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1 Einleitung

Die „Repräsentativbefragung zur Teilhabe von Menschen mit Behinderungen“, kurz „Teilhabebefragung“, ist die bislang größte empirische Erhebung ihrer Art in Deutschland. Auf breiter Erhebungsbasis soll die Studie die Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen abbilden. Teilhabe fördernde sowie Teilhabe hemmende Faktoren sollen identifiziert werden. Die empirische Bearbeitung dieser Aufgaben macht es erforderlich, begriffliche und methodische Entscheidungen von einiger Reichweite zu treffen. Der vorliegende Beitrag hebt einen in diesem Zusammenhang wichtigen Aspekt hervor: die analytische Konzeption und empirische Messung von Behinderung.

Die Frage, was unter Behinderung zu verstehen ist und wie sie im Rahmen einer Befragungsstudie erfasst werden kann, ist für die Teilhabeforschung eine fundamentale, zugleich komplexe Frage. In einem modernen Behinderungsverständnis ist Teilhabe integraler Bestandteil des Behinderungsbegriffs, sodass die Frage nach der Operationalisierung von Behinderung immer auch die Frage nach dem Teilhabeverständnis einschließt (Bartelheimer et al., 2020). Beide Begriffe haben neben der wissenschaftlichen Bedeutung auch eine politische bzw. sozialrechtliche Entstehungsgeschichte und Verwendung. Diese sind dynamisch mit den vielschichtigen wissenschaftlichen Debatten um den Behinderungsbegriff verwoben (ebd.). Insofern kann die Teilhabebefragung weder auf eine feste konzeptionelle Basis noch auf eine in der empirischen Sozialforschung etablierte Vorgehensweise für die Messung von Behinderung zurückgreifen.

Vor diesem Hintergrund verfolgt unser Beitrag die Absicht, den analytisch-konzeptionellen Rahmen der deutschen Teilhabebefragung zu erläutern. Wir wollen drei Fragen beantworten: Welche begrifflich-operationalen Entscheidungen sind notwendig, um Behinderung empirisch zu messen? An welchen Kriterien hat sich die deutsche Teilhabebefragung dabei orientiert? Worin sehen wir den Erkenntnisgewinn, der sich aus dieser Forschungsperspektive ergibt?

2 Bedarf für eine Teilhabebefragung

Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ist 2009 in Deutschland in Kraft getreten. Mit der Anwendungs- und Umsetzungsverpflichtung der Konvention (Groskreutz & Hlava, 2017, S. 529 f.) hat sich die Bundesrepublik Deutschland auch „zur Sammlung geeigneter Informationen, einschließlich statistischer Angaben und Forschungsdaten“ (Art. 31 UN-BRK) verpflichtet, auf deren Grundlage die Lebenslagen und Probleme der Lebensführung von Menschen mit Behinderungen beurteilt sowie politische Konzepte zur Umsetzung der UN-BRK entwickelt werden können.

Die bis zu diesem Zeitpunkt erstellten sog. Behindertenberichte der Bundesregierung (zuerst 1984, zuletzt 2009) konnten diesem Anspruch nicht gerecht werden (Hirschberg, 2012). Sie beschränkten sich darauf, die Rechte von und Leistungen für Menschen mit Behinderungen zu beschreiben sowie die in der jeweiligen Legislaturperiode ergriffenen Maßnahmen und Aktivitäten darzustellen (BMAS, 2013, S. 9). Im Gegensatz zu anderen Sozialberichten, die auf wissenschaftlichen Analysen und Expertisen beruhen (wie etwa dem Armuts- und Reichtumsbericht oder dem Kinder- und Jugendbericht), war es üblich, dass das zuständige Fachministerium (zuletzt das BMAS) den Bericht im Alleingang verfasst – ohne Mitwirkung einer unabhängigen wissenschaftlichen Institution. Dabei griff es vor allem auf die Schwerbehindertenstatistik, ferner auf andere amtliche Daten zurück. Diese sind jedoch nicht geeignet dazu, ein differenziertes Bild von den Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen zu zeichnen. Zudem erlaubt die amtliche Statistik im Wesentlichen nur Auskünfte über Menschen mit anerkannter (Schwer-)Behinderung bzw. solche, die Rehabilitations- und andere staatliche Leistungen beziehen. Menschen mit Beeinträchtigungen ohne amtlich anerkannte Behinderung bzw. jene, die nicht oder nicht mehr leistungsberechtigt sind, liegen außerhalb dieser Betrachtungen.

Mit dem ersten Teilhabebericht (BMAS, 2013) wurde ein wichtiger Schritt unternommen, um die Berichterstattung substanziell weiterzuentwickeln: weg von der rein amtlichen Berichterstellung hin zu einer unabhängigen wissenschaftlichen Analyse der Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen. Vor allem aber geht der Teilhabebericht erstmals von einem an der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) orientierten Verständnis von Behinderung aus. In den Analysen wird zwischen Beeinträchtigung und Behinderung unterschieden: Liegt aufgrund eines Gesundheitsproblems eine Schädigung des Körpers vor, handelt es sich um eine Beeinträchtigung. Eine Behinderung entsteht dann, wenn im Zusammenhang mit dieser Beeinträchtigung im Wechselspiel mit Kontextfaktoren Einschränkungen der Aktivitäten oder der Teilhabe entstehen (ebd.).

