Teilhabeforschung ist ein Forschungsfeld im Werden. Das vorliegende Buch ist Ausdruck dieses Entstehungsprozesses – und will gleichzeitig darauf einwirken, indem es Beiträge zur Profilierung von Teilhabeforschung liefert. Um zu begründen, warum wir dieses Vorhaben als dringend notwendig ansehen, lohnt es sich, den Entstehungsprozess in Deutschland nachzuzeichnen. Eine systematische Rekonstruktion der Entwicklung von Teilhabeforschung bzw. der Genealogie des Teilhabebegriffes steht derzeit noch aus. Gleichwohl lassen sich aus Sicht der Herausgeber:innen einige Ereignisse und Entwicklungslinien identifizieren, die als Triebkräfte für die Teilhabeforschung wirkten und wirken.

Allgemein lässt sich – mit Blick auf die Wissenschaftsgeschichte – die Entstehung von Forschungsfeldern auf ganz unterschiedliche Impulse innerhalb und außerhalb der Wissenschaften zurückführen: auf neue Beobachtungen und Entdeckungen, neue oder weiterentwickelte Methoden, aber auch neue Paradigmen und zeitgeschichtliche Entwicklungen, die neue Themen fokussieren oder sogar produzieren (vgl. Chalmers, 2007). Häufig kommen mehrere Triebkräfte zusammen, um die Initialzündung für ein Forschungsfeld zu geben. Was davon ist der Fall bei der Teilhabeforschung?

Sozialpolitische und -rechtliche Impulse

Innerwissenschaftliche Entwicklungen erscheinen hier zunächst nicht als starker Motor. Auch wenn der Teilhabebegriff durchaus in wissenschaftlichen Zusammenhängen verwendet worden ist, vor allem in der Soziologie, nahm er lange Zeit den Charakter einer Randerscheinung ein und blieb theoretisch unterbestimmt. So waren es zuvorderst außerwissenschaftliche, vor allem sozialpolitische und sozialrechtliche Entwicklungen, welche dem Teilhabebegriff zur Konjunktur verholfen haben. In verschiedenen sozialpolitischen Handlungsfeldern ist Teilhabe seit der Jahrtausendwende zu einer Leitidee und Programmformel geworden, allen voran in der Politik für Menschen mit Behinderungen, in den professionellen Unterstützungssystemen und seitens der Interessenvertretung von Menschen mit Behinderungen (vgl. Bartelheimer et al., 2020, S. 8 ff.). Diese Entwicklungen haben eine intensivere wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Teilhabebegriff angeregt. Teilhabe wurde als Gegenbegriff zu sozialer Ausgrenzung und normativer Maßstab für die Bewertung von Lebenslagen konzipiert – und zum Ausdruck eines grundlegend veränderten Verständnisses von Behinderung: In diesem Sinne wird Behinderung nicht länger Menschen als (defizitäre) Eigenschaft zugeschrieben, sondern als ein Ergebnis der negativen Interaktion von Menschen mit Beeinträchtigungen und Umweltfaktoren gefasst, das die gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft behindert. Bereits Anfang der 1970er Jahren hatte Christian von Ferber im Kontext einer Soziologie der Behinderung auf die konstitutive Bedeutung von Teilhabe für Behinderung verwiesen: „Die Rede vom behinderten Menschen meint eine spezifische Situation, in der diese Menschen zur Gesellschaft stehen und die die amtliche Zählung und die medizinische Publizierung nur sehr unzureichend beschreiben und zum Ausdruck bringen. Die Kategorie der Behinderung stellt auf die gesellschaftliche Teilhabe dieser Menschen ab.“ (von Ferber, 1972, S. 31) Allerdings avancierte Teilhabe erst rund dreißig Jahre später, zur Jahrtausendwende, zu einer festen Kategorie in der Wissenschaft.Footnote 1 Wesentliche Impulse gingen von der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) aus, die 2001 von der Weltgesundheitsorganisation verabschiedet worden ist (vgl. DIMDI, 2005). Im bio-psycho-sozialen Modell stellt Teilhabe (als das Einbezogensein in Lebensbereiche) neben Körperfunktionen und -strukturen sowie Aktivitäten ein zentrales Konzept funktionaler Gesundheit dar. Mit Bezug auf Teilhabe gilt eine Person als funktional gesund, „wenn sie ihr Dasein in allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, in der Weise und dem Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne gesundheitsbedingte Beeinträchtigung der Körperfunktionen oder -strukturen oder der Aktivitäten erwartet wird“ (DIMDI, 2005, S. 4; vgl. Hirschberg, 2009). Im gleichen Jahr trat das neue Sozialgesetzbuch IX (SGB IX – Rehabilitation und Teilhabe) in Kraft, das bestehende sozialrechtliche Regelungen für Menschen mit Behinderungen zusammenfasst und koordiniert. Die Ziele von Rehabilitation wurden in einer Abkehr von einer Tradition der Versorgung und Fürsorge neu definiert und präzisiert. Alle Rehabilitationsleistungen verfolgen seitdem das Ziel, die Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken. Dieser Zielrichtung folgend wurde auch die sozialrechtliche Definition von Behinderung (§ 2 SGB IX) in Bezug zur politischen Norm der Teilhabe gesetzt und die Behinderung gesellschaftlicher Teilhabe als maßgeblich bestimmt. Weitere Schubkraft erhielt das Postulat der Teilhabe durch das 2006 von der UNO-Generalversammlung verabschiedete und 2008 in Kraft getretene Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention, UN-BRK), das seit 2009 auch für Deutschland verbindlich ist. Ziel der UN-BRK ist es, den gleichberechtigten Genuss der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten. Die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und die Einbeziehung in die Gesellschaft („full and effective participation and inclusion in society“) zählen zu den Grundsätzen der Konvention (Artikel 3). Auch infolge der durch die UN-BRK formulierten Verpflichtungen zur Sammlung von Forschungsdaten zur Umsetzung der Konvention (Artikel 31) richtete die Bundesregierung ihre Berichte über die Lage von Menschen mit Behinderungen und die Entwicklung ihrer Teilhabe („Behindertenberichte“ bis 2009) konzeptionell neu aus. Die Teilhabeberichte (BMAS, 2013, 2016, 2021) lenkten den Blick auf die faktische Teilhabesituation von Menschen mit Behinderungen in verschiedenen Lebenslagedimensionen. Angesichts der unter dieser Perspektive identifizierten eklatanten Datenlücken wurde eine Repräsentativbefragung zur Teilhabe von Menschen mit Behinderungen durch die Bundesregierung beauftragt (vgl. hierzu Steinwede, Schäfers & Schröder in diesem Band).

