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1 Einleitung

In diesem Beitrag beschäftige ich mich mit dem Verhältnis von Teilhabe und Assistenz für Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung, die auch als Personen mit kognitiven Beeinträchtigungen beschrieben werden (Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft (DHG), 2021). Hierbei verstehe ich Teilhabe als eine Möglichkeit der Partizipation am Assistenzprozess aus Sicht dieses Personenkreises (Kotsch, 2012; Niediek, 2020; Wansing, 2005). Teilhabe ist deren Option an Prozessen der Planung, Organisation und Durchführung der Assistenz zu partizipieren und somit eigene Macht und Kontrolle über diese Prozesse zu erleben (Kopyczinski, 2016; Lutz, 2020; Lutz et al., 2016; Nind, 2014).

Assistenz ist eine professionelle Dienstleistung, die oftmals Bedingung zur Teilhabe bei Assistenzaktivitäten (z. B. Einkaufen, Kochen, Bügeln, Sport treiben) darstellt (DHG, 2021). Aus einer teilhabeorientierten Perspektive wird deshalb erwartet, dass Assistent*innen so begleiten und unterstützen, dass Teilhabe für Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung stattfinden kann (Feuser, 2011; Weber, 2002). Assistenz wird jedoch auch als soziale Beziehung verstanden, bei der zwei Personen Assistenzaktivitäten und -zielen nachgehen und zugleich durch den interaktiven Austausch darüber eine Beziehung formen, die emotional erlebt und ausgedrückt wird (Fisher et al., 2019; Shakespeare, 2014). Dies macht die Assistenzbeziehung zu einem wichtigen Konzept im Rahmen der Teilhabeforschung, dem bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde.

Mit diesem Vorverständnis von Teilhabe, Assistenz und der Assistenzbeziehung gehe ich in diesem Beitrag folgender Frage nach: Welche Rolle spielt die Assistenzbeziehung im Kontext der Teilhabe am Assistenzprozess für Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung?

Prägend für den vorliegenden Beitrag ist Artikel 19 (Unabhängige Lebensführung) der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) (United Nations, 2006). Dieser Artikel macht unter anderem darauf aufmerksam, dass Assistenz für Menschen mit Behinderungen so geleistet werden soll, dass sie Unterstützung für ein bedeutungsvolles und gutes Leben erfahren können (Johnson & Walmsley, 2010; Seifert, 2018), das sich durch die Förderung von gesellschaftlicher Teilhabe und dem Respekt vor der unabdingbaren menschlichen Würde auszeichnet. Assistenz soll bei der Realisierung dieses Menschenrechts unterstützend wirken, denn gemäß Artikel 19 haben Menschen mit Behinderungen das Recht auf personenzentrierte Assistenz, die sie in den Mittelpunkt von Entscheidungsprozessen über Assistenzangelegenheiten stellen und deren Selbstbestimmung im Sinne ihrer Wünsche darüber, wie sie ihr Leben führen möchten, fördern soll (Christensen et al., 2013).

Im vorliegenden Kontext sind Assistenzbeziehungen die Beziehungen zwischen erwachsenen Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung, die ein persönliches Budget (PB)Footnote 1 beziehen und deren Assistent*innen. Zur genaueren Untersuchung dieses Verhältnisses verwende ich ethnographische Feldnotizen und Zitate aus Interviews und Dokumenten über die Assistenz, die aus meiner Promotionsstudie über Assistenzbeziehungen (support work relationships) stammen (Lutz, 2020). Exemplarisch werden Situationen aus dem Alltag von zehn Assistenzpaaren aufgezeigt, in denen Formen der Teilhabe zum Ausdruck kommen, die durch die Assistenzbeziehung begünstigt und/oder behindert werden können. Diese Analysen sollen Aufschluss darüber geben, wie und wann Budgetnehmer*innen Teilhabe am Assistenzprozess durch die Assistenzbeziehung erfahren können. Ziel des Beitrags ist es, neue Erkenntnisse über die Relevanz der Assistenzbeziehung für die Teilhabeforschung zu gewinnen und auf die Verbindung beider Konzepte hinzuweisen.

2 Support work relationships: Eine Studie über Assistenzbeziehungen

Die Studie Support Work Relationships wurde von August 2014 bis März 2019 in Australien und Deutschland durchgeführt. Mithilfe der Institutionellen Ethnographie (IE) (z. B. Smith, 1990, 2005, 2006), einer Sozialtheorie und qualitativen Methodologie, untersuchte ich in beiden Ländern, wie beide Personen in der Assistenzbeziehung ihre Beziehung zueinander erlebten und wie das relationale Erleben von Assistenzbeziehungen durch die Art und Weise, wie Assistenz mit Hilfe eines PBs organisiert wird, beeinflusst wurde.