Infolge dieser Entscheidung kann sich der Teilhabebericht nicht mehr – wie die Behindertenberichte zuvor – allein auf amtliche Statistiken stützen, sondern muss sich anderer Datenquellen bedienen. Im Wesentlichen greift der Teilhabebericht dabei auf das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) zurück, ferner auf die Erhebung „Gesundheit in Deutschland aktuell“ (GEDA) und die Studie „Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland“ (KiGGS). Dadurch, dass der Teilhabebericht sich auf sekundärstatistische Analysen stützt, unterliegt er auch den Restriktionen seiner Quellen: Zum einen wird in den genannten Studien das Vorliegen einer Beeinträchtigung bzw. Behinderung nur unzureichend und nicht einheitlich operationalisiert (BMAS, 2013, 2016, 2021). Zum anderen erreichen diese Studien relevante Personengruppen nicht, u. a. Menschen mit psychischen Erkrankungen, kognitiven Beeinträchtigungen sowie Bewohnerinnen und Bewohner stationärer Einrichtungen und andere schwer erreichbare Personengruppen (z. B. wohnungslose Menschen). Es werden also nicht alle Zielgruppen repräsentiert (BMAS, 2013, S. 400). Verallgemeinerungsfähige Aussagen über die Lebenslagen von beeinträchtigten Menschen, ihre Gesundheit, ihre wirtschaftliche Lage, über Partnerschaft, Familie, Wohnen und Mobilität und andere wichtige Aspekte sozialer Teilhabe stehen bislang nicht zur Verfügung. In der Folge mangelt es auch an entsprechenden Differenzierungs- und Vergleichsmöglichkeiten, z. B. nach Art der Beeinträchtigung und sozialstrukturellen Merkmalen (z. B. Migrationsstatus, Bildungsabschluss, Einkommenssituation des Haushalts). Damit fehlen Informationen über konkrete Einschränkungen der Teilhabe dieser Personen im Alltag, im öffentlichen Leben und Arbeitsleben (Schröder & Schütz, 2011). Der aktuelle Teilhabebericht (BMAS, 2021) bezieht erstmals Befragungsdaten der Teilhabebefragung zu ausgewählten Lebensbereichen ein und macht damit einen wichtigen Schritt hin zu aussagekräftigeren Analysen.

3 Überblick über die Teilhabebefragung

Vor diesem Hintergrund lautet die Zielsetzung der Teilhabebefragung, belastbare Daten über die Lebenssituationen von Menschen mit Behinderungen zu verschaffen. Nach einer Vorstudie (Schröttle & Hornberg, 2014) und einem Pretest in Einrichtungen der Behindertenhilfe (Schäfers et al., 2016) wurde das infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft, Bonn in Zusammenarbeit mit der Hochschule Fulda, dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und der Universität Duisburg-Essen mit der Konzeption und Durchführung der Teilhabebefragung beauftragt. Auftraggeber des fünfjährigen Projekts (2017–2021) ist das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS).

Der Anspruch, eine so weit als möglich selektionsfreie Erhebung durchzuführen, die für alle Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen – unabhängig von der Art ihrer Beeinträchtigungen und ihren Lebensumständen – aussagefähig ist, stellt ganz besondere Anforderungen an das Design einer solchen Studie. Diese Anforderungen betreffen sowohl die Abgrenzung des Untersuchungsfeldes als auch die Stichproben und die Messungen:

  • Das Untersuchungsfeld und der Gültigkeitsbereich der Studie müssen eineindeutig geklärt sein. Es ist eine semantische Abgrenzung und zuverlässige Messung von „Beeinträchtigung“ und „Behinderung“ sowie nicht zuletzt – angesichts des politischen Auftrags – die Anschlussfähigkeit an sozialrechtliche Definitionen von „Behinderung“ erforderlich (s. Abschn. 4).

  • Stichprobentheoretisch muss sichergestellt sein, dass die Grundgesamtheit der Untersuchung so selektionsfrei wie möglich erfasst werden kann.

  • Messtheoretisch sollen die Untersuchungsergebnisse unabhängig von der Art der Beeinträchtigung gültig und zuverlässig sein. Um eine so gut als möglich inklusive Befragung zu gestalten, gilt es, barrierefreie Erhebungsmethoden zu entwickeln, die möglichst alle relevanten Personen in die Befragung einbeziehen.

  • Hinsichtlich des Verwendungszusammenhangs der Studie ist stets kritisch zu prüfen, inwiefern die Untersuchungsthemen für die Betroffenen, für die Politik und für die Wissenschaft relevant sind. Für diesen Zweck wurden ein inklusiver Beirat (unter Einbezug von Menschen mit Beeinträchtigungen und Fachleuten der Behindertenhilfe) und ein wissenschaftlicher Beirat eingesetzt und verschiedene Abstimmungsrunden mit den zuständigen Stellen im federführenden Ministerium (BMAS) durchgeführt.

Um Menschen mit Beeinträchtigungen in verschiedenen Wohnsettings zu identifizieren, erfolgt die Teilhabebefragung in mehreren, sich ergänzenden Teilstudien (für eine genauere Erläuterung vgl. Schröder et al., 2017):

  • Screening-Erhebung: Auf der Basis einer Stichprobe von Einwohnermeldeadressen aus 250 Gemeinden wurden zufällig rund 300.000 Haushalte gezogen und vorbefragt. Neben soziodemografischen Merkmalen wurden auch Angaben zu unterschiedlichen länger andauernden Beeinträchtigungen bzw. Erkrankungen der Haushaltsmitglieder erbeten.

