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1 Einleitung

Im November 2014 startete das Projekt „Reflexion, Wissen, Können – Qualifizierung von Mitarbeitenden und Bewohner_innen zur Erweiterung der sexuellen Selbstbestimmung für erwachsene Menschen mit Behinderungen in Wohneinrichtungen“ (ReWiKs) an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, der EvH Bochum und der Humboldt-Universität zu Berlin.

Das Anliegen war ambitioniert: Sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen in besonderen Wohnformen sollte erweitert werden. Die Rahmenbedingungen dieser Wohnangebote sind

  • durch eine im Hinblick auf ihre biografischen Erfahrungen, Haltungen, Vorstellungen und Kompetenzen im Kontext von Sexualität sowie ihre Handlungsfelder und Einflussmöglichkeiten in der Organisation sehr heterogene Mitarbeiter*innenschaft beeinflusst,

  • durch eine Diversität der Bewohner*innen geprägt, die sich bspw. in unterschiedlichen sexuellen Orientierungen, Geschlechtsidentitäten, Biografien, sexuellen Erfahrungen sowie Assistenzbedarfen und Kompetenzen zeigen kann,

  • hinsichtlich der Gestaltung der Alltagsabläufe strukturell meistens eng vorgegeben und mit unterschiedlich viel Entwicklungsraum in Bezug auf Selbstbestimmung und Autonomie versehen,

  • organisationsanalytisch und organisationskulturell differenziert zu betrachten.

Neben dieser inhaltlichen Herausforderung des Forschungsfeldes wollte das Forschungsteam einen Prozess der partizipativen Handlungsforschung mit dem Ziel umsetzen, durch Mitbestimmung im Forschungsprozess Impulse zu setzen, die letztendlich die Realisierung sexueller Selbstbestimmung begünstigen. In diesem Beitrag soll kritisch reflektiert und geprüft werden, inwiefern dies gelungen ist. Dazu wird zunächst das Forschungsprojekt im Gesamten vorgestellt. Anschließend erfolgt eine Reflexion des partizipativen Vorgehens in den einzelnen Bausteinen.

2 Das Projekt ReWiKs – Ein Gesamtüberblick

Die Erweiterung der sexuellen Selbstbestimmung von Bewohner*innen in besonderen Wohnformen der Eingliederungshilfe ist das zentrale Ziel des ReWiKs-Projekts, das von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) in einer ersten Förderphase im Zeitraum 2014 bis 2019 gefördert wurde. Es basiert auf der Grundlage verschiedener themenspezifischer Forschungsergebnisse (z. B. BZgA, 2013; BMFSFJ, 2013; Jungnitz et al., 2013; Ortland, 2016) und weiterer themenspezifischer Publikationen (z. B. Clausen & Herrath, 2013). Ansatzpunkte für Veränderungen sollten in den drei Bausteinen Reflexion, Wissen und Können liegen.

Die Schaffung von Strukturen in Wohneinrichtungen, in denen eine selbstbestimmte Sexualität der Bewohner*innen realisiert werden kann, fand sich auch vor Projektbeginn in verschiedenen Publikationen (z. B. Walter, 2004). Vereinzelte Ideen für Fortbildungsangebote lagen vor. Eine (nicht repräsentative) Befragung von Mitarbeiter*innen in Wohneinrichtungen der Eingliederungshilfe (Ortland, 2016) zeigte allerdings auf, dass nicht allein über Fortbildungsangebote für Mitarbeiter*innen gewünschte Veränderungen initiiert werden können. Die Befragten (n = 640) präferierten für sich vor allem individuelle bzw. teambezogene Beratungsangebote. Ebenso wurden umfassende Maßnahmen für die Bewohner*innen sowie die Gesamteinrichtung gewünscht.

Veränderungsbedarfe bestanden auf verschiedenen Ebenen: Einrichtungsbezogene, teambezogene sowie individuelle Lernprozesse schienen notwendig – bei gleichzeitig großer Unsicherheit oder auch Hilflosigkeit in Bezug auf das Thema sexuelle Selbstbestimmung. Was fehlte, waren Entwicklungsperspektiven, konkrete Arbeitsmaterialien und ein lösungsorientiertes Vorgehen.

Deshalb ging es in der fast fünfjährigen Projektarbeit darum, vielfältige und möglichst passgenaue Arbeitsmaterialien für eine gelingende Umsetzung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung in besonderen Wohnformen zu entwickeln. Dieses Recht wird aus Artikel 2 des Grundgesetzes abgeleitet, in dem die freie Entfaltung der Persönlichkeit festgeschrieben ist (vgl. Zinsmeister, 2013, S. 48). Für den Prozess wurde ein Projektdesign entwickelt, dass Wissensinhalte (vgl. Siebert, 2015) mit Reflexionsanteilen und der Bereitstellung von Best Practice im Sinne von Können flankiert. Der durch die befragten Mitarbeiter*innen beschriebene Entwicklungsbedarf (Ortland, 2016) braucht im Bereich der Wissensvermittlung vielfältige, innovative und flexibel umsetzbare Aneignungsideen für verschiedene Zielgruppen (z. B. Mitarbeiter*innen in Leitungsfunktionen oder Wohngruppendienst). Im Projektbereich Reflexion wurden in Anlehnung an den Index für Inklusion (Boban & Hinz, 2003) sowie den Qualitätsindex für Kinder- und Jugendhospizarbeit (QuinK) (Jennessen & Hurth, 2015) Reflexionsmanuale entwickelt und im Bereich Können eine Sammlung aus konkreten praktischen Ideen und Anregungen für eine selbstbestimmte Sexualität erstellt, die im Alltag an die vorhandenen Strukturen flexibel angepasst werden können. Bei den Bausteinen Reflexion, Wissen und Können handelt es sich um verschiedene Kompetenzbereiche, die eng miteinander verzahnt sind und die sich inhaltlich überschneiden. Auf diesem Weg entstand eine komplexe Projektstruktur mit drei Projektteams an verschiedenen Hochschulen, deren Arbeit in einem hohen Maß abgestimmt und verwoben war. Es gab regelmäßige gemeinsame Arbeitstreffen sowie Reflexionstreffen mit einem Projektbeirat, in dem Selbstvertretungsverbände von Menschen mit Behinderungen beteiligt waren (z. B. Weibernetz e. V., bbe e. V., Kompetenzzentrum Selbstbestimmt Leben Köln).

