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1 Einleitung

Teilhabe ist ein Begriff dem, spätestens seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (kurz: UN-BRK) im Jahre 2009, in Deutschland eine zunehmende Bedeutung zukommt. In den unterschiedlichen Disziplinen und Praxiszusammenhängen wird der Begriff der Teilhabe nicht einheitlich gedeutet. An dieser Stelle soll auch keine weitere Begriffsdefinition erfolgen, vielmehr beziehe ich mich hier auf die Forderung der UN-BRK: Dass es Aufgabe der Gesellschaft sei, Verhältnisse zu schaffen, die eine „volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft“ (Art 3. UN-BRK) für alle Menschen ermöglichen. Aus der Sicht der Sozialen Arbeit ist somit in konsequenter Weise zu fragen, wie von den Menschen, die Soziale Arbeit helfend adressiert, Teilhabe gedeutet wird. Daran anschließend lässt sich dann auch in forschender Haltung erkunden, was Bedingungen sind, die Teilhabechancen verringern oder erweitern.

Verfolgt man die Diskurse um Inklusion und Teilhabe der letzten Jahre wird deutlich, wie umkämpft auch die Deutungshoheit über die verwendeten Begriffe ist. Erinnert sei nur an die Debatte um die kritisierte Fehlübersetzung (vgl. Rohrmann, 2014, S. 163) der UN-BRK oder um den Gebrauch und die Deutung des Begriffs Inklusion (vgl. Winkler, 2014; Freytag, 2017). Auch die Begriffe Teilhabe und Teilnahme – in der deutschen Übersetzung der UN-BRK – wurden kritisiert. Im Vergleich zum englischen Begriff der participation, werden hier nach Meinung einiger Autor*innen „Aspekt[e] der Mitbestimmung“ (Hirschberg, 2010, S. 2) wenig aufgenommen und so gerade politische Bezüge weniger aufgegriffen (vgl. Nieß, 2015, 69 ff.; Wesselmann, 2019). Die Bundesregierung verweist mittlerweile auf den amtlichen Text der UN-BRK und hält eine „Revision der deutschen Übersetzung“ (BMAS, 2019, S. 13) für nicht notwendig. Es geht ihr vielmehr um „die Begriffe der UN-BRK in der ursprünglichen Bedeutung“ (ebd.).

Menschen, die als „geistig behindert“Footnote 1 kategorisiert sind, erreichen in der Bundesrepublik Deutschland zunehmend das Rentenalter. Schätzungen – genaue Zahlen gibt es hierzu noch nicht – zeigen einen rasanten Anstieg (vgl. Dieckmann et al., 2010). Ohne die Bedeutung hier weiter auszuführen kann festgestellt werden, dass diese Entwicklung die etablierten Hilfesysteme vor große Herausforderungen stellt. Insbesondere auch, wenn nicht über die Köpfe der Expert*innen in eigener Sache hinwegorganisiert werden soll. Die Zuständigkeit für diesen Personenkreis wurde in der Vergangenheit weitgehend, in Wissenschaft und Praxis, an diverse Sondersysteme delegiert (vgl. Behrisch, 2016, S. 438). So kann konstatiert werden, dass bislang wenig Wissen über die subjektiven Vorstellungen dieser Menschen und die spezifischen Bedürfnisse und Deutungsmuster vorhanden ist. Unter anderem auch deswegen, da sich die Wissenschaften für die subjektiven Deutungsmuster nur wenig interessierten und es kaum in deren Ansinnen lag die „subjektive Sichtweise zu verstehen“ (Graumann, 2018, S. 118). In besonderer Weise ist dies relevant, da die Bezeichnung der vermeintlich homogenen Gruppe der Behinderten verdeckt, dass es sich um „einzelne und verschiedene Menschen“ (Wacker, 2012, S. 610) handelt. Auch haben sich die verschiedenen Hilfssysteme bislang in der Ausgestaltung ihrer Unterstützungsangebote eher wenig an den spezifischen Bedürfnissen der Subjekte orientiert.

Erst in den letzten Jahren werden Forderungen lauter und deutliche Bemühungen sichtbar, auch einen Zugang zu Deutungsmustern der Selbstbetroffenen zu finden.Footnote 2 So fordert etwa Graumann: „Es braucht mehr Wissen über Barrieren, Teilhabemöglichkeiten und -grenzen sowie über Ursachen und Gründe von Benachteiligungen“ (2018, S. 118). Dabei bleibt die direkte Befragung, wie Katzenbach feststellt, von Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden, eher noch eine Ausnahme (vgl. 2016, S. 11).