  • Befragung von Menschen mit Beeinträchtigungen in Privathaushalten: Auf Grundlage des Screenings wurde eine geschichtete Zufallsstichprobe für die Haupterhebung gezogen. Unter Nutzung eines Multi-Methoden-Ansatzes von Befragungen wurde ermittelt, in welcher Weise die Personen an verschiedenen Lebensbereichen teilhaben. Insgesamt wurden rund 16.000 Interviews mit Menschen mit Beeinträchtigungen in Privathaushalten realisiert.

  • Befragung von Menschen ohne Beeinträchtigungen in Privathaushalten: Das Screening bildete zudem die Basis einer Stichprobe von Personen ohne Beeinträchtigungen, die zu vergleichenden Zwecken mit einem in großen Teilen identischen Fragebogen befragt wurden. Dies soll Hinweise darauf geben, welchen Einfluss Beeinträchtigungen auf die Lebenslage, Teilhabesituation und Möglichkeiten der Lebensführung haben. Insgesamt wurden 6.000 Interviews mit Menschen ohne Beeinträchtigungen in Privathaushalten durchgeführt.

  • Befragung von Bewohnerinnen und Bewohnern besonderer Wohnformen/stationärer Einrichtungen: Die Haushaltsbefragung der Teilhabebefragung erfasst keine Menschen, die dauerhaft in besonderen Wohnformen der Eingliederungshilfe bzw. stationären Einrichtungen der Altenpflege leben. Die Auswahl dieser Personen erfolgte ebenfalls mehrstufig: Auf Basis einer Liste von 22.806 Einrichtungen in Deutschland (Auswahlgesamtheit) und einer Vorbefragung in Einrichtungen wurde eine geschichtete Zufallsstichprobe von 1.000 Einrichtungen in 300 Gemeinden gezogen. Im Ergebnis konnten 3.354 Menschen aus 327 Einrichtungen befragt werden.Footnote 1

  • Vertiefende qualitative Interviews: Ergänzend zu den standardisierten Befragungen wurden problemzentrierte und biografisch-narrative Interviews geführt, die einen tieferen Einblick in die Lebenssituation der befragten Personen ermöglichen. Insgesamt wurden 124 persönlich-mündliche Interviews geführt und inhaltsanalytisch ausgewertet.

Insgesamt ergibt sich also ein Umfang von rund 19.000 Menschen mit Beeinträchtigungen und 6.000 Menschen ohne Beeinträchtigungen, die in der Teilhabebefragung befragt wurden, u. a. zum Wohnen und zur alltäglichen Lebensführung, zu Gesundheit, Freizeit und Kultur, Bildung und Arbeit, politischer Teilhabe usw. (zu einer Übersicht über die Befragungsinhalte vgl. Steinwede et al., 2018).

4 Der analytisch-konzeptionelle Rahmen der Teilhabebefragung

Zentral für die Teilhabebefragung ist ein Verständnis von Behinderung, das sich am bio-psycho-sozialen Modell von Behinderung der ICF orientiert (WHO, 2001; DIMDI, 2005). Dieses Grundverständnis liegt sowohl der UN-BRK als auch der durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) geänderten Fassung des SGB IX zugrunde.

In der ICF wird Behinderung – im Unterschied zu früheren Beschreibungsversuchen – nicht mehr vorrangig als unmittelbare Folge von Schädigungen und Fähigkeitsstörungen gesehen. Funktionsfähigkeit ist ein Oberbegriff, „der alle Körperfunktionen und Aktivitäten sowie Partizipation [Teilhabe] umfasst; entsprechend dient Behinderung als Oberbegriff für Schädigungen, Beeinträchtigungen der Aktivität und Beeinträchtigung der Partizipation [Teilhabe]“ (ebd., S. 9).

Funktionsfähigkeit/Behinderung wird also unter drei verschiedenen Aspekten betrachtet (Schuntermann, 2016):

  • Körperfunktionen und -strukturen (z. B. Sinnesfunktionen, bewegungsbezogene Funktionen, Strukturen des Nervensystems, Körperteile wie Auge und Ohr, mentale Funktionen usw.),

  • Aktivitäten (die Durchführung einer Handlung oder Aufgabe, z. B. sich waschen, Hausarbeiten erledigen, kommunizieren, mit Stress umgehen) und

  • Partizipation/Teilhabe (das Einbezogensein in eine Lebenssituation, z. B. zur Schule oder Arbeit gehen, am Gemeinschaftsleben beteiligen, Rechte genießen usw.).

Abb. 1 veranschaulicht die Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen Ebenen und Dimensionen. Funktionsfähigkeit und Behinderung eines Menschen ist eine dynamische Interaktion zwischen dem Gesundheitsproblem (Krankheit, Gesundheitsstörung, Trauma usw.) und den Kontextfaktoren. Kontextfaktoren umfassen Umweltfaktoren (z. B. räumlich-materielle Bedingungen, Hilfsmittel, Normen, Werte, Rechte) und personbezogene Faktoren (z. B. Alter, Geschlecht, Lebensstil). Sie können sich positiv auswirken (sog. Förderfaktoren) oder negativ auswirken (sog. Barrieren).