Traditionell werden in Institutionellen Ethnographien drei sozialwissenschaftliche Forschungsmethoden eingesetzt. Dies sind teilnehmende Beobachtungen, Interviews und die Selektion und Auswertung von politischen Dokumenten, die für die Forschungsfragen relevant sind. Im Rahmen der Studie habe ich an den Tagesaktivitäten von fünf Budgetnehmer*innen mit sogenannter geistiger Behinderung und deren Assistent*innen aus Australien und Deutschland über einen Zeitraum von 12 Monaten beobachtend teilgenommen. Zusätzlich wurden mit den Assistenzpaaren Einzelinterviews und dyadische Interviews durchgeführt. Da die Hälfte der Budgetnehmer*innen keine verbale Sprache als Mitteilungsform nutzte, aber ich deren Teilhabemöglichkeiten am Interview und deren Sichtweisen und soziale Lebenswelten (Hitzler & Eisewicht, 2016) privilegieren wollte, führte ich mit diesem Personenkreis ethnographisch-partizipative Interviews mit kreativen Methoden durch (Lutz et al., 2016). Dieser Ansatz beinhaltete, dass ich im Rahmen einer nicht strukturierten teilnehmenden Beobachtungsform, bei der die Teilnahme und nicht die Beobachtung im Vordergrund stand, mich zunächst darauf konzentrierte, die subjektive Lebenswelt der Budgetnehmer*innen zu erfassen, um deren Interessen und Kommunikationsformen besser kennen zu lernen.

Für die Entwicklung einer vertrauensvollen Beziehung mit den Studienteilnehmenden und für das Hervorheben der Assistenz-Themen, die diese bewegten, war es jedoch viel wichtiger, dass ich kreativ und flexibel blieb und mich auf deren Kommunikationsformen (z. B. Kommunikations-App auf dem iPad, Tippen von Aussagen in ein Word-Dokument, Interesse an Bildern in einem Interviewleitfaden oder einer Einverständniserklärung in einfacher Sprache) einließ. Ergänzend hierzu führte ich in jeweils beiden Ländern zehn Interviews mit Personal in Leitungsfunktionen von Dienstleistern der Behindertenhilfe durch und analysierte Dokumente über die Assistenz (z. B. Assistenzpläne, Zielvereinbarungen, Leitbilder und Konzeptionen der Dienstleister).

Die Auswertung des Datenmaterials wurde mithilfe der analytischen Vorgehensweise der IE in Verbindung mit der Methode der Thematic Analysis (Braun & Clarke, 2013) durchgeführt. Das analytische Vorgehen in der IE beginnt mit der induktiven Exploration der everyday experience (Alltagserleben) der focus people (beide Personen in der Assistenzbeziehung) und untersucht im Anschluss daran, wie das Alltagserleben durch die ruling relations (übergeordnete politische Rahmenbedingungen und Prozesse, die Einfluss auf das Alltagsleben der Personen nehmen) beeinflusst wird (Smith, 2005, 2006).

Dieses analytische Vorgehen hat die Auswertung des Datenmaterials im vorliegenden Beitrag beeinflusst. Sie fokussiert jedoch einen anderen Aspekt, der sich im Zuge der Analyse herauskristallisierte; und zwar das Verhältnis zwischen Teilhabe von Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung am Assistenzprozess und die Qualität der Assistenzbeziehung per se. Im Rahmen der vorläufigen Auswertung mit der qualitativen Software NVivo wurde das deskriptive ethnographische Datenmaterial nach der Beschreibung der Personen im Feld, vor allem der Budgetnehmer*innen und deren Assistent*innen, der Assistenzaktivitäten und der Organisation der Assistenz codiert und geordnet. Dadurch entstanden zehn Vignetten. Ein Teil dieses deskriptiven Materials verwende ich in diesem Beitrag, um dessen analytischer Frage nachzugehen. Bevor dies erfolgt, werden die zehn Assistenzpaare kurz vorgestellt.

3 Die Assistenzpaare

3.1 Die Paare in Australien

Felix Adler war zum Zeitpunkt der Feldforschung 26 Jahre alt und lebte gemeinsam mit seinen Eltern in einem größeren Haus. Als Budgetnehmer bezog er ein PB für Wohn- und Freizeitassistenz. Michael Madden war 28 Jahre alt und assistierte Felix seit sechs Jahren.

Elsa Hale war Anfang 30, erhielt ein PB für Freizeitassistenz und lebte in einer Wohngruppe mit zwei anderen jungen Frauen. Elizabeth Sweeney war seit circa einem Jahr Elsas Bezugsassistentin (key Yorkerworker) und fast 70 Jahre alt.

Lachlan Doherty war 46 Jahre alt und lebte mit seinem Kumpel Paul in einem größeren Haus. Er bezog ein PB für Wohnassistenz. Lachlan und Paul hatten einen größeren Unterstützerkreis von Assistent*innen. William MacArthur war 38 Jahre alt und arbeitete seit fünf Jahren mit Lachlan.

Jeff Hughes war 19 Jahre alt und erhielt ein PB für eine tagesstrukturierende Maßnahme, an der er jede Woche von montags bis donnerstags teilnahm. Jeff hatte dort mehrere Assistent*innen, aber Linda Schneider galt als seine Bezugsassistentin. Linda war Anfang 30 und arbeitete seit sechs Monaten mit Jeff.

Jack Chesterman war ein 40 Jahre alter Mann mit einem PB, das Wohnassistenz bei seinen Eltern finanzierte. Samantha White war fast 60 Jahre alt. Jeden Freitagnachmittag kochten die beiden zusammen.

3.2 Die Paare in Deutschland

Yelena Weigel war Mitte 20 und bezog ein PB für Wohnassistenz. Sie lebte alleine in einer Wohnung. Maria Baumann war eine 22 Jahre alte Studentin und war seit circa sechs Monaten die Assistentin von Yelena.

Helene Gehm war Ende 20 und bezog ein PB für Wohn- und Freizeitassistenz. Emma Lange war ihre Assistentin und doppelt so alt wie Helene. Die beiden Frauen kannten sich seit elf Jahren.