In einer qualitativ angelegten Forschung aus der Perspektive der Disziplin der Sozialen Arbeit (vgl. Stadel, 2021) wurden in zwei Wellen sieben Personen aus der ZielgruppeFootnote 3 befragt, wie sie sich das eigene Alter(n) vorstellen bzw. welche konkreten Unterstützungsmaßnahmen aus subjektiver Sicht erforderlich sein könnten. Hierzu wurden vierzehn leitfadengestützte, erzählgenerierende Interviews geführt und in Anlehnung an die Dokumentarische Methode ausgewertet (vgl. Bohnsack et al., 2013).

Diesem Zugang ist geschuldet, dass es nicht nur um die Generierung von Wissen geht, sondern im gleichen Atemzug auch überlegt werden muss, was dieses Wissen für die Praxis der Sozialen Arbeit bedeutet. In dieses Forschungsverständnis ist eingebettet, eben auch die Konfliktverhältnisse zu untersuchen bzw. Forschung als Konfliktverhältnis zu verstehen, indem auch immer Herrschaft und Macht mitzudenken sind (vgl. Anhorn et al., 2014, S. 110). Damit ist auch eine kritische Überprüfung des „gemeinhin üblichen Blicks auf die soziale Wirklichkeit und einer darin begründeten empirischen Forschung“ (Scherr & Niermann, 2014, S. 129) angesprochen.

2 Behindertenhilfe als Figuration gedeutet

Ich beziehe mich maßgeblich auf die Figurationstheorie, wie sie von Norbert Elias erarbeitet wurde. Elias verstand sich als Menschenwissenschaftler. Diese einfache Hervorhebung ist wichtig, da in der Wissenschaft Tätige immer, weil sie selbst Menschen sind, mit ihrem Untersuchungsgegenstand verbunden sind. Bei Karl Mannheim (vgl. 1969 [1929], S. 229) bedeutet dies eine Standortverbundenheit im Erkennen und im Denken. Elias (1987, S. 21) spricht in ähnlicher Weise von Figurationen, und einem Erkennen, das nur aus dem „begrenzten Standort in der Figuration“ möglich sei. Dieser Betrachtungsweise folgend zwingt es die Forschenden förmlich dazu, die eigene Standortverbundenheit – die eigene Verquickung in diverse Figurationen – mitzudenken und entsprechend reflexiv einzuholen bzw. dies ernsthaft zu versuchen.

Das von Elias entwickelte Denkgebäude ist sehr komplex und kann in den Bezügen der Sozialen Arbeit fruchtbar gemacht werden.Footnote 4 Anhand weniger Beispiele soll die Relevanz für diesen Beitrag herausgearbeitet werden.

Elias sieht die Menschenwissenschaften damit beauftragt Mythen, an deren Bildung die Wissenschaften selbst beteiligt sind, stetig zu hinterfragen. Aus diesem Grund ersetzt er verdinglichende Begriffe und nutzt Figuration als Arbeitsbegriff. Figuration meint die „Struktur, die interdependente Menschen als Gruppe oder Individuen miteinander bilden“ (ebd., S. 137). Eingelassen in diesen Figurationsbegriff ist ein spezifisches Verständnis von Macht. Macht ist eine „Struktureigentümlichkeit menschlicher Beziehungen“, die Elias (1996, S. 77) als „mindestens bipolare und meistens multipolare Phänomene“ deutet und die nur dort in Erscheinung treten, wo eine „funktionale Interdependenz zwischen den Menschen besteht“ (ebd.). Macht ist daher nicht gut oder schlecht. Elias möchte aufzeigen, dass es zwischen der Beschreibung und der Bewertung von Tatbeständen zu unterscheiden gilt (ebd., S. 76). Er nutzt daher Bezeichnungen wie Machtpotenziale oder Machtdifferenziale, um sein Verständnis von Macht zu kennzeichnen. Das Gewordensein in Beziehungsgeflechten ist habitualisiert und tief in die Menschen eingeschrieben.