Der Forschungs- und Entwicklungsprozess des Projektes ReWiks ist in Abb. 1 überblicksartig visualisiert.

Abb. 1
figure 1

„Forschungs- und Entwicklungsprozess ReWiKs“ einfügen -

Das gemeinsame Ziel bestand in einer Projektausrichtung, die perspektivisch immer stärker die partizipativen Möglichkeiten der Handlungsforschung realisiert hat. In den nachfolgenden Kapiteln werden die drei Bausteine des Projektes und die Erfahrungen der Forscher*innen in Bezug auf den unten dargestellten Ansatz der partizipativen Handlungsforschung dargestellt und kritisch reflektiert.

3 Partizipation im Forschungsprozess des Bausteins Reflexion

3.1 Ziele

Primäres Ziel des Teilprojektes ‚Reflexion‘ war die Entwicklung eines Instruments zur (Selbst-)Reflexion des Themas sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen in besonderen Wohnformen der Eingliederungshilfe, anwendbar für Mitarbeiter*innen und für Menschen, die in diesen Einrichtungen leben. Konzipiert und evaluiert wurden daraufhin ein Fragebuch für Mitarbeiter*innen und ein Frage-Buch in Leichter Sprache (LS). Handbücher in schwerer Sprache und LS erläutern die mögliche Arbeitsweise mit den Fragebüchern.

Zudem entwickelte sich im engen dialogischen Austausch mit Bewohner*innen aus besonderen Wohnformen der Eingliederungshilfe das offene Austauschformat „Freiraum: Sexualität und ICH“ im Kontext von Sexualität und Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderungserfahrung.

3.2 Partizipation in Prozessen der Materialentwicklung

Zunächst wurden auf der Grundlage der o.g. Studien Leitlinien für sexuelle Selbstbestimmung erstellt und in fünf Einrichtungen der Eingliederungshilfe in heterogen zusammengesetzten Teams von Mitarbeiter*innen und darüber hinaus in einem projektübergreifendem Kick-off Treffen sowie einem Workshop diskutiert.

In Kooperation mit externen Expert*innen wurden parallel Leitlinien in LS formuliert, die auf den Leitlinien in schwerer Sprache fußten. Diese wurden im Rahmen einer Veranstaltung von Beiräten der Bewohner*innen mit 18 Personen, die in fünf verschiedenen Einrichtungen der Eingliederungshilfe leben, diskutiert. Auf dieser Grundlage fanden inhaltliche und strukturelle Modifikationen der Leitlinien statt.

In Kooperation mit dem größtenteils aus Mitarbeiter*innen von Wohneinrichtungen bestehenden Arbeitskreis „Sexualität und Behinderung Landau“ entstand eine auf die Leitlinien bezogene Themensammlung. Auf deren Grundlage formulierten die Forscher*innen im Austausch mit Expert*innen aus der Praxis zu neun Leitlinien in LS und zehn Leitlinien in schwerer Sprache jeweils Reflexionsfragen in den Bereichen Haltungen, Strukturen und Praktiken. Die zehnte, ausschließlich in schwerer Sprache erstellte Leitlinie bezieht sich auf die Fachlichkeit der Mitarbeiter*innen.

Mit einer Arbeitsversion des Fragebuchs in schwerer Sprache sowie des Frage-Buchs in Leichter Sprache fand die Erprobung des Materials in sieben Wohneinrichtungen statt. Im Rahmen von Gruppendiskussionen wurde in meist professions- und hierarchieheterogenen Arbeitsgruppen der Mitarbeiter*innen bzw. in aus Bewohner*innen bestehenden Gesprächskreisen über die Reflexionsfragen diskutiert. Um die Verständlichkeit der Inhalte zu erhöhen, wurden für jede Leitlinie in LS und ihre jeweiligen Themen ergänzende Piktogramme entwickelt.

Beide Fragebücher entstanden somit in einem wechselseitigen Prozess von Konzeption, Evaluation, Rückkoppelung und Modifikation.