Lisa Kaufmann war fast 30 Jahre alt und bezog ein PB für die Bereiche Freizeit und Wohnen. Lisa lebte bei ihren Eltern. Lydia Kupfer war Anfang 60 und die Wohnassistentin von Lisa. Die beiden Frauen arbeiteten seit fünf Jahren zusammen.

Thomas Eckerts war Mitte 20 und wohnte mit vier weiteren Personen mit Behinderungen in einer Wohngemeinschaft. Thomas erhielt ein PB für die Bereiche Wohnen und Arbeit. Luke Nold war Ende 30 und assistierte Thomas und dessen Mitbewohner*innen bei Freizeit- und Haushaltsaktivitäten. Thomas und Luke kannten sich seit vielen Jahren.

Anja Kaltschmidt war eine 26-jährige Frau, die in einem größeren Wohnheim mit 17 Menschen mit Behinderungen lebte. Laura Feldmaus war Anfang 50 und die Bezugsassistentin von Anja und drei anderen Personen innerhalb des Wohnheims.

4 Analysen zum Verhältnis von Teilhabe und Assistenz

Im Zuge der vorliegenden Analyse, die von der Frage – welche Rolle spielt die Assistenzbeziehung im Kontext der Teilhabe am Assistenzprozess für Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung? – geleitet wurde, emergierten zwei zentrale Themen, die im Folgenden über das Verhältnis von Teilhabe und Assistenz informieren. Diese Themen sind Teilhabe und interpersonale Exploration und Teilhabe und Machtverteilung in der Assistenzbeziehung.

4.1 Teilhabe und interpersonale Exploration

Ein zentrales Thema der untersuchten Assistenzbeziehungen war die interpersonale Exploration innerhalb der Beziehung. Dies war ein Prozess des gegenseitigen Kennenlernens und umfasste das Explorieren der eigenen und anderen Person.

In der Beziehung von Felix und Michael wurde dieser zwischenmenschliche Prozess durch deren Körpersprache sehr deutlich (z. B. liebevolles Scherzen, miteinander Raufen). Michael war mit den nonverbalen Ausdrucksformen von Felix vertraut und wusste diese zu interpretieren. Diese Vertrautheit half Michael dabei, die emotionalen Gefühlslagen von Felix besser zu verstehen und das Gefühl des Verstandenwerdens half Felix dabei, Michael zu vertrauen. In diesen Momenten, in denen Felix sich von Michael verstanden fühlte und er sich körperlich ausdrücken konnte, neigte er dazu, an den Assistenzaktivitäten mit Michael teilzunehmen und sich auf diese einzulassen. Wenn Felix das Gefühl des Verstandenwerdens nicht erhielt, schien seine Bereitschaft für die Teilhabe an Assistenzaktivitäten zurück zu gehen. Wenn er sich den Aktivitäten entzog, schien auch die emotionale und körperliche Verbindung zwischen den beiden Männern abzubrechen.

Dieses Entziehen oder Mitmachen wurde durch Vorgaben bzw. Erwartungen dritter Personen beeinflusst. Oftmals verschwand das Interesse von Felix, wenn die Eltern von Felix Vorstellungen und Ideen zu den Aktivitäten an Michael herantrugen und erwarteten, dass beide Männer diesen nachgingen, ohne Felix adäquat an diesem Entscheidungsprozess teilhaben zu lassen. Zum Beispiel betonte Michael oft das Wort Weiterentwicklung (Progress) und bezogen auf die Schwimmaktivität, die laut Michael die Lieblingsaktivität von Felix war, bedeutete dies für Michael, dass Felix so lange wie möglich im Wasser blieb: “Als er in der Lage war, zwei Runden im Pool zu schwimmen… als wir das seinen Eltern erzählten… wir waren alle so glücklich”. Ich beobachtete, dass Felix nie lange im Wasser verweilen wollte. In den Momenten, in denen er aus dem Wasser flüchtete, versuchte Michael die Aufmerksamkeit von Felix zurückzugewinnen. In den Situationen, in denen Michaels Fokus nicht mehr auf die Bedürfnisse und Interessen von Felix gerichtet war, schien sich nicht nur die Verbindung zwischen beiden Männern aufzulösen, sondern auch Felix das Interesse an den Aktivitäten zu verlieren, sich körperlich zu distanzieren und aus dem Assistenzprozess auszusteigen. Das Erreichen der Assistenzziele schien für Felix nicht oberste Priorität zu haben. Es schien ihm viel wichtiger zu sein, Spaß an den Aktivitäten mit Michael zu haben. Wenn er diese Freude empfand, die er durch ein Lächeln, breites Grinsen und ein Lachen ausdrückte, dann zeigte Felix, dass er die Anwesenheit von Michael schätzte (z. B. in dem er ihm die Stirn küsste oder ihn umarmte). Diese interpersonale Verbindung bot eine Grundlage für die Förderung der Teilhabe von Felix an dessen Assistenzaktivitäten.

