Um zu verstehen, welche Ziele die Neuroökonomie verfolgt und warum, ist es hilfreich, zu Beginn einen Blick auf die Ausgangssituationen der beteiligten Wissenschaften zu werfen. In diesem Kapitel werden wir genau das tun und dabei der Frage nachgehen, warum sich Verhaltensökonomen und kognitive Neurowissenschaftler für die Neuroökonomie interessieren und welche Möglichkeiten sie sich von ihr versprechen. Dabei werden wir zum besseren Überblick getrennt nach den beiden Wissenschaften vorgehen, beginnend mit den Neurowissenschaften in Abschnitt 2.1, gefolgt von der Ökonomie in Abschnitt 2.2. Abschnitt 2.3 wird dann aufzeigen, welche Ziele sich Neuroökonomen stecken und welche Lösungsansätze sie dabei verfolgen.

2.1 Warum sich Ökonomen für Neuroökonomie interessieren

Einfach ausgedrückt, beschäftigen sich Ökonomen mit Neuroökonomie, weil sie sich davon neue Erkenntnisse für die Ökonomie versprechen. Vor allem möchten sie mit den Ergebnissen der Neuroökonomie Fragen aus der Verhaltensökonomie beantworten, für die das Wissen gerade der kognitiven Neurowissenschaftler hilfreich sein könnte. Es lohnt sich ein kurzer Blick in die Historie der Ökonomie, um zu sehen, welche Fragen das sind und wie sie zustande kamen.

In den 1930er Jahren wurde in der Ökonomie ein Meilenstein gesetzt mit der Entwicklung der Revealed-Preference-Axiome, vor allem durch den amerikanischen Ökonomen Paul Samuelson. Im Gegensatz zu vorherigen Modellen konnten nun mit relativ einfachen Axiomen klare Vorhersagen über das zu erwartende Handlungsmuster eines ökonomischen Akteurs getroffen werden. Auf dieser vielversprechenden Grundlage erfolgte der nächste große Schritt in den 1940er Jahren mit der Ausarbeitung der Expected-Utility-Theory und der Grundlegung der Spieltheorie durch John von Neumann und Oskar Morgenstern. Unter den neuen Theorien müssen Akteure, die den zur Theorie gehörigen Axiomen unterliegen, ein Verhalten zeigen, als ob sie eine stetige Nutzenfunktion hätten und als ob ihre Handlungen auf die Maximierung des erzielten Gesamtnutzens ausgerichtet wären. (Glimcher et al. 2009b, 2). Mit diesen Errungenschaften auf der relativ unkomplexen Basis von ein paar Axiomen hatte die neoklassische Ökonomie Theorien zur Untersuchung und zur Vorhersage von Wahlverhalten ökonomischer Individuen an der Hand und war damit leistungsfähiger als je zuvor.

Allerdings bestand schon damals unter Ökonomen die Meinung, das Bild, das sich die Ökonomen von den handelnden Personen mache, sei nicht realistischFootnote 1, basiere auf überholter Psychologie und müsse an neue psychologische Entwicklungen angepasst werden (Friedman 1953, 30). Ökonom Milton Friedman (Friedman 1953, 15) zeigt sich in seinem Aufsatz „The Methodology of Positive Economics“ eher genervt von der Debatte und stellt klar:

„[...] the relevant question to ask about the ‚assumptions‘ of a theory is not whether they are descriptively ‚realistic,‘ [sic!] for they never are, but whether they are sufficiently good approximations for the purpose in hand. And this question can be answered only by seeing whether the theory works, which means whether it yields sufficiently accurate predictions.“

