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1 Ausgangslage und Projektskizze

1.1 Zugang zu Studium und Forschung für Menschen mit Lernschwierigkeiten

Ein Recht auf lebenslanges Lernen, festgeschrieben im Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (kurz: UN-BRK) sowie die damit einhergehende Möglichkeit der Hochschulbildung für Menschen mit LernschwierigkeitenFootnote 1, hat in Deutschland bislang lediglich in Ansätzen Realisierung gefunden. Entwicklungsprozesse hin zu einer partizipativen Universitätskultur verlaufen langsam, nicht zuletzt, weil Veränderungen und Anpassungen auf verschiedenen Ebenen notwendig sind, wie dieser Beitrag verdeutlicht. Auch Hauser und Kolleg*innen (2016) konstatieren: „Der Anspruch ‚Eine Hochschule für alle‘ muss weit über die Reflexion baulicher Barrieren und sogenannter Nachteilsausgleiche für Studierende mit Behinderung/chronischer Erkrankung hinausgehen“ (ebd., S. 287). In Deutschland bestehen erste Projekte, die Menschen mit Lernschwierigkeiten den Zugang zu Universitäten ermöglichen, wie beispielsweise die inklusiven Hochschulseminare an der PH Heidelberg (Terfloth & Klauß, 2016).

Auf internationaler Ebene hingegen bestehen bereits vielfältige Projekte für Studierende mit Lernschwierigkeiten, die im zeitlichen Umfang zwischen einwöchigen Summer Schools, dem Besuch einzelner Kurse pro Woche sowie einem Vollzeitstudium divergieren und dementsprechend unterschiedliche Zertifikate und Abschlüsse bereithalten. Eine wichtige Orientierung bei der Konzeption der inklusiven Summer School (SUSHI) an der Universität zu Köln waren dabei die folgenden drei kurz vorgestellten Projekte: das TOPS Programm der Ohio State University, das Ozmot Projekt der Bar-Ilan Universität in Israel sowie die Summer School am Trinity College in Dublin.

Eines von über 300 US-amerikanischen Projekten für Menschen mit Lernschwierigkeiten an Universitäten und Colleges ist das TOPS Programm am Nisonger Center der Ohio State University, bei dessen Abschluss Studierende mit Lernschwierigkeiten ein Zertifikat erhalten. Zusätzlich zur Erarbeitung der inhaltlichen Themenbereiche wie universitäre Bildung, berufliche Entwicklungschancen und selbstständiges Leben können die Teilnehmenden durch ehrenamtliche Tätigkeiten auf dem Campus Arbeitserfahrungen sammeln und lebenspraktische Kompetenzen für ihren selbstständig zu gestaltenden Alltag entwickeln. Als Voraussetzung für die Teilnahme am TOPS Programm müssen die Studierenden mit Lernschwierigkeiten an einer sechs-tägigen Sommer-Orientierung teilnehmen (The Ohio State University Nisonger Center, 2020).

Auch die an der Bar-Ilan Universität (Israel) im Rahmen des Ozmot Projektes angebotenen Kurse für Studierende mit Lernschwierigkeiten nahmen bei der Etablierung des Projektes an der Universität zu Köln eine Vorbildfunktion ein. Das dort fest verankerte dreistufige Modell untergliedert sich in: 1) Einführung in die akademische Welt, 2) gemeinsames Forschen und 3) Erwerb eines BA-Abschlusses. In der ersten Stufe besuchen Studierende mit Lernschwierigkeiten akademische Kurse u. a. zur Entwicklungspsychologie, Selbstvertretung und dem Umgang mit Computern, die von Masterstudierenden des Lehramts-Studiengangs vorbereitet und durchgeführt werden. In der zweiten Stufe steht partizipative Forschung im Vordergrund. Die letzte Stufe und somit der BA-Abschluss wurde im Jahr 2018 von zehn Studierenden mit Lernschwierigkeiten erreicht (Lifshitz et al., 2018).

