahllos verschiedene Ideen produziert werden, die nicht der Anforderung der Aufgabe entsprechen. Dies leitet zu einer Betrachtung der Qualität der individuell unterschiedlichen Ideen über.

Als qualitative Eigenschaft der individuellen mathematischen Kreativität ist zuallererst die Flexibilität zu nennen. Unter dieser wird die Fähigkeit von Schüler*innen verstanden, innerhalb der eigenen Ideen verschiedene Ideentypen zu zeigen (Diversität) und so Ideenwechsel zu vollziehen (Komposition).

  • Unter dem Begriff Ideentypen werden in Anlehnung an R. Leikin (2009c) voneinander abgrenzbare Kategorien verstanden, durch die alle Ideen in Gruppen eingeteilt werden, in denen jeweils ein prägnantes Merkmal der Ideen übereinstimmt. Die Art der Kategorien hängt dabei maßgeblich von dem mathematischen Inhaltsbereich, den Anforderungen der gestellten Aufgabe und den Gruppierungsmöglichkeiten der Ideen ab. Eine Kategorisierung der verschiedenen Ideen erfolgt dabei sowohl objektiv durch die zuvor beschriebenen Unterscheidungskriterien, als auch subjektiv durch die Betrachtenden der Kreativität. Vor allem mit dem letzten Aspekt wird der Grundannahme entsprochen, dass die hier beschriebene Kreativität relativer Natur ist.

  • Unter Diversität als ersten Teilaspekt von Flexibilität fasse ich somit die Fähigkeit, verschiedene Ideentypen zu einer mathematischen Aufgabe zu zeigen.

  • Der Begriff Ideenwechsel bezeichnet im Kontext von Flexibilität den Moment, wenn bei der chronologischen Produktion qualitativ verschiedener Ideen von einem Ideentyp zu einem anderen gewechselt wird. Dabei sind alle Arten von Wechseln wie etwa vom ersten gezeigten Ideentyp zu einem neuen oder auch der Wechsel wieder zurück zu einem bereits zuvor gezeigten Ideentyp möglich und gleichwertig.

  • Unter Komposition als zweiten Teilaspekt von Flexibilität verstehe ich demnach die kindliche Fähigkeit, individuell unterschiedliche Anzahlen von Ideenwechseln zu vollziehen.

Die Fähigkeit der Originalität stellt zugleich eine qualitative als auch quantitative Eigenschaft der individuellen mathematischen Kreativität dar und wird von mir in Anlehnung an die Ausführungen von Silver (1997) verwendet, was in Abschnitt 2.3.3.1 ausführlich begründet wurde. Vor allem, um der Relativität des hier verwendeten Konstrukts der Kreativität gerecht zu werden, wird als Originalität die Fähigkeit von Schulkindern definiert, ihre selbst produzierten Ideen und darin enthaltenen verschiedenen Ideentypen zu betrachten und davon ausgehend weitere Ideen zu produzieren sowie gleichsam mit diesen evtl. auch weitere Ideentypen und Ideenwechsel zu zeigen. Somit ist es allen kreativen Personen möglich, die divergente Fähigkeit der Originalität als eine Eigenschaft ihrer individuellen mathematischen Kreativität zu zeigen. Der quantitative Aspekt der Fähigkeit Originalität bezieht sich auf das Produzieren weiterer Ideen (Fokus Denkflüssigkeit), während der qualitative Aspekt das Zeigen weiterer Ideentypen und Ideenwechsel (Fokus Flexibilität) in den Blick nimmt. Im Kontext der Fokussierung auf mathematiktreibende Schüler*innen kann der erste Teil der Definition, d. h. die gezielte Reflexion der bereits produzierten Ideen und Ideentypen, eine mehr oder minder große Herausforderung für die zum Teil jungen Kinder darstellen. Deshalb scheint eine angemessene und individuelle Begleitung der Lernenden bei der Bearbeitung einer mathematischen Aufgabe durch eine Lehrkraft notwendig. Somit wird die Forderung nach einer sozialen Interaktion als Umgebung, in der die Kreativität sichtbar werden kann, erfüllt.

  • An dieser Stelle ist es wichtig zu betonen, dass der Begriff einer weiteren Idee bzw. Ideentyps bewusst genutzt und nicht etwa das Adjektiv „neu“ verwendet wird. Dies hat zwei Gründe: Zum einen wird das Wort „neu“ in der Kreativitätsforschung und auch im alltäglichen Sprachgebrauch häufig nahezu synonym zum Begriff der Kreativität verwendet (vgl. Abschn. 2.1). Deshalb könnte bei der Nutzung dieses Wortes fälschlicherweise der Eindruck entstehen, dass Personen, die originell im Sinne der Definition sind, gleichsam auch hoch kreativ sind. Dabei ist Originalität nicht mit Kreativität gleichzusetzen (vgl. Abschn. 2.3.3.1). Zum anderen ist der Begriff einer weiteren Idee deutlich weniger wertend und betont stärker die individuellen Möglichkeiten der kreativen Personen, was vor allem bei jüngeren Schüler*innen sinnvoll erscheint. Das Prädikat einer neuen Idee bezieht sich zudem stärker auf den Aspekt der Ideentypen, da nur diese im Sinne der Definitionen neu sein können. Dies soll hier durch die Wahl des Wortes weitere vermeiden werden.