An der Studie nahmen auch Assistenzpaare teil, die sich noch nicht so lange kannten wie zum Beispiel Linda und Jeff. Obwohl Linda die Bezugsassistentin von Jeff war, arbeiteten beide nur eine Woche pro Monat zusammen. Dies lag daran, dass Jeff einer Gruppe innerhalb der tagestrukturierenden Maßnahme (day centre) angehörte und die Assistent*innen dieser Maßnahme rotierten. Die Rotation beinhaltete, dass Jeff jede Woche mit einem/einer anderen Assistent*in zusammenarbeitete. Dies verlangsamte den Prozess des gegenseitigen Kennenlernens. Sehr selten beobachtete ich, dass Linda ausschließlich mit Jeff arbeitete. Jeff ‚teilte‘ sich Linda mit den anderen Teilnehmenden der Maßnahme. Linda empfand dies (und so teilte sie das auch mit) als ein „Zerreißen ihrer eigenen Person in mehrere Stücke“, was nicht nur die Beziehung zwischen Linda und Jeff beeinflusste, sondern auch Jeffs Teilhabemöglichkeiten an der Assistenz.

Während der ethnographischen Feldforschung konnte ich ein paar wenige Situationen beobachten, in denen sich Linda Jeff vollkommen zuwandte. Oft geschah dies am Nachmittag, wenn die Gruppen von ihren Tagesausflügen zurück ins day centre kamen. Einmal organisierte Linda eine Malaktivität für Jeff, die er sichtlich genoss.

Jeff lief zum Kunstraum. Linda ging ihm nach und nutzte das Handzeichen für Malen. Dabei blieb sie in Blickkontakt mit Jeff. Jeff lächelte sie an und schien erfreut über ihren Vorschlag. Dort bereiteten die beiden die Malaktivität vor. Jeff saß auf einem Stuhl und Linda brachte ihm Pinsel und Malfarbe. Jeff fing an, den in Farbe getauchten Malpinsel auf dem Papier zu bewegen. Dann brachte Linda ein Papier in den Raum, auf dem Jeffs Name stand. Sie ermutigte ihn die Buchstaben zu bemalen, was er tat. (Feldnotizen)

In dieser Situation erfuhr Jeff die volle Aufmerksamkeit von Linda. Er konnte erleben, dass seine Assistentin sich nach seinen Bedürfnissen erkundigte und sich Zeit nahm, auf diese einzugehen. Diese Art von interpersonaler Exploration unterstützte Jeff dabei, Vertrauen zu Linda zu entwickeln – ein Vertrauen darin, dass er letztlich ihre Aufmerksamkeit bekam. Malen wurde nicht als Ziel in Jeffs Assistenzplan beschrieben, sondern als Lieblingsaktivität im Plan vermerkt. Die Malaktivität geschah nur im Kunstraum der Tagesgruppe und nicht während der Tagesausflüge. Das Setting in der Tagesgruppe schien bessere Teilhabemöglichkeiten zu offerieren als die Umgebungen außerhalb der Tagesgruppe und bot dem Assistenzpaar einen Rückzugsort, wo sie ihre Beziehung anhand einer Assistenzaktivität, die Jeff Freude bereitete, pflegen konnten.

Ähnliche Beobachtungen waren in der Beziehung zwischen Thomas und Luke zu verzeichnen. Luke leistete Thomas und seinen Mitbewohner*innen zeitgleich Assistenz. Thomas erhielt keine Eins-zu-eins-Assistenz, was manchmal dazu beitrug, dass nicht genügend Zeit für einen Austausch zwischen beiden Männern stattfand. Dadurch schienen die Bedürfnisse von Thomas manchmal nicht von Luke ausreichend gehört zu werden. Dies wurde in einer Situation deutlich, in der Luke, Thomas und dessen Mitbewohner*innen einen Lebensmitteleinkauf machten.

Ein Teil von uns stand schon an der Kasse. Thomas rannte plötzlich zu einem anderen Regal und streckte seinen Arm nach dem Keyboard auf dem Regal aus. Er versuchte das Keyboard vom Regal zu holen und grinste Luke an. Luke sah dies, ging zu Thomas und sagte mit strenger Stimme: „Du hast ein Keyboard zu Hause, Thomas”. (Feldnotizen)

Im Vergleich zu seinen Mitbewohner*innen konnte Thomas nicht in vollen Sätzen sprechen. Wenn er frustriert über seine begrenzte Teilhabe an den Aktivitäten war, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich von der Gruppe zu trennen. In diesen Momenten schien er sich Luke und der Gruppe nicht zugehörig zu fühlen, aber sich dennoch nach deren Aufmerksamkeit zu sehnen. Luke schien Schwierigkeiten zu haben, die Motivation hinter Thomas’ Verhalten (Wegrennen) zu interpretieren und darauf einzugehen. Das nicht ausreichende Eingehen auf die Bedürfnisse von Thomas hatte Einfluss auf seine Teilhabe an Aktivitäten.

Wenn Zeit für ein Miteinander bzw. für die Zweisamkeit gegeben war, konnte eine gewisse Verbindung zwischen beiden Personen entstehen. Diese Verbindung wurde sichtbar, wenn man sich voll und ganz auf den anderen konzentrierte und offen für den anderen war. Diese Bereitschaft offen für den anderen zu sein, brachte eine wechselseitige Wertschätzung mit sich. Dies wurde bspw. auch in der Beziehung zwischen Yelena und Maria deutlich.

