„Gegenüber Idealmodellen und geschönten Unterrichtsberichten ist allerdings einzuwenden, dass in der Unterrichtspraxis ‚kein Lehrer vor der Kreativität des Schülers [und der Schülerin] sicher ist‘ (Bauersfeld).“ (Neth & Voigt, 1991, S. 108)

Zunächst mit Verwunderung, dann Neugier und letztlich zunehmender Begeisterung auf das obige, mündliche Zitat von Heinrich Bauersfeld blickend, stellten sich mir direkt die folgenden Fragen, die nach einer mathematikdidaktischen Beantwortung suchten: Was bedeutet es, dass Schüler*innen im Mathematikunterricht kreativ werden? Und noch viel unterrichtspraktischer: Bei welchen mathematischen Handlungen der Lernenden zeigt sich ihre Kreativität?

Mit Blick auf den Mathematikunterricht der Grundschule erinnere ich mich an Unterrichtszenen, in denen einzelne Schüler*innen bei der Bearbeitung einer mathematischen Aufgabe plötzlich zu für sie ungewöhnlichen bzw. neuen Lösungsansätzen oder Erkenntnissen – oftmals begleitet von einem freudig klingenden Ah!-Ausruf – gelangten. Dann gab es Momente, in denen Kinder feststellten, dass es zu einer gestellten mathematischen Aufgabe (z. B. Zahlenmauern mit einem festgelegten Deckstein aber frei zu wählenden Grundsteinen) mehrere richtige Lösungen und Lösungswege gab und es im Mathematikunterricht plötzlich darum ging, über die verschiedenen Bearbeitungen innerhalb der Klasse (und zwar mit allen Kindern gemeinsam) zu diskutieren. Ganz explizit blieb mir der Ausspruch einer Erstklässlerin, nennen wir sie Jessika, im Gedächtnis, mit der ich an der Aufgabe Finde verschiedene Aufgaben mit der Zahl 4 arbeitete. Auf die Frage, wie sie denn ihre aufgeschriebenen Zahlensätze (z. B. \(4+4=8\), \(4+3=7,\) *\(4+2=7,\) \(4-3=1\), \(4+0=4\), \(10-4=6\)) gefunden hätte bzw. welche Idee sie dazu gehabt hatte, erklärte das Mädchen: „Ich sehe auf meinem Kopf so viele Aufgaben.“, „Da waren alle Aufgaben weg. Da hab‘ ich noch eine Aufgabe gesehen, ganz hinten [in meinem Kopf].“ und „Ich sehe noch ein paar [Aufgaben].“ (Jessika, 7;7 Jahre, am 27.05.19). Über ihre bildhafte Erklärung oder Beschreibung ihrer Vorgehensweise betonte die Erstklässlerin, dass ihr die verschiedenen Zahlensätze frei (im Sinne von mathematisch unsystematisch) zu der gestellten Aufgabe und ihrer Bedingung, also Zahlensätze mit der Zahl 4 zu produzieren, eingefallen waren.

