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1 Teilhabe – Annäherung an einen unterbestimmten Begriff

Teilhabe ist in vielen sozialpolitischen Handlungsfeldern zu einem Leitbegriff geworden. Seine Verwendung in den unterschiedlichen sozialpolitischen Diskursen folgt jedoch keiner einheitlichen Logik, so wie auch soziale Ungleichheit in jedem Handlungsfeld anders verhandelt wird. Wegen der Unterschiedlichkeit und Vielfalt dieser Diskurse lässt sich der Teilhabebegriff nicht einer wissenschaftlichen Disziplin zuordnen; er verlangt eine interdisziplinäre Perspektive.

Um zu einem klareren Begriffsverständnis von Teilhabe und damit zur theoretischen Verortung von Teilhabeforschung beizutragen, ist es zudem sinnvoll, auch die unterschiedlichen Bedeutungszusammenhänge von Teilhabe in zentralen sozialpolitischen Diskursen herauszuarbeiten. Das Ziel des BeitragsFootnote 1 besteht darin, einen über die Politik- und Arbeitsfelder hinweg geteilten begrifflichen Bedeutungskern von Teilhabe zu identifizieren, um über diesen Bezugspunkt Ansprüche an eine künftige Teilhabeforschung abzuleiten.

Der Zugang über sozialpolitische Bedeutungszusammenhänge ist deshalb vielversprechend, weil Teilhabe als rechtlich und sozialpolitisch geprägter Begriff in fachpraktische und wissenschaftliche Diskurse hineinreicht, dort rezipiert und in reflexiv bearbeiteter Form wieder auf Sozialpolitik angewandt wird. Sozialpolitische und fachwissenschaftliche Diskurse um den Teilhabebegriff sind eng miteinander verwoben. Indem er die unterschiedlichen Bedeutungszusammenhänge beleuchtet, verfolgt der Beitrag einen rekonstruktiven Ansatz (Abschn. 2). Damit können und sollen Widersprüche, die sich durch die Vielfalt der unterschiedlichen Diskurse ergeben, nicht aufgelöst werden. Vielmehr soll ein Reflexionsrahmen geschaffen werden, innerhalb dessen eine gemeinsame Verständigung zum Teilhabebegriff möglich wird.

Zu diesem Zweck zieht der Beitrag grundlegende (sozial-)wissenschaftliche Ansätze hinzu, die das Potenzial besitzen, den Teilhabebegriff zu schärfen (Abschn. 3). Als Ergebnis lassen sich wesentliche Elemente des Teilhabebegriffs festhalten (Abschn. 4). Daran anknüpfend wird das Verhältnis von Teilhabe zu den verwandten Begriffen Partizipation, Inklusion und Integration diskutiert (Abschn. 5). Abschließend werden fünf Ansprüche an die Teilhabeforschung skizziert (Abschn. 6).

2 Teilhabe in unterschiedlichen sozialpolitischen Handlungsfeldern

In der sozialpolitischen Programmatik und Gesetzgebung ist der Teilhabebegriff weit verbreitet. Das gilt insbesondere für Rehabilitation und Behindertenhilfe, darüber hinaus auch für weitere sozialpolitische Kontexte. Wie die nachfolgende Analyse der Begriffsverwendung in unterschiedlichen sozialpolitischen Feldern zeigt, erhält der Teilhabebegriff je verschiedene Bedeutungsfacetten. Es werden jedoch auch wesentliche Gemeinsamkeiten deutlich, die auf einen Bedeutungskern von Teilhabe weisen.

2.1 Handlungsfeld der Rehabilitation und Behindertenhilfe

Mit der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) wurde der universelle Rechtsanspruch behinderter Menschen auf „volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft“ (Art. 3c UN-BRK) menschenrechtlich begründet. Der Teilhabebegriff der UN-BRK markiert einen veränderten gesellschaftlichen Umgang mit Behinderung: Menschen mit Behinderung werden als Bürgerinnen und Bürger mit gleichen Rechten anerkannt und dabei unterstützt, diese Rechte geltend zu machen. Der Anspruch auf Teilhabe im Sinne der UN-BRK ist universell und umfassend angelegt, er betrifft alle Menschen mit Behinderung und alle Teilhabedimensionen. Teilhabe an der Gesellschaft ist immer als Teilhabe in verschiedenen gesellschaftlichen Systemen zu verstehen.

Die Reform des deutschen Behindertenrechts und des Neunten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB IX) – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – machte Teilhabe in diesem sozialstaatlichen Handlungsfeld zum zentralen Rechtsbegriff. Indem das SGB IX beeinträchtigte Teilhabe – im Sinne der UN-BRK – relational als Ergebnis der Wechselwirkung zwischen Beeinträchtigungen und Barrieren fasst, wird ein Bezug zum bio-psycho-sozialen Modell der ICF (s. Abschn. 3.1) hergestellt. Als Menschen mit Behinderung nach dem SGB IX gelten Personen, wenn sie „körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können“ (§ 2 Abs. 1 SGB IX).

Ausgangspunkt und Ziel sozialstaatlicher Interventionen ist es, ihnen Zugang zu gesellschaftlich anerkannten Lebensmöglichkeiten zu verschaffen. Leistungen zur Teilhabe sollen dafür Ressourcen vermitteln, Benachteiligungen vermeiden und Barrieren abbauen. Dabei wird Teilhabe in Beziehung gesetzt mit Selbstbestimmung, und die Unterstützung einer individuellen Lebensführung wird in den Mittelpunkt gestellt.

2.2 Handlungsfelder der Grundsicherung nach dem SGB II, der Kinder- und Jugendhilfe, der Wohnungslosenhilfe und der Migrationspolitik

Wie Teilhabe in Rehabilitation und Behindertenhilfe verstanden wird, strahlt auf andere sozialpolitische Handlungsfelder aus, trifft aber auch dort auf jeweils mehr oder minder etablierte eigenständige „Teilhabe-Diskurse“ (vgl. dazu ausführlich: Bartelheimer & Henke, 2018).