Zuletzt wird die Elaboration als eine qualitative Eigenschaft der individuellen mathematischen Kreativität als die Fähigkeit von Schulkindern, die Produktion ihrer verschiedenen Ideen und je nach Vermögen auch ihrer gezeigten Ideentypen zu erklären, definiert. Dadurch, dass den kreativen Personen aufgrund ihrer Versprachlichung und Ausarbeitung die gezeigten Ideen oder Ideentypen bewusster werden, kann die Produktion weiterer Ideen (Fokus auf Denkflüssigkeit) oder das Zeigen weiterer Ideentypen bzw. Ideenwechsel angeregt werden (Fokus auf Flexibilität und Originalität).

  • Als Erklären wird im Kontext dieser mathematikdidaktischen Arbeit jede mündliche, mimische sowie gestische Äußerung der Schüler*innen bezeichnet, in der diese einen Einblick in ihre Gedanken ermöglichen. So kann nachvollzogen werden, wie ihre Ideen entstehen. Dabei ist davon auszugehen, dass bei den Lernenden erhebliche Unterschiede in ihrem Sprachvermögen vorherrschen, sodass es notwendig wird, die Schüler*innen bewusst bei der Erklärung ihrer Ideen zu unterstützen (vgl. dazu Kap. 4). Die Variation der konkreten fachsprachlichen Handlung der Kinder können dabei mit Rückbezug auf die funktionelle Pragmatik aus mathematikdidaktischer Perspektive bspw. vom Beschreiben, über das Erklären bis hin zum Begründen reichen (Redder, Guckelsberger & Graßer, 2013, S. 12–14; Rösike, Erath, Neugebauer & Prediger, 2020, S. 58–61; Tiedemann, 2015, S. 54). Vielmehr liegt der Fokus ausschließlich auf einer Betrachtung der Auswirkung des Erklärens auf das Finden weiterer Ideen und Zeigen weiterer Ideentypen.

Aus diesen Ausführungen ergibt sich die nachfolgende Begriffsdefinition:

Die individuelle mathematische Kreativität beschreibt die relative Fähigkeit einer Person, zu einer geeigneten mathematischen Aufgabe verschiedene passende Ideen zu produzieren (Denkflüssigkeit), dabei verschiedene Ideentypen zu zeigen und zwischen diesen zu wechseln (Flexibilität), zu den selbst produzierten Ideen und gezeigten Ideentypen weitere passende Ideen und Ideentypen zu finden (Originalität) und das eigene Vorgehen zu erklären (Elaboration).

4.2 Entwicklung des InMaKreS-Modells in dieser Arbeit

Die zuvor theoretisch hergeleitete und ausführlich begründete Definition der individuellen mathematischen Kreativität von Schüler*innen ermöglicht nun ein gutes Verständnis davon, was es für Mathematiklernende bedeutet, mathematisch kreativ zu werden. Um aber das kreative Verhalten von Kindern im Mathematikunterricht gezielt beobachten und insbesondere qualitativ beschreiben zu können, scheint die Definition sowohl für Forscher*innen als auch für Lehrer*innen noch nicht praktisch, greifbar bzw. zugänglich genug zu sein. Daher ist es für mich notwendig, die Definition der individuellen mathematischen Kreativität auf ihre einzelnen Elemente herunterzubrechen, deren Beziehung untereinander weiter auszuschärfen und dann die relevanten Aspekte absichtsvoll zu sortieren. Auf diese Weise kann ein Modell entstehen, dass die zugrundeliegenden Beziehungen und Überschneidungen der divergenten Fähigkeiten Denkflüssigkeit, Flexibilität, Originalität und Elaboration grafisch verdeutlicht. Das Ziel dieser Modellbildung liegt darin, ein Analysewerkzeug zu entwickeln, mit dem die individuelle mathematische Kreativität von Schüler*innen in Forschung sowie im Mathematikunterricht auf möglichst einfache Weise empirisch sichtbar wird.

