Nachdem wir uns einige Kritikpunkte und Probleme der Neuroökonomie angeschaut haben, bleibt die Frage, wie sich das Verhältnis von Ökonomen und Neurowissenschaftlern entwickeln wird. Denn davon hängt die künftige Entwicklung der Neuroökonomie als Wissenschaft ab. Sind die Differenzen zu groß, die gegenseitig vorgebrachten Kritiken unüberwindbar, wird eine langfristig stabile und fruchtbare Kooperation kaum möglich sein.

Werfen wir also einen Blick auf zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten für die neuroökonomische Zusammenarbeit. Welche Probleme werden noch in Zukunft eine Rolle spielen und welche Entwicklungschancen hat die Neuroökonomie? Welche Probleme sind lösbar und welche unlösbar? In Kapitel 6 zu den Kritiken an der Neuroökonomie haben wir die vorgebrachten Kritiken aufgeteilt in grundsätzliche Kritiken, die eine Zusammenarbeit immer beeinträchtigen könnten und solche Kritiken, die grundsätzlich lösbar sind. Ähnlich verhält es sich mit den Problemen, die wir nun als Abschluss betrachten, da sie aus den oben angesprochenen Kritiken erwachsen. Manche sind generell lösbar und sollten gelöst werden. Andere dagegen lassen sich grundsätzlich nicht lösen, sodass bestenfalls ein Weg gefunden werden muss, mit ihnen umzugehen. Beginnen wir mit den lösbaren Problemen:

Die lösbaren Probleme sind zwar grundsätzlich lösbar, das ist ein großer Vorteil gegenüber unlösbaren Problemen, aber wenn sie nicht gelöst werden, können sie erheblichen Schaden für die Wissenschaft Neuroökonomie anrichten. Sie können Wissenschaftler abschrecken und zur Ablehnung der Neuroökonomie führen. Damit sind solche Wissenschaftler gemeint, die als Forschende für die Neuroökonomie wertvoll sind oder sein könnten, vor allem diejenigen, die aus den Mutterwissenschaften stammen. Besonders als noch relativ junge Wissenschaft braucht die Neuroökonomie kreative und offene Nachwuchskräfte, die die Forschung betreiben und in die Zukunft tragen. Gemeint sind aber auch solche Wissenschaftler, die nicht direkt an der neuroökonomischen Forschung beteiligt sind, aber ihre Erkenntnisse für ihre eigene Forschung nutzen könnten, wie beispielsweise aus nicht-kognitiven Bereichen der Psychologie. Diese Verbreitung der Erkenntnisse trüge zur Festigung der Relevanz der neuroökonomischen Forschung bei. Nicht zuletzt um beide Arten von Akzeptanz unter Wissenschaftlern nicht zu gefährden, sollten die lösbaren Probleme auch gelöst werden. Die Probleme stammen aus den prozeduralen Kritiken, die wir oben in Abschnitt 6.1 diskutiert haben. Das waren erstens die überzogenen Versprechungen von Neuroökonomen bezüglich der Leistungsfähigkeit der Neuroökonomie, zweitens die Kritiken an der unzureichenden Technik, die für kognitiv-neurowissenschaftliche Forschung verwendet wird, drittens die Kritik an schlechten neurowissenschaftlichen Forschungsstandards, wie zu geringe Probandenzahlen, viertens ein mangelhaftes Forschungsdatenmanagement, das die Nachprüfbarkeit von Ergebnissen verringert und fünftens die augenscheinlich arglose Verwendung von reverse Inference als gängige Schluss-Praxis.Footnote 1

Aus den überzogenen Versprechungen wächst leicht das Problem geringer Glaubwürdigkeit, was sehr problematisch sein kann, aber auch relativ leicht lösbar. Wie wir in Abschnitt 6.1.1 gesehen haben, scheinen die Neuroökonomen das auch bemerkt zu haben, da jüngere Aussagen über das Potenzial der Neuroökonomie weniger überzogen ausfallen als die kritisierten älteren. Wenn die Neuroökonomen das weiterhin so halten, können sie hoffentlich ihre „marketing bloopers“ aus Anfangszeiten, wie Harrison es nannte (Harrison 2008a, 304), überwinden.

