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1 Einleitung

Wie lassen sich Sozialräume verändern, um Teilhabemöglichkeiten für Personen zu eröffnen, die bislang von Ausschluss bedroht oder betroffen sind? Dies ist die übergeordnete Forschungsfrage der Begleitforschung zum Projekt „Kommune Inklusiv“, das von der Aktion Mensch initiiert wurde und seither gefördert und begleitet wird. Im Projekt werden fünf Sozialräume in Deutschland (Erlangen, Rostock, Schneverdingen, Schwäbisch Gmünd und die Verbandsgemeinde Nieder-Olm) über einen Zeitraum von fünf Jahren finanziell und inhaltlich dabei unterstützt, Teilhabebarrieren sukzessive abzubauen, sodass Menschen, die bislang häufig von Ausschluss bedroht oder betroffen sind, erweiterte Möglichkeiten der Teilhabe an Lebenspraxen in den Sozialräumen haben. In einem mehrdimensionalen Forschungsdesign, das quantitative und qualitative Forschungsmethoden miteinander verschränkt, wird dieser Prozess projektbegleitend untersucht. Das Design orientiert sich dabei an einem theoretischen Verständnis von Inklusion und Sozialraum, das diese als relational aufeinander bezogen versteht. Inwieweit ausgehend von diesem Verständnis ein mehrperspektivisches Setting zur Untersuchung von Sozialräumen entwickelt wurde, welche Ergebnisse anhand dessen generiert wurden und wie diese handlungspraktisch weitergedacht werden können, ist Gegenstand dieses Beitrags. Dazu folgt einer kurzen theoretischen Annäherung an das Verhältnis von Inklusion und Sozialraum (Abschn. 2) eine Darlegung des Methodendesigns der Begleitforschung (Abschn. 3). Im Anschluss daran wird Einblick in erste Ergebnisse gegeben, die die Begleitforschung bisher hervorbrachte (Abschn. 4). Abschließend wird reflektiert, inwiefern theoretisch fundierte und methodisch geplante Teilhabeforschung zur handlungspraktischen Entwicklung von Sozialräumen beitragen kann und wie die verschiedenen Ebenen – Theorie, Empirie und Handlungspraxis – ineinandergreifen (Abschn. 5).

2 Inklusion und Sozialraum

Inklusion wird als Kritik verstanden, entlang derer Strukturen, Handlungspraxen oder Erlebnisse, aus denen (potenziell) Ausschluss resultiert, offengelegt und in ihrer ‚behindernden‘ Wirkmächtigkeit infrage gestellt werden. Inklusion ist insofern „als Praxis zu verstehen, die Behinderung gegenläufig ist“ (Trescher & Hauck, 2020, S. 22). Dieses Verständnis von Inklusion als kritische, d. h. hinterfragende und reflektierende, Praxis ist deshalb nicht „die Realisierung eines positiv definierbaren gesellschaftlichen (Ideal-)Zustands“ (Dannenbeck, 2013, S. 461) und ist auch nicht als einer moralischen Idee entsprungen zu verstehen, sondern als etwas, das sich prozesshaft und in Beziehung zu anderen – relational – vollzieht. (Sozial-)Raum wird im Zuge dessen, anknüpfend an Martina Löw, als „eine relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen (Lebewesen) an Orten“ (Löw, 2001, S. 224) verstanden. Raum ist immer schon Sozialraum, da er durch die in ihm handelnden Personen (mit) hervorgebracht wird und diese wechselseitig in je bestimmter Art und Weise hervorbringt – z. B. als nur eingeschränkt teilhabend. Sozialräumliche Teilhabe kann insofern nicht (ausschließlich) technisch generiert werden, bspw. entlang dessen, was gemeinhin unter ‚Barrierefreiheit‘ verstanden wird. Vielmehr „braucht es, über den Zugang und die Subjektivierung als handlungsmächtig hinaus, Gefühle von Verbundenheit und Zugehörigkeit“ (Trescher & Hauck, 2020, S. 30). Teilhabe entsteht gerade im sozial und emotional erlebten Miteinander.

3 Methodendesign

Die Begleitforschung arbeitet auf drei Forschungsebenen. Auf der ersten Ebene werden die Maßnahmen evaluiert, die im Projekt umgesetzt werden, während auf der zweiten Ebene die Untersuchung der Sozialräume im Vordergrund stehtFootnote 1. Das Methodendesign wird im Folgenden dargelegt. Aufgrund der Komplexität des Settings kann die Darstellung der einzelnen Instrumente nur grob erfolgen (für ausführlichere Darstellungen siehe: Trescher & Hauck, 2020).