Daneben stellte die am Trinity College in Dublin angebotene Summer School einen wichtigen Referenzpunkt für das Kölner Projekt dar. Über die Summer School hinausgehend besteht für Studierende mit Lernschwierigkeiten dort die Option, in einem „hybriden“ Modell an einem zweijährigen Studium teilzunehmen, welches sowohl Kurse gemeinsam mit Studierenden ohne Lernschwierigkeiten als auch Kurse speziell für Menschen mit Lernschwierigkeiten beinhaltet. Mithilfe der so realisierten Förderung von Lernchancen, der Etablierung von sozialen Netzwerken, dem Aufzeigen von Berufschancen sowie des erworbenen „Certificate in Contemporary Living“ soll der Abschluss des Studiums gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen (O´Keeffe et al., 2016, S. 309).

Unabhängig vom SUSHI-Projekt fungiert im Hinblick auf inklusive Hochschulbildung das „Up the Hill“ Projekt für Menschen mit Lernschwierigkeiten der Flinders University in Australien seit über 20 Jahren als Vorreitermodell. Zur erfolgreichen Teilnahme an akademischen Kursen und dem sozialen Universitätsleben erhalten Studierende mit Lernschwierigkeiten Unterstützung von Peer-Mentors, welche Studierende der Humanwissenschaften sind (Flinders University, 2020).

1.2 Partizipative Hochschulprojekte an der Universität zu Köln

Ziel des an der Universität zu Köln initiierten Projektes „SUSHI – Summer School inklusiv“ war es, durch eine einwöchige Veranstaltung inklusive Hochschulbildung in einem ersten Schritt zu realisieren. Menschen mit Lernschwierigkeiten sollten Einblicke in universitäres Lernen erhalten, und für alle Teilnehmenden (Menschen mit Lernschwierigkeiten, Studierende und Hochschuldozierende) sollten gemeinsame Lernerfahrungen ermöglicht werden. Dementsprechend wurden zur Zusammenstellung der Lerngruppe sowohl Erwachsene mit Lernschwierigkeiten als auch Studierende aller Lehrämter der Universität zu Köln angesprochen. Hierbei erwies sich die Kooperation mit der Diakonie Michaelshoven in Köln sowie dem Verein KuBus e. V. als äußerst bereichernd. Die so gewonnenen sieben Studierenden und sieben Menschen mit Lernschwierigkeiten setzten sich im Rahmen der Veranstaltungswoche auf fachlicher Ebene mit den Themen ‚Bildung und Erziehung im inklusiven Kontext‘ auseinander. Die Vorbereitung der Veranstaltung erfolgte durch Masterstudierende der Sonderpädagogik unter Anleitung der Dozentinnen der Universität zu Köln und in Abstimmung mit den Teilnehmenden der Diakonie Michaelshoven. SUSHI baute auf einem Wechsel zwischen fachlicher Auseinandersetzung, sozialem Austausch und Reflexion des gemeinsamen Lernprozesses auf. Auf diese Weise entstand bereits im Vorfeld von SUSHI ein kooperatives Miteinander, welches beispielsweise auch im israelischen Modell praktiziert wird (Lifshitz et al., 2018).

Inhaltlich arbeitete die Lerngruppe in Themenblöcken, die täglich in sich geschlossen waren. Nach einem Einblick in die Universität und Exkursionen zu wichtigen Orten des Campus fanden unter dem Themenbock ‚Bildung und gemeinsames Forschen‘ Einführungen u. a. zum Bildungsverständnis von Klafki (1963) sowie zum grundlegenden Verständnis von universitärer Forschung statt. Diskurse zu den Themen ‚Schriftspracherwerb‘ und ‚Leichte Sprache‘ wurden mit einer gemeinsamen Leseeinheit abgerundet. Das Thema ‚Umgang mit Geld und Zeit‘ wurde lebensweltnah an finanziellen Gewohnheiten und personifizierten Tagesabläufen der Teilnehmenden behandelt. Abschließend wurde das Konzept ‚Persönliche Zukunftsplanung‘ bearbeitet, um Ideen für weitere Bildungsmöglichkeiten zu eröffnen. Zusätzlich führte die didaktisch aufbereitete Methode der Gruppendiskussion zu fruchtbaren Diskursen bezüglich aktueller gesellschaftlicher Problemlagen (z. B. Erfahrung mit Diskriminierung in der Öffentlichkeit).

