Zusammenfassung
1982 wurde Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität von Niklas Luhmann veröffentlicht. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, gehört Liebe als Passion mit Abstand zu den meist verkauften Büchern Luhmanns, und rechnet man die schon 1969 erstellte, aber erst 2008 posthum herausgegebene Seminarvorlage Liebe. Eine Übung (Luhmann 2008a) hinzu, erklimmt dieses Bücherpaar ohne weiteres den Gipfel des Luhmannschen Oeuvres, soweit es die reinen Absatzzahlen betrifft.
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Notes
- 1.
Man könnte hier das Konzept der kybernetisch orientierten Hierarchie der Kontrollbeziehungen von Talcott Parsons (1976: 171 f.; 1986: 174 ff.; Parsons/Platt 1990: 49) bemühen, demzufolge der Verhaltensorganismus als Schnittstelle zu den anatomisch-physiologischen Merkmalen des physischen Organismus letztlich durch Kultur zu steuern versucht wird, so Parsons. Kurz: Die Information kommt von oben, die Energie von unten.
- 2.
Die Textstellen finden sich auf den Seiten 9, 23, 175, 53, 70, 29 f., 213, 186, 117, 160, 47, 49, 149. Was all diese Formulierungen aufzeigen, ist – aus Sicht der Systemtheorie – das Referieren auf eine außersoziale Realität, wo sich befindet, worauf sich die Semantik der Gefühle/Emotionen nach Luhmann bezieht. Nur geschieht dieses Referieren in Liebe als Passion ausschließlich implizit und ohne jede sichtbare Anstrengung, eine eigene Soziologie der Emotionen mitzuliefern, die über die reine Beschreibung entsprechender Semantiken hinausgeht, etwa in Richtung auf bestimmte Sozialisations- und Konditionierungstechniken oder -effekte.
- 3.
Vgl. das Interview Darum Liebe mit Luhmann in Baecker/Stanitzek 1987: 61 ff.
- 4.
Luhmann (1964: 372 ff.,) hatte sich zwanzig Jahre vorher, und zwar in Funktionen und Folgen formaler Organisation, schon einmal zu Gefühlen geäußert. Auch damals begriff er Gefühle als rein innerpsychische Vorgänge mit „Persönlichkeitsfunktion“, weil Gefühle „stabilisierende Erlebnishilfen“ darstellten. Damit erfüllten sie zunächst keine soziale Aufgabe. Doch kann sich eine Gesellschaft auf Gefühle einstellen, wenn sie ihnen entsprechende „Ausdruckschancen“ biete, was wiederum „Möglichkeiten sozialer Kontrolle der Gefühlsbildung“ eröffne. Eine derartige „emotionale Stabilisierung“ gelinge jedoch nur in „relativ kleinen, abgeschlossenen sozialen Systemen“, weil auch negative Gefühle bewältigt werden müßten, und es müßte sichergestellt werden, daß die emotionale Orientierung bei fast allen Beteiligten in etwa übereinstimme, sonst zerfalle das soziale System. Emotionale Arbeitsteilung sei nämlich kaum möglich, weil sich Gefühle bei zunehmender Differenzierung schnell überfordert zeigten. Schließlich erwiesen sich Gefühle als eher konservativ, inflexibel, ähnlich wie Normen: „Emotionale Orientierung hält ihr Objekt fest. Sie sträubt sich gegen Änderungen in ihrem Bereich.“ (Luhmann 1964: 875).
- 5.
Ein Vorgang beleuchtet das ganz gut: der Fall Kachelmann, d. h. der Vorwurf einer von Jörg Kachelmann hintergangenen Frau mit dem Vornamen Simone, von ihm vergewaltigt worden zu sein. Hier stehen inzwischen Aussage gegen Aussage, ohne dass klar wird, was näher an der Wahrheit liegt. Hierzu findet sich nun folgende Aussage in einem diesbezüglichen Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 15. Juli 2010, S. 3: »›Das Schlimmste für Simone ist, dass sie von all diesen Zweifeln in den Medien liest‹, sagt ihr Anwalt Thomas Franz, der im Prozess als Nebenkläger auftreten wird. Ihre Vertrauten fürchteten sogar, sie könne sich das Leben nehmen. Franz, der für die Organisation ›Weißer Ring‹ arbeitet, hat nie mutmaßliche Täter, immer nur mutmaßliche Opfer vertreten. Meist stimmen deren Vorwürfe, manchmal aber nicht. Im Fall Simones glaube er, dass sie die Wahrheit sagt. Er sei in der Nacht nicht dabei gewesen, sagt er, aber er habe so ein Bauchgefühl. Das ist kein schlechter Begriff in diesem Fall: Wo sich die Gutachten so widersprechen, entscheidet für viele das Gefühl.«
Literatur
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Hellmann, KU. (2022). Niklas Luhmann: Liebe als Passion. In: Senge, K., Schützeichel, R., Zink, V. (eds) Schlüsselwerke der Emotionssoziologie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-37869-1_39
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