5.1 Zusammenfassung der Ergebnisse

Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, ausgewählte Erkenntnisse zu zugrundeliegenden Konsumentenentscheidungsprozessen in einen theoretisch konzeptionellen Rahmen einzugliedern, um einer Unified Theory im Bereich der Consumer Decision Neuroscience näher zu kommen. Durch ausgewählte Beiträge sollen die eingangs formulierten Forschungsfragen adressiert werden. Dabei sollte zum einen gezeigt werden, ob ein neurowissenschaftlich fundiertes Modell einen Rahmen für die Consumer Decision Neuroscience bietet, um zugrundeliegende Prozesse von Konsumentenentscheidungen umfassend beschreiben zu können. Darüber hinaus sollte geprüft werden, ob durch Annahme dieses Modells Konsumentenentscheidungen effektiver unterstützt werden und erfolgreich vorhergesagt werden können. Anhand dieser Forschungsfragen sollen im Folgenden die zentralen Erkenntnisbeiträge der dargelegten Studien zusammengefasst werden.

Mit dem Fokus auf der Entscheidungsfindung von Konsumentinnen/Konsumenten soll diese Arbeit Evidenzen für zugrundeliegende Entscheidungsprozesse liefern, die in das übergeordnete, konzeptionelle und neurowissenschaftlich fundierte Reflektiv-Impulsiv Modell (Strack & Deutsch, 2004) eingegliedert werden können. Entsprechend widmen sich die Beiträge 1 bis 3 neuralen Verarbeitungsprozessen bei Konsumentenentscheidungen, die implizite, impulsive Prozesse und deren Interaktion mit expliziten, reflektiven Prozessen anhand verschiedener methodischer, neurowissenschaftlicher Herangehensweisen untersuchen. Konkret wurde in Beitrag 1 untersucht, wie neurale Verarbeitungsprozesse durch Informationen, die entsprechend der regulatorischen Fokus Theorie (Higgins, 1997) formuliert wurden, beeinflusst werden. In Abhängigkeit der verschiedenen Experimentalkonditionen änderte sich das bekundeten Beurteilungsverhalten in Richtung der avisierten motivationalen Orientierungen und Veränderungen der neuralen Verarbeitungsprozesse waren nachweisbar. In Beitrag 2 wurde deutlich, dass der Verarbeitungskontext einen signifikanten Einfluss auf die Wahrnehmung von Informationen und neurale Prozesse haben kann. So scheinen manche Informationen, für die in kontrollierten Laborbedingungen kein Effekt identifiziert werden konnte, erst einen Einfluss auf die Verarbeitungsprozesse auszuüben, wenn diese in einem direkt handlungsrelevanten, realitätsnahen Wahrnehmungskontext verarbeitet werden. Darüber hinaus zeigen die Ergebnisse des dritten Beitrags, dass Online-Bewertungen als soziale Information den Wahrnehmungsprozess im Rahmen des sogenannten Marketing Placebo Effektes beeinflussen (Berns, 2005; Plassmann et al., 2008; Shiv, Carmon, & Ariely, 2005). Soziale Informationen in Form von Bewertungen eines Produktes können insbesondere in digitalen Kontexten von den tatsächlichen Erfahrungen mit diesem abweichen. Diese Abweichungen wiederum führen zu neuralen Prozessen, die mit erhöhter kognitiver Verarbeitung assoziiert sind. Die in den Beiträgen 1 bis 3 identifizierten zugrundeliegenden neuralen Verarbeitungsprozesse einer Konsumentenentscheidung können in ein Modell eingeordnet werden, welches einem dualen Verarbeitungsprozess, wie im Reflektiv-Impulsiv Modell (Strack & Deutsch, 2004) unterstellt, entspricht. Im Hinblick auf die erste Forschungsfrage dieser Arbeit, könnte ein solches Modell somit einen neurowissenschaftlich fundierten Rahmen für die Consumer Decision Neuroscience bieten, der Konsumentenentscheidungsprozesse umfassend beschreiben kann.

Im Hinblick auf die zweite Forschungsfrage sollte in der vorliegenden Arbeit gezeigt werden, dass ein neurowissenschaftlich fundiertes Modells herangezogen werden kann, um eine effektive Unterstützung von Konsumentenentscheidungen zu ermöglichen. Im Rahmen von Beitrag 4 (bestehend aus den Beiträgen 4.1 und 4.2) wurde anwendungsorientiert ein neuer Ansatz eines Verbraucherinformationssystems entwickelt. Basierend auf den bestehenden Forschungsergebnissen zu Konsumentenentscheidungsprozessen erfolgte dabei in Beitrag 4.1 zunächst eine konzeptionell-theoretische Ausarbeitung einer effektiven Gestaltung von Informationen für Konsumentinnen/Konsumenten. Der entwickelte Ansatz wurde anschließend unter Berücksichtigung des Involvements (Trommsdorff, 2008) getestet. Die Ergebnisse zeigen, dass beispielsweise Produktinformationen je nach Entscheidungssituation und persönlichem Involvement der Konsumentinnen/Konsumenten in ihrer Relevanz variieren. Diesen unterschiedlichen Informationsbedürfnissen kann man mit Informationsangeboten, die in ihrer Tiefe und Breite flexibel sind, bedarfsgerecht entsprechen. Im Hinblick auf die Annahmen über die zugrundeliegenden Verarbeitungsprozesse, die dieses prototypisch erprobte Verbraucherinformationssystem impliziert, entsprechen diese dem übergeordneten Rahmen des Reflektiv-Impulsiv Modells (Strack & Deutsch, 2004). Dabei dominiert der reflektive Verarbeitungsprozesstyp den Entscheidungsprozess unterschiedlich je nach Aufmerksamkeitszuschreibung, Reizintensität und übergeordnetem Intending. Entsprechend der zweiten Forschungsfrage dieser Arbeit könnten durch Unterstellung eines neurowissenschaftlich fundierten Modells, wie des Reflektiv-Impulsiv Modells (Strack & Deutsch, 2004), Konsumentenentscheidungen effektiver unterstützt werden. Dies legen erste exemplarische Erprobungen von beispielsweise den vorgestellten, alternativen Informationsmöglichkeiten, die in das Modell eingeordnet werden können, nahe, welche vielversprechende Ergebnisse aufzeigen.

Während die Beiträge 4 den Fokus auf die Nutzung der Annahmen eines neurowissenschaftlich fundierten Modells zur effektiven Unterstützung von Konsumentenentscheidungen legten, widmen sich die Beiträge 5 und 6 der Nutzung von Erkenntnissen über Verarbeitungsprozesse von Konsumentinnen/Konsumenten zur Vorhersage von Kaufverhalten. Dies entspricht letztlich dem ultimativen Ziel eines umfassenden, zugrundeliegenden Modells und damit auch der Consumer Decision Neuroscience. Zur Vorhersage des Kaufverhaltens könnten dabei je nach Anwendungskontext sowohl einzelne neurale Strukturen genutzt werden, welche das tatsächliche Verhalten approximieren könnten (Beitrag 5). Dem gegenüber sind datenübergreifende Analysemethoden (Beitrag 6) im Hinblick auf diese Prognosen, je nach Datenkombination, deutlich aussagekräftiger. So konnte die Quantifizierung neuraler kortikaler Entlastungseffekte des dlPFC als Korrelat genutzt werden, der mit dem Erfolg von Werbekommunikation korreliert und Verkäufe anhand dieses Aktivitätsprofil möglicherweise approximieren könnte (Beitrag 5). Entsprechend wurde ein neuraler Aktivitätsindikator selektiert, der den Annahmen im übergeordneten Rahmen des Reflektiv-Impulsiv Modells (Strack & Deutsch, 2004) zugeordnet werden kann. Jedoch wird in der Consumer Decision Neuroscience und auch in dem in dieser Arbeit fokussierten Reflektiv-Impulsiv Modell (Strack & Deutsch, 2004) davon ausgegangen, dass Entscheidungsprozesse als mehrdimensional beschrieben werden können und aus der Interaktion mehrerer Teilprozesse entstehen. Um diese verschiedenen Verarbeitungsprozesstypen abzubilden und die prognostische Validität zu erhöhen, sind folglich unterschiedliche Quantifizierungen nötig, um Indikatoren für alle unterstellten Verarbeitungsprozesse zu integrieren. So konnte gezeigt werden, dass die Zusammenführung verschiedener Daten zu neuen Produkten vor ihrer Einführung eine effektive Vorhersage des Markterfolges erlaubt (Beitrag 6). Mit Bezug auf die dritte Forschungsfrage lässt sich also feststellen, dass neurowissenschaftlich fundierte Modelle dazu dienen können, Kaufverhalten erfolgreich vorherzusagen.