Abb. 1
figure 1

(Quelle: DIMDI, 2005, S. 23; vgl. WHO, 2001, S. 18)

Bio-psycho-soziales Modell der ICF.

Jede Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit wird in der ICF als Behinderung bezeichnet (Schuntermann, 2016, S. 477; zur Kritik vgl. Kastl, 2017). Im Unterschied zu diesem allgemeinen Behinderungsbegriff der ICF (Kreis 1 in Abb. 2) kann der Behinderungsbegriff im Speziellen auf Teilhabe bezogen werden, was dem Behinderungsbegriff des SGB IX nahekommt (Kreis 2 in Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

(Quelle: in Anlehnung an Schuntermann, 2006)

An ICF und SGB IX orientierte Analytik.

Nach diesem Verständnis wird die Beeinträchtigung von Teilhabe zur eigentlichen Behinderung. Mit dem Teilhabebegriff und den Umweltfaktoren erhalten die sozialen Einflussfaktoren bei der Entstehung von Behinderung in der ICF stärkeres Gewicht. Persönliche Merkmale und Schädigungsformen stellen demnach einen Bedingungsfaktor unter vielen dar, die für die Entstehung und Ausprägung von Behinderung relevant sein können. Der Blick richtet sich insbesondere auf die Abhängigkeit der Behinderung von Umweltfaktoren und der Variation in verschiedenen Lebenszusammenhängen.

Für eine sozialwissenschaftliche Studie wäre diese Betrachtungsebene der ICF-Konzeption im Grunde schon ausreichend. Die Studie soll allerdings auch Evidenz für sozialrechtliche Fragestellungen haben und anschlussfähig an die amtliche Statistik sein. Dafür bedarf es an dieser Stelle noch einer Klärung, wie das ICF-orientierte Konzept mit dem sozialrechtlichen Verständnis von Behinderung zusammenpasst (Kreis 3 in Abb. 2).

Das SGB IX definiert in § 2 Abs. 1: „Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist.“

Satz 1 dieser Definition entspricht im Wesentlichen dem dargelegten ICF-Grundverständnis. Darauf wurde bei der Novellierung des Rechts auch noch einmal entsprechend Bezug genommen (Deutscher Bundestag, 2016, S. 192). Satz 2 präzisiert den rechtlichen Begriff der Beeinträchtigung, der nach dem alterstypischen Körper- und Gesundheitszustand bemessen wird. Dies entspricht im Wesentlichen dem Begriff des Gesundheitsproblems und der Schädigung von Körperstrukturen und -funktionen im Sinne der ICF. Ausdrücklich wird mit Satz 3 eine drohende Behinderung als sozialrechtlich relevanter Sachverhalt definiert. Die ICF-Perspektive spiegelt sich also ebenfalls in der sozialrechtlichen Betrachtung wider.

Der vierte Kreis (vgl. Abb. 2) kommt in der sozialrechtlich relevanten Definition von Schwerbehinderung zum Ausdruck. Auch hier gibt das Sozialgesetzbuch IX mit § 2 Abs. 2 eine Definition vor: „Menschen sind im Sinne des Teils 3 [SGB IX, d. Verf.] schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt (…).“ Für Menschen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50 und mindestens 30 öffnet das Gesetz den Zugang zu Schutzrechten und Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben durch den Tatbestand der Gleichstellung (vgl. § 2 Abs. 2 SGB IX). Beide Rechtsstatus (Kreis 4 in Abb. 2) lassen sich in der Teilhabebefragung abbilden, indem nach einer amtlichen Anerkennung der Behinderung, dem Besitz eines Schwerbehindertenausweises und dem Grad der Behinderung gefragt wird.

Der fünfte Kreis von Behinderung (vgl. Abb. 2), der für die Teilhabebefragung relevant ist, ist noch enger gefasst. Es grenzt die Betrachtung auf Personen ein, die eine „wesentliche Behinderung“ haben und denen deshalb Leistungen der Eingliederungshilfe zustehen (§ 99 SGB IX). In der Teilhabebefragung wird diesbezüglich erfasst, welche Unterstützungsleistungen in Anspruch genommen werden, was Rückschlüsse auf die Leistungsberechtigung erlaubt.Footnote 2

Als Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass der deutschen Teilhabebefragung eine Analytik zugrunde liegt, die es ermöglicht, Beeinträchtigungen und Behinderungen abgestuft zu ermitteln. So kann auch ein sozialrechtliches Verständnis von Behinderung integriert werden.

5 Die Messung von Beeinträchtigung

Wir wenden uns nun der Operationalisierung und Messung der zentralen analytischen Elemente zu. Für die Kategorien Beeinträchtigung und Behinderung liegen im Rahmen der empirischen Sozialforschung in Deutschland bislang noch keine einheitlichen oder bewährten Messoperationen vor. Die Teilhabebefragung hat deshalb an dieser Stelle einige Grundsatzentscheidungen zu treffen. Diese betreffen sowohl das Messkonzept als auch die Tiefe der Erfassung von Beeinträchtigungen.