3.1 Ebene 1 – Maßnahmenevaluation

Ziel von Ebene 1 ist es, die Maßnahmen zu untersuchen, die in den fünf geförderten Sozialräumen geplant und umgesetzt werden. Die Evaluation erfolgt v. a. über halb-standardisierte Online-Surveys, wobei je situativ auf ausgedruckte Fragebögen zurückgegriffen werden kann. Die Fragebogenkonstruktion ermöglicht, sowohl Aussagen zu einzelnen Maßnahmen zu treffen als auch Quervergleiche zwischen diesen vorzunehmen.

Die Fragebögen bestehen also aus allgemein-vergleichbaren und clusterspezifischen (maßnahmengruppenbezogenen) Teilen. Methodisch wird in beiden Fällen anhand geschlossener Fragen vorgegangen. Hierbei wird, aufgrund der möglichst barrierearmen Ausgestaltung der Bögen, mit einer komplexitätsreduzierten Skalierung gearbeitet, sodass bestenfalls auch Menschen mit Unterstützungsbedarfen im Bereich Lesen/Verstehen an der Befragung teilnehmen können. Die Beantwortung erfolgt deshalb auf Grundlage des Antwortspektrums „nein“, „zum Teil“ bzw. „vielleicht“ und „ja“. Ergänzend hierzu wird jeder Fragebogen in einer ‚leichten‘ und einer ‚schweren‘ sprachlichen Ausgestaltung angefertigt, um Teilnahmemöglichkeiten zu begünstigen.

Allgemein-vergleichbare und clusterspezifische Fragen werden durch individuelle Fragen ergänzt, die einerseits einen direkten Bezug zur Einzelmaßnahme zulassen (z. B.: „Was hat Ihnen gefallen?“) und andererseits einen Rückbezug zum jeweiligen Sozialraum herstellen (z. B.: „Was muss in Ihrem Sozialraum verändert werden?“). Diese Fragen sind offen gestaltet, d. h., die ausfüllenden Personen haben die Möglichkeit, in eigenen Worten Stellung zu beziehen. Über die Fragebögen haben die Teilnehmer*innen somit die Möglichkeit, einen unmittelbaren Beitrag zur Weiterentwicklung des Gesamtprojekts zu leisten. Die Maßnahmenevaluation wird durch eine Folgeerhebung komplettiert, die ein Jahr nach der Ersterhebung angesetzt ist. Teilnehmer*innen, die sich dazu bereit erklären, werden erneut kontaktiert und um die Bearbeitung eines weiteren Fragebogens gebeten, in dessen Mittelpunkt die Frage nach der langfristigen Bewertung bzw. dem langfristigen Nutzen der je konkreten Maßnahme steht. Die Auswertung der Fragebögen erfolgt anhand deskriptiv-statistischer Verfahren.

3.2 Ebene 2 – Sozialraumevaluation

Ebene 2 fokussiert die Frage, ob und inwiefern sich die Sozialräume über den Projektzeitraum dahingehend verändern, dass Menschen, die von Ausschluss bedroht oder betroffen sind, erweiterte Teilhabemöglichkeiten haben. Die Untersuchungen erfolgen anhand eines Methodensettings, das sowohl qualitativ-inhaltsanalytisch, ethnographisch als auch deskriptiv-statistisch verfährt (Trescher & Hauck, 2020, S. 41 ff.). Im Folgenden werden die einzelnen Instrumente vorgestellt.

3.2.1 Sozialraumanalysen in den Handlungsfeldern Arbeit, Bildung und Freizeit

Die Sozialraumanalysen werden zu Beginn, in der Mitte und am Ende des Projekts durchgeführt. Sie verfolgen das Ziel, Teilhabebarrieren und -möglichkeiten zu erschließen und, über den Vergleich der Analysen, etwaige Veränderungen nachzuzeichnen. Erfasst werden dabei die Teilhabesituation sowie -möglichkeiten von Menschen mit Behinderung (wobei unterschiedliche Beeinträchtigungsdimensionen abgebildet werden), Menschen mit Fluchtmigrationshintergrund und Menschen mit Demenz. Die Ergebnisse geben also einen sehr breiten Einblick in die Lebenssituation von Menschen, die (je situativ) Marginalisierung erfahren. Forschungspraktisch werden die Handlungsfelder Arbeit, Bildung, Freizeit und Barrierefreiheit/Mobilität untersucht, wobei Letzteres als Querschnittsthema zu verstehen ist, das für alle Handlungsfelder relevant ist. Im Handlungsfeld Arbeit werden in den jeweiligen Sozialräumen vor Ort Leitfadeninterviews mit Arbeitnehmer*innen geführt, um zu untersuchen, inwiefern Menschen mit unterschiedlichen Unterstützungsbedarfen Teilhabemöglichkeiten an Arbeit haben. Im Handlungsfeld Bildung werden Leitungskräfte von Kindertagesstätten und Schulen sowie Weiter- bzw. Erwachsenenbildungseinrichtungen anhand eines Onlinesurveys zur Teilhabe von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung und/oder Fluchtmigrationshintergrund befragt. Im Handlungsfeld Freizeit wird die Frage verfolgt, inwiefern Menschen mit unterschiedlichen Unterstützungsbedarfen an Freizeitaktivitäten der Mehrheitsgesellschaft teilhaben bzw. inwiefern Möglichkeiten zur Teilhabe bestehen. Dazu werden Verantwortliche und Ansprechpersonen von Freizeitaktivitäten telefonisch kontaktiert und mithilfe eines Leitfadens interviewt. Die Auswertung des breiten Materialkorpus erfolgt sowohl über deskriptiv-statistische Methoden als auch Verfahren der Qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring, 2015; Trescher & Hauck, 2020, S. 46 ff.). Das Forschungsdesign macht direkte Vergleiche zwischen den Sozialräumen möglich, woraus Faktoren abgeleitet werden können, die Teilhabe oder zumindest erweiterte Teilhabemöglichkeiten begünstigen.