Zusammenfassend zeigen die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit, dass die Consumer Decision Neuroscience unter Anwendung von neurowissenschaftlichen Konzepten, Theorien, Erkenntnissen und Methoden zur Identifizierung von Entscheidungsprozessen, Unterstützung von Konsumentenentscheidungen und Vorhersage von Konsumentenverhalten beitragen kann. In diesem Zusammenhang stellt das Reflektiv-Impulsiv Modell (Strack & Deutsch, 2004) eine mögliche Unified Theory dar, die dem übergeordneten Ziel der Consumer Decision Neuroscience entspricht. Nicht nur durch neurale Evidenzen konnten zugrunde liegende Annahmen über Verarbeitungsprozesse mit diesem Modell assoziiert werden, sondern dieses konnte auch anwendungsorientiert übertragen werden, um zum einen Marketingmaßnahmen effektiv auszugestalten und zum anderen Entscheidungsverhalten im realen Anwendungskontext vorherzusagen.

5.2 Handlungsimplikationen

Nachdem die wesentlichen Ergebnisse der insgesamt sechs Beiträge zusammengefasst wurden, sollen im Folgenden die Implikationen für die Forschung und Praxis dargelegt werden. Die Ergebnisse aus den Beiträgen zur Consumer Decision Neuroscience bieten sowohl einen Erkenntnisgewinn für die wissenschaftliche Forschung als auch die Möglichkeit, praktisch-normative Handlungsimplikationen abzuleiten, die die Erkenntnisse im anwendungsorientierten Kontext nutzbar machen.

5.2.1 Handlungsimplikationen für die Forschung

Ein zentrales Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die Consumer Decision Neuroscience wissenschaftlich einzuordnen und anhand von ausgewählten Beiträgen weiterzuentwickeln. Im Hinblick auf die Marketingforschung lassen sich mögliche Implikationen zunächst übergeordnet für die gesamte Disziplin aufzeigen. So leistet die vorliegende Arbeit einen Beitrag dazu, die sich entwickelnde Consumer Decision Neuroscience als Forschungsfeld zu strukturieren. Die Einordnung der Consumer Decision Neuroscience und die Strukturierung der assoziierten Disziplinen ermöglicht ein einheitliches Verständnis der Forschungsgebiete und schafft eine benötigte Orientierung innerhalb der Disziplin, um Forschung im Sinne der wissenschaftstheoretischen Einordnung zu fördern.

Darüber hinaus lassen sich entsprechend der Definition der MarketingforschungFootnote 1 Implikationen für die Informationsgewinnung und Informationsauswertung/-interpretation ableiten. Insbesondere bei der Informationsgewinnung könnte die in der vorliegenden Arbeit verwendete, mobil einsatzfähige, neurophysiologische Methode der fNIRS dazu beitragen, reale bzw. realitätsnahe Daten zu messen. Dadurch können ökonomisch validere Erkenntnisse erzielt oder bereits gewonnene Erkenntnisse ökologisch validiert werden. Darüber hinaus scheinen multimethodische Ansätze eine vielversprechende Möglichkeit zu sein die Informationsauswertung und -interpretation substanziell zu erweitern, um Konsumentenentscheidungsprozesse zukünftig besser verstehen zu können.

5.2.1.1 Einordnung der Consumer Decision Neuroscience

Einen zentralen Beitrag dieser Arbeit stellt die wissenschaftliche Einordnung der Consumer Decision Neuroscience in die assoziierten Disziplinen und ein damit verbundener Strukturierungsvorschlag des Forschungsfeldes dar. Letzteres erlaubt zum einen die theoretische Einordung der Arbeit und identifiziert zum anderen mögliche Ansatzpunkte für die wissenschaftliche Weiterentwicklung der Disziplin. Wie in Abschnitt 2.2 bereits ausführlich beschriebenFootnote 2, lassen sich in der wissenschaftlichen Literatur diverse definitorische Unterschiede zwischen den Zugehörigkeiten und Untergliederungen der einzelnen Teildisziplinen der Decision und Consumer Neuroscience identifizieren, wobei in einigen Publikationen bestimmte Teilbereiche zusammengefasst oder konträr ins Verhältnis gesetzt werden (Glimcher & Fehr, 2013; Huettel, 2010; Smith & Huettel, 2010). Durch die gesamtheitliche Betrachtung der Definitionen in der wissenschaftlichen Literatur konnten allgemeingültige und klar abzugrenzende definitorische Unterschiede zwischen den einzelnen Teildisziplinen differenziert werden. Die Definitionen beruhen dabei auf Publikationen, deren Fokus jedoch eher auf der Diskussion von Hindernissen und zukünftigen Forschungsentwicklungen der Teildisziplinen lag, als auf der Definition und einheitlichen Strukturierung der Gesamtdisziplin (Plassmann et al., 2015; Shiv et al., 2005b; Smidts et al., 2014; Yoon et al., 2012).

In der vorliegende Arbeit wird eine mögliche Strukturierung für den Forschungsbereich vorgestellt, die es den Forschenden der entsprechenden Disziplinen, aber auch der Marketing- und Käufer- und Konsumentenverhaltensforschung erlaubt, Forschung und dazugehörige Fragestellungen besser einordnen zu können und so Ansatzpunkte für die Anwendung von Neurowissenschaften in anderen Fachrichtungen bietet. Im nächsten Schritt bedarf es einer Bekanntmachung, Beurteilung und nachfolgenden Etablierung dieses Entwurfs in der Wissenschaftsgemeinschaft. Vor dem Hintergrund der in dieser Arbeit angenommenen wissenschaftstheoretischen Einordung der Consumer Decision Neuroscience (vgl. Abschnitt 2.3.2) scheint dieser nächste Schritt logisch und notwendig. Dadurch soll die sich aus der neurowissenschaftlichen Revolution entwickelnde Disziplin, die sich theoriegemäß insbesondere durch „relativ desorganisierte [Strukturen und darauf folgende] Debatten über die Grundannahmen charakterisiert“ (Chalmers, 1999, S. 92), etabliert werden. Um diese Disziplin entsprechend weiter zu einer Normalwissenschaft zu entwickeln, ist daher die Erreichung eines Konsenses, zumindest über eine grobe strukturelle Unterteilung der Teildisziplinen, wünschenswert und zielführend. In diesem Zusammenhang bietet die vorliegende Arbeit einen Ansatz, um diesem Ziel zu entsprechen.

