FormalPara Hintergrund

Die hubschraubergestützte Luftrettung ist ein Bestandteil der deutschen Notfallversorgung,Footnote 1 der sich hohen und oftmals wechselnden gesellschaftlichen Anforderungen gegenübersieht. Diese werden von verschiedensten Anspruchsgruppen gestellt, welche bei der Gestaltung der Notfallversorgung Partikularinteressen verfolgen. Sofern im Gestaltungsprozess von Luftrettungssystemen bestehende Zielkonflikte nicht aufgelöst werden können, droht das Spannungsfeld, welches aus den Partikularinteressen entsteht, zu latent ineffizienten Ressourcenallokationen zu führen.Footnote 2

Allen Anforderungen ist gemein, dass knappe Kapazitäten des Rettungswesens beansprucht werden. Diese Kapazitäten können etwa technischer oder zeitlicher Art sein, durch die verfügbare menschliche Arbeitskraft begrenzt werden und müssen mit knappen finanziellen Mitteln bereitgestellt werden. Deshalb müssen bei der Organisation und Durchführung von Rettungsdienstleistungen Ressourcenverschwendungen vermieden werden, um jedes verfügbare Mittel für eine bestmögliche Versorgung nutzen zu können. Aus diesem Grunde ist das wirtschaftliche Effizienzprinzip anzusetzen, für dessen Einhaltung theoretische und praktische Beiträge der Betriebswirtschaftslehre benötigt werden.

Mit Blick auf anstehende sowie bereits ablaufende gesellschaftliche Veränderungen wird die Steigerung der Effizienz der Leistungserbringung der Notfallversorgung umso dringender. So führt der geo-demographische Wandel in Verbindung mit der epidemiologischen Transition im ländlichen Raum zu einer Zentralisierung der Gesundheitsversorgung, um eine drohende Unterauslastung bestehender Strukturen zu verhindern und die Versorgungsqualität zu sichern. Gleichzeitig verlängert diese Reaktion die Wege, die Patienten zum Erreichen von medizinischer Versorgung zurücklegen müssen.Footnote 3 Während lange Wege in dicht besiedelten Regionen unter Umständen weniger problematisch sind, bedroht dort überlastete Verkehrsinfrastruktur das Ziel möglichst kurzer Versorgungszeiten.

Somit spielt die Luftrettung in sowohl im ländlichen, wie auch im urbanen Raum eine zunehmend wichtige Rolle für die prähospitale Notfallversorgung, insbesondere um medizinische und rechtliche Hilfsfristen bei der Versorgung von Patienten erfüllen zu können.Footnote 4 Dies zeigt sich einerseits an den erheblich steigenden Einsatzzahlen der vergangenen Jahre,Footnote 5 sowie andererseits an zunehmenden öffentlichen Ausgaben, die sich im Jahr 2019 über 240 Mio. € allein an Benutzungsentgelten für den laufenden Betrieb, der durch Krankenkassen finanziert wird, beliefen.Footnote 6

Trotz der steigenden Bedeutung der Luftrettung und ihrer bekannten Kostenintensität gibt es nur unzureichende Beiträge der wirtschaftlichen Forschung, in denen eine Analyse der Kostensystematik der Luftrettung durchgeführt wird.Footnote 7 Systematisch erarbeitete und in ihrer Methodik nachvollziehbare Erkenntnisse über die Kosten des Betriebes einzelner Luftrettungsstationen, oder die Durchführung einzelner Einsätze, liegen nicht vor. Somit ist, zusammen mit mangelnden Informationen über gesellschaftliche Ausgaben, eine Übertragbarkeit bekannter Kosten auf das gesamte Luftrettungssystem und eine volkswirtschaftliche Bewertung dessen ebenfalls nicht möglich.Footnote 8

Lebhaften, oftmals emotional geführten, gesellschaftlichen Auseinandersetzungen über die Planung und Organisation von Luftrettungsstrukturen kann aufgrund der fehlenden wissenschaftlichen Bewertungsgrundlage keine objektive Perspektive gegenübergestellt werden. Vielmehr werden Entscheidungen über die Gestaltung der Luftrettung und damit verbundener ineffizienter Ressourcenverwendung von öffentlichen Stellen, am prominentesten vom Bundesrechnungshof, kritisiert.Footnote 9