Werden diese konkreten unterrichtlichen Situationen so gedeutet, dass sie unterschiedliche Beispiele dafür darstellen, wie und bei welchen Aktivitäten Schüler*innen ihre Kreativität im Mathematikunterricht erfahren und zeigen können, dann scheint das Eingangszitat von Bauersfeld in jedem Fall zuzutreffen und aktuell zu sein. Kreativ zu sein bedeutet daher, dass Lernende insbesondere mathematisc, offene Aufgaben aufgrund ihrer entweder innermathematischen oder sachlichen Mehrdeutigkeit individuell und sinnstiftend bearbeiten (vgl. Neth & Voigt, 1991, S. 108–109). Eine mathematikdidaktische Forschung zu diesem Thema scheint somit bedeutsam, da die zuvor umschriebene Fähigkeit der Kreativität im Mathematikunterricht die Entwicklung mathematischer (prozessbezogener und inhaltsbezogener) Kompetenzen der Schüler*innen unterstützen kann (vgl. Kwon, Park & Park, 2006, S. 57–58). Obwohl die Kreativität von Schüler*innen in nationalen und internationalen Standards für den Mathematikunterricht ausdrücklich als zu fördernde Fähigkeit festgeschrieben ist (etwa KMK, 2004, S. 13; NCTM, 2003, S. 20–21, 116–117), stellt die mathematische Kreativität von Lernenden häufig nur ein Randthema in der aktuellen mathematikdidaktischen Forschung dar (vgl. Plucker et al., 2004, S. 84). Dies begründen die Autor*innen dadurch, dass das Konstrukt der Kreativität in nahezu jeder psychologisch-pädagogischen Domäne häufig nur implizit definiert wird (vgl. Kwon et al., 2006, S. 52; Plucker et al., 2004, S. 87; Sriraman, 2005, S. 20). An diesem Punkt müssen aktuelle mathematikdidaktische Forschungen ansetzen, um eine unterrichtspraktische Umsetzung und gezielte Förderung der Kreativität im Mathematikunterricht aller Schulstufen zu ermöglichen. Dies kann dann letztendlich zu einer Verhinderung dessen führen, dass „[…] discussing creativity often leaves people [like mathematics teacher] very confused“ (Plucker et al., 2004, S. 87).

Daher verfolgt diese mathematikdidaktische Arbeit zunächst das Ziel, das Konstrukt der Kreativität von Schüler*innen im Mathematikunterricht theoretisch aufzubereiten und so eine explizite Definition herauszuarbeiten. Diese soll nicht nur für Forschungszwecke, sondern vor allem auch als didaktisches Werkzeug von Mathematiklehrkräften eingesetzt werden können, um die mathematische Kreativität der Schüler*innen individuell analysieren zu können. Ausgehend von einer konkreten und unterrichtspraktischen Definition stellen sich dann weiterführende, übergeordnete Forschungsfragen: Inwiefern kann die mathematische Kreativität von Schulkindern bei der Bearbeitung passender mathematischer Aufgaben qualitativ charakterisiert werden? Und, inwiefern können Lehrer*innen die Lernenden darin unterstützen, ihre mathematische Kreativität zu zeigen und folglich auch weiterzuentwickeln?

Diese großen Forschungsfragen waren leitend für die Gestaltung des empirischen Teils meiner Dissertation. So wird in diesem die mathematische Kreativität von Schulkindern im Rahmen eines speziell für diese Studie konzipierten Teaching Experiments in den Blick genommen und qualitativ beschrieben, um so die theoretischen Ausführungen zur Kreativität von Schüler*innen zu erweitern und erste Konsequenzen für eine Förderung der Kreativität im Mathematikunterricht abzuleiten. Da etwa die Studie von Tsamir, Tirosh, Tabach & Levenson (2010, S. 228) zeigen konnte, dass vor allem auch jüngere Kinder, die weniger von algorithmischen Bearbeitungsweisen mathematischer Aufgaben beeinflusst sind, in ihrem mathematischen Denken offen und kreativ sein können, habe ich mich dafür entschieden, die mathematische Kreativität von Erstklässler*innen zu fokussieren. Die Forschungsergebnisse zur mathematischen Kreativität dieser jungen Schüler*innen kann so als Ausgangspunkt für die Entwicklung des Konstrukts der mathematischen Kreativität von Lernenden in der Grundschulzeit dienen.