Der Begriff Beeinträchtigung meint lang andauernde Gesundheitsprobleme, chronische Erkrankungen und Schädigungen von Körperfunktionen und -strukturen (inklusive psychischer Funktionen). Dies können Beeinträchtigungen der Beweglichkeit, der Sinne (sehen, hören, sprechen), psychische Erkrankungen oder Beeinträchtigungen der geistigen Leistungen sein (BMAS, 2013, S. 40; BMAS, 2016, S. 15 f.; BMAS, 2021, S. 21).Footnote 3 Beeinträchtigungen können, müssen aber nicht zu Behinderungen führen (vgl. die Unterscheidung von impairment und disability: Kastl, 2017, S. 48 ff.).

Bei der Frage nach der Messung von Beeinträchtigung kämen prinzipiell Ansätze infrage, die sich der Methodiken klinischer Diagnostik bzw. Epidemiologie bedienen. Solche Screening-Instrumente oder Gesundheitsfragebögen sind jedoch für den Einsatz im Rahmen der Teilhabebefragung wenig geeignet. Einerseits sind sie sehr spezifisch auf häufig vorkommende, akute psychosomatische Beschwerden ausgerichtet. Anderseits bilden sie bestimmte Beeinträchtigungen nicht ausreichend ab, z. B. angeborene Beeinträchtigungen und Sinnesbeeinträchtigungen. Zudem würde die notwendige Informationstiefe eines solchen Ansatzes die Befragungsmöglichkeiten der Zielgruppen der Teilhabebefragung inhaltlich und zeitlich überfordern.

Vorschläge zur Operationalisierung aus internationalen Studien, die für den Zweck entwickelt wurden, als Screening-Instrument in Bevölkerungsumfragen eingesetzt zu werden, erscheinen hier vielversprechender. Im Zuge der Entwicklung eigener Erhebungsinstrumente für die deutsche Teilhabebefragung wurden besonders in Augenschein genommen:

  • die Frage-Sets der „Washington Group on Disability Statistics“ (WG, 2009; 2017; 2020; vgl. auch WG et al., o. J.; UN ESCAP & WG, o. J.),

  • der Fragebogen des „Life Opportunities Survey (LOS)“ in Großbritannien (Office for National Statistics, o. J.),

  • der Fragebogen „Model Disability Survey (MDS)“ von WHO und Weltbank (WHO & WB, o. J.; WHO & WB, 2017; Coenen et al., 2016),

  • die „Disability Screening Questions (DSQ)“ von Statistics Canada (Grondin, 2016),

ferner im deutschsprachigen Raum vorfindbare Instrumente, die z. T. wiederum auf obigen Ansätzen basieren, vor allem:

  • Operationalisierungen der Studie „Gesundheit in Deutschland aktuell“ (GEDA) des Robert Koch-Instituts,

  • die „Vorstudie für eine Repräsentativbefragung“ (Schröttle & Hornberg, 2014) und

  • der „Pretest Befragung in Einrichtungen“ (Schäfers et al., 2016).

Die Screeningfragen der genannten Surveys, die auf die Messung von Beeinträchtigung zielen, ähneln sich stark. Sie bilden praktikable Vorlagen für die Entwicklung des Vorgehens der deutschen Teilhabebefragung sowohl im Screening-Fragebogen für die Haushalte als auch für das Erhebungsinstrument der Hauptbefragung (in Privathaushalten und Einrichtungen).

Zur Messung von Beeinträchtigung wird in der Teilhabebefragung danach gefragt, ob die befragte Person mit einer (oder mehreren) dauerhaften Beeinträchtigungen lebt, die schon seit sechs Monaten andauern oder wahrscheinlich so lange andauern werden. Mit der zeitlichen Bestimmung orientiert sich die Frage am Wortlaut des Behinderungsbegriffs des SGB IX. Dabei werden folgende Gesundheitsprobleme und Funktionsbeeinträchtigungen in den Blick genommen, nämlich Beeinträchtigungen:

  • beim Sehen,

  • beim Hören,

  • beim Sprechen,

  • beim Bewegen,

  • beim Lernen, Denken, Erinnern oder Orientieren im Alltag,

  • durch seelische oder psychische Probleme,

  • durch eine Suchterkrankung,

  • durch eine chronische Erkrankung,

  • durch Schmerzen und

  • sonstiger Art (eine andere dauerhafte Beeinträchtigung).

Werden mehrere Beeinträchtigungen angegeben, wird nachgefragt, welche davon die stärkste Beeinträchtigung ist bzw. welche im Lebensverlauf als erstes eingetreten ist. Weitere Fragen, z. B. zu Ausprägungen, Hilfsmitteln, Ursache und Verlauf, schließen sich an.

Auf Grundlage dieser Abfrage im Fragebogen der Haupterhebung erfolgt die Zuordnung der Befragten zur Teilgruppe der Menschen mit Beeinträchtigungen bzw. Menschen ohne Beeinträchtigungen.

Im Ergebnis sagten (in Bezug auf die Erhebung in Privathaushalten) von allen 22.065 befragten Personen 6.059 Frauen und Männer aus, gar keine Beeinträchtigung (im Sinne der Definition der Teilhabebefragung) zu haben. 16.003 der befragten Personen gaben indes an, mindestens eine Beeinträchtigung zu haben, die bereits länger als sechs Monate andauere oder voraussichtlich andauern werde. Abb. 3 gibt das Ergebnis der Abfrage der Beeinträchtigungen (in der Erhebung in Privathaushalten) wieder.