5.2.1.2 Möglichkeit zur ökologisch validen Informationsgewinnung in der Marketingforschung

Die Marketingforschung umfasst die Gewinnung, Auswertung und Interpretation von Informationen und bildet damit die Grundlage für das Marketingmanagement (Meffert et al., 2019). Insbesondere die Informationsgewinnungsphase stellt dabei einen wichtigen Schritt dar, da die Festlegung der Untersuchungsobjekte und die Qualität der dabei gewonnen Daten, nachgelagerte Prozessschritte maßgeblich beeinflusst. Die Qualität der Informationsgewinnung hängt dabei wiederum von den zugrundeliegenden marketingtheoretischen Überlegungen ab, die zur Strukturierung des Informationsbedarfs genutzt werden (Meffert et al., 2019). In diesem Aspekt zeigt die vorliegende Arbeit auf, dass ein neurowissenschaftlich fundiertes Modell, wie das Reflektiv-Impulsiv Modell (Strack & Deutsch, 2004), einen vielversprechenden Ansatz zur Erklärung von Konsumentenentscheidungsprozessen und letztlich Kaufverhalten darstellen kann. Anschließend muss geprüft und festgelegt werden, welche Erhebungsinstrumente der Primär- und Sekundärforschung zum Einsatz kommen (Meffert et al., 2019). Dabei könnte eine Kombination aus Datentypen – Primär- und Sekundärdaten – zielführend sein, um die ökologische Validität von Ergebnissen, die zuvor gegebenenfalls in kontrollierten Laborumgebungen erhoben wurden, zu erhöhen. In diesem Zusammenhang kann es zum einen förderlich sein, reale Verhaltens- und Verkaufsdaten des tatsächlichen Konsumentenverhaltens zu integrierenFootnote 3. Zum anderen könnte bereits die Datenerhebung selbst in möglichst realitätsnahen Studienbedingungen erfolgenFootnote 4. Um dies für die Bemessung neuraler Aktivität zu gewährleisten, sind neben den etablierten neurowissenschaftlichen Methoden, wie fMRT oder stationärem EEG, insbesondere mobile neurophysiologische Messmethoden von Relevanz, da sie eine höhere ökologische Validität bereits während der Erhebungen erzielen könnenFootnote 5.

Auch wenn das Mobilitätsproblem von neurophysiologischen Methoden bereits an anderer Stelle dargestellt wurde (Krampe, 2020), fehlt bisher ein umfassender Vergleich der verschiedenen mobilen neuralen Messverfahren, der aufzeigt, welche mobilen neurophysiologischen Methoden unter welchen Umständen vorteilhafter sein können. In der Literatur lassen sich zurzeit drei vielversprechende mobil einsatzfähige neurophysiologische Messmethoden identifizieren, die bereits zu Forschungszwecken eingesetzt werden – mobile EEG, mobile MEG und mobile fNIRSFootnote 6 (Aspinall, Mavros, Coyne, & Roe, 2015; Boto et al., 2018; Gargiulo et al., 2008; Krampe, Gier, & Kenning, 2018; Krampe et al., 2018b).

Dabei nutzen die Messmethoden EEG und MEG physiologische Signale der Neuronen, um Gehirnaktivität direkt zu messen, während die fNIRS Gehirnaktivität indirekt über hämodynamische Reaktionen – ähnlich der fMRT – quantifiziert (Boto et al., 2018; Gargiulo et al., 2008; Gazzaniga & Ivry, 2013; Kopton & Kenning, 2014)Footnote 7. In der temporalen Auflösung sind die Daten von EEG und MEG deutlich präziser, da diese direkte neurale Aktivitäten bemessen und nicht wie im Rahmen von fNIRS oder fMRT auf zeitlich verzögerte hämodynamische Reaktionen angewiesen sindFootnote 8 (Gazzaniga & Ivry, 2013; Hari & Lounasmaa, 2000; Jöbsis, 1977; Luck, 2014; Scholkmann et al., 2014). Dadurch ist auch die Echtzeitmessung zeitlich eindeutiger, fortlaufender Verarbeitungsprozesse mittels EEG möglich (Boksem & Smidts, 2015; Gargiulo et al., 2008; Gazzaniga & Ivry, 2013; Luck, 2014). Bei der Durchführung von eher klassischen experimentellen StudiendesignsFootnote 9 zeigt sich hingegen, dass bei fNIRS, ähnlich zur fMRT, weniger Wiederholungen pro Experimentalkondition benötigt werden um ein stabiles neurales Signal identifizieren zu können (um die 20 Wiederholungen) als bei EEG oder MEG (100 bis 1000 Wiederholungen; Amaro Jr & Barker, 2006; Gazzaniga & Ivry, 2013; Irani et al., 2007; Kopton & Kenning, 2014; Luck, 2014).

Dadurch, dass EEG elektrische Impulse bemisst, die aufgrund der Penetration unterschiedlicher Gewebestrukturen (z. B. Gehirnmasse, Knochen, Haut) verzerrt werden (Gazzaniga & Ivry, 2013; Luck, 2014), und MEG hingegen magnetische Felder erfasst, die ungebrochen durch verschiedene Gewebeschichten strömen, hat MEG in dieser Hinsicht grundsätzlich eine minimal bessere räumliche Auflösung als EEG (Gazzaniga & Ivry, 2013; Hari & Lounasmaa, 2000; Luck, 2014; Pizzagalli, 2007). Die Zerstreuung und Absorption der Lichtimpulse bei fNIRS durch verschiedene Gewebeschichten und insbesondere Blutströme im Gehirn ist sogar gewünscht und notwendig für die indirekte Quantifizierung der Gehirnaktivität anhand der Absorptionsraten der Lichtwellen durch oxygeniertes und deoxygeniertes Blut. Der Vorteil der räumlichen Auflösung der MEG gegenüber der EEG ist jedoch nur auf Neuronen in kortikalen Regionen beschränkt, die tangential zur Kopfoberfläche und damit zum Messsensor liegen. Dies ist dadurch bedingt, dass die magnetischen Signale nur für diese Neuronen aufgenommen werden können und die Signalstärke, die durch Neuronen erzeugt wird, rapide abnimmt, je tiefer die Impulse aus dem Gehirn kommen (Gazzaniga & Ivry, 2013; Hari & Lounasmaa, 2000). Die EEG, wie auch die fNIRS, ist nicht auf eine spezifische Anordnung von Neuronen beschränkt und die EEG kann auch tieferliegende Gehirnaktivitäten messen (Gazzaniga & Ivry, 2013; Luck, 2014; Pizzagalli, 2007). Mit Bezug auf die Penetrationstiefe zur Bemessung der Gehirnaktivität ist die fNIRS vergleichbar mit der MEG. So können durch den Einsatz von fNIRS insbesondere kortikale Gehirnregionen gemessen werden (Gazzaniga & Ivry, 2013; Hari & Lounasmaa, 2000; Jöbsis, 1977).

Im Hinblick auf die räumliche Auflösung haben EEG und MEG ein Nicht-Eindeutigkeitsproblem oder auch inverses Problem bei der Lokalisierung von Gehirnaktivitäten, da die erfassten Aktivitätsmuster aus Kombinationen der Gehirnaktivität in verschiedenen Regionen entstehen können, sodass die genaue Lokalisierung der Aktivität limitiert istFootnote 10 (Gazzaniga & Ivry, 2013; Hari & Lounasmaa, 2000; Pizzagalli, 2007). Im Vergleich hierzu ist die Lokalisierung und die entsprechend räumliche Auflösung bei der fNIRS eindeutig spezifischen Gehirnregionen zuzuordnen, da Lichtimpulse aktiv zur Bemessung induziert werden, deren Verlauf und wiederaufgenommene Impulsstärken genau quantifiziert werden können (Ferrari & Quaresima, 2012; Irani et al., 2007; Jöbsis, 1977; Kopton & Kenning, 2014). Ebenso können zumindest die Auswirkungen der neuralen Aktivität als erregende oder inhibierende Reaktionen (erhöhte oder verminderte Aktivität) mittels fNIRS differenziert sowie darüber hinaus oxy- von deoxygeniertes Hämoglobin jeweils getrennt erfasst werden (Ferrari & Quaresima, 2012; Jöbsis, 1977; Kopton & Kenning, 2014; Scholkmann et al., 2014). Dies ist durch die EEG und MEG nicht möglich, da sowohl erregende als auch inhibierende Reaktionen als identische Signale erfasst werden (Gazzaniga & Ivry, 2013; Luck, 2014).