3.2.2 Ethnographische Sozialraumbegehungen

Ein weiteres Instrument der Sozialraumevaluation sind ethnographische Sozialraumbegehungen. Ziel dieser ist es, den Sozialraum und die ihm eigenen Strukturen, Handlungspraxen, Interaktionen etc. zu erfahren. Die ethnographische Herangehensweise wird dabei von der Idee bestimmt, sich den Sozialräumen anzunähern und diese gewissermaßen aus der Perspektive der darin lebenden Menschen zu betrachten (Honer, 2010, S. 195; siehe auch Riege, 2007, S. 383). Es geht folglich „darum, die ‚Fremde‘ aufzusuchen“ (Honer, 2010, S. 197) und sich dieser verstehend anzunähern. Konstitutiv ist dabei „eine sozialwissenschaftliche Haltung der Neugier […] sowie die Bereitschaft, sich der Dynamik und Logik eines Feldes auszusetzen“ (Breidenstein et al., 2013, S. 7). Das methodische Vorgehen der Sozialraumbegehungen ist an Seifert (2010, S. 301 f.) und Honer (2010, S. 197) angelehnt. Es geht darum, die Sozialräume daraufhin zu untersuchen, wo und inwiefern Barrieren bestehen, die Personen in ihren Teilhabemöglichkeiten behindern, sowie welche Möglichkeiten bereits genutzt werden, um Teilhabebarrieren abzubauen. Hierfür werden Wohnquartiere, Innenstadtbereiche, kulturelle Einrichtungen, Behörden u.v.m. besucht und es werden u. a. Beobachtungen dokumentiert, Gespräche mit Einwohner*innen über deren Erfahrungen, Wünsche usw. geführt, Fotos gemacht sowie Dokumente und Artefakte gesammelt (z. B.: Informationsbroschüren). Grundsätzlich wird der öffentliche Personennahverkehr genutzt, um potenzielle Mobilitätsbarrieren zu untersuchen. Zum Vorgehen selbst ist zudem anzumerken, dass dieses nicht vollends im Vorfeld geplant werden kann. Es entwickelt sich stetig weiter und muss entlang der örtlichen Gegebenheiten flexibel angepasst und ggf. erweitert werden. Im Ergebnis entstehen so ethnographische Protokolle, anhand derer diskutiert werden kann, worin Herausforderungen und ggf. Ambivalenzen von Teilhabe liegen. Im Untersuchungszeitraum wird diese Form der Erhebung insgesamt drei Mal durchgeführt.

3.2.3 Surveys: Sozialraumbezogene Befragung und deutschlandweite, bevölkerungsrepräsentative Befragung

Der Survey „Sozialraumbefragung“ richtet sich an die Menschen in den fünf untersuchten Sozialräumen. Anhand der Befragung können sozialraumspezifische Aussagen zur Bekanntheit und der Einschätzung des potenziellen Nutzens des Projekts ebenso getroffen werden wie bzgl. der Zustimmung zu Inklusion. Außerdem wird der lebensweltliche Kontakt der Befragten zu Menschen mit Behinderung, Fluchtmigrationshintergrund oder Demenz sowie ihre Einschätzung zum Zusammensein mit jenen Personen untersucht. Der Survey erlaubt Quervergleiche unter den einzelnen Sozialräumen. Zusätzlich ist im Survey eine abschließende offene Frage eingearbeitet, über die die Befragten Verbesserungsvorschläge für die Projektverantwortlichen im Sozialraum formulieren können. In zwei Wellen wurden (2019/2020) bzw. werden (2021) die Einwohner*innen der Sozialräume befragt, wobei eine bevölkerungsrepräsentative Verteilung angestrebt wird. Pro Welle werden in jedem Sozialraum 250 face-to-face Leitfadeninterviews geführt. Ausgewertet wird der Survey ebenfalls mittels deskriptiv-statistischer Verfahren sowie über die Verfahren der Qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring, 2015).