Das zweite Problem mit der unzureichenden Technik wird sich, wie in Abschnitt 6.1.2 erörtert, durch den zu erwartenden Fortschritt der Instrumententechnik in naher Zukunft zum großen Teil erledigen. Viel drängender ist das dritte Problem, das die angemessene Zahl der Probanden pro Studie betrifft. Dieses Problem muss gelöst werden, nicht nur um die Neuroökonomie als Wissenschaft etablieren zu können, sondern auch, weil dies eine Frage ist, die ebenso die Mutterwissenschaften selbst betrifft. Die Richtlinien für die Erstellung und Durchführung von fMRT-Studien (um diese geht es in dieser Kritik ja vor allem) kommen aus den kognitiven Neurowissenschaften, wo diese Art der (neuroökonomischen) Forschung durchgeführt wird. Es ist nicht nur im Interesse der Neuroökonomen, sondern der kognitiven Neurowissenschaftler genauso wie Psychologen die Frage angemessener Probandenzahlen zu klären. Die Replikationskrise hat gezeigt, dass solche Fragen eine erhebliche und vielleicht bisher unterschätze Rolle spielen. Reliabilität ist für Forschungsergebnisse essenziell, da sind sich die Mitglieder einer jeden wissenschaftlichen Gemeinschaft sicherlich einig. Fehlt sie oder steht sie auch nur gering in Zweifel, kann das mittel- und langfristig erhebliche Probleme nach sich ziehen, sowohl innerhalb einer betroffenen Wissenschaft, wenn Erkenntnisse, auf denen neue Erkenntnisse aufgebaut werden nicht verlässlich sind, denn dann stehen auch darauf aufbauende Erkenntnisse auf unsicherem Grund; aber auch außerhalb einer Wissenschaft, wenn der Ruf nicht nur einzelner Forschender, sondern einer ganzen Gemeinschaft leidet. Es ist also keine allein neuroökonomische Aufgabe, das Problem angemessener wissenschaftlicher Standards anzugehen, sondern eine Aufgabe auch und vor allem für die kognitiven Neurowissenschaften, wollen sie in Zukunft glaubwürdig sein, sei es als Person oder weiterverwertbare Forschungsergebnisse.

Helfen könnte dabei eventuell die Lösung zu Problem vier, dem schlechten Forschungsdatenmanagement. Die Nachvollziehbarkeit von Forschungsergebnissen könnte höher sein, wenn mit den Textpublikationen zusammen mehr Forschungsdaten veröffentlicht würden, auf denen die Schlussfolgerungen und Erkenntnisse beruhen. Diese Form von Open Data ist in manchen Wissenschaften beziehungsweise Zeitschriften bereits verbreiteter als in anderen, gewinnt aber gerade an Momentum, da Forschungsförderer wie die Europäische Kommission die gleichzeitige Open-Access-Veröffentlichung von Text und den zugrundeliegenden Daten in ihrer Förderlinie Horizon 2020 zum Grundsatz gemacht haben.Footnote 2 Das heißt, dass die Daten, die den Textpublikationen zugrunde liegen, in einem Repositorium open access zugänglich gemacht werden müssen. Eine solche Praxis hilft dabei, die Ergebnisse und Schlussfolgerungen überprüfbar zu machen. Natürlich können nicht alle Arten von Daten öffentlich zugänglich gemacht werden und auch bei der EU-Kommission gibt es in begründeten Fällen die Möglichkeit zu einem Opt-Out, beispielsweise wenn Patientendaten nicht stark genug anonymisierbar sind. Aber die grundsätzliche Einstellung, offen mit seinen Daten umzugehen, kann die Überprüfbarkeit und Glaubwürdigkeit von Forschungsergebnissen erhöhen. Dadurch ließe sich nicht nur dem Vorwurf wenig nachvollziehbarer Studienergebnisse begegnen, es könnte, wie gesagt, auch helfen, durch erhöhte Transparenz verlässliche wissenschaftliche Standards durchzusetzen. Durch die Mandate von Forschungsförderern wird der offene und standardisierte Umgang mit Daten immer mehr in der Praxis der täglichen wissenschaftlichen Arbeit ankommen, wodurch sich für diese Probleme eine potentiell positive Prognose geben lässt.