Deutet man nun die sog. Behindertenhilfe in einem weiten VerständnisFootnote 5 als Figuration, kann ein Verstehenszugang für eine Vielzahl an Beziehungsgeflechten entwickelt werden, die die oft übliche Trennung von Mikro-, Meso- und Makroebene überwindet. Dies ist gleichbedeutend mit einer Vielzahl an Machtdifferenzialen, die in Teilen sehr subtil sind. Aus diesen Theoriepositionen heraus ergibt sich eine Notwendigkeit das methodische Vorgehen im Forschungsprozess möglichst genau und umfassend zu hinterfragen. So steht, wie vielfach kritisiert, das Etikett Behinderung vor den als solche bezeichneten Menschen. Es wird zum „‚Masterstatus‘“ (Kastl, 2017, S. 189) und zur absoluten Identität. Zwar hat sich spätestens mit der UN-BRK ein relationales Verständnis von Behinderung im MainstreamFootnote 6 durchgesetzt, allerdings bedeutet dies nicht, dass das behindert-Werden im Alltag von Menschen mit geistiger Behinderung verschwunden wäre. Dieses behindert-Werden deute ich als Verringerung von Teilhabechancen.

Menschen mit geistiger Behinderung, die lange Zeit dem etablierten Hilfesystem angehörten, können über weitreichende Erfahrungen berichten. Sie sind damit nicht nur Expert*innen in eigener Sache, sondern auch Expert*innen der Sache. Diese Sicht erlaubt es auch, das gewonnene Datenmaterial im Hinblick auf Teilhabe bzw. auf förderliche oder hinderliche Elemente zu untersuchen und eine machtsensible Perspektive einzunehmen.

3 Methodischer Zugang zur Subjektivität

Die methodische Herausforderung dieser Forschung war es möglichst alle Zugänge und Vorannahmen auf ihre Mythenhaftigkeit und Verdinglichung konsequent zu prüfen. Hierbei ist der Standortverbundenheit im Denken kaum vollständig zu entgehen und muss kritisch-reflexiv eingeholt werden (vgl. Wagner-Willi, 2016, S. 228). Dazu gehört eben auch geeignete methodische Schritte am Gegenstand zu entwickeln und auszurichten, und „nicht die Gegenstände [an] den Methoden“ (DGSA, 2015, S. 42). Damit kann versucht werden, der angesprochenen Verobjektivierung von Menschen zu begegnen. An einem Beispiel aus dem Forschungsvorgehen lässt sich dies aufzeigen.

So wird schon der Zugang zum Feld als Forschungsproblem beschrieben, in dem mit einem „starken Eingreifen der Gatekeeper“ (Buchner, 2008, S. 518) zu rechnen sei. Dargestellt wird hier die gängige Praxis in der Forschung zu Menschen mit geistiger Behinderung, den Feldzugang über die Institutionen der sog. Behindertenhilfe zu organisieren. Oftmals auch in der Verbindung, dass in einem zweiten Schritt die rechtlichen Betreuungen um Zustimmung gebeten werden (vgl. Schäper, 2018, S. 140). Aus meiner Sicht kann hier schon ein Teilhabebemühen erfolgreich sein, wenn versucht wird, Machtbalancen zugunsten von Selbstbetroffenen zu verschieben. Als Expert*innen in eigener Sache sollten diese auch als Erste adressiert werden. Aus diesem Grund wurde der Zugang zum Feld in dieser Forschung, außerhalb der Hilfssysteme, über ein sog. Schneeballverfahren gewählt. Mit diesem Vorgehen konnte auch erreicht werden, dass die Einschätzung der SprechfähigkeitFootnote 7 weiterer Personen ebenfalls von den Selbstbetroffenen vorgenommen wurde.

In dieser Weise wurde das gesamte Forschungsvorgehen durchdekliniert und machtsensibel ausgerichtet. Die theoretische Prämisse, dass Auswirkungen der Figurationen in den Habitus von Menschen eingeschrieben sind, findet sich in der Forschungspraxis wieder. Etwa in der Rückfrage der befragten Personen, ob das was geäußert wurde auch so richtig gesagt wurde und ob es dem entspricht, was der*die Interviewer*in hören wolle. Gefragt wurde jeweils nach der eigenen Meinung, der subjektiven Deutung. Schon allein dieser Aspekt verdeutlicht die Auswirkungen sehr subtil verschobener Machtbalancen: „weiß ich nicht, kann ich nicht sagen, nicht beantworten, aber ich glaube nicht (…) ich weiß es nicht (lachend)(..) bevor ich was Falsches sage (..)“ (IW1_P1w 475).Footnote 8 Selbst die eigene Meinung, die eigene Einschätzung, wurde zurückgehalten und konnte teilweise nicht geäußert werden, aus der Befürchtung heraus, damit etwas Falsches zu sagen. Der Gestaltung einer Gesprächssituation, in der möglichst frei erzählt werden konnte, kam daher eine besondere Bedeutung zu.