3.3 Partizipation im Rahmen des Formats „Freiraum: Sexualität und ICH“

In den Gruppen „Freiraum: Sexualität und ICH“ beschäftigten sich Menschen, die in einer Einrichtung der Eingliederungshilfe leben, sowie Besucher*innen eines Freizeittreffs mit Fragen sexueller Selbstbestimmung. Mit Unterstützung der Forscher*innen entschieden sie über Wege und Inhalte des Austausches ausschließlich selbst. Es wurde deutlich, dass selbstbestimmte Sexualität immer und ausschließlich im Kontext des Kontinuums von Fremd- und Selbstbestimmung denkbar, analysierbar und letztendlich auch lebbar ist (vgl. Jennessen et al., 2019). Die intime Auseinandersetzung mit Bedürfnissen, sexuellen Fragen und strukturellen Barrieren bei der Realisierung ihrer Sexualität führte dazu, dass die Teilnehmer*innen ihre sexuellen Rechte und Bedürfnisse heute selbstbestimmter vertreten. Dies belegen die im Rahmen des Formats erstellten Postscripts zum Erleben der Freiraum-Gruppen und ihrer Auswirkungen auf den Lebensbereich Wohnen.

Den Praxis verändernden Prinzipien der Aktionsforschung folgend (von Unger, 2014), fanden die Freiraum-Gruppen innerhalb der bestehenden sozialen Bezüge der Teilnehmer*innen statt. Wie bereits von Klüver und Krüger (1972, S. 76) formuliert, geschieht die Themenauswahl in diesem Format „nicht vorrangig aus dem Kontext wissenschaftlicher Erkenntnisziele, sondern entsprechend konkreten gesellschaftlichen Bedürfnissen“. So kann die Etablierung der Freiraum-Gruppen im Kontext partizipativer Forschungsansätze begriffen werden.

3.4 Reflexion der partizipationsorientierten Ausrichtung

Im ReWiKs-Forschungsprozess haben sich die Wissenschaftler*innen als flexibel Lernende in einem äußerst komplexen Handlungsgefüge verstanden. Exemplarisch kann dies anhand der Umstrukturierung eines als Multiplikator*innenfortbildung konzipierten Qualifizierungsmodells hin zu einer Initiierung offener Freiraum-Gruppen verdeutlicht werden. Bislang waren keine Settings für einen derartigen Austausch verfügbar. Da dieser jedoch Voraussetzung ist, um über die eigene Sexualität hinausgehend auch Entwicklungen in Wohneinrichtungen zu initiieren, wurde das Format der Freiraum-Gruppen konzipiert und exemplarisch erprobt. In diesem Setting wurde von den Teilnehmer*innen in einem für die Forscher*innen vorab kaum vorstellbaren Ausmaß von erlebten Rechtsüberschreitungen, Diskriminierungen und freiheitsbeschränkende Maßnahmen berichtet, die die Verwirklichung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung in hohem Maße verunmöglichen. Auf der anderen Seite stand das Bedürfnis nach dem Erleben von Partnerschaft, Nähe, Familie und/oder Sexualität. Die Offensichtlichkeit der Diskrepanz zwischen Lebenswirklichkeit und Bedürfnislage in diesem Themenbereich lässt eine bewertungsfreie, neutrale Sicht und Vorgehensweise der Forscher*innen nicht zu. Diese Feststellung wirft den Blick auf eine weitere forschungsmethodische Herausforderung: Die Rolle der universitären Forscher*innen in partizipativ angelegten Prozessen. Diese unterscheidet sich aufgrund des hohen Anspruchs an die inhaltliche und methodische Offenheit maßgeblich von der in methodisch scharf vorgezeichneten Forschungsdesigns. Zudem changiert die Rolle der Forscher*innen in dem Prozess zwischen objektiver Datenerhebung, professioneller Prozessbegleitung und persönlicher Involviertheit in die Themen und Lebensgeschichten der Kooperationspartner*innen. Diese Uneindeutigkeit der Rolle bedarf der kontinuierlichen Reflexion und dialogischen Absicherung des jeweiligen Auftrags. Die normative Setzung der inhaltlichen Auseinandersetzung sollte sich aus Sicht der Projektverantwortlichen auch in der methodischen Gestaltung von Forschungsprojekten im Kontext sexueller Selbstbestimmung widerspiegeln.

4 Partizipation im Forschungsprozess des Bausteins Wissen

4.1 Ziel

Die Forscher*innen im Projektbaustein ,Wissen‘ verfolgten das Ziel, theorie- und forschungsbasiert Materialien zur ,Erweiterung sexueller Selbstbestimmung´ zu erstellen. Die Materialien sollten durch Vielfalt und Flexibilität den Bedarfen der Mitarbeiter*innen (vgl. Ortland, 2016) entsprechen. Dies wurde durch einen zirkulären Forschungsprozesses realisiert. Auf Basis einer Recherche wurden von den Forscher*innen im Projekt jeweils thematische und didaktische Ideen entwickelt, darauf aufbauend vielfältige Materialien erstellt und in der Praxis erprobt. Die Rückmeldungen aus den Erprobungen boten die Grundlage für die daran anschließende Weiterentwicklung und inhaltliche Ausdifferenzierung. Die Notwendigkeit einer partizipativen Ausrichtung ergab sich im Laufe des Arbeitsprozesses und wurde stetig ausgeweitet.