Maria setzte sich neben Yelena. Sie sah Yelena lächelnd in die Augen. Es war ein zentrierter und langer Blickkontakt zwischen beiden Frauen. Yelena rülpste. Maria lachte und sah Yelena sanft und liebevoll an. Yelena hielt einen ruhigen und friedlichen Blickkontakt zu Maria. (Feldnotizen)

Es fand ein nonverbaler, achtsamer Austausch von intimer Wertschätzung und Zuneigung durch Blickkontakt und Lächeln statt, den ich mehrmals zwischen Yelena und Maria beobachten konnte. Im Laufe der Zusammenarbeit konnte Yelena erleben, dass Maria mit ihrer Kommunikationsweise (z. B. Aufschreiben von Wörtern auf Papier, Gesichtsausdrücke, Laute und Körpersprache) vertraut wurde und ihre Interessen, Abneigungen und Vorzüge besser verstand. Dieses Wissen über Yelena unterstützte Maria dabei, die Assistenz so zu leisten, dass diese auf Yelenas Bedürfnisse abgestimmt waren. Dies äußerte sich darin, dass dann die Aktivitäten verfolgt wurden, an denen Yelena Interesse hatte. Allerdings konnte sich dieses Wissen über Yelenas Bedürfnisse auch anhand von Missverständnissen entwickeln.

Yelena aß schnell. Maria fragte sie: „Beeilst du dich, weil du noch spazieren willst?” Yelena bejahte indem sie Maria anlächelte. Maria erzählte, dass Yelena eines Tages nicht essen wollte, aber total hungrig war, als sie vom Spaziergang zurückkamen. Sie realisierte dann, dass Yelena nicht essen wollte, weil sie weniger Zeit für einen Spaziergang gehabt hätten. (Feldnotizen)

Die anfängliche Herausforderung des Nicht-Wissens darüber, was Yelena wirklich wollte, war wichtig, um herauszufinden, was Yelenas Prioritäten waren. Diese Missverständnisse führten oft zu Frustration und Hilflosigkeit, boten aber auch eine Chance für die weitere Exploration der Bedürfnisse des anderen.

Begrenzte gemeinsame Zeit für interpersonale Exploration behinderte die Entstehung von Teilhabemöglichkeiten für Budgetnehmer*innen an deren Assistenz. Zum Beispiel wurde bei Elizabeth und Elsa deutlich, dass beide recht wenig Zeit miteinander verbrachten. Elizabeth verbrachte die meiste Zeit im Mitarbeiter*innen-Zimmer der Wohngruppe. Dieses Zimmer wurde immer abgeschlossen, sodass Elsa und ihre beiden Mitbewohner*innen keinen Zugang zu diesem Zimmer erhielten. Elsa musste warten, bis Elizabeth aus dem Zimmer kam, was Elizabeth erst am Abend tat. Dann schloss sie die Küchentür und die Küchenschränke auf, damit Elsa und ihre Mitbewohner*innen Abendbrot richten konnten. Ich erfuhr nie, was Elizabeth den ganzen Nachmittag im Mitarbeiter*innen-Zimmer tat, da ich mich in der Nähe von Elsa aufhielt, die stets offen für den kommunikativen Austausch mit Elizabeth war. Wann auch immer Elizabeth ihr begegnete, erkundigte sie sich nach ihr und deren Familie. Sie wollte sich mitteilen und Elizabeth von ihrem Tag in der Tagesgruppe berichten. In den Interviews mit Elizabeth und Elsa wurde deutlich, dass sich beide Damen mehr „one-on-one time“ (gemeinsame Zeit) wünschten. Es schien, als ob der Raum, in dem Elsa und Elizabeth Zeit miteinander verbringen hätten können, durch bestimmte Regulationen wie die administrativen Aufgaben von Elizabeth eingeschränkt wurden. Nach Angaben von Elizabeth dokumentierte sie Elsas Assistenz im Mitarbeiter*innen-Zimmer. Diese soziale Praxis schien Elsas Rolle als Budgetnehmerin nicht ausreichend zu beachten und begrenzte die gemeinsame Zeit der beiden Frauen. Diese gemeinsame Zeit hätte Elizabeth vielleicht dabei geholfen, Elsas Bedürfnisse besser wahrzunehmen, ihre Interessen näher kennen zu lernen und sie in die Dokumentation der Assistenz einzubinden. Eine engere Form der Zusammenarbeit wäre ggf. eine Grundlage für die aktive Teilhabe von Elsa an ihrer Assistenz in der Wohngruppe gewesen.

4.2 Teilhabe und Machtverteilung

Teilhabe von Budgetnehmer*innen innerhalb der Assistenzbeziehung wurde neben dem Eingehen auf und Verstehen von Bedürfnissen durch interpersonale Exploration auch durch die Verteilung von Macht, die Anteile von Kontrolle über Planung, Organisation und Durchführung der Assistenz, bedingt. Machtverteilung wurde durch die Einnahme und das Ausfüllen von Rollen in der Beziehung deutlicher und die damit einhergehenden Interaktionen zwischen beiden Personen.

Als ich mit Lachlan über William und die Assistenzaktivitäten im Einzelinterview sprach, sagte er „Gärtnern“, aber sein Kommunikationsverhalten (z. B. wenige Worte, unklare Sprache, ruhige und introvertierte Erscheinung) verriet nicht, ob ihm die Aktivitäten mit William Spaß machten. William teilte mit, dass er Lachlans Eltern als seine Arbeitgeber*innen sah und nicht Lachlan, den Budgetnehmer.