Es bleibt noch das fünfte Problem mit der Verwendung von reverse Inference als gängige Schlusspraxis. Auch dieses ist kein spezifisch neuroökonomisches Problem, sondern betrifft die Mutterwissenschaften allgemein. Auch in diesem Fall liegt es im eigenen Interesse der Mutterwissenschaften, eine Art gute wissenschaftliche Praxis für den akzeptablen Umgang mit dieser eventuell kurzfristig hilfreichen aber tatsächlich logisch falschen Schlussform zu finden. Poldrack hat sicher Recht mit seiner Meinung, dass reverse Inference dazu verwendet werden kann, neue Hypothesen zu formulieren, die als Basis für weitere Forschung dienen können (s. o. Abschn. 6.1.5). Er hat aber auch Recht damit, dass die Verwendung von reverse Inference als Schlusssystem zum Erkenntnisgewinn gefährlich ist, denn die Gefahr, statt einer Abduktion einen Fehlschluss zu ziehen, ist durchaus gegeben. Sicherlich sind neue Erkenntnisse und Schlüsse in Publikationen spannender zu lesen als Vorschläge für weitere Forschungsfragen, und vor allem kognitiv neurowissenschaftliche Forschung scheint in den vergangenen Jahren ein wachsendes Forschungsgebiet zu sein, aber weder die Neuroökonomie noch die kognitiven Neurowissenschaften selbst sollten sich mit spektakulären aber schlecht replizierbaren Erkenntnissen einen Namen machen. Denn wie das Beispiel der überzogenen Versprechungen aus der Anfangszeit der Neuroökonomie zeigt, kann ein solches Vorgehen zwar viel Aufmerksamkeit erzeugen, aber auch aus den falschen Gründen. Gewiss möchte jeder Forschende eine aufsehenerregende Publikation in einer renommierten Zeitschrift, doch methodisch schlechte Arbeit bleibt methodisch schlechte Arbeit, auch wenn die Zitationszahlen gut aussehen. Nur diesen hinterherzujagen, auf Kosten guter wissenschaftlicher Standards, das hat die Replikationskrise in der Psychologie deutlich gemacht, wird früher oder später erheblichen Schaden an einer Wissenschaft verursachen und das kann sich gerade eine junge Wissenschaft wie die Neuroökonomie nicht leisten. Natürlich ist das auch ein strukturelles Problem nicht nur der neuroökonomischen Mutterwissenschaften und natürlich wäre es naiv anzunehmen, es ließe sich über Nacht lösen. Mit den gleichen Schwächen in die nächste Replikationskrise zu steuern, kann allerdings auch nicht die Basis für wissenschaftliche Arbeit sein. Dazu braucht es aber ein generelles Umdenken unter den Mitgliedern wissenschaftlicher Gemeinschaften, von den Forschern im Labor, über Berufungskommissionen, über Herausgebergremien bis hin zu Forschungsförderern, und das kann Generationen dauern.