4.2 Partizipation im Prozess der Materialentwicklung

Zu Beginn stand im Fokus, auf der Grundlage einer umfassenden Literatur- und Internetrecherche, Fortbildungsthemen mit entsprechenden methodischen Ideen und Materialien für Mitarbeiter*innen sowie Erwachsene mit Behinderungen zusammenzustellen. Diese Ergebnisse wurden in aufbereiteter Form bei einem ersten Praxisaustauschtreffen sowohl mit verschiedenen Mitarbeiter*innen von kooperierenden Einrichtungen als auch mit Menschen mit Behinderungen, die dort leben, diskutiert. So war schon zu Beginn des Projektes deutlich im Blick, dass die Entwicklung der Inhalte dieses Projektbausteins mit allen Akteur*innen aus den besonderen Wohnformen gemeinsam realisiert werden muss. Allerdings lag der Fokus zunächst bei den Fortbildungsmaterialien für die Mitarbeiter*innen, da dies durch die differenzierten Ergebnisse der Befragung der Mitarbeiter*innen (Ortland, 2016) sinnlogisch schien und im Ansatz zu wenig reflektiert wurde. Die an den Praxisaustauschtreffen beteiligten Menschen mit Behinderungen machten sehr schnell deutlich, dass der Projektbereich Wissen die Materialien für alle Beteiligten entwickeln muss und vor allem Angebote für Mitarbeiter*innen und Bewohner*innen gemeinsam in den Blick nehmen sollte.

Als eine wissenschaftliche Grundlage aus der Erwachsenenbildung war die Ermöglichungsdidaktik für die folgende Materialentwicklung gewählt worden. Diese drängte ebenso nach partizipativer Ausrichtung und einem Perspektivenwechsel hin zu individuellen Bedarfen der verschiedenen Teilnehmer*innen. Mit der Ermöglichungsdidaktik (Arnold & Schüßler, 2015) war für die Bildungsmaterialien ein Ansatz tragend, der die Heterogenität produktiv aufnahm und sich für alle Beteiligten und Zielgruppen gewinnbringend umsetzen ließ: „Was Erwachsene lernen und wie sie lernen, hängt von ihrer Lerngeschichte, ihren Lerngewohnheiten, ihren psycho-sozialen Vorstrukturen, ihren kognitiven und emotionalen Mustern, ihren bewährten Problemlösungsstrategien […] ab“ (Siebert, 2015, S. 45).

Als Ergebnis des vielschichtigen Forschungsprozesses sind für die unterschiedlichen Themen sexueller Selbstbestimmung (z. B. sexuelle Vielfalt, Beziehungen gestalten, Werte und Normen) verschiedene Materialformate (Reflexionsmaterial, Arbeitshilfe, Fallbesprechung, Fortbildung, Karikatur, autobiografischer Text) und Lernangebote für verschiedene Settings (in Einzelarbeit/Selbstreflexion, im Team, in Arbeitskreisen, in Fortbildungen) entstanden.

Forschungsmethodisch stand der Ansatz der Handlungsforschung (Mayring, 2016, S. 50 ff.) im Mittelpunkt. Gemeinsam mit der Praxis sollten für die Praxis passende Materialien entwickelt werden. Die Forschungsaktivitäten sollten und konnten durch diese enge Verzahnung verändernd in die Praxis eingreifen: „Diese Art von Forschung soll also ihre Ergebnisse bereits im Forschungsprozess in die Praxis umsetzen, als Wissenschaft in die Praxis verändern eingreifen [Bruns 1986]“ (Mayring, 2016, S. 50). Mit dieser Ausrichtung entsprach das forschungsmethodische Vorgehen von Beginn an einer Haltung, die auch für partizipative Forschung tragend ist: „Ziel (der partizipativen Forschung, Anm. der Autor*innen) ist es, soziale Wirklichkeit zu verstehen und zu verändern“ (von Unger, 2014, S. 1). Die Rückmeldung sowohl von Menschen mit Behinderungen als auch Mitarbeiter*innen nach der Erprobung von Materialien schärften bspw. jeweils den Blick der Forscher*innen für neue Themen, für die Angebote entwickelt werden sollten, oder für Anpassungen bei bereits entwickelten Materialien.

Mayring (2016) betont, dass es für die Handlungsforschung einer gleichberechtigten Beziehung zwischen den Forscher*innen und den in die Forschung eingebundenen Menschen aus der Praxis braucht. „Forscher und Praktiker sind im stetigen gleichberechtigten und herrschaftsfreien Austausch, im Diskurs begriffen“ (Mayring, 2016, S. 50–51).

4.3 Reflexion der partizipationsorientierten Ausrichtung

Dieser anzustrebende gleichberechtigte Diskurs schien zu Beginn in der Realisierung eine große Herausforderung zu sein. In den Wohneinrichtungen finden sich vielfältige Zielgruppen. Sowohl die individuellen Lebensbedingungen als auch die verschiedenen Rollen (Mitarbeiter*innen, Bewohner*innen) sowie im Weiteren die verschiedenen sexuellen Orientierungen, Lebenserfahrungen, Beeinträchtigungen, kulturellen Hintergründe etc. generierten ein hohes Maß an Heterogenität. Sehr ungleich verteilte Formen von Macht und Einflussmöglichkeiten waren neben individueller Bereitschaft der Weiterentwicklung und Auseinandersetzung mit diesem Thema weitere Einflussfaktoren.