Ergänzt wird der oben genannte Survey durch den Survey „Einstellung(en) zu Inklusion“, über den die Einstellung der Gesamtbevölkerung Deutschlands zu Inklusion untersucht wurde (Trescher & Hauck, 2020, S. 257 ff.; Trescher et al., 2020a, b). Referenzkategorien der Einstellungsforschung waren die Lebensbereiche Wohnen, Arbeit, Freizeit und Schule sowie die Personengruppe Menschen mit sog. geistiger Behinderung. Zu jedem der Lebensbereiche wurden Thesen formuliert, zu denen sich die teilnehmenden Personen verhalten konnten. Dies erfolgte über unipolare Likert-Skalen mit einem Ratingspektrum von 1 bis 7 (1 = Stimme überhaupt nicht zu; 7 = Stimme voll und ganz zu). Durch die Streuung des Fragebogens konnte eine bevölkerungsrepräsentative Stichprobe u. a. in Bezug auf die Kategorien Alter, Geschlecht und Bildung akquiriert werden. Es flossen 3695 Antworten in die Auswertung mit ein, die über deskriptiv-statische Verfahren sowie eine Clusteranalyse erfolgte.

3.2.4 Sozialraummonitoring

Im Zuge des Sozialraummonitorings werden jeden Monat Veranstaltungen (bspw. Ausstellungen, Sportveranstaltungen etc.) hinsichtlich ihrer barrierefreien Zugänglichkeit untersucht (Trescher & Hauck, 2020, S. 44 f.). Barrierefreiheit wird hierbei in den Dimensionen Mobilität, Sehen, Hören, Lesen/Verstehen und Fremdsprache (Englisch) operationalisiert. In jedem Sozialraum wird monatlich eine Veranstaltung untersucht. Dazu werden Vereine, Kulturträger, Stadtverwaltungen u. Ä. kontaktiert, die für die jeweilige Veranstaltung verantwortlich sind bzw. als Ansprechpersonen auftreten. Das Sozialraummonitoring erfolgt in zwei Analyseschritten: (1) Informationen über die barrierefreie Zugänglichkeit der Veranstaltung (Desktoprecherche) und (2) die Barrierefreiheit der Veranstaltung (E-Mailkontaktaufnahme). Die auf diese Weise generierten Informationen werden klassifiziert und in deskriptiv-statistischer Art und Weise ausgewertet. Im Ergebnis werden so Teilhabebarrieren und -möglichkeiten bezogen auf unterschiedliche Handlungsfelder herausgearbeitet und etwaige Veränderungen über den Projektzeitraum nachgezeichnet.

4 Teilhabe und Ausschluss: Ergebnisse der Begleitforschung

Nachfolgend wird exemplarisch auf die bisherigen Ergebnisse der Begleitforschung eingegangen. Die Kernergebnisse werden ebenen- und instrumentenübergreifend dargelegt, wobei immer ein Rückbezug zur Ausgangsfrage des Beitrags hergestellt und mögliche Handlungsperspektiven in Bezug auf eine inklusive Sozialraumentwicklung diskutiert werden, die sich aus den Ergebnissen ergeben.