Im Handlungsfeld der Grundsicherung nach dem SGB II gab es beim Inkrafttreten des Zweiten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB II) – Grundsicherung für Arbeitsuchende – im Jahre 2005 keine Teilhabeziele. Das dem neuen Gesetz zugrundeliegende Aktivierungsparadigma nahm an, „gesellschaftliche Teilhabe (und die Verwirklichungschancen zu ihrer Realisierung) sei(en) primär durch Erwerbsarbeit zu erreichen“ (Koch et al., 2009, S. 16). Im Jahr 2010 jedoch urteilte das Bundesverfassungsgericht, zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums gehörten auch die „materiellen Voraussetzungen“, die „für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind“ (BVerfG, 2010, S. 1, BvL 1/09). Leistungsberechtigten ein Leben zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht, wurde daraufhin als Ziel in § 1 SGB II normiert. Die „Verbesserung der sozialen Teilhabe“ erhielt den Rang eines sozialpolitischen Wirkungsziels, und das Leistungsspektrum wurde um Bildungs- und Teilhabeleistungen (§§ 28 ff. SGB II) und um das Instrument der „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ (§ 16 i SGB II) erweitert. Im Handlungsfeld konkurrieren seither mehrere Interpretationen des Teilhabebegriffs: Eine erwerbszentrierte Lesart geht (weiter) davon aus, dass wirkliche Teilhabe innerhalb des Grundsicherungssystems nicht entstehen kann, da alle wesentlichen Teilhabeffekte erst durch ungeförderte Erwerbsarbeit vermittelt werden. In einer zweiten Deutung stellt Erwerbsteilhabe nur eine mögliche Dimension sozialer Teilhabe dar. Da sie auch über Bildung, materielle Existenzsicherung oder Gesundheit erreicht wird, ist Teilhabe sowohl durch als auch jenseits von Erwerbsarbeit zu fördern (Reis & Siebenhaar, 2015). Strittig bleibt, wie viel Eigenständigkeit Teilhabeziele beanspruchen können, die sich nicht allein durch Erwerbsarbeit erreichen lassen. Und: In der Logik der Grundsicherung bleiben Teilhabeansprüche stets auf ein knapp bemessenes Mindestmaß begrenzt.

Prägend für das Begriffsverständnis von Teilhabe im Handlungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe war bislang das in § 1 des Achten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VIII) – Kinder und Jugendhilfe – verankerte Recht des jungen Menschen „auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“, das als indirekter Auftrag zur „Befähigung junger Menschen zur gesellschaftlichen Teilhabe“ gedeutet wurde (Deutscher Bundestag, 2013, S. 77). Ist diese Teilhabe infolge einer (drohenden) seelischen Behinderung beeinträchtigt, haben Kinder und Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe. Gebräuchlich war der Teilhabebegriff in der Kinder- und Jugendhilfe außerdem als Synonym für gleiche Chancen im Bildungsverlauf.

Voraussichtlich ab 2021 soll nun ein novelliertes SGB VIII die UN-BRK im Hinblick auf Kinder und Jugendliche mit Behinderungen inklusiv umsetzen, und Teilhabe im Sinne von Befähigung und Gleichberechtigung wird explizit zum gesetzlichen Ziel der Kinder- und Jugendhilfe. Nach einem ergänzten § 1 SGB VIII soll diese es jungen Menschen künftig „ermöglichen oder erleichtern, entsprechend ihrem Alter und ihrer individuellen Fähigkeiten in allen sie betreffenden Lebensbereichen selbstbestimmt zu interagieren und damit gleichberechtigt am Leben in der Gesellschaft teilhaben zu können“ – unabhängig von „Behinderungen und unabhängig von Kultur, Geschlecht, Nationalität, Herkunft und sozialem Hintergrund“ (Bundesregierung, 2020, S. 73).

Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten nach § 67 des Zwölften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB XII) – Sozialhilfe, auf deren Grundlage die klassische Wohnungslosenhilfe Leistungen erbringt, beruhen auf dem weit gefassten Teilhabeziel, Hilfesuchende „zur Selbsthilfe zu befähigen, die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen und die Führung eines menschenwürdigen Lebens zu sichern“. Sie sollen „in die Lage versetzt werden, ihr Leben entsprechend ihren Bedürfnissen, Wünschen und Fähigkeiten zu organisieren und selbstverantwortlich zu gestalten“ (§ 2 Abs. 1 Durchführungsverordnung [DVO] zu § 67 SGB XII). Keine Teilhabedimension kann von der Bearbeitung ausgeschlossen werden. Charakteristisch für die Konstruktion des Leistungsanspruchs ist eine Differenzierung zwischen Teilhabechancen und erreichter Teilhabe. Soziale Schwierigkeiten nach der Definition des § 67 SGB XII sind Schwierigkeiten, die jemanden daran hindern, Teilhabechancen in individuell gelingende Teilhabe umzuwandeln. Das Leistungsrecht spiegelt hier ein über den Grundsicherungsauftrag hinausgehendes Verständnis für die Komplexität des Zusammenwirkens von individuellen und umweltbedingten Teilhabeeinschränkungen, das für die konzeptionelle und theoretische Fundierung von Teilhabe leitend sein muss.

Im Handlungsfeld der Migrationspolitik konkurrieren mehrere unbestimmte Leitbegriffe: Dem etablierten und im Aufenthaltsrecht gängigen Begriff der Integration (§ 1 AufenthG) wird zunehmend das Leitziel der Inklusion entgegengesetzt, immer gebräuchlicher wird auch das alternative Konzept der Diversity. Alle drei Konzepte beziehen sich auf Teilhabenormen und -ziele, um positive Ansprüche von Zugewanderten zu beschreiben, deren Recht auf Aufenthalt anerkannt ist. Je nach Politikverständnis wird Teilhabe dabei entweder als Ergebnis einer gelungenen Integration (Unabhängige Kommission Zuwanderung, 2001, S. 11) oder als „Grundvoraussetzung für gelingende Integration“ beschrieben (Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, 2016, S. 35). Zugleich aber ist eine wesentliche Voraussetzung für Teilhabeansprüche, nämlich das gleiche Recht auf Zugang zu gesellschaftlichen Teilsystemen und auf Gleichstellung, in diesem Politikfeld nicht unmittelbar gegeben, sondern erst, wenn die Bedingungen für den rechtmäßigen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland erfüllt sind. Die maßgeblichen Gesetze regeln nicht nur Ansprüche auf bestimmte Leistungen, sondern zuvor die Bedingungen für Einschluss in die und Ausschluss aus der Rechtsgemeinschaft.