Für die Geltung der ökonomischen Theorien ist es für Friedman nicht wichtig, ob die ihnen zugeschriebenen Präferenzen und Wahrscheinlichkeiten von Ergebnissen tatsächlich in den Köpfen der handelnden Individuen anwesend sind. Diese sind zuvorderst Teil der Theorie. Für ihn ist relevant, dass sich das Verhalten der Personen so beschreiben lässt, als ob sie anwesend wären. Von einer nötigen Anpassung an zeitgenössische Psychologie kann daher für Friedman keine Rede sein, im Gegenteil. Er bringt das Beispiel der Maximization-of-Returns-Hypothese vor und sagt: Die andauernde Verwendung und Akzeptanz der Maximization-of-Returns-Hypothese über einen langen Zeitraum hinweg ist starkes Zeugnis für ihren Wert, ebenso wie das Scheitern der Entwicklung und breiter Akzeptanz jeglicher kohärenter, selbst-konsistenter Alternative. (Friedman 1953, 23)

Solange das ökonomische Modell eines handelnden Individuums also zufriedenstellende Ergebnisse in den Vorhersagen liefert, gibt es für Friedman keinen Grund, das Modell zu verändern oder gänzlich zu ersetzen. Mit dieser Haltung hat er stark dazu beigetragen, dass trotz aller Kritik in der Neoklassischen Ökonomie auch über die 1950er Jahre hinaus das Menschenbild des sogenannten Homo oeconomicus Bestand hat.

Werfen wir an dieser Stelle einen Blick auf das ökonomische Menschenbild, der dessen wichtigste Eigenschaften kurz zusammenfassen soll. Wir orientieren uns dabei an Kirchgässner (Kirchgässner 2013), der ein relativ facettenreiches, wenig strenges Bild von Homo oeconomicus zeichnet: Homo oeconomicus ist ein Modell für individuelles Verhalten von ökonomischen Akteuren. Das Verhalten wird dabei als „rationales Handeln“ (Kirchgässner 2013, 13) verstanden. In Entscheidungssituationen werden die Handlungsmöglichkeiten von Akteuren durch allgemeine und spezifische Restriktionen beschränkt, wie beispielsweise das verfügbare Einkommen der Akteure, die Preise auf den Märkten, oder rechtliche Beschränkungen. Innerhalb dieser Restriktionen können die Akteure Entscheidungen treffen und Handlungen ausführen. Dabei müssen sie aus ihren verschiedenen Handlungsmöglichkeiten wählen, wobei sie sich an ihren persönlichen Präferenzen orientieren. Diese können von Individuum zu Individuum verschieden sein, denn sie sind eine Fixierung der Wertvorstellungen des Individuums (Kirchgässner 2013, 14). Das heißt, sie gelten generell und werden nicht vor jeder Entscheidungssituation neu generiert.

Anhand der Präferenzen werden die Handlungsalternativen und ihre Konsequenzen vom handelnden Individuum durch Wertzuweisung nach Kosten und Nutzen beurteilt. Das Individuum entscheidet sich im Modell für diejenige Handlungsalternative, die nach dieser Abwägung den größten Nutzen nach Abzug der Kosten verspricht. Dabei sind einzelne Ziele dem großen Ziel der Nutzenmaximierung untergeordnet. Alle Entscheidungen, alle Einzelziele sind Mittel, um dieses große, lebenslange Ziel zu erreichen. Bei seinen Entscheidungen kennt das Individuum nicht notwendigerweise alle potenziellen Handlungsmöglichkeiten und kann auch nicht alle Konsequenzen zutreffend vorhersehen. Laut Kirchgässner (Kirchgässner 2013, 13–14) hat das Individuum aber fast immer die Möglichkeit, sich gegen Kosten mehr Informationen über Handlungsmöglichkeiten und mögliche Konsequenzen zu verschaffen.

Im ökonomischen Modell gehen Akteure bei ihren Entscheidungen rational vor. Dazu gehören zwei Punkte: Die Rationalität der Präferenzen und die Rationalität der Wahl. Die Präferenzen sind rational, wenn sie vollständig und transitiv sind. Um vollständig zu sein, muss ein Set von Präferenzen die Eigenschaft erfüllen: A>B v A~B v B>AFootnote 2 . Diese Eigenschaft fordert, dass das handelnde Individuum zu jeder potenziellen Handlungsmöglichkeit eine Einstellung hat und sie in seinem Präferenzsystem verorten kann. Von jeder Handlungsmöglichkeit kann das Individuum sagen, ob es sie gegenüber anderen Möglichkeiten präferiert, nicht präferiert oder ob es ihr gegenüber indifferent ist. Weitere Möglichkeiten, wie beispielsweise „weiß nicht“, gibt es nicht.