4.1 ‚Geistige Behinderung‘ als Ausschlusskategorie

Die Forschungsergebnisse zeigen, dass Menschen mit sog. geistiger Behinderung verstärkt von Ausschluss bedroht oder betroffen sind. Deutlich wurde dies u. a. anhand der Daten des repräsentativen Onlinesurveys „Einstellung(en) zu Inklusion“. Von den 3695 Teilnehmer*innen gaben lediglich 31,56 % an, Kontakt zu Menschen mit geistiger Behinderung zu haben oder in der Vergangenheit gehabt zu haben (Trescher et al., 2020a, b). Geistige Behinderung kann also insofern als Ausschlusskategorie reflektiert werden, als entsprechende Personen noch immer nur bedingt in allgemein-öffentlichen Räumen sichtbar sind. Zum Problem wird, dass die Lebenspraxis vieler Menschen mit sog. geistiger Behinderung nach wie vor stark durch exklusive Einrichtungen geprägt ist, auf die sich ihr Leben oft mehr oder weniger umfassend fokussiert. Ihre Abwesenheit in öffentlichen Räumen ist routinisiert und fester Bestandteil der dortigen räumlichen Arrangements. Gestützt wird damit das Ergebnis früherer Untersuchungen, wonach stationäre Wohnheime in vielerlei Hinsicht als Inklusionsbarrieren wirkmächtig werden (Trescher, 2015, 2017). Darüber hinaus zeigen die Ergebnisse, dass geistige Behinderung auch insofern als Ausschlusskategorie zu sehen ist, als Menschen der Mehrheitsgesellschaft diese vielfach als eine Art ‚Grenze von Inklusion‘ definieren. Beispielhaft zeigt dies eine Aussage, die während der Sozialraumanalyse im Handlungsfeld Arbeit dokumentiert wurde: „Bei Flüchtlingen geht Inklusion vielleicht noch, aber bei Menschen mit geistiger Behinderung auf keinen Fall“ (6189)Footnote 2. Auf breiterer Basis spiegelt sich dies auch in der Gesamtauswertung der Sozialraumanalysen wider. Hier wurden Personen, die in ihrem Arbeitsfeld bisher keine Kolleg*innen mit Behinderung haben, gefragt, ob bzw. inwiefern sie es als möglich einschätzen, dass Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen an ihrer Arbeitsstelle beschäftigt werden können. Nur 23,8 % der befragten Personen hielt dies für prinzipiell möglich (Trescher & Hauck, 2020, S. 183).

Mit Blick auf teilhabeorientierte Forschungs- und Praxisprojekte muss ausgehend von diesen Ergebnissen die Frage aufgeworfen werden, wie es gelingen kann, Teilhabebarrieren für Menschen mit sog. geistiger Behinderung abzubauen und Zugänge zu Lebenspraxen der Mehrheitsgesellschaft zu eröffnen. Dies erscheint auch insofern bedeutsam, als die Ergebnisse zeigen, dass, wenn Menschen Kontakt zu Menschen mit sog. geistiger Behinderung haben, sie Inklusion gegenüber offener bzw. positiver eingestellt sind (Trescher & Hauck, 2020, S. 328). Die Ergebnisse bestätigen insofern die sogenannte Kontakthypothese. ‚Kontakte herstellen‘ heißt entlang des hier vertretenen Ansatzes aber nicht nur, die Lebenssituation von Menschen mit sog. geistiger Behinderung in den Blick zu nehmen – bspw. durch eine forcierte Deinstitutionalisierung. Vielmehr geht es auch darum, die Lebenspraxis der Mehrheitsgesellschaft zu adressieren. So bedarf es bspw. im Kontext des öffentlichen Personennahverkehrs Fahrpläne, die so ausgestaltet sind, dass auch Menschen mit sog. geistiger Behinderung diese uneingeschränkt lesen und verstehen können. Darüber hinaus müssen Beschäftigungsverhältnisse in einer Art und Weise angepasst werden, dass Menschen mit sog. geistiger Behinderung die notwendigen finanziellen Ressourcen zur Verfügung stehen, um überhaupt am Leben im Sozialraum teilhaben zu können (z. B. ein Restaurantbesuch).

4.2 Ambivalenzen von Barrierefreiheit

Die Ergebnisse der ethnographischen Sozialraumbegehungen und der Sozialraumanalysen im Kontext Arbeit und Freizeit zeigen deutlich, dass in der Mehrheitsgesellschaft ein eher eindimensionales Verständnis von Barrierefreiheit vorherrscht (Trescher & Hauck, 2020, S. 149 ff.). Barrierefreiheit wird oftmals auf Mobilität enggeführt und mit ‚rollstuhlgeeignet‘ übersetzt. Eine zwangsläufige Folge dessen ist, dass Barrieren primär in Bezug auf diese Dimension abgebaut werden – bspw. durch die Installation von Rampen oder Aufzügen. Menschen der Mehrheitsgesellschaft sind oftmals nicht für Unterstützungsbedarfe jenseits von Mobilität sensibilisiert und Menschen mit Unterstützungsbedarfen in den Bereichen Sehen, Hören oder Lesen/Verstehen werden dadurch übergangen. So kritisiert bspw. eine Person: „Oft denken die Leute bei Barrierefreiheit nur an Rampen, aber Menschen mit Sinneseinschränkungen gibt es eben auch. Da muss man immer erst drauf hinweisen“ (477). Ebenfalls wenig Beachtung findet, dass Barrieren auch durch Diskriminierung entstehen bzw. damit einhergehen können.