Abb. 3
figure 3

© Steinwede, Schäfers & Schröder, Eigene Abbildung

Angaben zu Beeinträchtigungen in der Erhebung in Privathaushalten.

Die 16.003 Personen mit mindestens einer Beeinträchtigung nennen als Beeinträchtigung mit der stärksten Einschränkung im Alltag bzw. als erste eingetretene Beeinträchtigung am häufigsten:

  • Beeinträchtigungen beim Bewegen,

  • Beeinträchtigungen durch eine chronische Erkrankung oder

  • Beeinträchtigungen durch Schmerzen.

6 Differenzierung zwischen Beeinträchtigung und Behinderung

Nach der Identifizierung von Beeinträchtigungen besteht die weitere Aufgabe darin, Beeinträchtigung und Behinderung zu differenzieren. In einem zeitgemäßen Behinderungsverständnis reicht die individuelle Beeinträchtigung eben nicht für die Bestimmung von Behinderung aus. Dafür müssen Kontextfaktoren mit in Betracht gezogen werden.

Mit dieser Aufgabe sind auch Untersuchungen in anderen Ländern konfrontiert gewesen. Die weitere Vorgehensweise in der deutschen Teilhabebefragung orientiert sich an nordamerikanischen und britischen empirischen Studien, vor allem am Canadian Survey on Disability.Footnote 4 Die Methodik dieses Surveys arbeitet mit einem Set sogenannter „Disability Screening Questions“ (DSQ) und einer darauf basierenden Indexbildung. Informationen über individuelle Beeinträchtigungen und Sozialwirkungen werden miteinander verknüpft, d. h. der Index basiert auf einer Kombination der erhobenen Informationen zu den Beeinträchtigungen (im Sinne von Gesundheitsproblemen und Funktionsstörungen) und Angaben zu Einschränkungen der Aktivitäten im Alltag. Die Einschätzungen nehmen die befragten Personen selbst vor.

Das konkrete Vorgehen ist so: Gibt eine Person mehrere Beeinträchtigungen an, wird nachgefragt, welche der genannten Beeinträchtigungen am stärksten und welche am zweitstärksten im Alltag einschränkt. Für alle genannten erst- und zweitstärksten Beeinträchtigungen einer Person werden detaillierte Nachfragen gestellt. Analog dem kanadischen Vorgehen stehen hierbei auch im deutschen Fragebogen die folgenden beiden Informationen im Zentrum der Aufmerksamkeit:

  • Die subjektive Angabe zur Stärke der Beeinträchtigung: Wie sehr ist [die Fähigkeit] beeinträchtigt, auch wenn Hilfsmittel benutzt werden? (mit der Skalierung: wenig, etwas, ziemlich oder stark beeinträchtigt)

  • Die subjektive Angabe zum Ausmaß der Einschränkung im Alltag: Wie sehr schränkt die [Beeinträchtigung der Fähigkeit] bei Aktivitäten im Alltag ein, auch wenn entsprechende Hilfsmittel genutzt werden? (mit der Skalierung: überhaupt nicht, etwas, ziemlich, stark)Footnote 5

Die subjektive Angabe zur Einschränkung im Alltag stellt dabei eine generalisierte Information über die soziale Lebenswelt der Betroffenen dar. Mit dieser Einschätzung sind Umweltaspekte konzeptualisiert, die mit der ICF-Heuristik angesprochen sind. Der Alltag und seine Bewältigung, so das hierbei grundlegende Argument, stellt eine für jeden praktischen Lebensvollzug relevante soziale oder Umwelt-Situation dar. Jedes Individuum steht dem Problem der Alltagsbewältigung gegenüber. Dies gilt unabhängig von sozialen Eigenschaften, die im jeweiligen Leben eine Rolle spielen. Die individuelle Alltagsbewältigung bündelt, wenn auch für jede Person verschieden, stets jene bedeutungsvollen Offenheiten oder Eingrenzungen, Chancen oder Hürden, Freiräume oder Barrieren, mit denen ein Mensch konfrontiert ist und die stets aus der relevanten Lebensumgebung ableitbar sind – und diese damit auch in gewisser Weise repräsentieren können.

Zu betonen ist, dass die Einschätzungen zu Beeinträchtigungen und Alltagseinschränkungen im Rahmen der deutschen Teilhabebefragung von niemand anderem als den Befragten getroffen werden (vgl. Abb. 4). Diese Daten sind damit Selbstzuschreibungen der Betroffenen. Sie müssen somit nicht identisch mit einer Zuschreibung durch Dritte sein, z. B. im Sinne einer sozialrechtlichen und -administrativen Feststellung von Behinderung.

Abb. 4
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© Steinwede, Schäfers & Schröder, eigene Abbildung

Operationalisierung von selbsteingeschätzter Behinderung.