Um dem Forschungsinteresse nachzugehen, gliedert sich die vorliegende Arbeit in drei große Teile:

Der erste Teil behandelt die theoretischen Grundlagen zur mathematischen Kreativität von Schüler*innen im Mathematikunterricht. Im ersten Kapitel wird ausgehend von einer Begriffsannäherung auf alltagsverständlicher Ebene und der Aufklärung existierender Mythen zu diesem Forschungsthema, die Notwendigkeit der Entwicklung einer expliziten Definition zur mathematischen Kreativität von Schulkindern erläutert (vgl. Abschn. 2.1). Es schließt sich daher eine detaillierte Betrachtung grundlegender (vgl. Abschn. 2.2) und inhaltlicher Aspekte (vgl. Abschn. 2.3) einer Begriffsbestimmung an, die in meiner Definition des Terms der individuellen mathematischen Kreativität von Schulkindern und in einem Modell ebendieser münden (vgl. Abschn. 2.4). Das Modell der individuellen mathematischen Kreativität von Schüler*innen (InMaKreS-Modell) stellt dabei ein zentrales theoretisches Framework dar, dass anschließend im empirischen Teil meiner Arbeit Anwendung findet. Dazu ist jedoch eine ausführliche theoretische Betrachtung passender Aufgaben notwendig, die es Schüler*innen ermöglichen, ihre mathematische Kreativität zu zeigen. Passend zur Definition der individuellen mathematischen Kreativität in dieser Arbeit werden daher (arithmetisch) offene Aufgaben besonders fokussiert (vgl. Kap. 3). Zudem werden mögliche Unterstützungsmöglichkeiten für Lehrer*innen präsentiert, die Lernenden das Zeigen ihrer Kreativität ermöglichen und erleichtern können (vgl. Kap. 4).

Im zweiten Teil dieser Arbeit findet eine ausführliche Darstellung des Forschungsdesigns statt. Ausgangspunkt für die methodische Planung und Durchführung der Studie bildet dabei die Herausarbeitung eines Forschungsdesiderats, das bereits in dieser Einleitung angerissen wurde, und die daraus resultierende Formulierung konkreter Forschungsziele und entsprechender Fragen (vgl. Kap. 5). Die Teaching Experiment-Methodologie (Steffe & Thompson, 2000), die in besonderer Weise für das Anliegen dieser Studie passend scheint und spezifisch für diese Studie adaptiert wird (vgl. Kap. 6), bildet den methodischen Rahmen meiner Arbeit. Darauf aufbauend wird die durchgeführte Mixed Methods-Studie dargestellt, die aus einem quantitativen Sampling-Verfahren (vgl. Abschn. 7.1) und aus einer qualitativen Studie (vgl. Abschn. 7.2 und 7.3), in der Unterrichtsepisoden mit Erstklässler*innen beobachtet werden, besteht.

Im dritten Teil meiner Dissertation werden die empirischen Forschungsergebnisse aus der Mixed Methods-Studie zur individuellen mathematischen Kreativität von Erstklässler*innen dargestellt. In Anlehnung an die Forschungsfragen und methodische Zweiteilung in der Durchführung der Studie findet in diesem Kapitel eine Vierteilung statt. Dazu wird das Sampling-Verfahren, bei dem die individuellen Voraussetzungen der Erstklässler*innen abgesteckt werden, präsentiert (vgl. Kap. 8). Danach werden die Ergebnisse der qualitativen Studie zur individuellen mathematischen Kreativität präsentiert, indem die Unterrichtsepisoden rekursiv durch die qualitative (und quantitative) Video-Inhaltsanalyse (Mayring et al., 2005) ausgewertet werden. So können zum einen die Kreativität der Erstklässler*innen qualitativ beschrieben und zum anderen Unterstützungsmöglichkeiten der Lehrkraft herausgearbeitet werden (vgl. Kap. 9 und 10). Außerdem werden die Ergebnisse zur individuellen mathematischen Kreativität auch in Verbindung zu den individuellen (Lern-)Voraussetzungen der Erstklässler*innen gesetzt (vgl. Kap. 11). Eine ausführliche Diskussion der Ergebnisse (vgl. Kap. 12) sowie ein Fazit (vgl. Kap. 13) runden meine Arbeit ab.