Das eindimensionale Verständnis von Barrierefreiheit steht wiederum dem Ergebnis gegenüber, wonach es sich bei Barrierefreiheit um ein hochgradig komplexes und ambivalentes Thema handelt. Immer wieder wird deutlich, dass Barrierefreiheit als idealtypisches Konzept zu fassen ist, das nicht so umfassend erreicht werden kann, wie es der Begriff impliziert. Deutlich wurde dies u. a. im Zuge der Sozialraumanalysen oder bereits bei der Konzeption und Konstruktion der Erhebungsinstrumente – bspw. bei der ‚Übersetzung‘ der Maßnahmensurveys in sog. Leichte Sprache. Eine vollständige Abwesenheit von Barrieren ist schlicht nicht möglich und die Frage, wann etwas für eine Person zur Barriere wird oder nicht, kann nicht pauschal beantwortet werden: Etwas, „was für die eine Person eine Barriere darstellt, kann für eine andere Person Unterstützung sein und umgekehrt“ (Trescher & Hauck, 2020, S. 314). Folglich ist der Prozess des Abbaus von Barrieren nie vollends abgeschlossen, sondern muss sukzessive auf seine möglicherweise Ausschluss reproduzierende Wirkmächtigkeit hin reflektiert werden. Bezugnehmend auf die Frage nach einer inklusiven Sozialraumentwicklung erweist sich diese Perspektive als hochgradig relevant und sie zeigt zugleich einen konkreten Handlungsbedarf auf. Es bedarf einer Sensibilisierung hinsichtlich der Komplexität und Ambivalenz von Barrierefreiheit. Dies könnte bspw. durch entsprechende Schulungs- bzw. Informationsangebote erreicht werden. Darüber hinaus wird deutlich, dass sich – bevor sich mit der Frage nach Barrierefreiheit befasst werden kann – zunächst damit beschäftigt werden muss, worin überhaupt Barrieren liegen (können).

4.3 Inklusionspotenzial des Freizeitbereichs

Die bisherigen Auswertungen zeigen, dass der Lebensbereich Freizeit ein besonderes Inklusionspotenzial hat. Zurückzuführen ist dies u. a. auf das oben dargelegte Ergebnis, wonach Meinungen, Erfahrungen und Einstellungen von Personen zu Menschen, die von Ausschluss bedroht oder betroffen sind, durch einen lebensgeschichtlichen Kontakt zu jenen Personen eher positiv beeinflusst werden. Kontakte zwischen Personen können dazu führen, gegenseitige Vorbehalte und Ängste abzubauen. Der Freizeitbereich ermöglicht ebendies. Freizeit bringt Menschen zusammen, ermöglicht Interaktionen auf Augenhöhe und kann im Zuge dessen dazu beitragen, Einsamkeit oder Isolation zu überwinden, Teilhabebarrieren abzubauen und Berührungsängste und Unsicherheiten zu vermindern. Entscheidend erweitert wird dieses Inklusionspotenzial dadurch, dass sich Menschen der Mehrheitsgesellschaft im Bereich Freizeit besonders offen gegenüber Inklusion bzw. einer Teilhabe von Menschen erweisen, die von Ausschluss bedroht oder betroffen sind. Veranschaulicht werden kann dies bspw. an den Ergebnissen der Sozialraumanalysen. Diese zeigen, dass die Möglichkeit einer Teilhabe von Menschen mit Behinderung, Fluchtmigrationshintergrund oder Demenz an Freizeit deutlich höher eingeschätzt wird als bei der korrespondierenden Frage im Handlungsfeld Arbeit (Trescher & Hauck, 2020, S. 158 ff.).

Ausgehend hiervon ist die Frage zu stellen, wie das Inklusionspotenzial des Freizeitbereichs im Sinne einer inklusiven Sozialraumentwicklung genutzt werden kann. Es gilt zu beachten, dass sich Teilhabebarrieren, die die Aneignungspraxen von Subjekten behindern, situativ und individuell vollziehen. Dies gilt im Umkehrschluss auch für die Frage, wie sich das Inklusionspotenzial des Freizeitbereichs ausschöpfen lässt. Menschen stoßen mit Blick auf ihre Teilhabe am Lebensbereich Freizeit an je unterschiedliche Barrieren, sodass es in der Breite verschiedener Zugänge bedarf, um hieran etwas zu ändern. Inklusionspotenziale des Freizeitbereichs für eine inklusive Sozialraumentwicklung nutzbar zu machen, heißt, Teilhabebarrieren von Personen zu erfassen und hiervon ausgehend Möglichkeiten der Dekonstruktion auszuloten. Bezugnehmend auf Menschen mit sog. geistiger Behinderung ließe sich das Inklusionspotenzial des Freizeitbereichs bspw. nicht maßgeblich dadurch ausschöpfen, schlicht neue und ggf. als ‚inklusiv‘ attribuierte Freizeitangebote zu schaffen oder bereits bestehende Angebote im Sinne von Barrierefreiheit zu modifizieren – bspw. durch die Nutzung sog. ‚Leichter Sprache‘. Wie in Abschn. 4.1 angeführt, scheitert eine Teilnahme von Menschen mit sog. geistiger Behinderung in der Regel bereits daran, dass diese schlicht nicht zu den Angeboten kommen, da z. B. entsprechende Unterstützungsangebote in der Wohneinrichtung fehlen, bestehende Freizeitangebote des Sozialraums nicht bekannt sind oder die betreffenden Personen im Verlauf ihres Lebens nicht die Gelegenheit hatten, überhaupt freizeitliche Interessen zu entwickeln (Trescher, 2015, S. 208 ff.). Um das Inklusionspotenzial des Freizeitbereichs für diese Personen nutzbar zu machen, bedarf es zuvorderst entsprechender Maßnahmen, die auf die Behebung ebenjener Teilhabebarrieren ausgerichtet sind.