Die Eigenschaft der Transitivität fordert folgende Eigenschaft von den Präferenzen:

  1. (I)

    A≥B ∧ B≥C → A≥C Transitivität der schwachen Präferenz

Die Transitivitäten von strikter Präferenz und Indifferenz werden analog gefordert:

  1. (II)

    A>B ∧ B>C → A>C Transitivität der strikten Präferenz

  2. (III)

    A~B ∧ B~C → A~C Transitivität der Indifferenz

(II) drückt die strikten Eigenschaften von (I) aus, während (III) die symmetrischen Eigenschaften von (I) ausdrückt (Hansson et al. 2012).

Das heißt, wenn das Individuum beispielsweise einen Apfel gegenüber einer Orange (schwach) präferiert und eine Orange gegenüber einer Birne, so wird es auch den Apfel gegenüber einer Birne (schwach) präferieren. Gleiches gilt für eine Indifferenzbeziehung zwischen den Wahlmöglichkeiten. Ist das Individuum indifferent zwischen einem Apfel und einer Orange, sowie zwischen einer Orange und einer Birne, so ist es auch indifferent zwischen einem Apfel und einer Birne. Einige weitere Eigenschaften folgen aus der Transitivität, als eine wichtige sei an dieser Stelle die Azyklizität erwähnt, die fordert: Es gibt keine Folge „A1, …, An“ von Handlungsalternativen, sodass „A1>…>An>A1“ (Hansson et al. 2012).

Der zweite Punkt, die Rationalität der Wahl ist dann erfüllt, wenn das Individuum keine verfügbare Handlungsalternative derjenigen vorzieht (das heißt gegenüber derjenigen präferiert), die es gewählt hat (Hansson et al. 2012). Das bedeutet, im ökonomischen Modell wählt das handelnde Individuum immer eine Handlungsalternative, die es gegenüber allen anderen Alternativen (mindestens schwach) präferiert hat. Umgekehrt bedeutet das, dass die vom Individuum gewählte Handlung auch diejenige war, die es allen anderen Alternativen gegenüber (mindestens schwach) präferiert hat. Wählt das Individuum dagegen eine Alternative, die nicht die am meisten präferierte, sondern eine, angenommen, zweitbeste Lösung war, obwohl die erstbeste zur Verfügung gestanden hätte, so handelt es nicht rational.

Um einiges schwächer definiert Kirchgässner die Rationalität der Entscheidung:

„Rationalität bedeutet in diesem Modell lediglich, dass das Individuum, wenn es seinen Intentionen folgt, prinzipiell in der Lage ist, gemäss seinem relativen Vorteil zu handeln, d.h. seinen Handlungsraum abzuschätzen und zu bewerten, um dann entsprechend zu handeln.“ (Kirchgässner 2013, 17)

Hier ist lediglich gefordert, dass das Individuum gemäß seinem relativen Vorteil handeln kann. Zudem ist nichts gefordert über den Grad der Präferenz der gewählten Handlung gegenüber den übrigen Alternativen. Offenbar kann hier auch eine weniger präferierte Alternative gewählt werden, solange sie zum relativen Vorteil des Individuums beiträgt. Das ist bei der erstgenannten Definition der Rationalität der Wahl zwar auch möglich, doch handelt das Individuum dann nicht mehr rational. Bei Kirchgässner dagegen scheint es keine Verletzung der Rationalität zu sein, nicht die am stärksten präferierte Handlungsalternative zu wählen.

Kirchgässner sieht neben der Rationalität der Entscheidung einen weiteren wichtigen Punkt für die Entscheidung eines Individuums im ökonomischen Modell: Die Eigenständigkeit der Entscheidung.