Zum Ende der gemeinsamen Lernwoche wurden mit allen Teilnehmenden qualitative Interviews geführt, die mittels der rekonstruktiven hermeneutischen Textanalyse (Panke-Kochinke, 2004) ausgewertet wurden. In den Interviews wird deutlich, dass die behandelten Themen sowie die Unterteilung in Thementage von den Teilnehmenden positiv aufgenommen wurden: „Also mir hat es sehr viel Spaß gemacht, auch mit den Studenten so, auch viel Neues. (…) die neuen Lernmethoden und so, das war für mich neu.“ Eine andere Teilnehmende äußerte sich folgendermaßen: „Es war immer ein Thema an einem Tag, das fand ich eigentlich ziemlich gut. Konnten alle mitmachen.“ Daneben hob eine Lehramts-Studierende das Aufbrechen von bestehenden Grenzen hervor: „(…) möchte ich vor allem die Erfahrung von verschwimmenden Grenzen hervorheben. Grenzen zwischen Institutionen, die im alltäglichen Leben nur wenig miteinander zu tun haben. Grenzen zwischen individuellen Lernvoraussetzungen und Fähigkeiten, die im hier vorherrschenden leistungsorientierten System oftmals übersehen werden. Grenzen zwischen Menschen, deren Differenzen viel zu häufig im Fokus stehen, obwohl sie so viele Gemeinsamkeiten verbinden.“ Eine Teilnehmerin mit Lernschwierigkeiten beschrieb dieses Auflösen von institutionellen Grenzen sehr konkret, indem sie ihr Erstaunen darüber äußerte, dass sie ein Bildungsangebot an der Universität in Anspruch nehmen „dürfe“. Auch für Studierende stellte sich das partizipative Veranstaltungsformat als besonders bereichernd heraus: „Eine Woche lang gemeinsam mit den Menschen zur Uni gehen, über deren Bedürfnisse, Herausforderungen und Chancen wir Semester für Semester sprechen – das war eine der intensivsten und prägendsten Erfahrungen, die ich in fünf Jahren Studium machen durfte.

Am Ende der einwöchigen Veranstaltung entwickelte sich insbesondere durch die gemeinsamen Gruppendiskussionen sowie die Auseinandersetzung mit der persönlichen Zukunftsplanung unter den Teilnehmenden das Anliegen, gemeinsam als Forschende weiterzuarbeiten. Die so gegründete inklusive Forschendengruppe Hochschulbildung (InFoH) traf sich zwischen November 2019 und März 2020 regelmäßig, um ein in allen Schritten partizipatives Forschungsvorgehen zu konzipieren und umzusetzen. Ab März 2020 mussten die weiteren Treffen aufgrund der Corona-Pandemie ausfallen, eine Weiterführung im digitalen Raum war durch fehlende Zugangsmöglichkeiten zu Endgeräten sowie zu einer stabilen Internetverbindung von Teilnehmenden mit Lernschwierigkeit bisher nicht möglich, ein Projekt hierzu ist jedoch initiiert.

In den bis März 2020 durchgeführten Treffen entwarf die Gruppe zunächst gemeinsame Forschungsfragen, die Lebensweltbezug, Aktualität und wissenschaftliche Situierung miteinander verknüpfen. Der Fokus liegt dabei auf dem Thema ‚Möglichkeiten eines chancengerechten Zugangs zur Hochschulbildung‘ und den damit verbundenen Aspekten ‚Diskriminierung‘ und ‚Orientierung im öffentlichen Raum‘. Durch den partizipativen Forschungsprozess wird neben dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn auch eine Veränderung des Praxisfeldes angestrebt. Handlungsvorschläge, wie ein chancengerechter Zugang zur Hochschulbildung für Menschen mit Lernschwierigkeiten dauerhaft implementiert werden kann, rücken über die Forschungsfragen weiter in den Fokus. InFoH verfolgt damit eine für partizipative Formate gängige doppelte Zielsetzung (von Unger, 2014). Ziel des Forschungsprozesses ist es, Erkenntnisse über die strukturelle Veränderung der Zugangsmöglichkeiten zur Hochschulbildung für Menschen mit Lernschwierigkeiten zu erlangen. Angewandtes Ziel des Projektes InFoH ist es, weitere Erkenntnisse zur Etablierung inklusiver Lern- und Forschungsprozesse zu erzielen. Es werden im Projekt sowohl hochschuldidaktische Methoden zur Gestaltung des gemeinsamen Forschungsprozesses als auch methodische Erhebungsinstrumente, die sich barrierefrei nutzen lassen, weiterentwickelt.