So scheinen hier die Ausführungen von von Unger (2014, S. 85 ff.) zutreffend zu sein. Sie beschreibt, dass „in der partizipativen Forschung sehr unterschiedliche Gruppen zusammen (arbeiten und forschen), zum Beispiel Wissenschaftler/innen, Praktiker/innen und Vertreter/innen lebensweltlicher Gemeinschaften. Diese Gruppen zeichnen sich durch unterschiedliche Wissensbestände, Interessen und Sichtweisen aus und sind in der gesellschaftlichen Praxis unterschiedlich verortet. Ihre Bezugssysteme (Wissenschaft, professionelle Praxis, lebensweltliche Gemeinschaft) haben eine jeweils eigene Funktionsweise und Logik, und die Personen sprechen häufig eine unterschiedliche Sprache“ (ebd.). Diese Heterogenität kann zu Missverständnissen und Konflikten führen; deren produktive Nutzung ist für den Forschungsprozess von Interesse.

Es setzte ein Entwicklungsprozess aufseiten der Forscher*innen ein, der vor allem durch verschiedene Reflexionsorte und -zeiten in der Projektarbeit gestützt wurde. Diese bestanden sowohl aus

  • dem Projektteam Münster und dem des Gesamtprojektes ReWiKs,

  • den Praxisvertreter*innen,

  • den Kolleg*innen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung,

  • als auch, und dies war besonders wichtig, dem Projektbeirat, der ehrenamtlich und intensiv die inhaltliche Arbeit unterstützte. Die Perspektiven der verschiedenen Selbstvertretungsverbände waren eine unabdingbare Korrektur für die Projektarbeit.

Eine weitere bedeutsame Voraussetzung für diesen partizipativen, kooperativen Entwicklungsprozess war die förderliche Haltung der beteiligten Akteur*innen. Neben der gegenseitigen Offenheit für die unterschiedlichen Perspektiven, die sicherlich durch die freiwillige Teilnahme an der Projektarbeit hervorgebracht wurde, bestand durch die gesetzlichen Veränderungen der letzten Jahre (Ratifizierung der UN-BRK, 2009; Vorbereitung und stufenweise Umsetzung des BTHG) eine Haltung der – möglicherweise gesetzlich erzwungenen – Offenheit für Veränderungen. Das Projekt fiel somit auch in eine günstige Zeit der gesellschaftlichen Neuorientierung im Kontext des Phänomens Behinderung.

5 Partizipation im Forschungsprozess des Bausteins Können

5.1 Ziel

Im Projektbaustein Können sind ein Praxisbuch für Mitarbeiter*innen sowie Praxishefte in Leichter Sprache für Bewohner*innen entwickelt worden. Die Materialien sollen einen Empowermentprozess aufseiten der Mitarbeiter*innen sowie aufseiten der Bewohner*innen anstoßen, indem sie zu eigeninitiativen Veränderungen anregen. Demensprechend war eine Beteiligung der Zielgruppen bei der Entwicklung und Evaluation der Materialien von vornherein unerlässlich, hat im Verlauf des Projektzeitraums aber in unterschiedlichem Maße stattgefunden.

5.2 Partizipation in Prozessen der Materialentwicklung

Für die Entwicklung der Materialien wurde auf bereits vorhandenes Wissen in der Praxis zurückgegriffen. Nach einer bundesweiten Internetrecherche zu Einrichtungen und konkret zum Thema durchgeführten Projekten, welche sich mit sexueller Selbstbestimmung beschäftigen, konnten 28 Interviews mit 34 Personen stattfinden. Interviewt wurden 19 Mitarbeiter*innen und 15 Bewohner*innen bzw. Projektteilnehmer*innen aus Wohneinrichtungen, Beratungsstellen sowie Projekten.

Für die Erhebung wurde ein qualitatives, leitfadengestütztes Interview gewählt, da es „vor allem um die Sichtweisen und Sinngebungen der Beteiligten“ (Döring & Bortz, 2016, S. 63) gehen sollte. Es wurden zwei Interviewleitfäden erarbeitet, welche sich zum einen in der Komplexität der Sprache und zum anderen in der Perspektive der interviewten Person (Menschen mit Behinderungen und Mitarbeiter*innen) unterschieden.

Ziel war es, Auskunft über Möglichkeiten der praktischen Umsetzung sexueller Selbstbestimmung zu erhalten. Der Interviewleitfaden für die Menschen mit Behinderungen wurde in einfacher Sprache formuliert. Die Interviews wurden von einer Mitarbeiterin durchgeführt, die im Umgang mit der Zielgruppe und der Verwendung einfacher Sprache sehr erfahren ist. Der offen gehaltene Leitfaden ermöglichte eine spontane Anpassung der Fragen an die verbalsprachlichen Kompetenzen der Interviewpartner*innen. Kritisch anzumerken ist, dass in der zeitlichen Konzeption des Projekts nur Personen interviewt werden konnten, die über ein Mindestmaß an Verbalsprache verfügen.