„Eigenständigkeit bedeutet, dass das Individuum entsprechend seinen eigenen Präferenzen (und nicht entsprechend den Präferenzen anderer) handelt.“ (Kirchgässner 2013, 16)

Homo oeconomicus handelt ausschließlich nach seinen eigenen Interessen und wird als egoistisch angesehen, was bedeutet, dass das Individuum bei der Wahl einer Handlungsalternative grundsätzlich nicht darauf achtet, wie sich die Konsequenzen seiner Wahl auf andere Personen auswirken. Das Individuum sieht vielmehr nur seinen eigenen Nutzen und nicht den Payoff eventueller Mit- oder Gegenspieler. Es wird diejenige Handlung wählen, die für es selbst den Payoff maximiert. Ob der Gegenspieler dabei weniger oder auch mehr Payoff erhält als es selbst, ist für das Individuum irrelevant. Kirchgässner weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das Wort „eigeninteressiert“ eine passendere Beschreibung sei, da es weniger moralisch belegt und die genauere Übersetzung der im Englischen gebräuchlichen Terminologie „self-interest“ ist (Kirchgässner 2013, 47).

Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Interessen von Mit- und Gegenspielern überhaupt keinen Einfluss auf das Wahlverhalten von Homo oeconomicus haben. Grundsätzlich werden die Interessen anderer dort berücksichtigt, wo sie den Handlungsspielraum des handelnden Individuums beeinflussen (Kirchgässner 2013, 16). In mehreren Aspekten können sie daher eine große Rolle spielen. Ein Aspekt, der die Wahl als Ganzes und weniger die eigene Präferenzbildung betrifft, ist, dass es bei vielen Entscheidungen, die das Individuum zu treffen hat, für den eigenen Payoff wichtig ist, welche Entscheidung die Gegenspieler treffen werden. Um die Handlungsalternative mit dem größten Payoff zu finden, muss das Individuum versuchen, zu antizipieren, wie der Gegner entscheiden wird. Das hängt von den Präferenzen, den Interessen des Gegenspielers ab, weshalb sie für das Wahlverhalten von Homo oeconomicus mindestens indirekt eine große Rolle spielen. Der zweite Aspekt ist vom ersten völlig verschieden und betrifft die Ebene der Präferenzbildung der Spieler. In diesem Aspekt geht es um Other-regarding-Preferences: Die Interessen anderer finden sich bereits in den Präferenzen des handelnden Individuums, beispielsweise weil es sich bei den berücksichtigten Personen um gute Freunde handelt, an deren Nutzen dem Individuum gelegen ist, und die es daher bei seinen Handlungen berücksichtigt. Das ist eine relativ moderne Idee aus der Verhaltensökonomie, wir werden uns in Abschnitt 3.5 (S. 50–52) näher mit Modellen mit sozialen Präferenzen beschäftigen. Kirchgässner spricht noch einen weiteren Aspekt an, bei dem vor allem die Reaktionen anderer Menschen auf die Handlungen des Individuums bei der Wahl einer Handlungsalternative eine Rolle spielen. Bei manchen Entscheidungen können gesellschaftliche Restriktionen vorliegen, die nicht gleichzeitig auch juristischen Restriktionen unterliegen. Das handelnde Individuum könnte eine mögliche Handlungsalternative vollkommen legal umsetzen, hat aber dann mit sozialen Sanktionen zu rechnen, die als Kosten angerechnet werden. Als Beispiel nennt Kirchgässner einen Lehrer, der seinen Schülern erklärt, dass es wichtig ist, wählen zu gehen, da es notwendig ist, um die Demokratie zu erhalten, dann aber selbst nicht zur Wahl geht. Dieser Lehrer hätte zwar keine rechtlichen Sanktionen zu erwarten, jedoch hohe soziale Kosten, weil er bei seinen Schülern stark an Glaubwürdigkeit verlieren würde. (Kirchgässner 2013, 61) Ohne diese sozialen Sanktionen wären dem Lehrer bei der Entscheidung, zur Wahl zu gehen oder nicht, die Interessen der Schüler relativ gleichgültig gewesen, sie kommen in seinem Präferenzset nicht vor. Allerdings sind ihre Reaktionen (und vermutlich auch die ihrer Eltern) Teil der Konsequenzen der Handlungsalternativen „wählen gehen“ und „nicht wählen gehen“. Daher haben sie dennoch Einfluss auf seine Entscheidung.