2.3 Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Überall dort, wo Teilhabe zu einem Rechtsbegriff wird, geht es darum, verschiedene Dimensionen der Lebensführung zueinander ins Verhältnis zu setzen. Es zeigt sich, dass Mehrdimensionalität zum Bedeutungskern des Begriffs gehört. Die Handlungsfelder unterscheiden sich jedoch erheblich danach, für welche Lebensbereiche Teilhabe als positive Norm eingeführt wird.

In allen angesprochenen Rechtskreisen wandelt sich Teilhabe von einer diskursiven Figur zum anspruchsbegründenden Rechtsbegriff, jedoch ist dieser Prozess unterschiedlich weit vorangeschritten. Muss die Grundsicherung lediglich ein Mindestmaß an Teilhabe garantieren, geht es etwa im SGB IX um einen weiter gehenden Gleichstellungsanspruch, also um volle und wirksame Teilhabe.

Die gemeinsame Bezugnahme auf Teilhabeziele schlägt bisher noch keine Brücke zwischen Handlungsfeldern. Wo ein ‚Mindestmaß‘ an Teilhabe beginnt und wo ‚volle‘ Teilhabe erreicht ist, wird entweder unterschiedlich bestimmt, oder ein konkreter Maßstab fehlt noch ganz.

3 Konzeptionelle Grundlagen

Als Gegenbegriff zu Ausgrenzung oder Ausschluss steht Teilhabe stets für eine positive Idee von Wohlfahrt, Lebensqualität oder „gutem Leben“, die ohne sozialwissenschaftliche Fundierung jedoch vage bleibt: An welchen wertvollen Gütern oder Handlungsmöglichkeiten soll Teilhabe gemessen werden und wie wird sie erreicht? Welche Qualität sozialer Positionen und individueller Lebensbedingungen soll mit dem Begriff angesprochen werden? Der folgende Abschnitt diskutiert drei Konzepte, die zur genaueren wissenschaftlichen Bestimmung des Teilhabebegriffs dienen können: das bio-psycho-soziale Modell von Behinderung und Gesundheit, den Lebenslagenansatz und das Konzept der Befähigung (Capability).

3.1 International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF)

Die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO, 2001; deutsch: Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit; DIMDI, 2005) bettet den Teilhabebegriff in ein bio-psycho-soziales Modell von funktionaler Gesundheit ein (vgl. Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

(Quelle: ICF, © DIMDI, 2005)

Das bio-psycho-soziale ICF-Modell der Komponenten der Gesundheit.

Nach der Definition der WHO ist eine Person „funktional gesund, wenn – vor dem Hintergrund ihrer Kontextfaktoren –

  1. 1.

    ihre körperlichen Funktionen (einschließlich des mentalen Bereichs) und Körperstrukturen denen eines gesunden Menschen entsprechen (Konzepte der Körperfunktionen und -strukturen),

  2. 2.

    sie all das tut oder tun kann, was von einem Menschen ohne Gesundheitsproblem (ICD) erwartet wird (Konzept der Aktivitäten),

  3. 3.

    sie ihr Dasein in allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, in der Weise und dem Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne gesundheitsbedingte Beeinträchtigung der Körperfunktionen oder -strukturen oder der Aktivitäten erwartet wird (Konzept der Partizipation [Teilhabe] an Lebensbereichen)“ (DIMDI, 2005, S. 4).

Teilhabe wird im Modell der ICF als „Einbezogensein in eine Lebenssituation“ beschrieben (DIMDI, 2005, S. 16), jedoch nicht als eigenständiges Konzept ausgearbeitet (Schuntermann, 2011, S. 4), sondern an das Konzept der „Aktivitäten“ gebunden. Teilhabeeinschränkungen zeigen sich bei der Ausübung von Aktivitäten. Behinderung wird als Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit eines Menschen gefasst, die Ergebnis von Aktivitäts- und Teilhabeeinschränkungen in neun unterschiedlichen Lebensbereichen ist. Um deren Ausmaß festzustellen, kann die „Leistung“ als vollzogene Handlungsweise eines Menschen mit der „Leistungsfähigkeit“ als (zu erwartender) Handlungsweise und höchstmöglichem Niveau der Funktionsfähigkeit des Menschen unter neutralen Standardbedingungen verglichen werden.

Auch wenn die Kontextkomponente der Umweltfaktoren die Unbestimmtheit des Teilhabekonzepts in der ICF zum Teil kompensiert, reicht es jedoch nicht, die leichter beschreib- und messbaren Aktivitäten zu erheben, um individuelle Teilhabebeeinträchtigungen zu verstehen, das Teilhabeverständnis von Menschen mit Behinderungen zu rekonstruieren, ihre Teilhabeziele zu ermitteln und wirksame Maßnahmen zu planen. Verbesserungen der „Leistung“ als Verbesserungen von Teilhabe zu interpretieren, bleibt erklärungsbedürftig. Auf der anderen Seite hat die Hilfe für Menschen mit Beeinträchtigungen mit der ICF, die alle Funktionen der Lebensführung erfasst, anderen Handlungsfeldern etwas voraus: eine Systematik möglicher Unterstützungsbedarfe und eine standardisierte Sprache bezüglich funktionaler Gesundheitskontexte.