Initiativen und Aktivitäten von Fachpraxis und Wissenschaft

Parallel zu diesen sozialpolitischen und menschenrechtlichen Entwicklungen fanden verschiedene Aktivitäten an der Schnittstelle zwischen Fachpraxis und Wissenschaft statt, die für die Konturierung von Teilhabeforschung von Bedeutung sind. Im Jahr 2003 – dem Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderung – wurde der Kongress „Wir wollen mehr als nur dabei sein! Menschen mit Behinderung und ihr Recht auf Teilhabe“ durchgeführt, veranstaltet von der Bundesvereinigung Lebenshilfe und der Universität Dortmund (vgl. Wacker et al., 2005). Der Kongress bot für Wissenschaft und Fachpraxis ein Forum für die Diskussion der verschiedenen Perspektiven und Facetten von Teilhabe, u. a. auch mit Menschen mit Behinderungen als Expert:innen in eigener Sache.

Im Jahr 2011 richteten die fünf Fachverbände der Behindertenhilfe in Berlin eine Fachtagung unter dem Titel „Teilhabeforschung jetzt! Eine Einladung an Forschung und Lehre“ aus, an der mehr als 170 Vertreter:innen von Wissenschaft, Forschung, Politik, Behindertenverbänden und Behindertenhilfe teilgenommen haben.Footnote 2 Ein Jahr später (2012) erarbeitete die AG Teilhabeforschung im Ausschuss „Reha-Forschung“ der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) und der Deutschen Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften (DGRW) ein „Diskussionspapier Teilhabeforschung“.Footnote 3 Das Papier zielt darauf, die „wissenschaftliche Beschäftigung mit Teilhabe, also Teilhabeforschung, näher zu bestimmen und die Bedeutung einer interdisziplinären Teilhabeforschung herauszustellen. Damit soll ein Beitrag zu einer verstärkten wissenschaftlichen Fundierung von Maßnahmen zur Verbesserung der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen geleistet werden“ (DVfR & DGRW, 2012, S. 2).