Dadurch, dass die gemessene Gehirnaktivität der fNIRS mit den Ergebnissen der fMRT vergleichbar ist, kann man durch eine Kombination dieser Methoden umfassendere Lokalisierungen vornehmen. Im Gegensatz zur fMRT oder EEG stellt die fNIRS im Rahmen der Consumer Decision Neuroscience noch eine relativ neue neurophysiologische Messmethode dar. Dadurch sind bisher wenige Standardisierungen, wie beispielsweise für die Platzierung des GerätsFootnote 11, etabliert und da Messungen teilweise nur Abschnitte des Kortex abdecken, ist die Vergleichbarkeit der fNIRS Ergebnisse untereinander erschwert (Irani et al., 2007; Scholkmann et al., 2014).

In Bezug auf mögliche Artefakte und externe Faktoren, die die Messqualität vermindern, gibt es keine eindeutig robustere Methode, sodass je nach Einsatzort entschieden werden sollte, welche Methode von Vorteil ist. Generell ist EEG weniger sensitiv gegenüber Artefakten als die Messmethode MEG, jedoch können biologische BewegungsartefakteFootnote 12 sowie der Einfluss von externen Energiefeldern die Signale verzerren, wobei letzteres insbesondere bei der MEG ein Problem darstellt (Gazzaniga & Ivry, 2013; Hari & Lounasmaa, 2000; Luck, 2014). Die fNIRS ist gegenüber externen Energiefeldern und Bewegungsartefakten relativ unempfindlich und zeigt nur bei extremen Bewegungen leichte Verzerrungen (z. B. festes Aufeinanderpressen der Zähne, schnelle oder ruckartige Kopfbewegungen), wobei aufgenommene Signale durch externe Lichteinflüsse verzerrt werden könnenFootnote 13 (Boas et al., 2014; Ferrari & Quaresima, 2012; Irani et al., 2007; Jöbsis, 1977; Quaresima & Ferrari, 2019).

Wie zusammenfassend in Tabelle 5.1 dargestellt ist, empfiehlt sich der Einsatz einer mobilen EEG oder MEG für den Fall, dass die zeitliche Dimension von Verarbeitungsprozessen relevant ist oder diese beispielsweise in Echtzeit analysiert werden sollen. Insbesondere der Einsatz von EEG erscheint immer dann sinnvoll, wenn eine Aktivität in subkortikalen Regionen vermutet wird. Liegt der Fokus hingegen auf spezifischen kortikalen Gehirnregionen, die anhand klassischer neuraler Studiendesigns lokalisiert und quantifiziert werden sollen, könnte fNIRS vorteilhafter sein. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Erhebung der Daten mit Bewegungen oder externen elektrischen Artefakten assoziiert ist und Gehirnaktivitäten mit fMRT Ergebnissen verglichen werden sollen. Wie bereits erwähnt, sollten die mobil einsatzfähigen neurophysiologischen Messmethoden je nach Zielsetzung der Studie und Einsatzort der Messung ausgewählt und anhand der beschriebenen Vor- und Nachteile evaluiert werden, um einerseits die Vorteile der jeweiligen Methode zu nutzen und andererseits mögliche Messverzerrungen zu vermeiden.

Tabelle 5.1 Vergleich mobiler, neurophysiologischer Methoden. Mobile Versionen der EEG, MEG und fNIRS werden anhand verschiedener Dimensionen bewertet

5.2.1.3 Nutzung eines multimethodischen Ansatzes zur Informationsauswertung und -interpretation

Wie bereits im vorangegangen Kapitel erwähnt, können multimethodische Ansätze bei der Informationsgewinnung aus Primär- und Sekundärdaten in der Marketingforschung genutzt werden. Es können aber auch im Rahmen der Informationsverarbeitung und -interpretation multimethodische Datenstrukturen und -typen durch Analysen kombiniert werden. Dabei zeigt sich erneut, dass sich die Wirtschaftswissenschaften, insbesondere die Marketingforschung und Käufer- und Konsumentenverhaltensforschung, durch eine weitgefasste Interdisziplinarität charakterisieren und eine methodische Offenheit gegenüber anderen Ansätzen haben. Entsprechend kommen auch in der Consumer Decision Neuroscience verschiedene neurale Messmethoden und neurowissenschaftlich fundierte Ansätze zum Einsatz, um das übergeordnete, ultimative Ziel der Identifikation einer Unified Theory zu erreichen.

In der vorliegenden Arbeit lassen sich die Vorteile aus multimethodischen Ansätzen und der Integration von neuralen Messmethoden für die Untersuchung von Konsumentenentscheidungsprozessen aus mehreren Beiträgen ableiten. Es wurden verschiedene neurale Messmethoden angewandt, um Verarbeitungsprozesse bei Konsumentenentscheidungen zu identifizierenFootnote 14. Die Wahl der Messmethode (fMRT oder fNIRS) hängt dabei stark von der Zielstellung der Studie ab. Beide gewählten Methoden nutzen non-invasive, wiederholbare, indirekte Messungen der Gehirnaktivität, die jedoch an hämodynamische Reaktionen gebunden sind und relative Aktivitätsunterschiede quantifizieren können (Gazzaniga & Ivry, 2013; Irani et al., 2007; Kopton & Kenning, 2014). Die temporale Auflösung ist dabei im Vergleich zu direkten Messverfahren, wie beispielsweise EEG oder MEG, bei beiden Verfahren gering, wobei durch höheres Sampling bei der fNIRS im Vergleich zur fMRT eine leicht bessere temporale Auflösung erzielt werden könnte (Irani et al., 2007; Jöbsis, 1977; Scholkmann et al., 2014). In der räumlichen Auflösung hingegen ist die fMRT von Vorteil, da sie das gesamte Gehirn und damit auch subkortikale Regionen mit einer genauen Lokalisierung der Aktivität abbilden kann (Gazzaniga & Ivry, 2013; Menon & Kim, 1999; Ward, 2015). Auch wenn die fNIRS nur kortikale Gehirnregionen erfassen kann, ist sie durch ihre mobile Einsatzfähigkeit flexibel nutzbar und weniger anfällig für Bewegungsartefakte als die fMRTFootnote 15 (Ferrari & Quaresima, 2012; Jöbsis, 1977; Kopton & Kenning, 2014; Quaresima & Ferrari, 2019).

Des Weiteren können im Rahmen der Consumer Decision Neuroscience auch neurowissenschaftliche Erkenntnisse, Konzepte und Theorien anwendungsbezogen genutzt werden, um beispielsweise neue Ansätze der Konsumenteninformation zu entwickeln, die auf neurowissenschaftlichen Erkenntnissen fußenFootnote 16. Auf diese Weise können sich aus zugrundeliegenden Modellen, wie in dieser Arbeit das Reflektiv-Impulsiv Modell, neue Hypothesen und Ansätze ergeben, die zum einen das Modell bestätigen und zum anderen neue Wege aufzeigen, um Konsumentenentscheidungsprozesse zu erklären. Beispielsweise können Gehirnregionen in den Fokus gerückt werden, die das Verhalten von Konsumentinnen/Konsumenten beeinflussen können, indem neben den oftmals quantifizierten Bewertungsstrukturen beispielsweise auf kognitive Entlastungseffekte zurückgegriffen wirdFootnote 17 (Cha et al., 2019; Falk et al., 2012; Kühn et al., 2016). In diesem Zusammenhang gibt es die Möglichkeit, neurowissenschaftliche Datenbanken (z. B. neurosynth.deFootnote 18) heranzuziehen, um Meta-Analysen über Gehirnregionen entsprechend der assoziierten Funktionen durchzuführen und so mögliche Hypothesen zu prüfen, ohne eigene Daten erheben zu müssenFootnote 19. Eine hiermit angesprochene Triangulation von Erkenntnissen in der Consumer (Decision) Neuroscience durch die Integration von Metaanalysen von Primärdaten in neurale, psychometrische und verhaltensbezogene Erkenntnisse wird in aktuellen Publikationen avisiert (Cao & Reimann, 2020). Dies könnte eine zielführende Möglichkeit in der Consumer Decision Neuroscience darstellen, um zugrundeliegende Prozesse innerhalb einer Unified Theory zu identifizierenFootnote 20.