2 Theoretische Grundlegungen

2.1 Universität als sozialer Raum der Ungleichheit

Um Partizipation von Menschen mit Lernschwierigkeiten an Hochschulbildung und -forschung zu bearbeiten, müssen die Fragen aufgeworfen werden, was Aufgabe der Universität ist und wie sich Universität in struktureller und interaktionaler Weise konstituiert.

Zur Beantwortung der ersten Frage wird sich Mecheril und Klingler (2014) angeschlossen, die Universität als Ort der Grenzüberschreitung des „ordentlichen Lernens und Wissens“ (Waldenfels, 2009, S. 24) verstehen. „Die Universität ist Bewegung auf der Grenze zum (Un-)Üblichen und über diese Grenze hinweg. Sie ist grundlegend transgressiv. Universität ist der Zwang, überschreiten zu müssen, mindestens zu wollen“ (Mecheril & Klinger, 2014, S. 86). Ihr liegt das Ansinnen zugrunde, als gegeben angenommene Wissensbestände, Methoden und Regeln in Frage zu stellen (Waldenfels, 2009, S. 13) und vor dem Hintergrund der jeweils individuellen Deutungsressourcen auszuformen. Der daraus resultierende „Zugewinn an verantwortbarer Handlungsmacht mittels Wissen und Nicht-Wissen und mittels der Auseinandersetzung mit Wissen und Nicht-Wissen“ (Mecheril & Klingler, 2014, S. 88) ist eine grundlegende Zugangsweise. Diese muss in einer Demokratie allen zugänglich sein, unabhängig vom sozio-kulturellen Hintergrund (ebd., S. 89). Der Ausschluss von Personengruppen, wie hier Menschen mit Lernschwierigkeiten, aus dieser Grenzüberschreitung bedeutet nicht nur den Ausschluss aus Möglichkeiten verantwortbarer Handlungsmacht, sondern auch das Fehlen von Perspektiven im Spektrum der Wissensbestände, Regeln und Methoden. Partizipation an Hochschulbildung wird somit grundlegend für diese Personengruppe.

Jedoch – und hier wird die zweite Frage adressiert – wird Universität strukturell als ein hochselektives System konstituiert, das die Fortsetzung eines sukzessiv differenziellen sowie formell ausschließenden Bildungssystems darstellt und Ungleichheitsverhältnisse reproduziert (ebd., S. 93–98). Mit Bourdieu im Feld der Bildung verortet kommt hier kulturelles und soziales Kapital (Bourdieu, 1983, S. 183 ff.) zum Tragen. Nicht allen sozialen Akteur*innen wird der Zugang zu allen gesellschaftlich relevanten Feldern gleichermaßen gewährt, was sich am Beispiel der Menschen mit Lernschwierigkeiten zeigen lässt. So fehlt das institutionalisierte kulturelle Kapital in Form eines relevanten Abschlusses. Der Hochschulzugang und damit der Zugang zu oben beschriebener grundlegender Zugangsweise bleibt dadurch den meisten Menschen mit Lernschwierigkeiten versperrt, auf diese Weise auch der Zugang zu Bildung bzw. zum Erwerben von weiterem kulturellen und sozialen Kapital im Feld der Universität. So werden der Produktion und Reproduktion von sozialer Ungleichheit bereits auf struktureller Ebene Vorschub geleistet.