Bestehende Kenntnisse aus Forschungsbeiträgen oder öffentlichen Berichten zu den Betriebskosten einer Luftrettungsstation, die auf Seite des Leistungserbringers anfallen, weisen eine große Breite an Ergebnissen auf und lassen oftmals keine Rückschlüsse auf deren Systematik zu. So geben Fleßa et al. (2016) die jährlichen Kosten eines über 18 Stunden am Tag betriebenen Luftrettungsstandortes mit 1,48 Mio. € an, während die PrimAir-Studie (2016) für den Betrieb rund um die Uhr von 4,8 Mio. € ausgeht. Internationale Forschungsbeiträge weisen noch erheblich größere Unterschiede auf, so wurden in verschiedenen Literaturvergleichen von Taylor et al. (2010 & 2011) jährliche Kostenspannen von 0,06 Mio. € bis 3,27 Mio. € und 1,58 Mio. € bis 11,2 Mio. € veröffentlicht.Footnote 10 Auch die weiterführende Bewertung des Nutzens der Luftrettung, etwa durch Gegenüberstellung medizinischer Outcomes beim Einsatz verschiedener Rettungsmittel, ist ohne Kenntnis von Einsatzkosten nicht möglich. Kenntnisbedarf hierzu wurde bereits geäußert, jedoch noch nicht erfüllt.Footnote 11

Somit fehlen eine quantitative Entscheidungsbasis und Steuerungsmechanismen, welche auch die Bewertung von Innovationen verhindern, die Einfluss auf die Luftrettung nehmen. Diese Bewertbarkeit wird angesichts zunehmendem Innovationsdrucks immer wichtiger, der vom technischen Fortschritt getrieben wird, etwa durch den bevorstehenden Einsatz von unbemannten Luftfahrzeugen (UAS) in der medizinischen Versorgung.Footnote 12 Jedoch könnten auch innovative Entwicklungen aus internationalen Luftrettungssystemen in nationale Luftrettungssysteme überführt werden.

FormalPara Ziele

Ziel dieser Arbeit ist es, die betrieblichen Vollkosten eines Luftrettungseinsatzes bei Annahme verschiedener Szenarien zu ermitteln und damit einen grundlegenden Beitrag für eine sowohl volks- als auch betriebswirtschaftliche Bewertung der Kosten der Luftrettung zu liefern. Gemäß des Einsatzschwerpunktes deutscher LuftrettungsmittelFootnote 13 soll der Betrachtungsschwerpunkt auf Primäreinsätzen bei Tag liegen. Dafür wird ein szenariobasiertes Kostenmodell eines exemplarischen Luftrettungsmittels entwickelt, das den Prozess von Planung, Organisation und Steuerung von Luftrettungssystemen unterstützen soll. Betrachtet werden die Verläufe der Gesamtkosten, der durchschnittlichen Kosten für Luftrettungseinsätze sowie die Gewinn- bzw. Verlustkurven durch Gegenüberstellung verschiedener Leistungsvergütungen. Aus den qualitativen und quantitativen Erkenntnissen sollen schließlich Handlungsempfehlungen für die effizientere Gestaltung von Luftrettungssystemen abgeleitet werden.

Dem Ausgangsszenario dient als exemplarisches Erfahrungsobjekt der in der Hansestadt Greifswald stationierte Rettungstransporthubschrauber Christoph 47Footnote 14. Die hierauf basierenden weiteren Szenarien sollen die komplexen und dynamischen Ausprägungen des Luftrettungssystems abbilden. Darunter fallen auch Innovationen, oder andere Veränderungen, die als Reaktion auf Herausforderungen oder auf bekannte Systemkritik das Luftrettungssystems prägen. Dieser Ansatz unterliegt Unsicherheiten hinsichtlich von verfügbaren Daten, die sich aus dem geringen Forschungsstand oder schlechter Zugänglichkeit von Informationen ergeben. Mit der szenariobasierten Herangehensweise sollen diese Unsicherheiten reduziert und eine Übertragbarkeit vom Erfahrungsobjekt auf andere Luftrettungsmittel ermöglicht werden.

FormalPara Grundlagen

Für die Entwicklung der Kostensystematik und Szenarien setzt diese Arbeit damit an, einen fundierten Überblick über Luftrettungssysteme aus ökonomischer Perspektive zu geben. Gewonnene Informationen sollen dazu dienen, die Eigenschaften, Merkmale und Herausforderungen, denen sich das deutsche Luftrettungssystem gegenübersieht, zu verstehen und in die Methodik dieser Arbeit einfließen zu lassen. Die systematische Aufarbeitung erfolgt zunächst am Beispiel der deutschen Luftrettung, indem medizinische, sozio-ökonomische und betriebswirtschaftliche Elemente und Relationen in einem systemtheoretischen Ansatz erarbeitet werden. Ergänzend werden auch aktuelle Innovationen sowie bekannte Kritik an der deutschen Luftrettung erörtert. Den gewonnenen Kenntnissen über die deutsche Luftrettung wird vergleichend eine Literaturrecherche zu fünf europäischen Luftrettungssystemen gegenübergestellt. Sie folgt dem zuvor etablierten systematischen Ansatz und dient dazu, Besonderheiten von internationalen Organisationsstrukturen zu erheben, die sich aus Gesundheitssystemen mit ähnlicher Leistungskraft ergeben.