William erklärte mir, dass es Catherine (Lachlans Mutter) ein Bedürfnis war, dass wir heute zu einem bestimmten Café in der Nachbarschaft gingen. Lachlan mochte das Café nicht, aber würde dies niemals seiner Mutter sagen, die es bevorzuge, dass Lachlan dort mit anderen Personen in Kontakt tritt, berichtete William. (Feldnotizen)

Als wir im Café waren, gab Lachlan weder einen Hinweis darauf, dass er die Zeit dort genoss, noch, dass er sich unwohl fühlte. William war jedoch auf die Vorstellungen von Catherine fokussiert, was Lachlans Teilhabe an den Entscheidungen über seine Aktivitäten beeinflusste. Diese Regulationen (die zentrale Rolle der Mutter im Entscheidungsprozess über die Assistenz) positionierten Lachlan so, dass er nur auf Entscheidungen reagieren, aber sie selbst nicht treffen konnte. Die Erfahrung, dass William zuerst ihn fragte, um sich nach seinen Vorzügen zu erkundigen und dadurch seine Teilhabechancen zu erhöhen, blieb ihm oftmals verwehrt. William behielt meist die Kontrolle über die Entscheidungen, da er sich an den Wünschen von Catherine orientierte. Diese asymmetrische Verteilung von Macht innerhalb der Assistenzbeziehung verhinderte, dass Lachlan stärker ins Zentrum von Entscheidungsprozessen rücken konnte.

Die ungleiche Verteilung von Macht in Form von Kontrolle wurde auch in den Interaktionen zwischen Jack und Samantha deutlich. Im dyadischen Interview antwortete Samantha meist zuerst und definierte ihre Beziehung zu Jack als „professionelle Beziehung mit Spaß”. Sie sagte, dass sie aufgrund des Arbeitsverhältnisses nicht mit Jack befreundet sei und unterschied zwischen einer Arbeitsbeziehung und einer Freundschaft. Jack bestätigte diese Aussage und erklärte, dass sie “eine bestimmte Art von Beziehung” hätten und sie sich beide in ihrem Humor ähnelten, was die Beziehung funktionsfähig mache. Samantha dominierte diese Unterhaltung durch eine deutliche und starke Stimme. Für sie war klar, dass die Assistenzbeziehung nicht auf einer Freundschaft beruhte, aber sie fragte Jack nicht, wie er dies sah. Seine Chancen an einer möglichen Definition der Assistenzbeziehung teilzuhaben, wurden dadurch begrenzt, dass die Art der Beziehung für Samantha bereits klar war und sie die Beschreibung als erste deutlich formulieren konnte. Jack konnte dann nur noch signalisieren, ob die Beschreibung für ihn passte oder nicht. Samantha schien die Macht über die Definition und Beschreibung der Beziehung inne zu haben und konnte somit die Entwicklung und Dynamik dieser Beziehung besser kontrollieren.

Im Abschn. 4.1 wurde deutlich, dass die Dauer der Zusammenarbeit eine wichtige Grundlage für interpersonale Exploration war. Allerdings hatte sie auch Potenzial für die Manifestierung von bestimmten Dynamiken der Machtverteilung.

Diese Thematik wurde in der Beziehung von Helene und Emma sehr spürbar. Die Beziehung beider Frauen hatte eine Geschichte, die sie miteinander verband. Auch wenn ich diese Verbundenheit zwischen den Frauen in Form von Zuneigung hin und wieder beobachtete, wurde ich auch immer wieder Zeugin von Spannungen zwischen ihnen. Ich bekam häufig den Eindruck, dass Helene spürte, dass Emma sie nicht als erwachsene Person sah, die die Kapazität hatte, ihr eigenes PB zu managen. Helene war erwachsen, aber Emma berichtete mir, dass es sich manchmal anfühle, als würde sie mit einem kleinen Kind zusammenarbeiten. Sie elaborierte, dass Helene oftmals den Gesprächen zwischen Kerstin (Helenes Mutter) und ihr nicht folgen könne, bei denen es auch um die Organisation der Assistenz ginge. In diesem Kontext gestand Emma, dass sie sich meist hin- und hergerissen fühle zwischen Kerstins Wünschen und denen von Helene. Emma sah Kerstin als Arbeitgeberin, da diese das PB von Helene administrierte. Dass Helene nicht adäquat in die Assistenzgespräche eingebunden war und nicht die Kontrolle über das Management des PBs hatte, beeinflusste Emmas Verhalten gegenüber Helene.

Helenes Assistenzplan beinhaltete das Ziel Ablösung von der Mutter, aber die Art und Weise, wie Emma Assistenz leistete, schien Helene nicht immer dabei zu unterstützen, sich unabhängig von der Mutter zu machen und mehr Macht über die Organisationsprozesse der Assistenz zu erhalten. Helene teilte mit, dass Emma und Kerstin bestimmten, was sie an den Assistenztagen tat. Das machte Helene oft wütend. Sie wirkte frustriert, wenn sie merkte, dass man sie nicht als eigenständige Entscheidungsträgerin anerkannte. Dies drückte sie meist so aus, dass sie Emma anmotzte und aus dem Gespräch ausstieg.