Um eine Unified Theory zu entwickeln, ist es daher sinnvoll Entitäten mit verschiedenen methodischen Herangehensweisen zu untersuchen sowie auf einen multidisziplinären Ansatz zurückzugreifen. Entsprechend kann es zielführend sein, vergleichbare Ansätze über ein ähnliches Phänomen aus benachbarten Disziplinen einzubeziehen, da gegebenenfalls verschiedene Theorien auf einem gemeinsamen, zugrundeliegenden Prozess aufbauen, der sich lediglich in den Disziplinen durch unterschiedliche Perspektiven parallel entwickelt hatFootnote 21. Folglich kann die Zusammenführung von verschiedenen interdisziplinären Ansätzen und Methoden aus den Wirtschaftswissenschaften, der Psychologie sowie den Neurowissenschaften neue Erkenntnisse auf dem Weg zu einer Unified Theory aufzeigen. Eine solche Kombination von verschiedenen methodischen Datenstrukturen kann anhand fortgeschrittener Analyseverfahren geschehen, die es im Hinblick auf die Informationsverarbeitung erlauben, effektive Vorhersagen über Konsumentenentscheidungen zu treffenFootnote 22. Entsprechend wird in der vorliegenden Arbeit gezeigt, dass ein multimethodischer und interdisziplinärer Ansatz für die Untersuchung, Unterstützung und Vorhersage von Konsumentenentscheidungen innerhalb eines konzeptionellen Rahmens wertvoll ist, um Erkenntnisse über zugrundeliegende Verarbeitungsprozesse zu generieren und so einer Unified Theory näher zu kommen.

5.2.2 Handlungsimplikationen für die Praxis

In der vorliegenden Arbeit lassen sich anhand der einzelnen Beiträge auch Handlungsimplikationen für die Praxis herausarbeiten. Betrachtet man die wesentlichen Aufgaben des MarketingFootnote 23, so können die Ergebnisse im Rahmen der Planung, Durchführung und Kontrolle von Marketingmaßnahmen dabei helfen die Erkenntnisse im anwendungsorientierten Kontext nutzbar zu machen.

Dabei zeigen die Beiträge zum einen wie Consumer Decision Neuroscience dabei helfen kann, effektivere Kommunikationsmaßnahmen zu entwerfen, um Konsumentinnen/Konsumenten bedarfsgerechte Informationen zur Verfügung zu stellen und sie so bei der Entscheidungsfindung zu unterstützen. Des Weiteren können neurowissenschaftliche Methoden bereits bei der Planung oder späteren Durchführung zum Einsatz kommen. Zum anderen können aber auch beispielsweise Vorhersagemodelle, die Aspekte der Consumer Decision Neuroscience in Form von Erkenntnisse, Theorien und Methoden beinhalten, Marketingmanagemententscheidungen unterstützen indem sie diese kontrollieren oder basierend auf vorhandenen Daten neue Planungsprozesse vorbereiten.

5.2.2.1 Integration von Consumer Decision Neuroscience in die Planungsprozesse des Marketing

Das Ziel der Marketingforschung ist es, Bedürfnisse und Verhalten der Kundinnen/Kunden und der Konsumentinnen/Konsumenten zu verstehen, zu antizipieren und zu befriedigen (Kroeber-Riel & Gröppel-Klein, 2019; Meffert et al., 2019). Damit dies gelingt, kann die Consumer Decision Neuroscience Unternehmen bereits im Rahmen der Planung von geeigneten Marketinginstrumenten unterstützen. Beispielsweise sollten im Rahmen der operativen Marketingplanung mögliche Kommunikationsinstrumente so gestaltet werden, dass diese Konsumentinnen/Konsumenten bei ihren Entscheidungen unterstützen, da diese sich nicht immer entsprechend ihrer Einstellungen zu entscheiden scheinenFootnote 24 (Frank & Brock, 2018; Padel & Foster, 2005; Vermeir & Verbeke, 2006). Hinsichtlich der Kommunikationsinstrumente steht Unternehmen – beispielsweise Handelsunternehmen, die diese am PoS maßgeblich gestalten – eine wertvolle Option zur Verfügung, da viele Entscheidungen erst in der direkten Entscheidungssituation getroffen werden (Hertle & Graf, 2009; Valizade-Funder & Heil, 2010) und die dortigen Maßnahmen gegebenenfalls dazu beitragen können, die angesprochene Attitude-Behaviour-Gap zu schließen (Frank & Brock, 2018). In mehreren Beiträgen dieser Arbeit (Beitrag 1 bis 4) wird gezeigt, dass eine theoriebasierte Erarbeitung von Marketingmaßnahmen dazu führen kann, Entscheidungs- und Verarbeitungsprozesse signifikant zu beeinflussen. Je sorgfältiger und evidenzbasierter ein Marketinginstrument erarbeitet wird, desto besser wäre gegebenenfalls das Entscheidungs- und Kaufverhalten vorab antizipierbar. Zudem könnten mögliche Reaktanzen gegenüber den Kommunikationsinstrumenten reduziert oder ganz vermieden werden. Die Wirkungsweisen der Marketinginstrumente, die mit klassischen Methoden nicht erfassbar sind, könnten auf neuraler Ebene identifiziert werden. So könnten zielgerichtete Informationen, die auf Basis theorieorientierter Aspekte gestaltet wurden, die Verarbeitungsprozesse auf neuraler Ebene beeinflussen und ihren Einfluss auf nachfolgende Verarbeitungsprozesse ausdehnenFootnote 25. Unter Berücksichtigung neuraler Verarbeitungsprozesse könnten somit entsprechende Marketingmaßnahmen intentionaler gestaltet werden.

Darüber hinaus zeigt sich, dass teilweise erst durch den unmittelbaren Entscheidungskontext die Wirkungsweise mancher Marketingmaßnahmen generiert wird. Entsprechend spielt, neben individuellen Faktoren wie Wissen, Einstellungen und Handlungsintentionen, der Präsentationsrahmen eine entscheidende Rolle in der (impliziten) Kommunikationswahrnehmung und -verarbeitung, die durch neurowissenschaftliche Methoden klarer aufgezeigt werden als mit selbstbekundeten Aussagen erfassbarFootnote 26. Diese Erkenntnisse könnten Unternehmen im Rahmen der Planung und Gestaltung von Marketingmaßnahmen künftig stärker einbeziehen.

Des Weiteren wird deutlich, dass Informationen für Konsumentinnen/ Konsumenten insbesondere im direkten Entscheidungskontext eine unterschiedliche Relevanz haben. Ein theoretisch fundierter, flexiblerer Ansatz, der Informationen mit unterschiedlichem Detailgrad aufbereitet und je nach Bedarfsfall bereitstellt, könnte eine sinnvolle Alternative oder auch Ergänzung zu den bisherigen Informationsinstrumenten darstellen. Der zunächst nur theoretisch erarbeitete und exemplarisch erprobte Ansatz könnte eine neue Möglichkeit der Informationsdarstellung für die Konsumentinnen/Konsumenten bieten, mit dem Ziel das Kaufverhalten effektiv zu unterstützenFootnote 27. Dieser Ansatz der Konsumenteninformation kann auch als allgemeiner Ordnungsrahmen für die Kommunikation genutzt werden, sodass Informationsimpulse bewusst gesetzt werden können, um eine Überlastung der Konsumentinnen/Konsumenten zu vermeiden. So wäre es demnach sinnvoll im direkten Entscheidungskontext, beispielsweise im Supermarkt, die Informationslast zu minimierenFootnote 28, jedoch gleichzeitig im Nachgang die Möglichkeit zur Verfügung zu stellen, detaillierte Informationen bei Bedarf zu erlangen. Durch eine effektive Gestaltung der Kommunikationsmaßnahmen, könnten Konsumentinnen/Konsumenten optimal in ihren Entscheidungen unterstützt werden, wodurch es ihnen leichter fallen könnte in Übereinstimmung mit ihren individuellen Präferenzen zu wählen.