Die Möglichkeit, den Teilhabebegriff auf Basis der ICF zu präzisieren, muss dennoch skeptisch beurteilt werden. Die ICF modelliert ‚Behinderung‘ im Rahmen funktionaler Gesundheit. Doch sie fokussiert, gerade auch in ihrer Operationalisierung, in der Frage von Teilhabe auf die Verfasstheit des Individuums, während eine genaue Fassung der Wechselbeziehung zu gesellschaftlichen Bedingungen aussteht. Hierzu erscheint der sozialwissenschaftliche Lebenslagenansatz besser geeignet.

3.2 Lebenslage

Sozialpolitische Bedeutung gewann der Lebenslagenansatz in der Ausarbeitung durch Gerhard Weisser (1978 [1972]) und Ingeborg Nahnsen (1975). In der Armuts- und Ungleichheitsforschung der Bundesrepublik wurde er ab den 1980er-Jahren genutzt, um soziale Ungleichheit nach möglichst vielen Dimensionen und differenzierter als in Klassen- oder Schichtmodellen abzubilden.

Als Lebenslage bezeichnet Weisser den „Spielraum, den die äußeren Umstände dem Menschen für die Erfüllung der Grundanliegen bieten, die ihn bei der Gestaltung seines Lebens leiten oder bei möglichst freier und tiefer Selbstbesinnung und zu konsequentem Verhalten hinreichender Willensstärke leiten würden“ (Weisser, 1978 [1972], S. 275).

Wissenschaftliche Texte und Studien, die sich am Lebenslagenansatz orientieren, greifen vor allem dessen Anspruch auf, Ungleichheit in mehreren Dimensionen zu beobachten. Die Wahl dieser Dimensionen ist jedoch oft nur heuristisch begründet. An Weissers Konzept des Handlungs- und Entscheidungsspielraums und am Problem der subjektiven Bewertung der „Grundanliegen“ wurde dagegen in der Umsetzung des Lebenslagenkonzepts kaum weitergearbeitet. Engels (2006, S. 110) möchte den Lebenslagenbegriff „im Interesse einer Präzisierung“ sogar ausdrücklich auf objektive Merkmale beschränken und „den subjektiven Umgang mit der Lebenslage von diesem Begriff selbst (…) trennen“. Damit geht aber gerade die Besonderheit des Ansatzes gegenüber anderen Modellen der sozialen Lage verloren. Nach Nahnsen dagegen kann auf ein Verständnis von Lebenslage als „Spielraum“ oder als „Inbegriff von Möglichkeiten“ „nur bei Verlust der konzeptionellen Grundlagen“ verzichtet werden (Nahnsen, 1995, S. 110 f.). Sie charakterisiert Lebenslagen durch den Spielraum sowohl zur Erfüllung als auch zur Entfaltung von Grundanliegen (1992, S. 106). Umstände, die es Menschen unmöglich machen, sich ihrer Grundanliegen bewusst zu werden, oder „internalisierte Sozialnormen“ gehören für sie zu den objektiven Gegebenheiten der Lebenslage (ebd., S. 105 f., 109). Nahnsen (1992, S. 114 f.) schlug vor, auch die Schwelle, ab der Ungleichheit der Lebenslage sozialpolitisches Handeln herausfordern sollte, über ein Konzept zu definieren, das am Verständnis der Lebenslage als Spielraum ansetzt und „Teilhabeeinschränkungen“ in heutiger Lesart vorwegnimmt. Als „Grenzniveau“ bezeichnete sie eine Lebenslage, in der aufgrund zahlreicher Beschränkungen kaum eine Chance bestehe, „erfolgreich die Perspektiven der Lebensgestaltung zu ändern“ (ebd.).

3.3 Befähigung („capability“)

Während der Lebenslagenansatz außerhalb des deutschen Sprachraums weitgehend unbekannt blieb, hat Befähigung als Konzept der Wohlfahrtsmessung seit den 1980er-Jahren durch Schriften von Amartya Sen (2002, 2010) und Martha Nussbaum (1999, 2015) internationale Bedeutung erlangt.

Wohlfahrt oder Lebensqualität bemisst sich nach dem Befähigungsansatz an der Summe der Handlungen und Zustände (bei Sen: „doings“ und „beings“), die einer Person möglich sind. In ihnen verwirklicht sich die praktische Freiheit von Menschen, „das Leben zu führen, das sie mit gutem Grund wertschätzen“ (Sen, 2010, S. 272). In die Bewertung sollen sowohl die tatsächlich verwirklichten Funktionen der Lebensführung („functionings“, „achievements“) als auch die einer Person zugänglichen, also wählbaren alternativen Handlungen und Zustände (capabilities) einbezogen werden. Die Gesamtmenge (das „Bündel“) dieser erreichten und erreichbaren Funktionen bezeichnet den „capability space“ oder „capability set“ einer Person. Leßmann (2007, S. 294) verwendet hierfür den durch den Lebenslagenansatz eingeführten deutschen Begriff der „Auswahlmenge“.

In der umfangreichen Literatur zum Capability-Ansatz wird versucht, das Zusammenspiel der Faktoren, von denen Lebensführung abhängt, wohlfahrtsökonomisch stärker zu formalisieren. Dahinter steht die Überlegung, dass Individuen Ressourcen in Funktionen der Lebensführung „umwandeln“. Aus den jeweiligen Bedingungen und Umständen, die den Zugang zu Ressourcen und die Möglichkeiten ihrer Nutzung eröffnen, erschweren oder verschließen, ergeben sich für Personen wie für soziale Gruppen unterschiedliche Nutzungsfunktionen („utilization functions“) (Leßmann, 2007, S. 138 ff.; Bartelheimer u. a., 2008, S. 12): Die gleiche Funktion zu erreichen, kann mehr oder weniger Ressourceneinsatz erfordern. Umfang und Qualität der Auswahlmenge und der realisierten Funktionen hängen also nicht nur von der Ressourcenausstattung ab, sondern auch von Umwandlungsfaktoren („conversion factors“). Robeyns (2005, S. 99) unterscheidet zwischen persönlichen, sozialen und geografischen Faktoren.