Analog zum Vorgehen des „Canadian Survey on Disability“ (Grondin, 2016) spricht die deutsche Teilhabebefragung dann von Behinderung – im Sinne einer analytischen Kategorie – wenn Beeinträchtigungen mit Einschränkungen von Aktivitäten im Alltag (eines gewissen Grads) zusammengehen. Für die subjektive Selbsteinschätzung „behindert“ werden also Informationen aus beiden Quellen, der subjektiven Angabe zur Stärke der individuellen Beeinträchtigung sowie der subjektiven Einschätzung zum Ausmaß der Einschränkung im Alltag, miteinander kombiniert. Tab. 1 weist die Kombinationsmöglichkeiten der Messmerkmale mit den entsprechenden Zuordnungen aus.

Tab. 1 Analytische Abgrenzung bei der Unterscheidung zwischen „beeinträchtigt“ und „behindert“ (Basis: nur beeinträchtigte Personen)

Durch die Kombination entstehen zwei analytisch unterschiedene Gruppen.Footnote 6 Dabei wird die Gruppenzugehörigkeit wie folgt definiert:

  • Beeinträchtigt: Eine Person gilt als beeinträchtigt, wenn mindestens eine Beeinträchtigung vorliegt, die Person nach subjektiver Selbsteinschätzung aber keine oder nur geringe Alltagseinschränkungen hat (und sie bei geringen Alltagseinschränkungen nicht ziemlich oder stark beeinträchtigt ist).

  • Selbsteingeschätzt behindert: Eine Person gilt als behindert, wenn mindestens eine Beeinträchtigung vorliegt und die Aktivitäten im Alltag nach subjektiver Selbsteinschätzung entweder ziemlich oder stark eingeschränkt sind – oder eine ziemliche oder starke Beeinträchtigung vorliegt, die nur etwas im Alltag einschränkt.

Diese so vorgenommene Gruppeneinteilung wird in der deutschen Teilhabebefragung auf Basis einer Prüfung alternativer Berechnungsweisen sowie einer multivariaten Validierung vorgenommen.Footnote 7 Bei der zugrunde liegenden rechnerischen Operation gehen alle relevanten Informationen für alle in der Erhebung thematisierten Beeinträchtigungen ein. Es wird keine der von den Befragten angegebenen Beeinträchtigungen bei der Operationalisierung ausgeschlossen. Es wird zudem auch nicht als relevant angesehen, ob eine Beeinträchtigung nach der Selbsteinschätzung der Befragten die stärkste bzw. zweitstärkste Beeinträchtigung ist oder auch die zeitlich zuerst bzw. später eingetretene Beeinträchtigung, da alle verfügbaren Informationen über alle Beeinträchtigungen ohne unterschiedliche Gewichtung verwendet werden.Footnote 8 Im Unterschied zu Aussagen und Begutachtungen Dritter, die in einem rechtlich geregelten Anerkennungsverfahren als (vermeintlich) objektive Einordnung vermittelt werden, handelt es sich bei der hier vorgenommenen Selbsteinschätzung um eine subjektive Einschätzung von Behinderung.

Der Nutzen dieser so vollzogenen Differenzierung zwischen Beeinträchtigung und Behinderung liegt darin, dass Gruppenvergleiche möglich werden: zwischen Menschen ohne Beeinträchtigung, mit Beeinträchtigung und mit selbst eingeschätzter Behinderung. Detaillierte Analysen der Lebenslagen, Teilhabepositionen und Möglichkeiten der Lebensführung in verschiedenen Lebensbereichen erfolgen dann erst auf dieser Basis. Im Sinne der ICF werden analytisch die situationsbedingten Einflüsse sozialer und anderer Umweltfaktoren auf Teilhabemöglichkeiten im Zusammenspiel mit dem Vorliegen einer Beeinträchtigung bzw. selbst eingeschätzten Behinderung ersichtlich.

Auf Basis der Berechnung mit den Daten der deutschen Teilhabebefragung zeigt sich für die hier zugrunde liegende Gesamtheit der Befragten, die angeben, eine oder mehrere Beeinträchtigungen zu haben, unabhängig vom Alter ein Anteil von 52 % selbsteingeschätzt behinderter Personen. Dies sind Befragte, die mindestens eine Beeinträchtigung angeben und für die – aus ihrer eigenen Sicht – damit eine Einschränkung ihres Alltagslebens verbunden ist. Bei den übrigen 48 % handelt es sich um diejenigen Personen, die auch mindestens eine Beeinträchtigung haben, jedoch angeben, keine oder nur geringe Alltagseinschränkungen zu erfahren. Der Anteil beeinträchtigter Personen mit selbsteingeschätzter Behinderung ist mit 61 % in der Gruppe der über 65-Jährigen deutlich höher als bei der jüngeren Altersgruppe (16 bis 64 Jahre) mit 48 % (Abb. 5).

Abb. 5
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© Steinwede, Schäfers & Schröder, eigene Abbildung

Altersgruppen bei beeinträchtigten Personen und Personen mit selbsteingeschätzter Behinderung.

Die veränderte Perspektive auf Menschen mit Behinderungen, die sich durch die Operationalisierung von Beeinträchtigung/Behinderung der Teilhabebefragung ergibt, zeigt sich in pointierter Weise, wenn in der Befragung gemessene subjektive Aussagen der Betroffenen über Beeinträchtigungen und Alltagseinschränkungen mit (herkömmlichen) Informationen über die amtliche Anerkennung von Behinderung in Beziehung gesetzt werden. Im Folgenden wird dies zunächst am Besitz eines Schwerbehindertenausweises gemessen.