Die Auswertung der Interviews erfolgte anhand des thematischen Kodierens. Mithilfe eines Kategoriensystems wurden die Inhalte strukturiert und analysiert (vgl. Schmidt, 2013, S. 473 f.). Die Inhalte, Vorschläge und Ideen in den Materialien basieren größtenteils auf den Ergebnissen aus den Interviews. Entsprechend eines partizipativen Verfahrens, das die Zielgruppe im Forschungsprozess nicht nur in einer beratenden Funktion einbindet, sondern auf ihre aktive Mitwirkung zielt, hätten an dieser Stelle die Zielgruppen in die Auswertung einbezogen werden müssen (vgl. Glattacker et al., 2014, S. 6), was im Rahmen dieses Forschungsprojekts aber aufgrund fehlender zeitlicher und personeller Ressourcen nicht stattgefunden hat.

Vor der Veröffentlichung wurde der erste Entwurf des Praxisbuchs mithilfe von Mitarbeiter*innen und Leitungskräften in Einrichtungen überarbeitet. Dazu wurden Fragebögen und Fokusgruppen-Diskussionen eingesetzt. Dies sind „halbstrukturierte Gruppendiskussionen zu einem konkreten Thema oder Produkt“ (Döring & Bortz, 2016, S. 380). Anschließend wurde das Material mithilfe der Rückmeldungen überarbeitet. Die Evaluation der Praxis-Hefte in Leichter Sprache sah ein ähnliches Vorgehen vor und fand gemeinsam mit Bewohner*innen statt. Es wurden elf Fokusgruppen-Diskussionen mit bis zu sieben Bewohner*innen durchgeführt, welche im Vorfeld entschieden, mit welchem Kapitel/Thema sie sich beschäftigen möchten. In den Workshops wurde nach gemeinsamem Lesen der Kapitel anhand verschiedener Fragestellungen zu Inhalt, Bildern und Layout der Evaluationsprozess vorgenommen. Auf diese Weise fand eine intensive Auseinandersetzung mit dem Material und seinen Inhalten statt. Dies führte mitunter zu weiterführenden Fragen in Bezug auf das Thema Sexualität, da die Materialien bspw. keine sexualaufklärenden Fragen beinhalten. Das Forschungsteam sah sich ethisch verpflichtet, diese aufzugreifen und zu klären, sodass am Ende jeder Einheit die Möglichkeit eröffnet wurde, diese anhand von weiterführendem Material weiterzubearbeiten.

5.3 Reflexion der partizipationsorientierten Ausrichtung

Die im vorherigen Abschnitt angesprochene Evaluation wurde stärker partizipativ ausgerichtet als die Interviews. Hier war das Team in der Teilhabe von Expert*innen in eigener Sache an Forschung geübter, sodass ein umfassender Beteiligungsprozess stattgefunden hat. Eine erste Hürde aber war die Gewinnung der Teilnehmer*innen. Paternalistische Vorbehalte seitens Leitungen und/oder Mitarbeiter*innen mussten aufwendig und empathisch aufgefangen werden; ein deutlicher Hinweis auf dringenden Handlungsbedarf.

In den Workshops wurde die Unerfahrenheit der Teilnehmer*innen an solchen Prozessen sehr deutlich. Dem Phänomen von Antworten sozialer Erwünschtheit oder tendenziell unkritischer Haltungen dem Material gegenüber musste methodisch begegnet werden, und die Menschen mussten immer wieder ermutigt werden, offen ihre Meinung zu äußern.

Eine besondere Schwierigkeit stellte sich dem Forschungsteam, wenn im Prozess Verletzungen von Persönlichkeitsrechten z. B. durch Bezugspersonen deutlich wurden. Es stellte sich die Frage, ob die Rolle als Forscher*in überhaupt berechtigt, die Problematik offen zu thematisieren, ohne dabei die Datensicherheit sowie die zugesicherte Anonymität zu gefährden. Inhaltlich bestand jedoch ein großes Anliegen darauf hinzuweisen, ohne dass es sich hierbei um Vorwürfe oder Belehrungen handeln sollte und ohne selbst in eine paternalistische Haltung zu verfallen.

Nach intensiver Reflexion wurde entschieden, solche Themen nach Abschluss der Interviews und Evaluationseinheiten mit den Mitarbeiter*innen vorsichtig und ganz allgemein im gemeinsamen Gespräch anzusprechen. Bei weiterem Interesse wurden z. B. Literaturempfehlungen weitergegeben.

Auch bei den Bewohner*innen wurde ein solches Thema nach Abschluss wieder aufgegriffen. Es wurde im Sinne des Empowerments gemeinsam ein weiteres Vorgehen überlegt. In Einzelfällen wurden auf ausdrücklichen Wunsch bestimmte Fragen oder Anliegen an Mitarbeiter*innen weitergeleitet.

Diese Vorgehensweise hat es ermöglicht, mit dem bestehenden Dilemma umzugehen.

Die Bereitschaft, sich zu so einem persönlichen Thema in einem Forschungsprozess zu äußern und die Bereitschaft, sich aktiv an der Materialentwicklung zu beteiligen, verdient einen besonders verantwortungsbewussten Umgang mit den Daten, aber auch mit der persönlichen Situation der Beteiligten.

6 Kritische Würdigung

Das forschungsmethodische Vorgehen im Projekt ReWiKs war von Beginn an als eines mit einem möglichst hohen Partizipationsgrad gedacht, wenngleich die Beteiligung der Zielgruppen sich in Abhängigkeit zu den Forschungsfragen und Zielsetzungen der drei Projektbausteine unterschiedlich gestaltete und in ihrer Ausprägung variierte.