Die besprochenen Probleme können das Verhältnis zwischen Neuroökonomen verschiedener Mutterwissenschaften untereinander sowie das Verhältnis zu anderen Wissenschaften außerhalb der Neuroökonomie negativ beeinträchtigen. Aber sie können grundsätzlich gelöst werden, und die wissenschaftlichen Gemeinschaften haben viel zur Lösung dieser Probleme selbst in der Hand. Das Verhältnis wird jedoch auch von systematischen Problemen beeinflusst, die die Wissenschaftler nicht selbst in der Hand haben und die sich auch nicht lösen lassen. Mit diesen muss die Neuroökonomie umzugehen lernen, wenn sie langfristig eine Rolle spielen möchte. Damit sind erstens diejenigen systematischen Probleme gemeint, die vor allem in den Kritiken von Gul und Pesendorfer zur Sprache kommen, die wir in Abschnitt 6.2 analysiert haben. Zweitens sind damit diejenigen Probleme gemeint, die sich aus wissenschaftstheoretischer Sicht ergeben, die in Abschnitt 6.3 besprochen wurden.Footnote 3 Gerade weil sich diese Probleme nicht lösen lassen, werden sie das Verhältnis zwischen Ökonomen und Neurowissenschaftlern weiterhin bestimmen. Es lohnt sich also ein kurzer, zusammenfassender Blick zurück: Gul und Pesendorfers Kritiken basierten auf strukturellen, grundlegenden Problemen, die sie bei einer Zusammenarbeit zwischen Ökonomen und Neurowissenschaftlern sehen. Sie entstehen zum Beispiel dort, wo ihrer Meinung nach Neuroökonomen den Ansatz ökonomischer Arbeit nicht verstanden haben, weshalb sie ökonomische Erkenntnisse als normative Handlungsanweisungen verwenden wollen. Zudem sehen Gul und Pesendorfer die Neuroökonomie als irrelevant für die Ökonomie an, da sie keine ökonomischen Probleme anspricht. Nicht nur liefern die Erkenntnisse aus der Neuroökonomie keinen Mehrwert für die Ökonomie, die unterschiedlichen Modelle der beiden Wissenschaften werden von den Autoren auch nicht als konkurrierend angesehen, denn die ökonomische Definition von Rationalität macht keine Aussagen über physiologische Hirnprozesse, weshalb das ökonomische Standardmodell laut Gul und Pesendorfer auch nicht mit physiologischen Gehirndaten widerlegt werden kann. Ihrer Ansicht nach vermischen Neuroökonomen Mittel und Ziele der Ökonomen mit denen der Neurowissenschaftler, haben jedoch keine Möglichkeit, die in der Ökonomie beschriebenen Prozesse im Gehirn wiederzufinden, oder ökonomische Probleme mit neurowissenschaftlichen Mitteln anzusprechen. Insgesamt sind es sehr schwerwiegende, tiefgehende Kritiken, die Gul und Pesendorfer vorgebracht haben. Sie sind anders als die Kritiken an niedrigen Probandenzahlen oder geringen Publikationsraten von Rohdaten. Es sind systematische Kritiken, die sich nicht durch (ohnehin angeratene) Änderungen in der wissenschaftlichen Praxis verringern oder aus der Welt schaffen lassen. Bei diesen Kritiken geht es um ganz verschiedene Auffassungen davon, was die Ökonomie als Wissenschaft tut und tun sollte, und um die grundlegende Frage, ob die Wissenschaften Ökonomie, Neurowissenschaften und Psychologie überhaupt zusammenarbeiten können.

Im Einzelnen haben wir gesehen, dass Gul und Pesendorfers Kritiken wissenschaftstheoretische Probleme zugrunde liegen, die teilweise seit Jahrzehnten diskutiert werden. Die beiden Ökonomen kratzen mit ihren Ausführungen lediglich an deren Oberfläche, wie in Abschnitt 6.3 diskutiert wurde. Da ist einerseits das Paket an Problemen, das mit Reduktionismus einhergeht, vor allem wie ihn Glimcher beschreibt (s. o. Abschn. 6.3), was auf eine partielle heterogene Theorienreduktion hinausläuft, und andererseits das Paket an Problemen, das mit Inkommensurabilität verbunden ist, wobei Inkommensurabilität selbst auch ein Teil des ersten Pakets ist. Zu den Problemen des Reduktionismus, die wir in Abschnitt 6.3 betrachtet hatten, gehören die Kritik Feyerabends, dass nicht Theoriengesetze reduziert werden, sondern lediglich etwas, das so ähnlich aussieht. Schaffners Antwort, Theorien zu modifizieren, bevor sie reduziert werden, entkräftet diese Kritik nicht vollständig (für Details siehe Abschn. 6.3). Auch ein weiteres Problem, die Emergenz, bleibt bislang ungelöst. Diese Idee besagt, dass ein aus Einzelteilen bestehendes System Eigenschaften aufweisen kann, die seine einzelnen Teile in separater Betrachtung nicht aufweisen. Von Fodor auf die kognitiven Neurowissenschaften und Psychologie angewandt, bedeutet das, dass ein menschliches Gehirn aus rein materiellen Teilen besteht, und gleichzeitig immateriell erscheinende Bewusstseinsprozesse aufweist, die sich aus der Betrachtung der Neuronen allein nicht ergeben (s. Abschn. 6.3). Nach einer Reduktion der Psychologie auf die Neurowissenschaften wären daher diese Bewusstseinsprozesse im schlimmsten Falle nicht mehr untersuchbar, wodurch eine Menge psychologischen Erkenntnisgewinns verloren ginge. Ein weiteres von Fodor vorgebrachtes Argument gegen Reduktionismus ist die multiple Realisierbarkeit (s. Abschn. 6.3), die zur Folge hat, dass es keine Brückengesetze geben kann, da solche Gebilde keine Gesetze sind oder sein können. Die Annahme ist hier, dass die Eigenschaften einer übergeordneten Theorie nicht immer direkt mit Eigenschaften der untergeordneten Theorie übereinstimmen, sondern von mehreren Eigenschaften der untergeordneten Theorie realisiert werden können. Dabei ist das Problem, dass laut Fodor nicht klar sein kann, welche der untergeordneten Eigenschaften die übergeordnete Eigenschaft in einem bestimmten Gesetz der übergeordneten Theorie realisiert. Daher müsste ein untergeordnetes Gesetz, das denselben Zusammenhang darstellen soll wie das zu reduzierende übergeordnete Gesetz, eine disjunktive Form besitzen, in der alle Möglichkeiten aufgezählt werden. Das Gleiche gilt für Brückengesetze. Nach Fodor können Gesetze jedoch nicht disjunktiv sein, weshalb auch Brückengesetze keine Gesetze sein können. Ohne Brückengesetze gibt es aber keine heterogenen Reduktionen, wie sie sich Glimcher vorstellt.