Vor allem in digitalen Kontexten müssten bisherige Erkenntnisse der Consumer Decision Neuroscience geprüft werden, da dort neue Phänomene entstehen oder bisherige Wirkungszusammenhänge nicht uneingeschränkt angenommen werden könnenFootnote 29. So scheinen digitale Interaktionen, beispielsweise das Lesen von Online-Bewertungen, sich in mehreren Aspekten vom bisherigen Empfehlungsverhalten zu unterscheidenFootnote 30. Kommentare, die auf Webseiten hinterlassen werden, können Produktpräferenzen und physiologische Konsumerfahrungen verändern, sodass Online-Bewertungen effektive konsumerfahrungsverändernde Marketinginstrumente darstellen können (sogenannte Marketing Placebos). Entsprechend sollten auch im digitalen Kontext Erkenntnisse der Consumer Decision Neuroscience genutzt werden, um Kommunikationsmaßnahmen für Konsumentinnen/ Konsumenten online und offline effektiv zu gestalten. Dabei scheinen manche Effekte von Maßnahmen (im stationären sowie Online-Handel) nur auf neuraler Verarbeitungsprozessebene identifizierbar zu sein. Die Effekte auf neuraler Ebene können möglicherweise durch damit angestoßene, veränderte Verarbeitungsprozesse das Konsumentenverhalten auf lange Sicht beeinflussen und sind nicht mit klassischen Methoden erfassbar. Entsprechend ist eine theoriebasierte Erarbeitung von Kommunikationselementen vor dem Hintergrund eines neurowissenschaftlich fundierten Prozessmodells zusammen mit einer neurowissenschaftlich basierten Prüfung in der Praxis sinnvoll.

5.2.2.2 Ausbau der Anwendung von neurowissenschaftlichen Methoden in Durchführungsprozessen des Marketing

Wie zuvor beschrieben scheint die Anwendung von neurowissenschaftlichen Methoden in der Praxis sinnvoll, um den möglichen Einfluss auf das Entscheidungsverhalten von Konsumentinnen/Konsumenten vor der tatsächlichen Einführung einer Marktleistung zu testen. Entsprechend kann eine neurowissenschaftlich fundierte Erprobung nützlich sein, da bestimmte Effekte gegebenenfalls nicht durch klassische Messinstrumente erfassbar sind und mögliche Veränderungsprozesse in der Informationsverarbeitung zunächst nur auf neuraler Ebene identifizierbar sein könnten. Des Weiteren scheint der direkte Entscheidungskontext ausschlaggebend zu seinFootnote 31, wobei mobile neurophysiologische MessmethodenFootnote 32 eine Möglichkeit bieten könnten, die angesprochene Prüfung unter realitätsnahen Bedingungen durchzuführen. Erste Versuche zeigen, dass solche Messungen möglich sind, es aber insbesondere der Offenheit seitens des Handels bedarf, um eine solche Erprobung durchzuführen und entsprechende Möglichkeiten in Form von Daten, Materialien oder Testumgebungen zur Verfügung zu stellenFootnote 33. Insbesondere durch die Integration von mobilen neuralen Messverfahren können Einschränkungen, die mit stationären neuralen Methoden verbundenen sind, überwunden werdenFootnote 34. So können spezifische Gehirnregionen, die mittels mobiler Methoden messbar sind, zur Vorhersage des Erfolgs von Produkten oder Kommunikationsmaßnahmen genutzt werdenFootnote 35. Es eröffnen sich potenzielle Anwendungen in realistischen Testumgebungen und innovative Perspektiven zur gesamtheitlichen Bemessung des Erfolges von Marketingmaßnahmen unter Einbeziehung aller Elemente, die in der Entscheidungssituation einflussnehmend sein könnten. So könnten beispielsweise kortikal entlastende Elemente eingesetzt werden und diesen Prozess störende Konflikte vermieden werden, um die Entscheidungssituation für Konsumentinnen/Konsumenten möglichst angenehm zu gestalten. Eine umfassende Untersuchung aller Elemente wäre dabei mittels mobiler neurophysiologischer Methoden, wie der fNIRS, möglich, die, wie in Abschnitt 5.2.1.2 erläutert, in diesen Testumgebungen gegebenenfalls vorteilhafter gegenüber anderen mobilen neuralen Messerfahren sein könnte. Entsprechend kann eine umfassende und sorgfältige Abstimmung der kommunikationspolitischen Maßnahmen für Unternehmen von hohem Wert sein, um so insbesondere Vorteile gegenüber den Wettbewerbern zu erzielen. Ein methodischer Ausbau seitens der Forschung im Hinblick auf standardisierte und valide Erhebungen mit mobilen Verfahren sollte daher zukünftig avisiert werden und bedarf dabei unter anderem insbesondere der Unterstützung und Offenheit der Praxis.

5.2.2.3 Consumer Decision Neuroscience zur Kontrolle von Marketingmanagemententscheidungen

Eine im Marketingmanagement zentrale Aufgabe ist das Innovationsmanagement, damit sich das Unternehmen dauerhaft am Markt behaupten kann (Lehmann, 1998; Meffert et al., 2019). Entsprechend ist eine der zentralen Entscheidungen, ob ein neues Produkt auf den Markt gebracht werden soll. In diesem Zusammenhang ist die Antizipation der Akzeptanz bei Konsumentinnen/Konsumenten und der damit verbundene Erfolg des Produktes von entscheidender Bedeutung, da beträchtliche Ressourcen der Entwicklung und Einführung neuer Produkte zugewiesen werden (Guttman, 2019; Haller & Twardawa, 2014). Dabei hängt der Erfolg des neuen Produktes von einer Vielzahl von Parametern ab, die Unternehmen stets genauer versuchen zu identifizieren, um Verkäufe möglichst erfolgreich zu prognostizieren und dadurch Managemententscheidungen evidenzbasiert zu unterstützen (Castellion & Markham, 2013; Cooper & Kleinschmidt, 1987; Gobeli & Brown, 1987). Dabei scheint die prädiktive Kraft der Vorhersagemodelle sowohl von der Art als auch der Qualität der Methoden und Daten abzuhängen, die jeweils einen Teil zur Varianzaufklärung beitragen (Castellion & Markham, 2013). Im Rahmen der Consumer Decision Neuroscience geht man davon aus, dass allen Konsumentenentscheidungen ein neuraler Verarbeitungsprozess zugrunde liegt, der anhand einer Unified Theory zu beschreiben ist. Entsprechend, wären Konsumentenentscheidungen durch neurale Aktivitätsprofile antizipierbar.