Ziel des Vergleiches ist es, aus diesen Besonderheiten mögliches Innovationspotential für die deutsche Luftrettung zu erforschen, es in die Modellierung der Szenarien einfließen zu lassen und somit bewerten zu können. Gleichzeitig dient die kritische Betrachtung des deutschen Luftrettungssystems als Ansatz zur Prüfung von Handlungsalternativen und dem Ableiten von Handlungsempfehlungen. Durch die angestrebte Übertragbarkeit der Erkenntnisse vom Erfahrungsobjekt auf andere deutsche Luftrettungsmittel können diese Handlungsempfehlungen einerseits in abstrakter Form ausgeführt werden und andererseits spezifisch auf das Versorgungsgebiet von Christoph 47 angewendet werden.

Die umfassende Beschreibung der unterschiedlichen Luftrettungssysteme schließt mit der Darstellung von Rechercheergebnissen und Schilderung bekannter Beiträge mit ökonomischem Ansatz. Aufgrund der bisher geringen Forschungstätigkeit werden neben ökonomischen Forschungsbeiträgen auch nicht-wissenschaftliche Publikationen, die jedoch von öffentlicher Stelle herausgegeben werden, sowie Informationen aus Zeitungen und anderen Quellen zusammengeführt. Ausgewertet werden Daten mit sowohl einzel- wie auch gesamtwirtschaftlicher Aussagekraft.

FormalPara Methodik

Mit dem Ziel, die zuvor beschriebene Dynamik und Komplexität der Luftrettung abzubilden, erfolgt die Modellierung der Kosten des Betriebes einer exemplarischen Luftrettungsstation. Ihre Erarbeitung wurde auch unterstützt durch den Luftrettungsbetreiber Johanniter Unfallhilfe. Informationen über Kostendaten wurden durch Literaturrecherchen und von der Johanniter Unfallhilfe erlangt. Auf die modellierte Kostenfunktion werden drei Szenarien mit je fünf Variationen angewendet. Das strukturierende Element sind dabei die täglichen Betriebszeiten, auf die ausgehend vom Ausgangsszenario die Variationen angewendet werden. Berücksichtigt werden hier Annahmen erhöhter Kosten, eine Ausweitung und Veränderung der Einsatzprofile sowie die Mitführung von Systemen zur Seilbergung.

Diese Variationen leiten sich ab aus den zuvor herausgearbeiteten Innovationen, die sich aus der Verbesserung kritisierter Systemeigenschaften oder bisher in Deutschland ungenutzten Lösungen anderer Luftrettungssysteme ergeben. Auf diese Weise werden auch Inhalte öffentlicher bzw. politischer Diskussionen aufgegriffen. Darüber hinaus dienen die Szenarien und Variationen auch der Reduktion von struktureller Unsicherheit bezüglich der Modellsystematik, sowie auch jener der einfließenden Daten.Footnote 15

Die Analyse der Betriebskosten eines Luftrettungsstandortes betrachtet Gesamt- und Durchschnittskosten sowie Gewinn- und Verlustkurven zur Feststellung der Gewinnschwelle. Während Gesamt- und Durchschnittskosten vollkostenbasiert alle durch die Luftrettung entstehenden Kosten umfassen, wird in der Break-Even-Analyse eine einzelwirtschaftliche Perspektive eingenommen, in dem entscheidungsrelevante Kosten und Erlöse für einen Luftrettungsbetreiber unterschieden werden.

FormalPara Ergebnisse und Diskussion

Reihenfolge und Vorgehen der methodischen Ausführungen werden in der Ergebnisdarstellung und der Diskussion fortgeführt. Gemäß dem Forschungsziel liegt der Fokus auf Primäreinsätzen der Luftrettung als kostentreibende Entscheidungsgröße. Eine Einordnung der Ergebnisse in bestehende Forschungsbeiträge sowie die Bewertung von Nutzen und Novität der potentiellen Innovationen erfolgt in der Diskussion. Somit werden Rechercheergebnisse, die in der Modellierung abgebildet wurden, bewertet und daraus schließlich Handlungsempfehlungen abgeleitet.

Die Erarbeitung von Handlungsempfehlungen für die Gestaltung von Luftrettungssystemen erfolgt in zwei Schritten: Einer allgemeinen Schilderung folgt der spezifische Bezug auf das exemplarische Versorgungsgebiet des Christoph 47 in Vorpommern. Damit soll ein Erkenntnisgewinn für diese Region erreicht werden, gleichzeitig jedoch auch die Praxisnähe und Übertragbarkeit der allgemeinen Handlungsansätze geprüft werden.

Die Handlungsempfehlungen basieren auf den zuvor erlangten Erkenntnissen über Verbesserungsmöglichkeiten im deutschen Luftrettungssystem. Neben der Nutzung der Ergebnisse für deren Bewertung wird auch in qualitativer Herangehensweise ausgeführt, welche Zielkonflikte, die aus Partikularinteressen von Stakeholdergruppen der Luftrettung entstehen, bei der Gestaltung von Luftrettungssystemen navigiert werden müssen. Auf diese Weise soll die angestrebte Erweiterung des Forschungsstandes eine anwendbare Relevanz erhalten.