Das Konzept der Befähigung soll geeignet sein, Wohlfahrtniveaus zwischen Personen, sozialen Gruppen, Ländern und verschiedenen Zeitpunkten zu vergleichen. Sen plädiert dafür, die Elemente des Wohlfahrtsbündels, auf die sich solche Vergleiche beziehen, abhängig von der Fragestellung, dem gesellschaftlichen Kontext und dem historischen Zeitpunkt durch Reflexion oder im öffentlichen Diskurs zu bestimmen (Sen, 2002, S. 102), und er ist zuversichtlich, dass sich über die Auswahl und die Bewertung „praktische Kompromisse“ (ebd., S. 107) finden lassen. Dagegen gibt Nussbaum (1999, S. 200 ff.) eine Liste von zehn zentralen Fähigkeiten („central capabilities“) vor, die universell gelten und wohlfahrtsstaatlich garantiert werden sollen, und sie schließt die Möglichkeit aus, einzelne Elemente ihres Katalogs gegeneinander aufzurechnen.

3.4 Teilhabe nach Lebenslagen- und Befähigungsansatz

Die Konzepte der Lebenslage und der Befähigung sind unabhängig voneinander entstanden und haben jeweils eigene Terminologien ausgeprägt; sie verstehen jedoch die Zielgröße individueller Wohlfahrt und die Beziehung der Individuen zur Gesellschaft bei der „Wohlfahrtsproduktion“ strukturell ähnlich. An diesen Gemeinsamkeiten kann die wohlfahrtstheoretische Bestimmung des Teilhabebegriffs ansetzen.

Da Menschen ihre Teilhabe an einem Lebensbereich vermittelt über Aktivitäten erreichen, müssen Merkmale ihrer tatsächlichen Lebensführung möglichst direkt erfasst werden. Im Unterschied zum Ressourcenansatz stehen Lebenslagen- und Befähigungsansatz für direkte Verfahren der Wohlfahrtsmessung; in ihnen haben materielle Ressourcen instrumentelle Bedeutung für die Verwirklichung von „Grundanliegen“ bzw. als „Mittel zu hoch bewerteten Lebenszwecken“ (Sen, 2010, S. 261).

Den Begriffen „Handlungs- und Entscheidungsspielraum“ (Lebenslage) und „Auswahlmenge“ erreichbarer Funktionen (Befähigung) liegt die gleiche Überlegung zugrunde, dass eine Aktivität oder eine Lebenssituation dann individuell wertvoll ist, wenn sie unter Alternativen gewählt werden konnte. Eine Orientierung an diesen Konzepten führt zur Unterscheidung von Teilhabechancen und realisierter Teilhabe. Gleichstellungs- und Gerechtigkeitsnormen beziehen sich vor allem auf Gleichheit der Teilhabeoptionen und Gleichwertigkeit der Teilhabeergebnisse.

Abb. 2 stellt den Zusammenhang zwischen Ressourcen und Teilhabe schematisch dar. Teilhabe setzt zunächst den Zugang zu materiellen Ressourcen voraus, die Menschen in den für sie wesentlichen Bereichen der Lebensführung für persönlich wertvolle Ziele einsetzen können. Welche Ressourcen sie benötigen, ist abhängig von ihren persönlichen Voraussetzungen und strukturellen, d. h. gesellschaftlichen Bedingungen; so wird eine Person mit gesundheitlichen Einschränkungen in einer durch Barrieren geprägten Umgebung für vergleichbare Teilhabeoptionen mehr Ressourcen einsetzen müssen als eine Person ohne Funktionseinschränkungen. Die persönlichen Voraussetzungen reichen von körperlichen Funktionen über erworbene Eigenschaften bis zu den Präferenzen, Werthaltungen und Informationen, aufgrund derer Menschen zwischen Optionen wählen. Zu den strukturellen Umwandlungsbedingungen zählt, ob gesellschaftliche Funktionssysteme inklusiv gestaltet sind. Auch Marktmechanismen und sozialrechtliche Anspruchsvoraussetzungen setzen Zugangsregeln. Aus der Passung von persönlichen und strukturellen Voraussetzungen ergeben sich die einer Person zugänglichen Teilhabeoptionen. Personen bewerten diese Optionen, und Teilhabe gelingt, wenn sie in für sie wertvollen Lebensbereichen die von ihnen gewählten Funktionen erreichen.

Abb. 2
figure 2

Eigene Darstellung, nach © Bartelheimer & Henke, 2018

Wie Teilhabe entsteht – ein Grundmodell.

Teilhabechancen und erreichte Teilhabe müssen mehrdimensional bestimmt werden. Für die Teilhabepositionen von Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen können etwa rechtliche Unterscheidungen genutzt werden, wie die in der UN-BRK garantierten Menschenrechte oder die in § 5 SGB IX definierten Leistungsgruppen, aber auch die oben erwähnten ICF-Lebensbereiche. Teilhabe an einem Lebensbereich oder Funktionssystem kann sowohl einen Eigenwert als auch instrumentelle Bedeutung für Teilhabe in anderen Bereichen haben. Daher sind bei der Abgrenzung von Dimensionen Komplementaritäten oder „strukturelle Kopplungen“ (Engels, 2006, S. 114) zu berücksichtigen. Nussbaum (2015) unterscheidet nach Wolff und De-Shalit (2007) fruchtbare Funktionen („fertile functionings“), die andere Fähigkeiten befördern, und zersetzende Benachteiligungen („corrosive disadvantage“), also Beschränkungen, die andere Nachteile nach sich ziehen und Spielräume weiter begrenzen.