4 Ausgewählte Beispiele

Anhand von vier Auszügen aus dem Interviewmaterial sollen nun subtile Machtbalancen im Beziehungsgeflecht verdeutlicht werden.

Der Wunsch etwa nach einem Mehr an Selbstbestimmung und Ausgestaltung der eigenen Lebensbezüge, der sich im Anliegen manifestiert aus einem stationären Kontext in ein Persönliches Budget zu wechseln, kann zum Verlust der langjährigen rechtlichen Betreuung – und vertrauten Bezugsperson – führen.

„davor, das sagt er ja, du wohnst ja gut (..) dir geht es doch gut, sagt er immer (…) das wäre ihm zu viel, da würde er den Schwanz einziehen (..) wie er das mit dem Budget nochmal machen gehört hat hat er gesagt, dann zieh ich, dann höre ich auf (…)“ (IW1_P5m 551).

Ein bedeutender Schritt in eigener Sache ist damit nur zum Preis des Verlusts einer maßgeblich helfenden Beziehung zu haben.

Mehrfach finden sich Hinweise darauf, dass Menschen sich in ihrem Erwachsen-Sein bedroht fühlen bzw. auch dieser Status permanent verteidigt werden muss:

„habe ich gesagt, habe ich gesagt das ist doch schwachsinnig (!) da, oder, habe ich gesagt hör mal, wir sind doch erwachsene (!) Leute (.) sind wir als kleine Kinder (!) oder was (!) (..)“ (IW2_P2w 65).

Hier wird die Aufforderung thematisiert und kritisiert, im Setting des Ambulant Betreuten Wohnens über die eigene Freizeitbeschäftigung dezidiert Auskunft zu erteilen, um den Dokumentationsanforderungen der Einrichtung zu genügen.

Einer Anpassung an bürokratische Strukturen von Einrichtungen entspricht es, wenn Personen im Ambulanten Betreuten Wohnen aufgefordert werden, das eigene und selbstverwaltete Girokonto aufzulösen und sich den Verwaltungsmechanismen der Einrichtung – wöchentliches Auszahlen von Taschengeld – unterzuordnen. Von der befragten Person wurde dies durchaus als eigener Wunsch dargestellt und mit den Kosten für die Kontoführungsgebühren begründet, die eingespart werden könnten. Dies führte bei der betroffenen Person zu großer Unzufriedenheit, da nun auch die Auszahlung von Kleinstbeträgen an die Zustimmung der rechtlichen Betreuung gekoppelt wurde. Über die mögliche Unrechtmäßigkeit des Vorgehens, in das auch die Mitarbeiter*innen im Ambulant Betreuten Wohnen verstrickt sind, ist sich die Person bewusst. Sie überlegt daher: „dass ich dass ich mal aufs Amtsgericht geh, und mich beschwere da wegen dem“ (IW1_P1w 833). Die Klärung der Sachfrage nimmt diese erwachsene Frau nicht in Anspruch, da sie befürchtet die rechtliche Betreuung (die eigene Mutter) zu verlieren. Ihre Hoffnung ist: „dass man sich da mal beschweren tut, dass die mal darauf an-…gewiesen wird, dass das nicht geht“ (ebd. 853). Außerdem befürchtet die Frau aus diesem Beispiel, dass bei zu viel Widerstand die rechtliche Betreuung/Mutter auch ihren Umzugswunsch, wieder in eine eigene Wohnung zu ziehen, nicht mehr unterstützen wird oder gar verbieten könnte: „weil die sagt ja sie hat ja noch mehr als das, sie hat auch das Wohnaufenthaltsgenehmigungsrecht sagt sie“ (ebd. 845).