Ungleichheitsreproduktion auf Basis des sozio-kulturellen Hintergrundes kommt darüber hinaus im interaktional entworfenen sozialen Raum der Universität zum Tragen. Handlungspraktiken mit dem zugehörigen Wissen und den jeweiligen Einstellungen führen hier zu Zugehörigkeits- oder Ausschlussprozessen (Mecheril & Klingler, 2014, S. 101). Löw (2017) beschreibt den sozialen Raum handlungstheoretisch als „relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten“ (ebd., S. 271). Über den Prozess des Spacing werden Menschen und soziale Güter (an)geordnet und positioniert, über die Syntheseleistung mittels „Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse[n] […] Güter und Menschen zu Räumen“ (ebd., S. 159) zusammengefasst. Gesellschaftliche Strukturen sowie die Bedingungen einer Handlungssituation wirken auf die Konstitution des sozialen Raums ein (ebd., S. 131). Materiellen Komponenten (Naturgegebenheiten und soziale Güter, auch körperliche Möglichkeiten) und deren symbolischer Wirkung in der Handlungssituation misst Löw besondere Aufmerksamkeit zu (ebd., S. 192 f.). Sie konstatiert u. a. im Anschluss an Bourdieu (1983, 1993): „Die Chancen, Raum zu konstituieren, können aufgrund geringerer oder größerer Verfügungsmöglichkeiten über soziale Güter, aufgrund von geringerem oder breiterem Wissen, aufgrund geringerer oder höherer Verfügungsmöglichkeiten über soziale Positionen oder/und aufgrund von Zugehörigkeiten bzw. Nicht-Zugehörigkeiten dauerhaft begünstigt oder benachteiligt sein“ (Löw, 2017, S. 228). Insbesondere in institutionalisierten Räumen wie hier am Beispiel der Universität, in welchen Positionierung und Synthese vorhersehbar sind und repetitiv verwirklicht werden, sieht Löw (2017) Machtverhältnisse reproduziert. Das inszenierte Spacing und die in den Habitus eingeschriebenen Wahrnehmungs- und Relevanzschemata werden als Atmosphäre in der Raumkonstitution wiederholt hervorgebracht und produzieren in ihrer Zusammenwirkung Exklusions- oder Inklusionsprozesse (ebd., S. 210–217). So wird der sich selbst aufrechterhaltende Kreislauf der Reproduktion von Ungleichheit auch an Universitäten deutlich.

Soziale Akteur*innen entwickeln nach Bourdieu ihren Habitus (Bourdieu & Waquant, 1996, S. 39) durch den Zugang zu gesellschaftlich relevanten Feldern, durch die Einverleibung sozialer und gesellschaftlicher Strukturen über Sozialisation, Bildung und Erziehung. Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster entstehen, die wiederum zur Reproduktion von Strukturen und Feldern (der sozialen Ordnung) führen. Wirken Exklusionsmechanismen auf struktureller Ebene, so haben diese ebenso Auswirkungen auf den individuellen Habitus aller Beteiligten wie auf die Verfügbarkeit von sozialem und kulturellem Kapital in der interaktionalen sozialen Raumkonstitution.

2.2 Partizipation als relationales Mehrebenenkonstrukt

Das hier vertretene Partizipationsverständnis setzt an diesem Reproduktionskreislauf an. So wird Partizipation als relationales Mehrebenenkonstrukt verstanden, das sich auf der individuellen, interaktionalen und strukturellen Ebene konstituiert (in ähnlicher Weise z. B. auch Aktionsbündnis Teilhabeforschung, 2015, S. 3; Mischo, 2018, S. 51). Partizipation – in seiner Reichweite ein noch unbestimmtes Konstrukt, das vielfältige Bedeutungsdimensionen aufweist, die sich begrifflich in Nomenklaturen wie Teilhabe, Teilnahme, Teilgabe oder Mitwirkung niederschlagen – wird dabei mit einer subjektiv bedeutsamen, persistent biografisch geprägten, selbstbestimmten HandlungsdimensionFootnote 2 verknüpft, die sich im relationalen Zusammenwirken mit interaktionalen sowie strukturellen Anerkennungsprozessen entfaltet und durch diese beeinflusst wird. Partizipationschancen als grundlegendes Charakteristikum selbstbestimmten Handelns sind dabei mitgedacht (u. a. Mischo, 2018; Nieß, 2016; Scheu & Autrata, 2013; Schwanenflügel, 2015).

2.2.1 Individuelle Ebene

Auf der individuellen Ebene realisiert sich Partizipation durch das selbstbestimmteFootnote 3 Handeln der beteiligten Individuen, das sich durch Spacing und Syntheseleistung (Löw, 2017) einflussnehmend auf die Konstitution des sozialen Raums der Universität und die dortigen Aktivitäten äußert. So handelt jedes Individuum auf der Grundlage des eigenen zur Verfügung stehenden sozialen und kulturellen Kapitals im Feld der Universität und bringt es gleichermaßen hervor (Bourdieu & Waquant, 1996). Verfügbare biografisch und historisch-kulturell ausgebildete individuelle Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster, im Habitus inkorporiert, beeinflussen die Möglichkeiten der Raumkonstitution.