4.4 Reichweite des Projekts im Sozialraum

Ein weiteres Ergebnis, das die Begleitforschung offenlegte, besteht darin, dass die Verankerung des Projekts in den betreffenden Sozialräumen auch vier Jahre nach Projektstart noch nicht so weit fortgeschritten ist, wie zu Beginn erwartet bzw. erhofft. Die Strahlkraft in die Sozialräume ist trotz größter Anstrengungen der involvierten Akteur*innen nur begrenzt. So gaben im Rahmen der Sozialraumbefragung bspw. sozialraumübergreifend nur 12,51 % der Menschen an, mit dem Projekt vertraut zu sein, wobei sich mitunter deutliche Differenzen zwischen den einzelnen Sozialräumen ablesen lassen: Gerade in den (groß-)städtisch strukturierten Sozialräumen erweist sich die Verankerung des Projekts als große Herausforderung. Die Problematik der Reichweite offenbart sich allerdings auch insofern, als in den Sozialräumen primär bestimmte Personengruppen durch das Projekt erreicht werden, nämlich v. a. jene Personen, die Inklusion ohnehin bereits offen gegenüberstehen – Menschen, die sich Inklusion gegenüber ambivalent positionieren oder diese offen ablehnen, hingegen nicht oder nur sehr bedingt. Deutlich wird dies u. a. an der Auswertung der Maßnahmensurveys: Insgesamt sind die Teilnehmer*innenzahlen gering und die Beantwortungen fallen einseitig positiv bzw. weitestgehend kritiklos aus. Es zeigt sich, dass sich seit Projektbeginn in jedem Sozialraum so etwas wie ein ‚harter Kern‘ gebildet hat, der bei einem Großteil der initiierten Maßnahmen zugegen ist. Teilweise handelt es sich dabei auch um Personen, die selbst in das Projekt eingebunden sind bzw. sich dort engagieren. Während dies durchaus positiv gewendet werden kann, ist ein solcher ‚harter Kern‘ doch Ausdruck einer vollzogenen Vergemeinschaftung und Netzwerkbildung, macht es dennoch auf ein Problem aufmerksam: Wenn es, wie im Falle des Projekts „Kommune Inklusiv“, das Ziel ist, Sozialräume zu verändern, heißt das letztlich auch, dass Sozialräume in ihrer Breite adressiert und erreicht werden müssen. Dies beinhaltet gerade jene Personen, die Inklusion ambivalent gegenüberstehen oder auch offen ablehnen. Der deutschlandweite Survey „Einstellung(en) zu Inklusion“ hat gezeigt, dass dies auf etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung zutrifft (Trescher et al., 2020b, S. 103).

Ebendiese Personen zu erreichen und damit über den Kreis der ohnehin Interessierten hinauszugehen, muss als eine der größten Herausforderungen teilhabeorientierter Forschungs- und Praxisprojekte gesehen werden. Hierfür bedarf es – sollte dies als Zielsetzung formuliert werden – einer speziellen strategischen Ausrichtung. Relevant erscheint hier bspw. die Ausgestaltung der je konkreten Netzwerkstrukturen: Besteht das projektbezogene Netzwerk primär aus (z. B.) Trägern der Behindertenhilfe, so vollzieht sich hiermit eine entsprechende Rahmung des Projekts sowie Adressierung des Sozialraums. Um den gesamten Sozialraum zu erreichen, bedarf es eines Netzwerks, das entsprechend den Sozialraum in seiner Gesamtheit widerspiegelt und erreicht. Das heißt dann auch, dass mit Blick auf die öffentliche Verhandlung von Inklusion ggf. neue Wege beschritten werden müssen. Inklusion sollte im Zuge dessen nicht (ausschließlich) als Konzept betrachtet werden, das sich lediglich an bestimmte Personen(-Gruppen) richtet. Um Menschen zu erreichen, die sich bisher nicht für Inklusion interessieren, muss es vielmehr gelingen, Inklusion als gesamtgesellschaftliche Herausforderung und persönliches Anliegen erfahrbar zu machen. Die Ergebnisse des Surveys „Einstellung(en) zu Inklusion“ zeigen deutlich, dass die Frage danach, ob Inklusion als persönliches Anliegen betrachtet wird oder nicht, als zentral für die Frage nach der Einstellung zu Inklusion betrachtet werden muss (Trescher et al., 2020b, S. 105). Angesichts der vielfach festzustellenden Unsicherheiten und Vorbehalte der Bevölkerung bedarf es dabei eines kritischen Austauschs zu Inklusion, der womöglich explizit gesucht und erlaubt werden muss.