Nachfolgend wird daher die Entwicklung meines Modells der individuellen mathematischen Kreativität von Schulkindern (InMaKreS) sukzessive dargestellt. Das Modell soll in besonderem Maß die komplexen Verbindungen zwischen den vier divergenten Fähigkeiten (vgl. Abschn. 2.4.1) veranschaulichen, die von den drei fundamentalen Aspekten, d. h. die Domänenspezifität, die Relativität und der Fokus auf kreative Personen (vgl. Abschn. 2.2), gerahmt werden. Durch die mathematikdidaktische Ausrichtung dieser Arbeit wurde die Definition der individuellen mathematischen Kreativität bereits in den vorangegangenen Ausführungen auf Schüler*innen als kreative Personen bezogen. Nun soll zudem der Aspekt stärker hervorgehoben werden, dass die Lernenden ihre Kreativität im Kontext des Mathematikunterrichtes und damit in einer mathematischen Lehr-Lern-Situation zeigen können sollen. Durch diesen Anwendungsbezug ergeben sich für mich aus der vorgestellten Definition der individuellen mathematischen Kreativität mit den Begriffsbestimmungen der einzelnen divergenten Fähigkeiten einige Implikationen und Erweiterungen des Kreativitätsbegriffs.

Die zuvor dargestellte Definition der Originalität, beschreibt die Fähigkeit, die von den Schüler*innen selbst produzierten Ideen und darin enthaltenen verschiedenen Ideentypen zu betrachten und davon ausgehend weitere Ideen, Ideentypen und Ideenwechsel zu zeigen. Aus dieser Definition können drei aufeinanderfolgende Implikationen abgeleitet werden:

  1. 1.

    Zum einen verweist die Definition der Originalität auf zwei Phasen in der kreativen Bearbeitung einer geeigneten mathematischen Aufgabe: Zunächst müssen die Lernenden in einem selbstständigen Bearbeitungsprozess verschiedene Ideen und Ideentypen produzieren. Diese müssen daraufhin in einem zweiten Schritt zielgerichtet betrachtet werden, um eine weitere Idee zu produzieren bzw. einen weiteren Ideentyp zu zeigen. Erst durch diese Handlung der Schüler*innen wird deren Originalität sichtbar. Ausgehend von den Tätigkeiten der Schüler*innen benenne ich die erste Phase als Produktionsphase und die zweite als Reflexionsphase. Diese beiden Phasen werden im InMaKreS-Modell durch zwei beschriftete Kästen repräsentiert, die von rechts (Produktion) nach links (Reflexion) betrachtet werden müssen (vgl. Abb. 2.9).

  2. 2.

    Aus der ersten Implikation lässt sich schlussfolgern, dass in der Produktionsphase, in der Ideen und Ideentypen produziert werden, die beiden Fähigkeiten der Denkflüssigkeit und Flexibilität beobachtbar sind. Dabei bezeichnet Denkflüssigkeit, die Fähigkeit der Schüler*innen, zu einer mathematischen Aufgabe in einer bestimmten Zeit eine gewisse Anzahl passender Ideen zu produzieren. Unter Flexibilität wird die qualitativ ausgerichtete Fähigkeit verstanden, innerhalb der eigenen Ideen verschiedene Ideentypen zu zeigen (Diversität) und so Ideenwechsel zu vollziehen (Komposition). Diese Analyseaspekte wurden im InMaKreS-Modell in den Kasten der Produktionsphase in Form einer Liste eingetragen (vgl. Abb. 2.9).

  3. 3.

    Aus der Festlegung von zwei kreativen Bearbeitungsphasen (Produktion und Reflexion), die wiederum aus der Definition der Originalität entwickelt wurden, lässt sich eine weitere, wesentliche Implikation schlussfolgern: Die Fähigkeit, originell zu sein, wird ausschließlich in der Reflexionsphase sichtbar, da nur hier die Schüler*innen ihre eigene Produktion betrachten und erweitern können. Während dieser kreativen Tätigkeiten werden die Kinder also konkret dazu angeregt, ihre Ideen und evtl. auch ihre gezeigten Ideentypen zunächst zu reflektieren. Darauf aufbauend sollen die Lernenden dann ihre Produktion erweitern. Dies kann auf drei Arten und Weisen geschehen: Die Schüler*innen können weitere Ideen produzieren (Denkflüssigkeit), weitere Ideentypen (Flexibilität – Diversität) und/oder weitere Ideenwechsel zeigen (Flexibilität – Komposition). Somit zeigen die Schüler*innen also auch in der Reflexionsphase die beiden divergenten Fähigkeiten Denkflüssigkeit und Flexibilität. Dies verdeutlicht, dass nicht nur die beiden Bearbeitungsphasen aufeinander aufbauen, sondern sich auch inhaltlich die Originalität direkt auf die beiden Fähigkeiten Denkflüssigkeit und Flexibilität bezieht.

