In meiner Einleitung habe ich unter anderem von Jessika berichtet, deren kreative Bearbeitung der Aufgabe Finde verschiede Aufgaben mit der Zahl 4 mir sehr im Gedächtnis geblieben ist, insbesondere aber ihre anschauliche Beschreibung wie sie die Zahlensätze zu der gestellten Aufgabe produzierte: „Ich sehe auf meinem Kopf so viele Aufgaben.“ Am Ende meiner theoretischen und empirischen Arbeit zur individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen konnte Jessikas Kreativität bei der Bearbeitung der ersten arithmetisch offenen Aufgabe A1 [Zahl 4] im Sinne des InMaKreS-Modells charakterisiert und dem Kreativitätstyp 2b zugeordnet werden, was bedeutet, dass das Mädchen ein sprunghaft-ideenreiches Vorgehen im gesamten Bearbeitungsprozess mit schwacher Erweiterung ihrer Produktion in der Reflexionsphase zeigte (vgl. zu der Charakterisierung Ende Abschn. 9.2.2 und zu den Kreativitätstypen Abschn. 9.3). Auch war Jessika eine der zwei von 18 Erstklässler*innen, die bei beiden arithmetisch offenen Aufgaben sowohl den gleichen Typ der individuellen mathematischen Kreativität als auch keine Variation in ihren Aufgabenbearbeitungen auf arithmetischer Ebene zeigte (vgl. Abschn. 10.1.2). Entsprechend ihrem Fähigkeitsprofil 3 (unterdurchschnittlich gleiche Fähigkeiten) brauchte Jessika während beider Unterrichtsepisoden überdurchschnittlich oft metakognitive Unterstützung von mir als Lehrende-Forschende. Durch Nachfrage und die direkte Aufforderung, die Produktion ihrer Zahlensätze zu erklären (Prompt 3), entwickelte sich ihre Elaborationsfähigkeit insofern, als dass sie zunehmend mathematisch nachvollziehbare Erklärungen für arithmetische Strukturen, numerische Mustern oder Klassifikationen formulierte (vgl. Abschn. 3.2.2.2).

Resümierend kann Jessikas Aussage „Ich sehe auf meinem Kopf so viele Aufgaben.“ durch seine Bildhaftigkeit sinnhaft als das Erleben der eigenen individuellen mathematischen Kreativität gesehen werden und verdeutlichen, vor welcher Herausforderung, vor allem jedoch großen Chance Schüler*innen bei der Bearbeitung offener Aufgaben im Mathematikunterricht stehen. Letztendlich war es Jessikas individuelle Entscheidung, welche Zahlensätze sie in welcher Reihenfolge und durch welche arithmetische Idee „nach vorne holte“ und aufschrieb. Im Wesen dieser Entscheidungen liegt wohl die individuelle mathematische Kreativität von Schulkindern beim Bearbeiten offener Aufgaben begründet. In diesem Sinne darf das nachfolgende, meine Dissertation abrundende, Zitat von Kaufman und Beghetto (2009) als Einladung zu einem neugierigen Blick auf die Kreativität von Schüler*innen im Mathematikunterricht verstanden werden:

„In fact, all one has to do is spend a bit of time observing the creative insights expressed by young children in their daily activities of learning and play.” (S. 4)