Mithilfe verschiedener Stufenmodelle können Art und Ausprägung von Partizipation im Forschungsprozess beschrieben werden, bspw. mit der „Matrix zur Beteiligung Betroffener an Forschung“ nach Glattacker et al. (2014), einem Modell, das sich an der klassischen Antragsforschung orientiert und sich in die einzelnen Phasen eines Forschungsprozesses – von der Formulierung von Forschungsbedarf bis hin zur Publikation und Umsetzung der Ergebnisse – gliedert. Variationen in der Ausprägung von Partizipation können dabei „von Beratung, über Mitwirkung, bis hin zu Zusammenarbeit und Steuerung reichen" (Glattacker et al., 2014, S. 4).

Im Gesamtprojekt ReWiKs gab es partizipative Elemente, die über den gesamten Forschungsprozess unterschiedlich ausgeprägt waren. Der Forschungsbedarf ergab sich insbesondere aus zwei Studien: Der Befragung von Mitarbeiter*innen in Wohnangeboten (Ortland, 2016) sowie der repräsentativen Befragung von Frauen mit Behinderungen (BMFSFJ, 2013). Projektplanung und Antragsstellung sowie die Entscheidung über eine Projektförderung vollzogen sich ohne die Einbeziehung der Zielgruppe. Eine stärkere Beteiligung konnte insbesondere während der konkreten Projektdurchführung sowie im Rahmen der Erstellung und Evaluation der Materialien erreicht werden. Zieht man die Matrix zur Beschreibung bzw. Einordnung der Projektaktivitäten hinzu, so hat eine Beteiligung hauptsächlich in Form von Beratung und Mitwirkung stattgefunden. Eine (gleichberechtigte) Zusammenarbeit ist punktuell ebenfalls erfolgt (siehe Beschreibung der Projektteile).

Stufenmodelle wie die Matrix sind deskriptiv konzipiert. Sie dienen einer transparenten Einordnung des Forschungsprozesses. Auch wenn Partizipation die Zielvorgabe darstellt, so ist ihre Umsetzung im Forschungsprozess abhängig von vorliegenden Rahmenbedingungen. Entsprechend „[erfolgt] Partizipation […] nicht nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip“ (Bergold & Thomas, 2017, S. 8). Bergold und Thomas (2017, S. 7) identifizieren institutionelle sowie individuelle Rahmenbedingungen, die Partizipation im Forschungsprozess entweder fördern oder hemmen.

Als Herausforderungen konnten im Projektverlauf folgende Bedingungen identifiziert werden:

  • Zeitliche und personelle Projektressourcen: Die Realisierung partizipativer Forschungsprozesse benötigte deutlich mehr zeitliche und personelle Ressourcen als vorhergesehen. Diese sind aufgrund der Heterogenität der Expert*innen aus der Praxis nicht klar kalkulierbar gewesen.

  • Akquise der Menschen mit Behinderungen in Organisationen: Bestehende paternalistische Strukturen stellten oftmals ein Hemmnis für eine gleichwertige Anfrage bei Mitarbeiter*innen und Bewohner*innen als Forschungsteilnehmer*innen (z. B. für Befragungen oder Fortbildungserprobungen) dar. Gerade im stationären Kontext wurde für eine Anfrage bei Bewohner*innen häufig die Zustimmung der Einrichtungsleitung/des Trägers oder der Mitarbeiter*innen erforderlich, damit eine Projektbeteiligung möglich wurde.

  • Individuelle Ressourcen der Forschungsteilnehmer*innen: Aufgrund der vielleicht noch stärkeren Heterogenität der Expert*innen aus der Praxis als in nicht-partizipativer Forschung musste das forschungsmethodische Vorgehen individuell und situativ angepasst werden. Dies erforderte eine hohe Flexibilität seitens der Forscher*innen und kollidierte mitunter mit den begrenzten Projektressourcen.

  • Inhärente Spannungsfelder: Als herausfordernd erwies sich zudem ein Spannungsfeld, in dem sich die Forscher*innen immer wieder bewegten, da sie als Wissenschaftler*innen, professionelle Prozessbegleiter*innen und als eigene Persönlichkeiten in das Projekt involviert waren. Partizipativ ausgerichtete Forschungsprozesse sollten zu der Bearbeitung vergleichbarer Spannungsfelder Supervision als regelhaftes Begleitangebot installieren.

Diese Herausforderungen erforderten einen kreativen Umgang. Eine Vielzahl an Forschungsmethoden wurde angewandt und bei Bedarf auf die Zielgruppen hin modifiziert, um eine möglichst hohe Beteiligung zu erlangen.

Aufseiten der Forschungsteilnehmer*innen haben sich Lern- und Entwicklungsprozesse vollzogen. Dies wurde z. B. darin deutlich, dass die Expert*innen mit Behinderungen mit zunehmender Erfahrung auch deutlich kritischer wurden und/oder mehr offene Fragen bezüglich der Projektmaterialien formulieren konnten.