In die Bewertung der Teilhabesituation einer Person oder einer sozialen Gruppe nach dem Lebenslagen- oder Capability-Ansatz können sowohl Umfang und Qualität der Auswahlmenge als auch die erreichten Funktionen der Lebensführung eingehen. Das „Bündel von Funktionsweisen, das schließlich gewählt wird“, ist aber empirisch wesentlich einfacher zu beobachten als das der alternativen, nicht realisierten „Chancen und Auswahlmöglichkeiten“ (Sen, 2010, S. 264) oder als die Wahl, die den beobachteten Zuständen oder Tätigkeiten vorausging. In der Forschungspraxis ist jeweils begründet zu entscheiden, wie weit die Fragestellung auch „kontrafaktische“ Informationen über Teilhabechancen erfordert. Je diverser und individueller die im Ergebnis realisierten Lebensweisen sein können, desto schwerer wiegt der normative Anspruch, den Möglichkeitsraum zur Informationsgrundlage der Bewertung zu machen.

Teilhabechancen und Teilhabekonstellationen entstehen über die Zeit. Das in Abb. 2 dargestellte Grundmodell ist jedoch statisch, es strukturiert eine Momentaufnahme. In der Teilhabeforschung wird es jedoch häufig darum gehen, Teilhabewirkungen eines Programms oder einer Maßnahme über zwei oder mehr Messzeitpunkte zu bewerten. Erst eine biografische Perspektive kann zeigen, wie Benachteiligungen oder Vorteile im Lebensverlauf kumulieren und wie sich Spielräume der Lebensführung erweitern oder verengen. Es kommt daher auf die zeitliche Ordnung von Optionen, Wahlentscheidungen und Teilhabeergebnissen an – in einzelnen Lebensphasen und über den gesamten Lebensverlauf.

4 Zum Begriffskern von Teilhabe

Aus der Diskussion der sozialpolitischen Begriffsverwendung (Abschn. 2) und der konzeptionellen Bezüge (Abschn. 3) lassen sich sieben wesentliche Kernelemente des Teilhabebegriffs ableiten:

  1. 1.

    Teilhabe zielt als relationaler Begriff auf das Verhältnis zwischen Individuum und gesellschaftlichen Bedingungen. Teilhabe beleuchtet einerseits den Möglichkeitsraum, der aus der Interaktion zwischen Individuum und Gesellschaft und in der Wechselbeziehung zwischen persönlichen und gesellschaftlichen Faktoren entsteht. Teilhabe beschreibt andererseits eine positive Norm gesellschaftlicher Zugehörigkeit.

  2. 2.

    Teilhabe nimmt eine subjektorientierte Perspektive ein. Gesellschaftliche Bedingungen oder sozialstaatliche Leistungen werden daran gemessen, welche Möglichkeiten sie dem Individuum für seine Lebensführung eröffnen. In wohlfahrtsstaatlichen Analysen wird unter dem Begriff Teilhabe diskutiert, inwiefern sozialstaatliche Rahmensetzungen zur Ermöglichung eines individualisierten Lebens beitragen. Das Teilhabekonzept ist Ausdruck eines normativen Individualismus: Es greift Prozesse der Individualisierung und Enttraditionalisierung auf und ist vor dem Hintergrund einer historisch-kulturellen Entwicklung von Emanzipation zu verstehen.

  3. 3.

    Teilhabe beschreibt Möglichkeiten und Spielräume selbstbestimmter Lebensführung in einem gesellschaftlich üblichen Rahmen. Nicht jede Funktion der Lebensführung verlangt ein hohes Maß an Aktivität, aber Teilhabe setzt stets ein (selbstbestimmt) handelndes Subjekt voraus. Als positive Norm ist Teilhabe die Leitidee eines sozial eingebundenen Lebens auf der Grundlage individueller Zielvorstellungen in einem gesellschaftlich üblichen Handlungsrahmen.

  4. 4.

    Teilhabe impliziert Wahlmöglichkeiten. Dass sich ein Individuum unter erreichbaren Alternativen für Aktivitäten der Lebensführung entscheiden kann, ist eine Bedingung für Teilhabe. Dabei kommt es nicht auf die tatsächliche Durchführung einer Aktivität oder Teilnahme an einer Lebenssituation an, sondern auf deren grundsätzliche Erreichbarkeit. Auch in der Entscheidung für Nicht-Durchführung und Nichtteilnahme kann sich Teilhabe realisieren.

  5. 5.

    Teilhabe ist mehrdimensional: Teilhabe an der Gesellschaft heißt Teilhabe an verschiedenen gesellschaftlichen Lebensbereichen und auf verschiedenen Ebenen (Mikro-, Meso- und Makroebene). Ausdifferenzierte Lebensbereiche bieten je unterschiedliche Teilhabebedingungen für die Lebensführung eines Menschen, und Teilhabe in einzelnen Funktionssystemen entscheidet zugleich über Teilhabechancen in anderen Bereichen. Eine Vielzahl von Barrieren und Einschränkungen können diese begrenzen. Welche Lebensbereiche als teilhaberelevant erachtet werden, kann nicht aus dem Teilhabebegriff selbst abgeleitet werden, sondern hängt vom Forschungs- oder Handlungszusammenhang ab, unterliegt auch historisch-kulturellen Einflüssen.

  6. 6.

    Teilhabe als Leitidee sozialer Gerechtigkeit: In Theorien von Gerechtigkeit stellt Teilhabe das wertvolle Gut dar, auf das sich die Beurteilung gerechter Verteilungen bezieht. Dabei schwingt die implizite Orientierung an einer gesellschaftlich üblichen Lebensführung mit. Das Teilhabekonzept fordert keine Gleichheit der Lebensführung (Outcomes) oder Normalisierung der Lebensstile und Handlungspraktiken, sondern eine gerechte Verteilung der Verfügung über Wahlmöglichkeiten. Dabei findet die Verschiedenheit von Menschen Anerkennung; unterschiedliche persönliche Charakteristika, Präferenzen und Lebensentwürfe werden als gleichwertig angesehen.

  7. 7.