Die zweite Art wissenschaftstheoretischer Probleme, an deren Oberfläche Gul und Pesendorfer kratzen, ist die Inkommensurabilität. Sie ist einerseits Teil der antireduktionistischen Argumentation, andererseits auch eine eigene Quelle für Kritiken an der neuroökonomischen Zusammenarbeit, wie wir oben gesehen haben (s. Abschn. 6.3). Ein in diesem Kontext wichtiger Aspekt der Inkommensurabilität ist die Begriffsverschiebung, nach der bei einem Paradigmenwechsel Objekte aus der Extension eines Begriffs in die Extension eines anderen übergehen, wobei die Extensionen der Begriffe verschieden sind. Der zweite wichtige Aspekt der Inkommensurabilität besagt, dass die Wissenschaftler unterschiedlicher Paradigmen auch in unterschiedlichen Welten arbeiten. Sie betrachten noch immer dieselben Objekte mit denselben Instrumenten, sehen jedoch Unterschiedliches. Ein Beispiel waren der Aristoteliker und Galilei, die beide einen schweren Körper an einer Kette hin- und herschwingen sehen. Doch während Aristoteles einen gehemmt fallenden Körper sieht, sieht Galilei ein Pendel, das die immer gleiche Bewegung beinahe unendlich ausführt. Diese Veränderung des Wahrgenommenen beschreibt Kuhn sogar recht drastisch, die Forschenden können das Gefühl bekommen, sie arbeiteten nach einer Revolution in einer völlig anderen Welt. Das bedeutet, dass das, was die Wissenschaftler sehen, vom Paradigma abhängt, unter dem sie forschen und damit auch die Modelle und Gesetze, die sie formulieren. Diese Theoriegeladenheit macht die Inkommensurabilität zu einem wichtigen Argument gegen eine Reduktion, da sie es unmöglich macht, verlässliche Interpretationen eines anderen Paradigmas zu liefern oder Brückengesetze zu formulieren.

Die Inkommensurabilität eröffnet auch einen anderen Blickwinkel auf Kritiken, wie sie Standardökonomen wie Gul und Pesendorfer äußern: In ihren Augen ist die Ökonomie als Wissenschaft frei von neurowissenschaftlichen Erkenntnissen und Einflüssen, da diese im Standardmodell keine Rolle spielen. Das ist eine vollkommen andere Vorstellung davon, wie Ökonomie funktioniert und funktionieren soll, als die der Verhaltensökonomen. Die Ansichten von Gul und Pesendorfer sind inkommensurabel mit den Ansichten von Verhaltensökonomen. Das macht die Kritiken von Standardökonomen an der Neuroökonomie verständlicher, macht aber auch deutlich, dass sie grundsätzlich nicht aus dem Weg geräumt werden können, es sei denn, alle Ökonomen wechseln unter dasselbe Paradigma. Solange das nicht geschieht, können die gerade besprochenen systematischen Kritiken nicht gelöst werden. Egal, wie viele Argumente oder scheinbar überzeugende Studien jede Seite vorbringt (solange das nicht gerade Forschende überzeugt, zum Paradigma der Verhaltensökonomen zu wechseln), wird das keinen Einfluss auf die Meinung der Standardökonomen zur Neuroökonomie haben. Das Paradigma der Verhaltensökonomen bleibt immer inkommensurabel mit dem der Standardökonomen.