Ich fragte Helene: „Weißt du, wie ich mit der Straßenbahn zum großen Einkaufszentrum komme? Da möchte ich heute Nachmittag noch hin.“ Emma antwortete sofort: „Du musst am Marktplatz umsteigen.“ Verspätet sagte Helene das gleiche wie Emma. Emma sagte dann zu Helene: „Hast du gesehen, dass sie neues Personal im Biomarkt haben?“ Helene antwortete schnippisch: „Natürlich, ich bin doch nicht dumm.“ Emma schwieg. (Feldnotizen)

Es geschah häufig, dass ich Helene etwas fragte und Emma für Helene antwortete. Helenes Bedürfnis für sich selbst zu sprechen schien nicht adäquat von Emma berücksichtigt zu werden. Dies belastete die Beziehung insofern, als Macht und Kontrolle nicht ausreichend von Seiten der Assistentin auf die Budgetnehmerin übertragen wurden. Dies hatte zur Folge, dass Helene nicht die zentralen Entscheidungen über ihre Assistenz traf und ihre Teilhabe an der Assistenz damit deutlich eingeschränkt wurde.

Die meisten Budgetnehmer*innen und Assistent*innen hatten ein sehr begrenztes Wissen über die Art und Weise, wie die jeweilige Assistenz organisiert war. Lisa war eine Ausnahme und wusste sehr viel über die Finanzen und Rahmenbedingungen ihrer Assistenz. Sie hatte die Macht darüber, anderen Personen in ihrem Umfeld zu widersprechen und tat dies auch. Das Wissen über bestimmte Abläufe und deren Folgen für ihre Teilhabe- und Mitsprachemöglichkeiten gaben Lisa ein gewisses Selbstbewusstsein, um sich durchzusetzen. Sie hatte keine Scheu zu sagen, was sie wollte und brauchte. Dies wurde sehr deutlich in der Zusammenarbeit mit Lydia, ihrer Assistentin. Allerdings schien dies auch durch die Haltung von Lydia gegenüber Lisa begünstigt zu werden. Während der Assistenzaktivitäten nahm ich Lydias Kommentare als Vorschläge und Hinweise wahr und nicht als Befehle. Beide Frauen führten die Aktivitäten gemeinsam durch, die von Lisas Interessen geleitet wurden. Lydia nahm sich hierbei zurück und gab Lisa Raum und Zeit, selbst Entscheidungen zu treffen.

Ich streckte den Arm aus, um den Lachs auf dem Regal greifen zu können. Ich sah Lisa an und fragte: „Eine oder zwei Packungen?” Lisa sagte: „Zwei Packungen.“ Dann fragte Lydia: „Hast du genug Geld?” Ich sah auf das Preisschild und nannte den Preis. Lisa überprüfte die Lebensmittel und ihr Guthaben. Sie sagte zu Lydia, dass sie genug Geld für den Einkauf habe. Lydia sagte: „Okay” und Lisa bat mich, eine zweite Packung vom Regal zu holen. (Feldnotizen)

Lisa konnte Aufgaben delegieren und ihre Ansprüche geltend machen. Lydia passte sich in der Regel an und folgte Lisas Instruktionen. In dieser Beziehung hatte Lisa die Macht, Entscheidungen über ihre Assistenz zu fällen, was unter anderem durch ihr Wissen über und Verständnis von Abläufen im Rahmen ihrer Assistenz begünstigt wurde.

Wenn Assistent*innen jedoch ein besseres Verständnis dieser Abläufe besaßen, war es umso wichtiger, dass dieses Wissen mit Budgetnehmer*innen geteilt wurde und es Einfluss auf die Haltung der Assistent*innen nahm. Zum Beispiel hatte Laura mehr detailliertes Wissen über die Assistenz von Andrea, aber kompensierte dies mit einer gewissen Zurückhaltung, die Andrea mehr Kontrolle über deren Assistenzaktivitäten ermöglichte.

Laura erinnerte Andrea an die anstehenden Aktivitäten. Sie tat dies, indem sie fragte: „Was waren die vier Dinge, die wir uns für heute vorgenommen haben?” Andrea überlegte ein paar Sekunden und sagte: „Kleider einkaufen und in die Apotheke gehen.“ Sie hörte auf zu reden und sah Laura an, die dann sagte: „Und dann kaufen wir dir noch eine Telefonkarte auf dem Rückweg und jetzt können wir uns was zum Essen kaufen.“ (Feldnotizen)

Laura machte oftmals Vorschläge, die Andrea als sanfte Erinnerungen an die nächsten Aktivitäten wahrzunehmen schien. Laura war bereit, Macht an Andrea abzugeben, damit diese an Entscheidungen über die Durchführung der Aktivitäten besser teilhaben konnte. Lauras Verständnis ihrer eigenen Rolle und der zugrundeliegenden Intention von Assistenz nahm Einfluss auf Andreas Übernahme von Kontrolle und deren Teilhabe an den Aktivitäten.

5 Diskussion

Dieser Beitrag ging der Frage nach, welche Rolle die Assistenzbeziehung im Kontext der Teilhabe am Assistenzprozess für Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung spielt.

Die ethnographischen Analysen zeigen, dass der Qualität der Assistenzbeziehung eine wesentliche und entscheidende Rolle in der Entwicklung eines Verständnisses von Teilhabeprozessen im Rahmen der Assistenz für Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung zukommt. Sie kann als Medium bzw. Mittel zur Teilhabe an der Assistenz dienen und stellt somit eine Voraussetzung für Teilhabe dar. Darüber hinaus zeigt das analysierte Datenmaterial, dass die Assistenzbeziehung als solches Medium Teilhabe behindern und begünstigen kann.