Diese Aktivitäten mündeten schließlich in die Gründung des Aktionsbündnisses Teilhabeforschung im Jahr 2015.Footnote 4 Das Bündnis will zu einer stärkeren Vernetzung und Förderung von Teilhabeforschung – verstanden als interdisziplinäres Forschungsfeld – beitragen. In ihm haben sich Wissenschaftler:innen, Menschen mit Behinderungen und ihre Interessenvertretungen, Fachgesellschaften, Institute sowie Fach- und Wohlfahrtsverbände zusammengeschlossen. Auf Initiative des Aktionsbündnisses wurde 2019 der erste Kongress der Teilhabeforschung durchgeführt, der zweite Kongress fand 2021 statt. Mit dem Kongress der Teilhabeforschung wurde eine interdisziplinäre Plattform geschaffen, um sich bundesweit (und in ersten Ansätzen auch international) über Forschung zu und mit Menschen mit Behinderungen unter der Leitidee der Teilhabe auszutauschen. Zudem entwickeln sich nach und nach lokale wissenschaftliche Initiativen zur Teilhabeforschung.

Trotz dieser Initiativen und der Annahme, dass es bereits vor der Zeit, in der Teilhabeforschung allmählich Gestalt annahm, Forschungsaktivitäten gab, die grundlegende Aspekte von Teilhabe adressierten, ohne sich explizit auf Teilhabe und Teilhabeforschung zu beziehen, wird mit Blick auf die Entstehungsgeschichte deutlich, dass Teilhabeforschung nicht mit dem Gebrauch des Teilhabebegriffs außerhalb der Wissenschaft Schritt gehalten hat. Als Begriff mit starker normativer Relevanz in der Sozialpolitik und im Sozialrecht ist eine wissenschaftliche Fundierung und kritische Auseinandersetzung mit Teilhabe jedoch dringend geboten.

Ziel dieses Buches

So denken wir, dass es Zeit ist, die vielfältigen wissenschaftlichen Bemühungen, die Teilhabe als Bezugspunkt haben, zu bündeln. Teilhabeforschung in diesem Sinne zielt darauf, der Auseinandersetzung mit Fragen der Teilhabe das notwendige wissenschaftliche Fundament zu geben, und zwar von den Grundlagen bis zur Anwendung. Der vorliegende Sammelband führt Beiträge aus diesem jungen Forschungsfeld zusammen, die seine Grundlegung, Profilierung und Etablierung unterstützen. In ihm kommt zum Ausdruck, dass sich die deutschsprachige Forschung zum komplexen Phänomen der Beeinträchtigung und Behinderung über die Jahre stark ausdifferenziert hat und mittlerweile unterschiedliche Disziplinen und Fachgebiete umfasst. Der Band soll der Notwendigkeit, Teilhabeforschung pluralistisch, inter- und transdisziplinär zu profilieren, Rechnung tragen und unterschiedlichen Perspektiven auf Teilhabe – sowohl wissenschaftstheoretisch, konzeptionell, methodisch und thematisch – Raum geben. Im Folgenden wird ein kurzer Überblick über die verschiedenen Teile dieses Buches und die zugehörigen Beiträge gegeben.

Beiträge zum Teilhabebegriff

Teilhabeforschung kommt nicht umhin, sich intensiv mit dem Teilhabebegriff auseinanderzusetzen. Diese Begriffsbildung steht dringend an, zumal Teilhabeforschung nicht auf eine eigene lange Begriffsgeschichte zurückgreifen kann. Was also Teilhabe bedeutet, erscheint in weiten Teilen noch klärungsbedürftig. Das mag einerseits verwundern, scheint Teilhabe doch sowohl in der Fachpraxis als auch in der Wissenschaft geradezu allgegenwärtig zu sein, was den Schluss nahelegt, dass klar sei, wovon die Rede ist. Andererseits ist es aber nicht ungewöhnlich, dass sich Wissenschaften immer wieder reflexiv mit ihren zentralen Begriffen beschäftigen. So stellen auch die vier in diesem Buch versammelten Beiträge im Abschnitt „zum Teilhabebegriff“ den Versuch an, zu einem klareren Begriffsverständnis von Teilhabe beizutragen. Das tun sie, indem sie Teilhabe unterschiedlich kontextualisieren oder mithilfe verschiedener Bezugstheorien beleuchten. Heraus kommt kein uniformes, apodiktisches Gebilde, jedoch eine substanzielle Hilfestellung zur theoretischen Verortung von Teilhabeforschung.