    Teilhabe markiert einen zu schützenden Spielraum der Lebensführung. Die Verwendung des Teilhabebegriffs im politischen Zusammenhang setzt im Sinne einer „Suffizienzregel“ (vgl. Dyckerhoff, 2013, S. 25) implizit der Ungleichheit nach unten Grenzen. Teilhabe kann deshalb als Maßstab dienen, um Benachteiligung und Ausschluss kenntlich zu machen. Neben einem Mindestmaß an Teilhabe, das soziale Ausgrenzung vermeidet, ist politisch noch eine weitere Schwelle von Bedeutung: die volle und wirksame Teilhabe als gleichstellungspolitisches Ziel. Beide Schwellen können nur über Prozesse der gesellschaftlichen Verständigung und politischen Entscheidungsfindung normativ gesetzt werden. An welchen Normen Teilhabe gemessen wird und welches Maß an Ungleichheit als ungerecht gilt, ist Gegenstand gesellschaftlicher Aushandlung und Auseinandersetzung.

5 Verhältnis zu verwandten Begriffen

Wie Teilhabe sprechen auch die Begriffe der Partizipation, Inklusion und Integration die gesellschaftliche und soziale Stellung von Individuen und Gruppen an. Die folgende Darstellung zielt darauf, das Verhältnis von Teilhabe zu den verwandten Begriffen genauer zu betrachten und für eine größere begriffliche Trennschärfe zu argumentieren.

5.1 Partizipation

Partizipation beschreibt eine „multidimensionale Form der (gesellschaftlichen bzw. politischen) Einflussnahme“ (Richter, 2018, S. 531). Sie ist einerseits als Mittel der Inanspruchnahme politischer Mandate zu verstehen. Unter einer normativ geprägten Perspektive sichert Partizipation darüber hinaus die individuelle Selbstverwirklichung im Prozess des demokratischen Handelns (vgl. Nieß, 2016, S. 73; Stark, 2019, S. 11 ff.). Im Partizipationsbegriff kommt das Grundrecht auf persönliche Freiheit zum Ausdruck, aber auch Selbstbestimmung und freie Entfaltung der Persönlichkeit (Schnurr, 2018, S. 633).

Wie beim Teilhabebegriff steht das Subjekt im Fokus. Der Partizipationsbegriff hebt auf die Besonderheit von Teilhabe ab, dass gesellschaftliche und soziale Gegebenheiten durch das Individuum selbst formbar und gestaltbar sind. Im Prozess der partizipativen Einbindung werden eigene Möglichkeitsräume erkannt und genutzt. Partizipation kann als der Aspekt von Teilhabe gesehen werden, der sich auf die Bewusstseinsbildung, die Motivation und die Bereitschaft bezieht, sich zu beteiligen, und auf die Voraussetzungen, dies auch zu können. Zu diesen gehört die Interaktion, denn Entscheidungen über Partizipationsmöglichkeiten werden auch im zwischenmenschlichen Kontakt getroffen (vgl. u. a. Dobslaw & Pfab, 2015).

Die Unterscheidung zwischen den Begriffen Teilhabe und Partizipation besteht nur im deutschen Sprachraum. Der gängige Begriff im internationalen Diskurs lautet participation: Sowohl in der deutschen Fassung der ICF (vgl. WHO, 2001; DIMDI, 2005) als auch in der UN-BRK wurde participation mit Teilhabe übersetzt. Obwohl sich im deutschsprachigen Raum die begriffliche Unterscheidung zwischen Teilhabe und Partizipation etabliert hat, wird Partizipation in einigen Zusammenhängen synonym mit Teilhabe verwendet (vgl. Kastl, 2017, S. 236), z. T. hat Partizipation eine eigenständige Bedeutung (Straßburger & Rieger, 2014).

5.2 Inklusion

Während Teilhabe die Spielräume individueller Lebensführung thematisiert, zielt Inklusion auf den Aufbau von Strukturen, welche allen Gesellschaftsmitgliedern die Einbeziehung in soziale Zusammenhänge ermöglichen sollen. Inklusion lässt sich dabei sowohl als Ziel als auch prozessorientiert beschreiben. Inklusive Strukturen entstehen durch die Gewährung „verlässliche[r] und reziproke[r] erwartbare[r] Vorkehrungen und Dispositionen“ (Kastl, 2017, S. 228) unter Beachtung und Wertschätzung gesellschaftlicher Heterogenität und Diversität. Mit dem Inklusionsbegriff werden daher auch vereinheitlichende Vorstellungen von Standard und Normalität hinterfragt.

Im Zusammenhang mit der menschenrechtlichen Debatte um die Umsetzung der UN-BRK erhält der Inklusionsbegriff im deutschen Sprachraum einen „normativen, das heißt wertebasierten und richtungsweisenden Charakter“ (Wansing, 2015, S. 43). Im englischsprachigen Original der UN-BRK bilden Teilhabe und Inklusion ein Begriffspaar: „full and effective participation and inclusion in society“. In der offiziellen deutschen Übersetzung heißt es „Einbeziehung in die Gesellschaft“, und in einigen Artikeln wird „inclusive“ mit „integrativ“ übersetzt. Wansing (ebd., S. 45) fordert, den deutschen Sprachgebrauch enger an die englische Terminologie anzulehnen.

Im deutschen Sprachgebrauch sind Inklusion und Exklusion systemtheoretisch anders assoziiert als ungleichheitstheoretisch (Kronauer, 2010, S. 122 ff.). Nach der ersten Lesart gilt es als Bedingung für Individualität, dass Personen immer nur partiell in funktional differenzierte Teilsysteme eingebunden sind. In der zweiten, ungleichheitstheoretischen Bedeutung können Personen von zentralen gesellschaftlichen Funktionssystemen ausgeschlossen sein. In diesem Sinn definiert die Europäische Union soziale Ausgrenzung (social exclusion) als Prozess, durch den Personen, etwa wegen Armut oder infolge von Diskriminierung, „an der vollwertigen Teilhabe gehindert“ sind (Europäische Kommission, 2004, S. 12).