Dabei scheinen bereits einzelne Gehirnregionen korrelativ Hinweise darauf geben zu können, welche Kommunikationselemente erfolgreicher sind als andereFootnote 36. Darüber hinaus könnte die Kombination aus neuralen Studien und traditionellen Marktforschungsinstrumenten vor der Einführung neuer Produkte wichtige Hinweise für Managemententscheidungen liefern, die die Vorteile und Parameter aller Methoden und Datentypen nutzt. Entsprechend scheint es vorteilhaft zu sein mehrere verfügbare Datenstrukturen zu nutzen und diese effektiv zu aggregierenFootnote 37. Fortgeschrittene Analysemethoden ermöglichen eine solche Kombination von unterschiedlichen, umfangreichen Datenstrukturen, sodass die prädiktive Kraft jeder Datenquelle effektiv extrahiert werden kann und so die prognostische Validität insgesamt erhöht wird. Anhand der Kombination von verschiedenen Methoden und Daten konnte gezeigt werden, dass neurale Informationen die prädiktive Kraft verbessern könnenFootnote 38. Daher stellt die Kombination unterschiedlicher Methoden und Datenstrukturen, die voraussichtlich unterschiedliche Aspekte der Verarbeitungsprozesse erfassen, eine aussichtsreiche und relevante Möglichkeit dar, um die Prognose des Innovationserfolgs zu verbessern. Entsprechend ist es anzuraten, neurowissenschaftliche Erkenntnisse der Consumer Decision Neuroscience zu nutzen und in die Managementprozesse zu integrieren, um Managemententscheidungen substanziell und evidenzbasiert zu unterstützen.

5.3 Kritische Reflexion

Die vorliegende Arbeit soll dazu beitragen, die sich entwickelnde Consumer Decision Neuroscience zu strukturieren und weiterzuentwickeln, um sie innerhalb der Wirtschaftswissenschaften zu manifestieren. Eine vollständig entwickelte Wissenschaft zeichnet sich durch ein in der Wissenschaftsgemeinschaft akzeptiertes, einheitliches Paradigma aus, dem die darin wissenschaftlich Agierenden relativ unkritisch gegenüberstehen, um sich auf die ausführliche Ausarbeitung des Paradigmas zu konzentrieren (Chalmers, 1999). In diesem Stadium befindet sich die Consumer Decision Neuroscience noch nicht, wie unter anderem durch die eingangs dargestellten Diskussionen und konträren Standpunkte deutlich wird. In der Theorieentwicklung zur Erklärung von Konsumentenentscheidungsprozessen (vgl. Abschnitt 2.1) stellen sich derzeit Dual-Process Modelle als bisher vielversprechendster Ansatz heraus. Dem ultimativen Ziel der Consumer Decision Neuroscience folgend, eine zugrundeliegende Unified Theory zu identifizieren, zeigt die vorliegende Arbeit auf, dass ein neurowissenschaftlich fundiertes Modell, das Reflektiv-Impulsiv Modell (Strack & Deutsch, 2004), einen Rahmen für die Consumer Decision Neuroscience bieten könnte. Dennoch sollte das unterstellte Reflektiv-Impulsiv Modell (Strack & Deutsch, 2004) kritisch evaluiert werden, um zum einen mögliche Schwachstellen zu identifizieren und zum anderen die wissenschaftliche Perspektive nicht zu verengen, sodass interdisziplinäre Impulse weiterhin wahrgenommen und zugelassen werden können.

Grundsätzlich ermöglicht das Reflektiv-Impulsiv Modell die Integration neurowissenschaftlicher Annahmen und baut auf neurowissenschaftlich fundierten Ansätzen auf (Lieberman et al., 2002), die es erlauben, zugrundeliegende Verarbeitungsprozesse zu identifizieren, diese anzuwenden und zu nutzen, um Konsumentenentscheidungen zu unterstützen und zu prognostizieren. Dabei lassen sich neurowissenschaftliche Theorien und Erkenntnisse, wie in dieser Arbeit gezeigt, in das Modell übertragen (z. B. regulatorische Fokus Theorie). Folglich können auch beispielsweise neurobiologische Prozessmodelle, wie die bekannte Hypothese der somatischen Marker (Bechara & Damasio, 2005; Damasio, 1996), in diesen umfassenden Rahmen eingeordnet werden. Allgemein gesprochen unterstellt die Hypothese der somatischen Marker, wobei mit der Iowa Gambling TaskFootnote 39 experimentell verdeutlicht werden kann, dass emotionale Erfahrungen anhand von somatischen Markern bereits frühzeitig in (neuro-)physiologischen Reaktionen verinnerlicht werden. Diese beeinflussen anschließend das Entscheidungsverhalten und sind bei Personen mit Schädigung im vmPFCFootnote 40 nicht mehr abrufbar, sodass deren Entscheidungen entsprechend der vorangegangenen emotionalen Erfahrung nicht mehr erleichtert oder gelenkt werden können (Bechara & Damasio, 2005; Damasio, 1996). Im Rahmen des Reflektiv-Impulsiv Modell könnte dies darauf hinweisen, dass beispielsweise der reflektive Verarbeitungsprozesstyp nicht mehr auf assoziative Verarbeitungsprozesse zugreifen kann und somit gezieltes Aktivieren oder Intending seitens des reflektiven Verarbeitungsprozesstyps nicht möglich ist. So könnte bei neural intakten Verarbeitungsprozessen unterstellt werden, dass beispielsweise im impulsiven Typ die assoziativen Verbindungen ein erfahrungsgemäßes Bewusstsein erzeugen. Dieses Bewusstsein entsteht, ohne den genauen Ursprung des Empfindens zu kennen, welches wiederum entsprechende Entscheidungsprozesse des reflektiven Prozesstyps lenken kann. Folglich könnte der vmPFC die Verbindung zwischen reflektiver Verarbeitung und dem impulsiven Prozesstyp aufzeigen, wie beispielsweise affektive Bewertungsprozesse (Bartra et al., 2013; Hare et al., 2009).

Wie bereits in Kapitel 3 angemerkt, ist die Übersetzung der größtenteils psychologischen Konstrukte innerhalb des Modells auf neurale Strukturen und Prozesse eher hypothetischer Natur und könnte auch mit einer Vielzahl an anderen Prozessen erklärt werden, was auch bereits an anderen Stellen beispielsweise für kognitive Prozesse erörtert wurde (Camerer et al., 2013). Entsprechend müssen die Interpretationen kritisch betrachtet und ihnen kann nur eine bedingte Gültigkeit zugeschrieben werden. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass neurale Strukturen mit hoher lokalisatorischer Signifikanz für Verarbeitungsprozesse oftmals die Ausnahme sind und zumeist von Prozessnetzwerken ausgegangen wird (Kenning, 2020), sollte die Zuordnung der assoziierten Gehirnstrukturen auch in der vorliegenden Arbeit als zwar vertretbare und sachlogisch abgeleitete Interpretation verstanden, jedoch ebenso von einer hypothetischen Zuordnung ausgegangen werden. Es gibt bereits erste Überlegungen, wie man das beschriebene Problem minimieren kann, indem man beispielsweise eine bayesianische Analyse verwendet, um die Spezifizität der Aktivierung in einer Gehirnregion für einen bestimmten (neuro-)psychologischen Prozess zu schätzenFootnote 41 (Ariely & Berns, 2010; Krampe, 2020). Diese Überlegung bedarf zurzeit jedoch noch weiterer Ausarbeitung und wissenschaftlicher Umsetzung. Eine kritische Evaluation der Übersetzungen von neuropsychologischen Konstrukten ist daher unabdingbar, um dem wissenschaftlichen Anspruch gerecht zu werden und die Consumer Decision Neuroscience evidenzbasiert und neurowissenschaftlich fundiert weiterzuentwickeln.