Eine weitere befragte Person berichtete über ihr Vorsprechen bei der zuständigen Kontrollbehörde. Hier wurde sie nach langem Zuwarten und Überlegen vorstellig, da ihr die Verantwortlichen im Ambulant Betreuten Wohnen, wie auch ihr rechtlicher Betreuer, den Umzugswunsch in eine eigene Wohnung nicht gestatteten. Dies, obwohl der 50-jährige Mann seit mehreren Jahren faktisch schon mit seiner Lebenspartnerin in gemeinsamer Wohnung lebt und nur – wie er berichtet – einmal pro Woche, um seinen zugeteilten Putzdienst abzuleisten, in der Einrichtung vorstellig wird. Von der zuständigen Behörde wurde darauf verwiesen, dass das Vorgehen des rechtlichen Betreuers – wie auch der Einrichtung – unrechtmäßig sei, woraufhin die Beziehung zur rechtlichen Betreuung und leiblichen Verwandtschaft stark beeinträchtigt war, da dem Mann Verrat vorgeworfen wurde (IW2_P6m 101).

Diese wenigen Beispiele verweisen eindrücklich auf die interdependenten Zusammenhänge in den einzelnen Figurationen. Es wird erkennbar, wie Anliegen, die als Sachfragen zu verhandeln wären, zu Beziehungsfragen wurden.

5 Ein Fazit: Enthinderungshilfe

Die empirische Untersuchung hat drei Dinge aufgezeigt. Erstens: Gerade Personen, die sich in ihrem Lebensverlauf schon einmal von einer umfassenden Fremdbestimmtheit distanzieren konnten, entwickeln große Widerstände bei der Vorstellung sich wieder in Abhängigkeitsverhältnisse zu begeben. Einige der Befragten konnten durch die Vermehrung des eigenen Könnens Machtbalancen in der Form verschieben, dass Subjektivität und die Möglichkeiten der Selbstgestaltung des eigenen Lebens sich vergrößerten. Mit der im Alternsprozess erwarteten Verminderung von Können geht auch eine Befürchtung einher, die das Nachdenken über das eigene Alter(n) erschwert:

„Ich lege keinen Wert auf mein Alter, weil mir es da graust (.) es grauselt so (..) mit dem (.) mit dem Altern(..)“ (IW1_P1w 106).

Hinter dieser Umschreibung steht eine kollektive Befürchtung, die fast als Gewissheit formuliert wird, und die so oder so ähnlich von fast allen Befragten geäußert wurde, nämlich: „Wenn man dann (!) nicht mehr so kann (.) dass man vielleicht da landet, wo man gar nicht hin (!) will“ (IW1_P1w 257). Die befragten Personen ahnen, dass ein Nachlassen des eigenen Könnens Konsequenzen haben kann, an deren Ausgestaltung sie nur wenig beteiligt sein werden. Etwa, dass schon geringe Mehrbedarfe an Pflege und/oder Unterstützung dazu führen können, den eigenen Wohn- bzw. Lebensbereich verlassen zu müssen. Aktuelle Forschungen zu Umzugsentscheidungen verdeutlichen, dass dies eine überaus berechtigte Befürchtung ist (vgl. Zander, 2016, S. 10; Haßler et al., 2019, S. 235). Dabei gehen einige der Befragten davon aus, sogar die*den eigene*n Lebens- oder Ehepartner*in zurücklassen zu müssen.

Zweitens: In der Alter(n)s-Forschung wird die Phase des „‚abhängigen Alter[s]‘“ (Pichler, 2020, S. 580)Footnote 9 diskutiert und meist dem eher hohen Alter zugeordnet. Für die hier befragten Personen sind verschiedene Formen der Abhängigkeit Teil der Lebensbiografie und wenig mit einem spezifischen Alter verbunden. Bei den befragten Personen ist ein Wissen über ein Leben in Abhängigkeit vorhanden. Etwa in einer eher atheoretischen Form, das sich in einem Unbehagen äußert, oder – „aber solange ich noch gesund bin (.) dann, kann dir gar nichts passieren“ (IW1_P7m 562) – in der konkreten Überlegung, dass mit zunehmendem Alter und einem nachlassenden Können die erneute Abhängigkeit droht. Der mögliche Verlust der teils mühsam und langwierig erarbeiteten Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung wird als Bedrohung empfunden und weitgehend ausgeblendet. Der Bedarf an geeigneter Hilfe und Unterstützung wird dabei nicht negiert, allerdings wird befürchtet, dass diese nur zum Preis der erhöhten sozialen Abhängigkeit zu haben ist und vor allem mit einem Verlust der Deutungshoheit über Art und Ausmaß von Hilfe und Unterstützung einhergeht.