Beiträge zu exemplarischen theoretischen Zugängen

Der Blick aus unterschiedlichen theoretischen Blickwinkeln auf Teilhabeforschung ist Gegenstand der fünf Beiträge im Abschnitt „exemplarische theoretische Zugänge zur Teilhabeforschung“. Die ersten drei Beiträge ziehen disziplinäre Verbindungslinien zwischen Teilhabeforschung und Rehabilitationsforschung, Rechtswissenschaft bzw. ökologischer Psychologie. Anschlüsse zur sozialen Netzwerkforschung bzw. Intersektionalitätsforschung stellen die weiteren beiden Beiträge her. Damit helfen sie, die Vorstellung von Teilhabeforschung als „Dach“ zu konturieren, unter dem verschiedene Disziplinen Platz finden, die sich mittels ihrer eigenen Theorien, Begriffe und Methoden mit Teilhabe als Forschungsgegenstand auseinandersetzen.

Beiträge zu methodologischen und methodischen Aspekten

„Methodologische und methodische Aspekte der Teilhabeforschung“ werden in weiteren fünf Beiträgen behandelt. Diese reichen von Überlegungen zur Operationalisierung von Behinderung im Rahmen standardisierter Befragungen über die Bezugnahme von Teilhabeforschung auf Menschen mit Komplexer Behinderung, die Bedeutung von Inter- und Transdisziplinarität bis hin zu methodischen Zugängen, welche die Multimodalität von Teilhabe in den Fokus stellen. Allen dieser Beiträge ist gemein, dass die methodologischen und methodischen Fragestellungen, Probleme und Lösungsansätze anschaulich am Beispiel von Forschungsprojekten dargestellt werden.

Beiträge zur Partizipativen Teilhabeforschung

Im Abschnitt „Partizipative Teilhabeforschung – Fragestellungen und Beispiele“ sind Beiträge versammelt, die der besonderen Bedeutung partizipativer Forschungsmethoden Ausdruck verleihen. Partizipative Forschung will eine Verobjektivierung der Betroffenen in und durch Forschung vermeiden und Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen aktiv in den Forschungsprozess einbeziehen. Was diesen Forschungsstil ausmacht, welche Voraussetzungen, Wirkungen und Gewinne, Herausforderungen und offenen Fragen damit verbunden sind, wird in fünf Beiträgen aus ganz unterschiedlichen Forschungszusammenhängen thematisiert.

Beiträge zu exemplarischen Themen und Projekten der Teilhabeforschung

Welche konkreten Themen Teilhabeforschung bearbeitet, veranschaulichen die acht Beiträge, die in den beiden Abschnitten „exemplarische Themen und Projekte der Teilhabeforschung“ versammelt sind. In ihnen finden sich spezifische Hinwendungen zu den Bereichen Familie, Kommune, Sozialraum und Aspekten der Unterstützungssysteme für Menschen mit Behinderungen. Sie verdeutlichen beispielhaft die teilhabeorientierte Perspektive auf unterschiedliche Themenfelder.

Ein Anfang ist gemacht …

Mit diesem Buch ist ein Anfang gemacht, um Teilhabeforschung stärker zu konturieren. Es erhebt keinen Anspruch auf (auch nur annähernde) Vollständigkeit. Vielmehr deckt das Buch auf, dass verschiedene Fragen, zum Beispiel nach der Verortung von Teilhabeforschung, offenbleiben. So wäre etwa zu klären, wo sich Teilhabeforschung mit ähnlichen Forschungsfeldern im Kontext von Behinderung (z. B. Inklusionsforschung, Rehabilitationsforschung, Disability Studies) überschneidet und wo sie sich profilbildend davon unterscheidet. Auch wäre die Nähe und Distanz zu teilhabeorientierten Forschungsfeldern, die nicht auf Behinderung bezogen sind, auszuloten. Insofern ist der Werdegang der Teilhabeforschung noch längst nicht abgeschlossen.