    Dieser Erkenntnisse habe ich grafisch in meinem InMaKreS-Modell hervorgehoben (vgl. Abb. 2.9): Zum einen wurden analog zur Produktionsphase im Kasten der Reflexionsphase die zuvor erläuterten originellen Fähigkeiten der Schulkinder eingetragen. Dabei verdeutlicht die Position der einzelnen Aspekte in beiden Kästen deren Zugehörigkeit zu den Fähigkeiten Denkflüssigkeit und Flexibilität. Diese wurden durch zwei übereinander angeordnete und insgesamt horizontal verlaufende Stränge dargestellt. Da beide divergente Fähigkeiten in beiden Bearbeitungsphasen beobachtbar sind, verlaufen die Stränge sowohl durch die Produktions- als auch die Reflexionsphase. Zusätzlich wurde die divergente Fähigkeit der Originalität durch einen vertikalen Strang dargestellt, der sich ausschließlich über die Reflexionsphase erstreckt und dabei die Stränge der Denkflüssigkeit und Flexibilität kreuzt. Dies verdeutlicht auch visuell den Zusammenhang dieser drei divergenten Fähigkeiten.

Ein weiterer, zu beachtender Aspekt ist die Definition der Elaboration für mathematikdidaktische Forschungsarbeiten. Darunter wird die Fähigkeit gefasst, die Produktion verschiedener Ideen und je nach Vermögen auch der gezeigten Ideentypen zu erklären. Daraus lässt sich eine vierte Implikation für das Verhältnis der vier Eigenschaften der individuellen mathematischen Kreativität von Schulkindern ableiten:

  1. 4.

    Die Fähigkeit, die eigene Aufgabenbearbeitung sprachlich und gestisch zu erklären und dabei die eigenen Ideen auszuarbeiten, ist nicht nur eine hochgradig individuelle Eigenschaft der Kreativität. Vielmehr kann die Elaborationsfähigkeit der Kinder während der gesamten kreativen Bearbeitung einer mathematischen Aufgabe beobachtet werden, da die Schüler*innen durchweg dazu angeregt werden, ihre kreativen Tätigkeiten zu verbalisieren. So zeigt sie sich bei der Produktion von Ideen (Denkflüssigkeit), dem Zeigen von Ideentypen und Ideenwechseln (Flexibilität) sowie dem Reflektieren und Erweitern der eigenen Ideen bzw. Ideentypen (Originalität). Zudem kann die Elaboration einen (positiven wie negativen) Einfluss auf die verschiedenen anderen divergenten Fähigkeiten nehmen, da sich die Kinder durch eine Versprachlichung ihres Vorgehens bei der Aufgabenbearbeitung ihrer Gedanken und Ideen stärker bewusst werden können. Dies kann die Schüler*innen dann bei der kreativen Bearbeitung mathematischer Aufgaben unterstützen. Aus diesen Gründen habe ich die divergente Fähigkeit der Elaboration als Basis für das gesamte InMaKreS-Modell gewählt. Visuell wird dies dadurch hervorgehoben, dass die Elaboration im Hintergrund des ganzen Modells liegt und damit insbesondere die Denkflüssigkeit, Flexibilität und Originalität umschließt (vgl. Abb. 2.9).

Insgesamt veranschaulicht mein nachfolgendes InMaKreS-Modell (vgl. Abb. 2.9) sowohl die Definitionen der vier divergenten Fähigkeiten als Eigenschaften der individuellen mathematischen Kreativität, als auch die zwischen den Eigenschaften herrschenden Zusammenhänge und die Erweiterungen, die in den zuvor präsentierten Implikationen erarbeitet wurden. Durch die konkreten inhaltlichen Formulierungen der einzelnen Eigenschaften der individuellen mathematischen Kreativität bei der divergenten Bearbeitung geeigneter mathematischer Aufgaben kann das InMaKreS-Modell als empirisches sowie perspektivisch auch als didaktisches Werkzeug für eine Analyse von kreativen Aufgabenbearbeitungen mathematiktreibender Schüler*innen dienen.

Abb. 2.9
figure 9

Modell der Individuellen mathematischen Kreativität von Schulkindern (InMaKreS-Modell)

An dieser Stelle der mathematikdidaktischen Betrachtung von Kreativität, die in dem zuvor erarbeiteten InMaKreS-Modell mündete, bleiben zwei wesentliche Fragen offen. Diese sollen durch die ausführlichen Darstellungen der folgenden Kapitel sukzessive beantwortet werden:

  1. 1.

    Welche mathematischen Aufgaben sind geeignet, damit Schüler*innen ihre individuelle mathematische Kreativität im Sinne des InMaKreS-Modells zeigen können? (vgl. Kap. 3)

  2. 2.

    Inwiefern können Lehrpersonen die Schüler*innen während der kreativen Aufgabenbearbeitung vor allem in Hinblick auf die Elaborationsfähigkeit unterstützen? (vgl. Kap. 4)