5 Teilhabeforschung und Sozialraumentwicklung

Die Ergebnisse, die bisher im Zuge der Studie „Kommune Inklusiv“ herausgearbeitet wurden, sind äußerst vielfältig. Immer wieder zeigt sich, wie groß die Herausforderung ist, die an die Zielsetzung geknüpft ist, Sozialräume im Sinne von Inklusion zu verändern. Eine der wohl zentralsten Erkenntnisse besteht darin, wie wichtig eine enge Kooperation der verschiedenen Akteur*innen ist. Inklusive Sozialraumentwicklung kann sich nur im stetigen Wechselspiel zwischen Theorie, Empirie und Handlungspraxis vollziehen. Den zentralen Ausgangspunkt bildet dabei ein theoretisch gerahmter Inklusionsbegriff, der, wie eingangs dargelegt, nicht einseitig moralisierend ist, sondern aus einer kritisch-problematisierenden Perspektive heraus zu Reflexion anregt und Ambivalenzen zum Gegenstand macht. Erst ein theoretisch fundierter Inklusionsbegriff macht ein zielgerichtetes, begründetes Handeln möglich. Einen solchen bereitzustellen und hiervon ausgehend Überlegungen anzustellen, wie dieser für die handlungspraktische Arbeit gewendet werden kann, ist eine zentrale Aufgabe der Wissenschaft als kritisch-reflexive Instanz. Aufgabe der Wissenschaft ist darüber hinaus, konkrete Herausforderungen im Handlungsfeld zu identifizieren, zu diskutieren, hiervon ausgehend Möglichkeiten des Umgangs zu eruieren und diese an die Handlungspraxis rückzubinden. Das Verhältnis von Forschung zu Praxis bleibt dabei notwendigerweise auf die Bereitstellung von Ergebnissen und Entwicklungskonzepten begrenzt. Wissenschaft und Forschung müssen es „der Praxis vollständig selbst überlassen […], welchen Gebrauch sie von den Forschungsergebnissen und Ergebnissen der Erkenntniskritik in ihren je konkreten Entscheidungen macht. Die Wissenschaft kann nicht mehr tun, als in möglichst großer Klarheit und argumentativer, methodischer Stringenz die wissenschaftlich erweisbaren Konsequenzen einer Entscheidung zu explizieren. Aber die Entscheidung selbst zu treffen, ist sie in keiner Weise kompetent“ (Oevermann, 1996, S. 104). Die prozessbegleitende Rückkopplung von Forschungsergebnissen an die Handlungspraxis kann als ein zentraler Baustein des Projekts „Kommune Inklusiv“ gesehen werden. Kernstücke jener Rückkopplungsschleifen sind, neben ausführlichen Ergebnisdarstellungen und Diskussionen in Schrift- und Vortragsform, Workshops, die gemeinsam mit dem Träger des Projekts für die Akteur*innen in den Sozialräumen angeboten werden. Diesen wird damit die Möglichkeit gegeben, auf die Ergebnisse der Begleitforschung zu reagieren und diese ggf. zum begründeten Ausgangspunkt ihres Handelns zu machen. Dies könnte bspw. in der Form erfolgen, dass neue Netzwerkpartner*innen gesucht, laufende Maßnahmen gestoppt, angepasst oder gänzlich neue Maßnahmen entwickelt werden. Dieser Prozess der Rückkopplung ist niemals abgeschlossen. Werden neue Maßnahmen entwickelt, beginnt die kritische Reflexionsschleife wieder von vorne. Inklusive Sozialraumentwicklung kann sich nur in der Handlungspraxis vollziehen, aber diese bedarf der kontinuierlichen Begleitung. So müssen bspw. Projektadaptionen und damit einhergehende Veränderungen in den Sozialräumen wiederum auf ihre Wirksamkeit und potenziell Ausschluss (re-)produzierende Wirkmächtigkeit hin befragt werden. Es zeigt sich hieran, dass es sich bei Inklusion nicht um etwas handelt, was sich z. B. über einzelne Maßnahmen herstellen lässt. Inklusion heißt Kritik und Kritik ist damit auch das Kernstück dessen, was hier unter inklusiver Sozialraumentwicklung verstanden wird.