Menschen mit Lernschwierigkeiten wurde bisher die Möglichkeit verwehrt, für die Universität feldspezifische Muster auszubilden, sodass der Rückgriff auf diese zur Raumkonstitution im institutionalisierten universitären Raum erschwert ist. Hingegen handeln Studierende und Lehrende ohne Lernschwierigkeit entlang routinierter Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster, die im Feld der Bildung bislang ohne die Erfahrung der Differenzlinie Lernschwierigkeit entwickelt und inkorporiert wurden. Auf der individuellen Ebene sind diese je individuellen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster zu analysieren und zu adressieren.

2.2.2 Interaktionale Ebene

Eine Aushandlung auf der Basis dieser individuellen Voraussetzungen ist grundlegend für Partizipation und wird auf der interaktionalen Ebene verortet. Sozialer Raum entsteht durch interaktionale Anerkennungsprozesse und kooperatives Handeln, er ist ein „Gemeinschaftsprodukt“ aller beteiligten Subjekte. Erst wenn sich nach Löw (2017) alle Beteiligten in einer Situation den jeweiligen Positionen der anderen bewusst sind, diese durch ihr eigenes Handeln anerkennen, Personen und soziale Güter entsprechend positionieren und synthetisieren und damit den sozialen Raum als solchen kooperativ konstituieren, ist Partizipation aller im jeweiligen sozialen Raum umgesetzt. Bourdieu (Bourdieu & Warquant, 1996) vergleicht dies mit einem Spiel. Die Regeln des Spiels sind durch das jeweilige Feld bestimmt, werden aber in der jeweiligen Praxis durch die Akteur*innen interpretiert und angepasst. Die Akteur*innen entwickeln gemeinsam einen sogenannten praktischen Sinn (Bourdieu, 1993) für das Spiel, der sie in Beziehung setzt. Ein feldspezifisches Interesse und Gespür sowie ein Orientierungs- und Antizipationssinn wird geschaffen. Dabei bringen die Akteur*innen kulturelles und soziales Kapital als Element der individuellen Ebene ein und erwerben dies gleichzeitig. Bourdieu (1993) entwirft den praktischen Sinn als Alternative zur traditionellen Handlungstheorie. Er generiert Praktiken, die den aktuellen Erfordernissen des Feldes entsprechen. Sie werden als konkrete Geschehen verstanden, die sich in bestimmten räumlichen Gegebenheiten zwischen Akteur*innen in der Situation entwickeln.

Abschn. 1 hat verdeutlicht, dass durch bislang fehlende gemeinsame Interaktionsprozesse im Spielfeld der Universität anerkennende Routinen der Raumkonstitution und gemeinschaftlich praktizierte praktische Sinnstiftung von Menschen mit und ohne Lernschwierigkeiten nicht vorausgesetzt werden können.

2.2.3 Strukturelle Ebene

Gestützt werden die individuelle und interaktionale Ebene der Partizipation von der strukturellen Ebene. So ist Partizipation immer in bestehende strukturelle Bedingungen eingebettet; es besteht eine enge Wechselwirkung zwischen Handeln und Struktur (Löw, 2017, S. 131). Materielle Handlungsbedingungen (wie verfügbare Objekte mit symbolischer Bedeutung), gesellschaftliche Strukturen wie rechtliche und organisationale Rahmenbedingungen (z. B. Zugangsvoraussetzungen, Bildungsabschlüsse, Barrierefreiheit) und historisch-kulturelle Rahmenbedingungen, die den Habitus der individuellen Ebene geprägt haben (z. B. die Bildungs- und Lebenssituation von Menschen mit Lernschwierigkeiten), wirken auf Partizipationshandeln im sozialen Raum ein.

Durch die strukturelle Ebene werden Partizipationschancen nachhaltig beeinflusst. Menschen mit Lernschwierigkeiten sind in erhöhtem Maße dem Risiko ausgesetzt, dass Bildung reduziert oder gänzlich vorenthalten wird bzw. der Zugang zu gesellschaftlich relevanten Feldern wie dem universitären Feld aufgrund fehlenden kulturellen Kapitals (Abschlüsse) verwehrt bleibt (Abschn. 1). Isolation von der Aneignung gesellschaftlichen und kulturellen Erbes wird zur zentralen Kategorie von geistiger Behinderung (Feuser et al., 2013, S. 348 f.). Fehlendes kulturelles Kapital ist nicht vordergründig der biologischen Disposition zuzuschreiben, sondern der Komplexität behindernder Umstände. Dieser prekären Ausgangslage kann nur begegnet werden, wenn gesellschaftliche, makrostrukturelle Aspekte in den Blick genommen werden (Ziemen, 2018, S. 94 ff.).