In der Gruppe der beeinträchtigten Personen mit Schwerbehindertenausweis kann für 83 % auch eine selbsteingeschätzte Behinderung ermittelt werden. 17 % der befragten beeinträchtigten Personen mit Schwerbehindertenausweis berichten dagegen, dass für sie keine oder nur eine geringe Alltagseinschränkung in Folge ihrer Beeinträchtigung vorliegt – und weichen damit auf Basis ihrer subjektiven Angaben in der Befragung vom amtlich festgestellten Status ab (Abb. 6).

Abb. 6
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© Steinwede, Schäfers & Schröder, eigene Abbildung

Besitz eines Schwerbehindertenausweises bei beeinträchtigten Personen und Personen mit selbsteingeschätzter Behinderung.

Der Grad an Übereinstimmung, der in diesem Zusammenhang festgestellt werden kann, ist bedeutsam. Mit einem Anteil von 83 % ist die Korrespondenz zwischen amtlicher Anerkennung von Schwerbehinderung sowie einer entsprechenden Einordnung durch subjektive Einschätzungen sehr deutlich. Dieses Ergebnis stärkt die Plausibilität des Verfahrens. Es besteht hohe Übereinstimmung mit der sozialrechtlichen Einordnung.

Der Erkenntnisgewinn der neuen Perspektive zeigt sich mit Blick auf die Verteilungen in der Gruppe der Befragten ohne einen Schwerbehindertenausweis. Unter diesen Personen, die allesamt Menschen mit einer Beeinträchtigung, aber ohne eine amtliche Anerkennung von Schwerbehinderung sind, machen 43 % in der Befragung eine Situationsbeschreibung von ihrem Leben, die sie als selbsteingeschätzt behindert einordnet. Es ist gerade diese Abweichung, die den Nutzen des empirischen Vorgehens auf Basis der Konzeption von Behinderung in der Teilhabebefragung verdeutlicht. Vertiefende Analysen, die im Abschlussbericht der Teilhabebefragung zu finden sind (BMAS, 2022), zeigen, dass das Messkonzept in der Lage ist, Teilhabeunterschiede sensitiv aufzuspüren.

7 Fazit

Die Aufgabe der deutschen Teilhabebefragung besteht in der Beschreibung der Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderungen in Deutschland. Aussagen über eine bestimmte Gruppe in der Gesellschaft – hier: Menschen mit Behinderungen – können aber überhaupt nur getroffen werden, wenn die entsprechende Gruppe als solche in den Blick genommen werden kann. Die Möglichkeit, Aussagen über eine Gruppe und ihre Lebenswirklichkeit zu treffen, setzt damit voraus, dass die Gruppe definiert wird. Vor dem Hintergrund der hohen politischen und rechtlichen Bedeutsamkeit, einer vielschichtigen (interdisziplinären) wissenschaftlichen Diskussion sowie auch des grundlegenden Wandels im Verständnis von Behinderung ist dies keine einfache Aufgabe. Die deutsche Teilhabebefragung stellt in diesem Zusammenhang einen empirisch-analytischen Ansatz und eine darauf basierende vergleichende Untersuchungsperspektive vor, um zu den notwendigen Aussagen zu kommen.

Sozialwissenschaftliche Forschung sollte den eigenen Blickwinkel (und entsprechende Voraussetzungen dazu) stets präzise benennen. Dem dient der vorliegende Beitrag. Dabei ist für die deutsche Teilhabebefragung festzuhalten: Für die Messung von Beeinträchtigung und Behinderung gab es in der deutschen empirischen Sozialforschung bislang keine etablierten Vorgehensweisen. Die Teilhabebefragung hat sich daher an Untersuchungen in anderen Ländern orientiert. Dort war man ebenfalls vor die Aufgabe gestellt, das neue Verständnis von Behinderung – in Konsequenz der ICF-Konzeption – forschungspraktisch umzusetzen und Vorschläge zu unterbreiten, wie Informationen über individuelle Beeinträchtigungen und Sozialwirkungen miteinander verknüpft werden können.

Wie stark Beeinträchtigungen eingeschätzt werden und wie deren Zusammenwirken mit Umweltaspekten eingestuft wird, wird im Rahmen der Teilhabebefragung ausschließlich durch die befragten Betroffenen selbst ausgesagt. Dadurch entsteht eine neue Datenlage, die es ermöglicht, überkommene Vorgehensweisen einer Gruppenidentifizierung (etwa durch amtliche Zuschreibung von Behinderung) zu überwinden. Auch wird dadurch eine vergleichende Analyseperspektive ermöglicht: Einschätzungen von nicht beeinträchtigten Personen, beeinträchtigten Personen und Personen mit selbsteingeschätzter Behinderung können in Bezug zueinander gesetzt werden.

Die analytische Differenzierung von Beeinträchtigungen und Behinderungen ist dabei ein Startpunkt für Analysen – nicht der Endpunkt. Erst mit Blick in die verschiedenen Lebensbereiche, die die Teilhabebefragung abdeckt, werden Teilhabemöglichkeiten und -begrenzungen und somit auch spezifische Problemlagen für Personen mit selbsteingeschätzter Behinderung erkennbar. Diese Vorgehensweise verschafft Informationen für eine wissensbasierte Politik im Zeichen von Teilhabe und Inklusion.