5.3 Integration

Während Teilhabe nur vom Individuum gedacht werden kann, gibt es zwei mögliche Perspektiven auf Integration. Systemintegration bezeichnet den Zusammenhalt sozialer Einheiten, die Sozialintegration die Beziehungen und Handlungen von Personen in ihrem sozialen Umfeld (Habermas, 1981 II, S. 223 ff.; Esser, 2000, S. 261 ff.).

Integration in der ersten Lesart ist eine Eigenschaft sozialer Kollektive; die Begriffsverwendung steht damit nicht alternativ zu Teilhabe, sondern zu Inklusion. Wertbezogene und vertragstheoretische Ansätze erklären dies über soziale Bindekräfte, die „Substanz von Gemeinschaftlichkeit“ (Hüpping & Heitmeyer, 2015, S. 127). Sozialpsychologische Diskurse beziehen sich auf Gruppenprozesse: Integriert ist eine Person, wenn sie als Mitglied in die Gemeinschaft aufgenommen wurde.

Muster der Sozialintegration, also der Stellung des Individuums zu Gruppen oder Funktionssystemen, unterscheiden sich danach, wie weit sie als Aushandlungsprozess mit Freiräumen ausgestaltet werden (Soeffner & Zifonun, 2005, S. 405). Lesarten der Integration, die „Anpassungs- und Ausgleichsaufträge“ an Menschen formulieren und sozialstaatliche Unterstützung von Anpassungsleistungen abhängig machen, stehen in Gegensatz zum Teilhabekonzept, das normativ vom Individuum als Träger garantierter sozialer Grundrechte ausgeht (vgl. Wissenschaftlicher Beirat zum Zweiten Teilhabebericht, in: BMAS, 2016, S. 29). Dieses Verständnis wird der Semantik und Geschichte des Integrationsbegriffs jedoch eigentlich nicht gerecht.Footnote 2

6 Teilhabe als Forschungsperspektive

Ausgehend von der in diesem Beitrag vorgenommenen Analyse und dem herausgearbeiteten Begriffskern von Teilhabe lassen sich nun fünf Ansprüche an Teilhabeforschung formulieren.

  1. 1.

    Grundlagenforschung zur theoretischen Fundierung und Aufklärung über Bedingungen von Teilhabe: Zur Klärung der theoretischen Grundlagen des Teilhabebegriffs und zur Entwicklung einer interdisziplinären Perspektive sind grundlagentheoretische Forschungsarbeiten notwendig. Teilhabeforschung ermittelt Einflussfaktoren für das Gelingen von Teilhabe auf der Mikroebene (Individuum), der Mesoebene (Institutionen/Organisationen) und der Makroebene (gesamtgesellschaftlicher Zusammenhang). Sie beschreibt relevante Dimensionen von Lebenslagen als Möglichkeitsräume für die Realisierung von Teilhabe und analysiert die Wechselwirkungen zwischen Teilhabepositionen in mehreren Dimensionen. Damit ist sie in der Lage, gesellschaftliche Ursachen für die Ungleichheit von Möglichkeiten der Daseinsentfaltung zu bestimmen sowie Wohlfahrtspositionen zu beschreiben und zu vergleichen.

  2. 2.

    Anwendungsorientierung – auch über Handlungsfelder hinweg: Teilhabeforschung ist auch anwendungsorientierte Wissenschaft. Indem sie Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen rekonstruiert, macht sie diese der Reflexion und Überprüfung zugänglich. Als politiknahe Wissenschaft arbeitet sie an der Informationsbasis für die politische und gesellschaftliche Aushandlung von Teilhabenormen und für die Planung inklusiver Strukturen. Gegenstand der Beobachtung ist auch die Entwicklung des Teilhabebegriffs in den Handlungsfeldern selbst. Teilhabeforschung begleitet Maßnahmen, Programme und Konzepte zur Verbesserung von Teilhabechancen und Teilhabeprozessen.

  3. 3.

    Methodische Zugänge zu Teilhabe als Prozess: Teilhabeforschung entwickelt Methoden und Instrumente zur quantitativen und qualitativen Bestimmung von Merkmalen und Einflussfaktoren der Teilhabe. Sie fragt aus der Perspektive des Subjekts, welche Kontexte und Ressourcen für eine Person lebensweltlich bedeutsam sind. Um Veränderungen von Lebenslagen und Teilhabepositionen abzubilden, machen ihre Erhebungsverfahren Entscheidungsspielräume und Wahlhandlungen sichtbar, die den beobachteten Teilhabeergebnissen zugrunde liegen – möglichst im Zusammenhang des Lebensverlaufs. Neben objektiven Kriterien berücksichtigt Teilhabeforschung das subjektive Teilhabeverständnis und individuelle Bewertungsmaßstäbe von Betroffenen.

  4. 4.

    Individuelle Teilhabe erfassen: Da der Spielraum individueller Lebensführung das Maß der Teilhabe ist, erschließen teilhabeorientierte Forschungsdesigns Individualdaten für den Forschungsprozess. Solche Daten können durch quantitative und qualitative Befragungen und Beobachtungen, aber auch durch Auswertung fallbezogener Daten aus Leistungsprozessen gewonnen werden. Um Wirkungen gelingender oder beschränkter Teilhabe auf Lebensverlaufsmuster zu erfassen, sollten im Idealfall Längsschnittdaten verwendet werden.

  5. 5.

    Partizipative Forschung: Teilhabeforschung öffnet sich dem Anspruch der Betroffenen auf Beteiligung über alle Phasen des Forschungsprozesses hinweg. Partizipative Forschung bezieht die Expertise von Menschen mit Teilhabebeeinträchtigungen sowie die Erfahrungen ihres sozialen Umfeldes bei der Bestimmung der Forschungsgegenstände, der Wahl der Methoden und der Interpretation von Ergebnissen ein. Sie verspricht, subjektive Teilhabeansprüche und Wahlentscheidungen der Subjekte so zu erfassen, dass Erkenntnisse der Forschung einen Beitrag zur Lageveränderung und zur Erweiterung von Teilhabechancen leisten.