3 Von der Theorie zur Praxis in SUSHI und InFoH

Als Bindeglied zwischen oben aufgeführtem Partizipationsverständnis und der praktischen Umsetzung dient der Rückbezug zur Mehrdimensionalen Reflexiven Didaktik (kurz: MRD; Ziemen, 2018) als Modell einer Didaktik ohne Ausschluss. Sie ist in ihren Dimensionen hochkompatibel mit dem hier aufgezeigten Verständnis von Partizipation. So kann mit ihr die strukturelle Ebene (MRD: Dimension I: makrostrukturelle Aspekte) ebenso analysiert werden wie die interaktionale Ebene (MRD: Dimension II: Rolle der Akteur*innen und Kooperation/Dimension III: Lehrpersonen und Teammitarbeiter*innen). Die individuelle Ebene wird – erweitert um den Lerngegenstand bzw. die Sache – in der MRD mit der Dimension IV (Verhältnis Schüler*innen und Lerngegenstand bzw. hier: Lernende/Forschende und Lern-/Forschungsgegenstand) adressiert. Dimension V (Didaktische Gestaltung von Unterricht) der MRD zielt schlussendlich auf die methodische Umsetzung ab, die mit Bezug zum Partizipationskonstrukt Individuum, Interaktion und Struktur verbindet.

So wird auf der Basis der Dimensionen I bis IV der MRD der soziale Raum mit den dort Handelnden analysiert, mit Dimension V werden schließlich Lern- bzw. Forschungsräume methodisch so arrangiert, dass Partizipation aller auf der Basis der je individuellen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster sowie feldspezifischen Spielregeln und Praktiken ermöglicht wird. In Abb. 1 wird die praktische Umsetzung exemplarisch visualisiert.

Abb. 1
figure 1

Die Mehrdimensionale Reflexive Didaktik (in Anlehnung an Ziemen, 2018) im Kontext partizipativer Lehr- und Forschungsräume

4 Fazit

Der chancengerechte Zugang zur Universität für Menschen mit Lernschwierigkeiten – vielfach gefordert und in Beispielen inter-/national umgesetzt – erfordert eine differenzierte Betrachtung entlang des oben dargestellten relationalen Mehrebenenkonstrukts von Partizipation. Theoretische Bezüge zu Löw (2017) und Bourdieu (1983, 1993) können hier gewinnbringend als Reflexionsfolie genutzt werden. Die vorgestellten Projekte zielen auf die Erforschung und auf Veränderungsprozesse auf ebendiesen Ebenen ab. Während die bisherigen Projekte in ihrer konkreten Umsetzung die individuelle und interaktionale Ebene ansprechen, ist es ausgesprochenes Ziel von InFoH, insbesondere Erkenntnisse auf struktureller Ebene zu erlangen, um Universität als sozialem Raum der Ungleichheit entgegenzuwirken und eine nachhaltige Partizipation von Menschen mit Lernschwierigkeiten an Bildungs- und Forschungsräumen im universitären Feld zu ermöglichen. Auf interaktionaler Ebene werden unter Rückbezug zur individuellen Ebene weiterführende Erkenntnisse gesammelt, um Ungleichheitsverhältnissen zu begegnen und neue Spielregeln des gemeinsamen Lernens und Forschens im universitären Feld zu erkunden. Im Anschluss an die MRD und die Weiterentwicklung partizipativer Forschungsmethoden werden in der didaktisch-methodischen Dimension Umsetzungsmöglichkeiten einer inklusionssensiblen Hochschullehre und -forschung im Mittelpunkt stehen. Werden hier die strukturelle, interaktionale und individuelle Ebene der Analyse separat betrachtet, muss berücksichtigt werden, dass diese in Beziehung zueinander erscheinen und sich gegenseitig bedingen, so bspw. bewirken Veränderungen der strukturellen Ebene mit der Möglichkeit des Zugangs zur Hochschule für Menschen mit Lernschwierigkeiten Veränderungen der Hochschuldidaktik, sodass Partizipation für ALLE möglich sein kann, was wiederum Veränderungen auf interaktionaler Ebene erforderlich macht.