Für die Frage, wie sich das Verhältnis zwischen Ökonomen und Neurowissenschaftlern entwickeln wird, heißt das also, dass es in absehbarer Zukunft immer Kritiker geben wird, die eine solche Form der Kooperation ablehnen und dass diesen Kritiken mit den besten Argumenten nicht begegnet werden kann. Das muss für die Neuroökonomen nicht so frustrierend sein, wie es vielleicht klingen mag, denn diese Einsicht bedeutet nicht nur, dass man sich mit solcher Art Kritiken für immer auseinandersetzen muss, sie bedeutet auch, dass man sie als das ansehen kann, was sie sind: grundsätzlich nicht lösbar, weil inkommensurabel mit unserer Vorstellung von der Ökonomie. Diese Kritiken sind nicht das Ergebnis schlechter wissenschaftlicher Arbeit der Neuroökonomen oder schlechter Konzeption der Neuroökonomie an sich. Dadurch entsteht auch kein Druck, die Neuroökonomie oder die neuroökonomische Arbeit zu verändern, um Kritiken zu begegnen, das wäre alles nutzlos. Das heißt nicht, dass Neuroökonomen Kritiken von Standardökonomen ignorieren sollten, aber sie können sie als inkommensurabel erkennen.

Das gilt allerdings nur für die systematischen Kritiken, die daraus entstehen, dass Kritiker und Neuroökonomen unter verschiedenen Paradigmen arbeiten. Es gilt nicht für die grundsätzlich lösbaren Kritiken, die wir oben gerade noch einmal betrachtet haben. Sie bauen in der Tat auf Zuständen in der Neuroökonomie, die sich nicht nur ändern lassen, sondern, wie wir gesehen haben, auch geändert werden sollten, auch im Sinne der Neurowissenschaften. Damit meine ich vor allem die Reproduzierbarkeit von Studienergebnissen und die Probandenzahlen. Für sie gibt es Hoffnung, weil sie nicht auf der Inkommensurabilität zweier Paradigmen basieren. Sie zu lösen ist notwendig, um nicht diejenigen Wissenschaftler abzuschrecken, die grundsätzlich Befürworter der Neuroökonomie sein könnten. Die Standardökonomen, die nicht von ihrem Paradigma abrücken, werden aus den dargelegten Gründen nicht zu überzeugen sein, egal wie gut die neuroökonomische Forschung aufgestellt ist. Verhaltensökonomen aber sind aufgrund ihres Paradigmas potenzielle Unterstützer. Stoßen sie jedoch auf die den Kritiken zugrundeliegenden Probleme, werden auch sie keine Neuroökonomen. Mit der Lösung der Probleme können die Neuroökonomen aber tatsächlich weitere Wissenschaftler (darunter potenziell auch die nicht-systematischen Kritiker) auf ihre Seite bringen und damit das künftige Verhältnis zwischen den Vertretern der Mutterwissenschaften genauso beeinflussen wie die Reputation und Relevanz der Neuroökonomie als Wissenschaft. Dann hat die Neuroökonomie auch eine Chance, sich als Wissenschaft zu etablieren, denn der Themenkomplex kognitive Neurowissenschaften wird nicht einfach wieder verschwinden, dafür sind die Publikationszahlen in diesem Gebiet in den vergangenen zwanzig Jahren zu stark angewachsen, wie eine Recherche beispielsweise auf PubMed Central (PMC), dem Repositorium der U.S. National Institutes of Health’s National Library of Medicine (NIH/NLM) ergibt, das einen Anstieg um mehr als das Zwanzigfache verzeichnet.Footnote 4 Ein Grund mehr für Neuroökonomen, sich nicht zu schnellen Publikationen und Marketing Bloopers, wie Harrison sie nannte (s. o. Abschn. 6.1.1), hinreißen zu lassen, sondern die Neuroökonomie für die Zukunft auf solide Beine zu stellen.