Nichtsdestotrotz haben Dual-Process Ansätze und das in der vorliegenden Arbeit unterstellte Reflektiv-Impulsiv Modell in der Käufer- und Konsumentenverhaltensforschung und entsprechend auch in der Consumer Decision Neuroscience bisher durch erfolgreiche und intuitiv verständliche Anwendungen, ohne auf eine Vielzahl von widersprüchlichen Ergebnissen zu stoßen, als umfassender Rahmen überzeugt. Dennoch ist die Frage berechtigt, die auch bereits in der Disziplin gestellt wird (Grayot, 2020), ob Dual-Process Theorien tatsächlich einer realistischen Beschreibung der Entscheidungsfindung näher kommen oder nur einen relativ globalen anwendbaren Rahmen darstellen, unter dem viele Evidenzen summiert werden können (Grayot, 2020). In diesem Zusammenhang, und wie in Abschnitt 2.1 bereits beschrieben, sind Paradoxien meist Indikatoren dafür, dass bisherige Erklärungsmodelle an ihre explikativen Grenzen stoßen. Solche Paradoxien stellen für bisherige Dual-Process Theorien beispielsweise Entwicklungsumkehrungen (Developmental Reversals) dar, bei denen Kinder und Unerfahrene bessere Ergebnisse erzielen als Erwachsene und Fachkräfte, sodass vorhersagbare Verzerrungen und Fehler mit dem Alter und der Erfahrung zunehmen (Brainerd, Reyna, & Ceci, 2008; Brainerd, Reyna, & Zember, 2011; Reyna & Brainerd, 2011; Reyna, Chick, Corbin, & Hsia, 2014).

Daher sollten weiterhin neue Erklärungsmodelle gesucht werden, um den weiteren wissenschaftlichen Fortschritt der Consumer Decision Neuroscience hin zu einer Unified Theory zu ermöglichen. Dabei könnte ein nächster Schritt sein, die Entwicklungsschritte hin zu verschiedenen Entscheidungsprozessen besser zu verstehen und erfolgreich zu modellieren, um u. a. auch Änderungsprozesse effektiver anstoßen zu können. Vor dem Hintergrund des biologischen Determinismus könnte dieser Weg sinnvoll sein, da das Gehirn als einziges Organ über eine lebenslange Plastizität verfügt und neurobiologische Verarbeitungsprozesse, vor allem in den frühen Lebensjahren, hoch adaptiv sind (Gazzaniga & Ivry, 2013; Kalat, 2009). Folglich könnten Impulse aus der kognitiven und neurowissenschaftlichen Entwicklungspsychologie wertvolle Hinweise liefern, die bisher noch nicht in die Käufer- und Konsumentenverhaltensforschung integriert wurden (Samson & Voyer, 2012), jedoch in neusten Publikationen erste Anwendung in assoziierten Disziplinen finden (Levine, 2019; Reyna & Brust-Renck, 2020). In diesem Zusammenhang soll die Fuzzy Trace Theorie (Brainerd & Reyna, 2002; Reyna & Brainerd, 1995; Setton, Wilhelms, Weldon, Chick, & Reyna, 2014) als neue Alternative zu bisherigen Dual-Process Modellen kurz skizziert werden, um diese als eine mögliche, zukünftig zu integrierende Theorie in der Consumer Decision Neuroscience einzuführen. Die Fuzzy Trace Theorie weicht von einer assoziativ-regelbasierten Unterscheidung der Verarbeitungsprozesse ab und stellt den Grad des Abstrahierens als zentrale Funktion der Verarbeitungsprozesse in den Fokus. Auch diese Theorie nutzt Erkenntnisse aus der neurowissenschaftlichen und neuropathologischen Forschung sowie der Entwicklungspsychologie und bietet dadurch Erklärungsansätze, die bei bisherigen Theorien als Paradoxien (z. B. Developmental Reversals) charakterisiert werden.

Die Fuzzy Trace Theorie ist eine umfassende Theorie zur Erklärung von Gedächtnis- und Verarbeitungsprozessen und liefert Erklärungsansätze dazu, wie sich Verarbeitungsprozesse im Verlauf der Entwicklung oder aufgrund von Expertise und sozialem Umfeld verändern (Brainerd & Reyna, 2002; Reyna & Brainerd, 1995; Setton et al., 2014). Wie alle Dual-Process Theorien, unterscheidet die Fuzzy Trace Theorie zwei Arten von Verarbeitungsprozessen – GistFootnote 42 und VerbatismFootnote 43 – wobei die Fähigkeit zum Abstrahieren eine zentrale Funktion für höhere Kognition darstellt (Brainerd & Reyna, 2002; Reyna & Brainerd, 1995; Setton et al., 2014). Dabei werden höher kognitive Verarbeitungsprozesse dem Gist zugeordnet, die dem Verarbeitungsobjekt eine intuitive, pragmatische Bedeutung zuschreiben, indem sie die Bedeutung von verarbeiteten Reizen abstrahieren (Brainerd & Reyna, 2002; Reyna & Brainerd, 1995; Setton et al., 2014). Dahingegen werden bei Verarbeitungsprozessen des Verbatism die exakten, ‚wörtlichen‘ Details von Reizen verarbeitet (Brainerd & Reyna, 2002; Reyna & Brainerd, 1995; Setton et al., 2014). Anhand von vier grundlegenden Prinzipien lässt sich die Fuzzy Trace Theorie skizzieren (Brainerd & Reyna, 2002; Reyna & Brainerd, 1995; Setton et al., 2014):

  1. (1)

    Eine Information wird mit einem unterschiedlichen Grad an Präzision in mehreren Darstellungen verarbeitet: Die verschiedenen Darstellungen einer Informationen können auf einem Kontinuum von Verbatism zu Gist dargestellt werden. Verbatism ist dabei die oberflächliche Form der Darstellung anhand von einzelnen Details und steht auf dem Kontinuum dem Gist gegenüber, der die essenzielle Bedeutung kodiertFootnote 44.

  2. (2)

    Gist- und Verbatism-Darstellungen werden unabhängig und parallel verarbeitet, gespeichert und abgerufen: Dadurch, dass ein Reiz in verschiedenen, unabhängig voneinander verarbeiteten Darstellungen kodiert werden kann, können unterschiedliche und auch teilweise entgegengesetzte Darstellungen derselben Information vorhanden seinFootnote 45.

  3. (3)

    Im Erwachsenenalter neigt man eher zu einer unscharfen (fuzzy) Verarbeitungspräferenz: Eine unscharfe Verarbeitungspräferenz bedeutet, dass man sich für die Erledigung einer Aufgabe auf das Wesentliche verlässt, was für die Bearbeitung dieser Aufgabe erforderlich ist.

  4. (4)

    Mit zunehmendem Alter und Expertise wird öfter auf Gist-Darstellungen zurückgegriffen: Dieses Prinzip führt zu testbaren, konträren Vorhersagen zu traditionellen Dual-Process TheorienFootnote 46, wodurch die sogenannten Developmental Reversals erklärt werden können (Brainerd et al., 2011; Reyna et al., 2014).

Validierung erhält diese Theorie aus der Entwicklungspsychologie und den damit verbundenen neurobiologischen Veränderungen, die mit zunehmendem Alter stattfindenFootnote 47 sowie ersten Studien, bei denen neurale Strukturen mit den beiden Arten der Verarbeitung assoziiert werdenFootnote 48 (Reyna & Huettel, 2014; Venkatraman et al., 2009). Diese ersten Studien sind vielversprechend, jedoch bedarf es in diesem Bereich noch weiterer Forschung, um diese beiden Verarbeitungsprozesse und damit die Fuzzy Trace Theorie weiter zu validieren und als mögliche Unified Theory zu prüfen. Bis dahin können die Erkenntnisse Hinweise liefern, um bestehende Modelle zu verfeinern und sollten als mögliche Alternativerklärung einbezogen werden. Die Fuzzy Trace Theorie stellt einen bedeutenden, alternativen und auch komplementären Ansatz dar, der voraussichtlich in den nächsten Jahren die Teildisziplin der Consumer Decision Neuroscience beeinflussen wird. Entsprechend sollte diese Theorie vor dem Hintergrund der kritischen Würdigung der vorliegenden Arbeit an dieser Stelle zur Kenntnis genommen und als potenzielle Alternative berücksichtigt werden.