Kontinuierlich stattfindende Reflexionsprozesse, die auf verschiedenen Ebenen erfolgten – im Kleinteam, im Gesamtteam und mit dem Projektbeirat –, erwiesen sich für die Forscher*innen als notwendig und hilfreich. In diesem Rahmen konnten forschungsethische Aspekte – wie bspw. die Verantwortung gegenüber den am Forschungsprozess beteiligten Personen – diskutiert werden. Die Wahrung einer neutralen Haltung der Forscher*innen mit Blick auf die Erweiterung sexueller Selbstbestimmung erwies sich als fortwährend zu prüfender Aspekt in der Begegnung mit den verschiedenen Akteur*innen. Es ergaben sich verschiedene Spannungsfelder, die vor allem darin bestanden, den Wert der Erweiterung sexueller Selbstbestimmung in der Praxis zu vertreten und gleichzeitig konstruktive Diskurse mit allen Beteiligten zu gestalten. Ersteres führte oft zur empfundenen Notwendigkeit, gegebenen Haltungen und Strukturen normativ zu begegnen, während Zweiteres eine wertfreie Betrachtung gegebener Bedingungen erforderte.

Resümierend ist festzuhalten, dass, wenngleich das Vorgehen im Forschungsprozess nicht konsequent partizipativ gewesen ist, das Selbstbild der Forscher*innen stets der von von Unger (2014, S. 44) beschriebenen Grundhaltung partizipativer Forschung entsprach, „[…] die sich durch eine Wertschätzung der Wissensbestände und Kompetenzen von alltagsweltlichen Akteuren auszeichnet". Lernerfahrungen und Erkenntnisgewinne haben die Arbeit in allen drei Projektschwerpunkten geprägt.

7 Fazit/Ausblick

Die bisherigen Ausführungen verdeutlichen, wie vielschichtig sich Partizipation im Forschungsprojekt ReWiKs realisiert hat. Durch die dargelegte Reflexion der verschiedenen Ebenen und unterschiedlichen Perspektiven wird deutlich, dass sich abschließend nicht eindeutig feststellen lässt, ob Partizipation als gelungen betrachtet werden kann. Sinnvoller scheint es, die Komplexität und Diversität partizipativer Prozesse zu benennen und anzuerkennen.

So scheinen die unterschiedlichen Perspektiven der beteiligten Akteur*innen deutlichen Einfluss auf die Partizipationsmotivation, die -themen sowie die Macht(-losigkeit), diese einzubringen und einen Forschungsprozess aktiv mitzugestalten, zu haben.

Partizipieren Mitarbeiter*innen einer Organisation bspw. am Forschungsprozess, so geht es um die Belange für deren Arbeitsbereich oder in stellvertretender Form um die vermuteten Belange von den Menschen mit Behinderungen, für die sie im Rahmen ihrer Arbeit zuständig sind. Mitarbeiter*innen sind beeinflusst durch die Machtstrukturen und hierarchischen Abhängigkeiten, in denen sie arbeiten, sowie durch organisationskulturelle Aspekte (vgl. Ortland, 2016, S. 195 ff.). Menschen mit Behinderungen hingegen bringen Interessen ihren Lebensort betreffend ein. So ist ihr Interesse ein genuin persönlicheres, weil es um den (fast alternativlosen) täglichen Ort von Privatheit und Intimität geht. Durch ihre verhältnismäßig größere Machtlosigkeit (z. B. in Bezug auf Kommunikation, Finanzen, Abbau von Barrieren) und Abhängigkeit von den Unterstützungsleistungen kann von einem höheren Maß an (gefühlter) Unfreiheit der inhaltlichen Mitgestaltung des Forschungsprozesses ausgegangen werden.

Durch das Zusammenführen der unterschiedlichen Perspektiven können existierende Hierarchiestrukturen oder die genannten Teilhabebarrieren zutage treten. Um die gleichberechtigte Zusammenarbeit der verschiedenen Akteur*innen dennoch zu ermöglichen, kann eine begleitende Moderation hilfreich sein.

Die vielfältigen Erkenntnisse zu Beteiligung und Partizipation aus den mehrjährigen Projektaktivitäten bilden einen wertvollen Erfahrungsfundus, der wesentliche Grundlage für die Durchführung des Folgeprojekts bildet. In der zweiten Förderphase wird z. B. das Begegnungs- und Austauschformat „Freiraum: Sexualität + ICH“ bundesweit etabliert. Die Initiierung der Freiraum-Gruppen erfolgt gemeinsam mit Vertreter*innen aus Selbstvertretungsorganisationen. Zusammen mit den zukünftigen Teilnehmer*innen werden diese das Angebot gestalten und durchführen. Wissenschaftlich begleitet wird dieser Prozess von den Forscher*innen. Die Evaluation und Weiterentwicklung des Formats geschieht unter Beteiligung aller relevanter Akteur*innen, um so ein bedürfnis- und bedarfsgerechtes Angebot zu schaffen, das die Erweiterung der (sexuellen) Selbstbestimmung ermöglicht und die Überführung in nachhaltige Strukturen gestattet.

Parallel dazu erfolgen ebenfalls bundesweit Fortbildungen für Mitarbeiter*innen (sog. Lots*innen-Fortbildungen), in der u. a. eine Sensibilität für partizipative Prozesse der Organisationsentwicklung bei den Teilnehmer*innen erreicht werden soll.

Durch die beiden zentralen Ausrichtungen auf Bewohner*innen („Freiraum: Sexualität + ICH“) und Mitarbeiter*innen (Lots*innen-Fortbildungen) soll perspektivisch ermöglicht werden, dass die in den Einrichtungen beteiligten Akteur*innen neue Wege der sexuellen Selbstbestimmung wagen.