Ob die Assistenzbeziehung die Teilhabe von Budgetnehmer*innen begünstigt, war von mehreren Faktoren abhängig. Zum Beispiel benötigten die Paare genügend Zeit für die Pflege ihrer Beziehung. Diese Pflege geschah, indem man sich aufeinander einließ und sich kennen lernte. Diese Art von interpersonaler Exploration unterstützte Assistent*innen dabei, sich in die emotionalen Gefühlslagen von Budgetnehmer*innen hineinzudenken; vor allem, wenn diese ihre Bedürfnisse verbal nicht ausdrücken konnten und gab Budgetnehmer*innen die Gelegenheit wahrzunehmen, dass sich jemand für ihre Bedürfnisse interessierte.

Diese Explorationszeit war oftmals begrenzt, da Assistent*innen noch anderen Aufgaben nachgingen (z. B. administrative Aufgaben, zeitgleiches Arbeiten mit anderen Personen). Interpersonale Exploration bestand darin, dass Assistent*innen vermittelten, dass sie die Budgetnehmer*innen verstanden, auf diese eingingen und sie nicht werteten. Dieses Gefühl der Annahme und des Gewürdigt-Werdens schien dazu beizutragen, dass sich ein Vertrauen in der Assistenzbeziehung etablierten konnte und die Teilhabe von Budgetnehmer*innen am Assistenzprozess begünstigte. Wenn sich Budgetnehmer*innen missverstanden oder unbeachtet fühlten, hatte dies meist zur Folge, dass sie sich der Assistenzbeziehung entzogen (z. B. durch wegrennen, wütend werden, ignorieren). In diesen Momenten lehnten sie dann auch die Teilhabe an der Aktivität ab.

Die sozialen Interaktionen der Assistenzpaare gaben Auskunft darüber, wie sich die Personen in Beziehung zum anderen sahen, sich darin positionierten und wie sie Macht innerhalb der Beziehung in Anspruch nahmen. Dies wurde sowohl durch die Umgebung (z. B. Ort, Räumlichkeiten) als auch durch die Bedürfnisse und Wünsche dritter Personen (z. B. Mütter, Mitbewohner*innen der Budgetnehmer*innen) innerhalb eines ethnographischen Settings geprägt. Diese Dynamiken beeinflussten die Entwicklung von Teilhabemöglichkeiten bei der Gestaltung der Beziehung, welche wiederum Einfluss auf die Entstehung von Teilhabemöglichkeiten bei der Organisation und Durchführung der Aktivitäten nahm.

Die Verteilung von Macht innerhalb der Beziehung wurde auch durch das Wissen und Nicht-Wissen beider Personen über die Rahmenbedingungen der Assistenz und übereinander bedingt. Das Wissen über die Assistenz konnte für Budgetnehmer*innen ermächtigend wirken. Dies wurde nur in einem Setting deutlich und wirkte sich positiv auf den Teilhabeprozess aus. Die Übernahme von Macht durch das Wissen von Assistent*innen über die Assistenz konnte wiederum durch deren reflexive Haltung reguliert werden. Sie konnten unter anderem auch beeinflussen, wieviel Kontrolle und Entscheidungsfreiheit sie Budgetnehmer*innen während der Ausführung der Aktivitäten übertrugen.

6 Konklusion

Dieser Beitrag fokussierte Teilhabe innerhalb einer relationalen Assistenzpraxis. Im Rahmen der Assistenzbeziehung sind Assistent*innen dazu aufgefordert, die Bedürfnisse, Interessen und Präferenzen der Budgetnehmer*innen durch einen Vorgang der zwischenmenschlichen Exploration genau zu erfassen, damit Assistenzleistungen auf die Bedürfnislagen von Budgetnehmer*innen angepasst werden.

Interpersonale Exploration ist ein Austausch innerhalb der Assistenzbeziehung, der es beiden Personen ermöglicht, die Bedürfnisse des anderen kennen zu lernen und ein Verständnis davon zu entwickeln, wie man auf diese eingeht, damit Freude, Wertschätzung, Verbundenheit und Vertrauen entstehen können. Erst dann können Budgetnehmer*innen mit sogenannter geistiger Behinderung an ihren Assistenzaktivitäten teilhaben und ggf. eine Zunahme an Macht in Form von Kontrolle und Entscheidungsfreiheit bei der Planung, Organisation und Durchführung von Aktivitäten erleben.

Budgetnehmer*innen sind jedoch auch Leistungsberechtigte und im Sinne von Artikel 19 der UN-BRK ist es die Aufgabe der Assistent*innen, die Bedürfnisse der Budgetnehmer*innen kennen zu lernen, um Assistenzaktivitäten zu organisieren (United Nations, 2006). Diese Vorgabe bedeutet jedoch keineswegs, dass das Eingehen auf und das Verstehen von Bedürfnissen einseitig ist. Auch Budgetnehmer*innen sollten ihre Assistent*innen kennenlernen und wissen, wie man auf diese eingeht (Lutz, 2020). Teilhabe an der Assistenz ist ein relationaler Prozess, der auf ständigen Verhandlungen zwischen beiden Personen beruht. Situationen von Assistenzinteraktionen, in denen es zu Verständnissen und Missverständnissen kommt, die Einfluss auf den Teilhabeprozess von Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung haben, gilt es weiter zu untersuchen. Es ist Aufgabe zukünftiger Teilhabeforschung, die relationale Sicht auf Assistenz zu berücksichtigen, um Faktoren im weiteren Assistenzkontext zu identifizieren, die die Teilhabe dieses Personenkreises fördern oder einschränken.