Drittens: Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass gerade bei Menschen, die sich lange in der Obhut der Hilfesysteme befanden, die Artikulationsmöglichkeiten der eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Belange eingeschränkt bzw. überformt sind. Es stellt sich die Frage, wie die betroffenen Menschen im Sinne einer vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe unterstützt werden könnten. Dies wirft Fragen nach subtilen Machtbalancen und Interdependenzbeziehungen auf, die für die Gestaltung von Teilhabe- und Partizipationschancen der betroffenen Personen wesentlich erscheinen. Die figurationssensible Betrachtungsweise gibt Hinweise auf die Notwendigkeit einer Unterstützung bei der Gestaltung von Aushandlungsprozessen und geeigneten Sprechräumen.

Mit Elias gedacht ist die Einsicht in die Figuration die Grundvoraussetzung dafür, auf diese gestaltend Einfluss nehmen zu können. Als Expert*innen der Sache haben die befragten Personen auch über ihre Figurationseinsichten berichtet. Aus dem Datenmaterial konnten Typen gebildet werden, die auf unterschiedliche Handlungsstrategien verweisen. Es sind diese Handlungsstrategien, die als Anknüpfungspunkte im Sinne eines helfenden Handelns genutzt werden könnten. Damit ist ein Handeln gemeint, das mit der ansprechenden Bezeichnung der Ent-hinderungshilfeFootnote 10 zu umschreiben wäre und den Ausgangspunkt im Subjekt sucht. In den Bezügen der Sozialen Arbeit ist dieses Bild m. E. gut verknüpfbar mit grundlegenden Theoriepositionen und verbleibt nicht bei einem engen Behinderungsverständnis. So verdeutlicht Winkler mit seiner Beschreibung eines sozialpädagogischen Ortshandelns eine Form der subjektorientierten Ent-hinderungshilfe. Für Winkler (1988, S. 278) beginnt Sozialpädagogik mit der Frage, „wie ein Ort beschaffen sein muß, damit ein Subjekt als Subjekt an ihm leben und sich entwickeln kann“. Die grundsätzliche Bedeutung wird in den weiteren Ausführungen deutlich, fügt doch Winkler an, dass es nicht nur um den geeigneten „Ort“ geht, sondern auch darum, dass dieser „auch als Lebensbedingung vom Subjekt kontrolliert wird“ (ebd., S. 279). Damit ist nach Weber (2014, S. 270–271) „Helfen und Ermächtigung“ gleichgesetzt, da Helfen „mit der Aufmerksamkeit auf die Anknüpfungspunkte anderer“ beginnt. Mit Winkler gesprochen wäre „für die Verwirklichung von Subjektivität zu sorgen […] wo diese behindert wird“ (1988, S. 90).

Mit diesem Ansatz der Sozialen Arbeit wird hier auch für eine Veränderung von Machtbalancen plädiert. Nicht fragmentiert und wohldosiert, sondern – und das ist anschlussfähig an die Grundsatzdebatte um Partizipation und Teilhabe – in einem umfassenden Sinne. Es sind nicht nur die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Teilhabe und Selbstbestimmung (vgl. Falk & Zander, 2020, S. 430) für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung gefährden. Oftmals liegen versperrte Teilhabechancen im unmittelbaren Nahfeld. Verknüpft mit dem Konzept einer Sozialraumentwicklung kann versucht werden „unter Teilnahme der Betroffenen ein Stück mehr gesellschaftliche Teilhabe zu verwirklichen“ (Alisch & May, 2013, S. 20). Hierzu sind vielschichtige Prozesse notwendig. Insbesondere solche, die sich mit der Hervorbringung von Bedürfnissen befassen und Möglichkeiten der Aushandlung befördern. Die in dieser Forschung befragten Personen haben über einige Ihrer Anliegen noch nie gesprochen und die eigenen Bedürfnisse den Machtverhältnissen der Figurationen untergeordnet. Es eröffnen sich kritische Fragestellungen an die Figuration Behindertenhilfe, an der Wissenschaft, professionelle Praxis und privates Engagement beteiligt sind. Aus einer Figurationsperspektive muss Teilhabeforschung daher auch Machtforschung sein.