Wie gesagt, hat vor allem die strikte Version des Modells Homo oeconomicus viel Kritik erfahren. Sie beruht vor allem auf empirischer Evidenz aus Laborexperimenten, während derer die Probanden ökonomische Spiele spielen. Ergebnisse aus solchen Studien widersprechen regelmäßig den Vorhersagen der Standardökonomie mit ihrer Idee vom Homo oeconomicus. Wir werden auf diese Spiele und ihre Bedeutung für die Ökonomie noch in späteren Kapiteln zu sprechen kommen, daher betrachten wir kurz die wichtigsten unter ihnen: das Ultimatumspiel, das Diktatorspiel, Vertrauensspiele und Spiele zum Thema öffentliche Güter.

Ultimatumspiele sind, wie alle Spiele in dieser Aufzählung, sogenannte Fairness-Spiele. Sie werden dazu genutzt, Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie Probanden Fairness auffassen. In diesem 2-Spieler-Spiel gibt es einen Proposer (P) und einen Responder (R). P erhält einen bestimmten Geldbetrag, sagen wir 10 €. Diesen kann er mit R teilen, indem er ihm einen bestimmten Betrag seiner Wahl anbietet. R kann das Angebot entweder akzeptieren oder ablehnen. Im ersten Fall erhält R den angebotenen Betrag und P den Rest des Geldes. Lehnt R das Angebot jedoch ab, erhalten beide Spieler kein Geld. Die ökonomische Standardtheorie sagt voraus, dass R auch sehr kleine Beträge akzeptieren wird, denn auch sie sind geschenktes Geld, das er im Falle einer Ablehnung nicht erhält. Daher wäre es für P rational, den kleinstmöglichen Betrag (in unserem Beispielfall 1 €) anzubieten, R sollte diesen Betrag dann akzeptieren. Jedoch zeigen Studien, dass P-Spieler bisweilen 50% des Geldbetrags anboten und R-Spieler oft positive Angebote ablehnten. Generell werden in Studien 60–80% des Betrags angeboten und Angebote von weniger als 20% häufig abgelehnt. Dies traf auch auf Studien mit höheren Geldbeträgen zu, die mehrere Monatseinkommen der Spieler umfassten. (Wilkinson 2008, 333). Das widerspricht den Vorhersagen des Standardmodells und wird so gedeutet, dass R-Spieler niedrige Angebote als unfair erachten und bereit sind, die P-Spieler dafür zu bestrafen, auch wenn das mit Kosten für sie selbst verbunden ist.

Auch bei Diktatorspielen gibt es einen Responder und einen Proposer, der einen Geldbetrag erhält, den er aufteilen kann. Allerdings hat R in diesem Spiel keine Möglichkeit, das Angebot zu abzulehnen oder zu akzeptieren, stattdessen wird ihm ein Betrag von P zugewiesen. Anders als das Ultimatumspiel soll das Diktatorspiel einen Einblick darin geben, ob P-Spieler nur deshalb großzügige Angebote machen, weil sie die Ablehnung durch R fürchten oder weil sie tatsächlich altruistisch sind, wobei jedes positive Angebot als altruistisch angesehen wird. In Studien wurden Angebote des Diktators von 20–40% des Geldbetrags beobachtet, jedoch mit 80–96% Null-Angeboten in Experimenten, in denen das verteilbare Geld von den P-Spielern erst selbst erarbeitet werden musste. (Wilkinson 2008, 334). Positive Angebote scheinen daher wenig altruistisch und zumeist strategisch begründet.

Für Vertrauensspiele charakteristisch ist, dass sie eine Investition von einem Truster (I) in einen Trustee (T) beinhalten. Die Investition ist für I risikobehaftet, weil T sie zurückzahlen oder selbst behalten kann. Der Anreiz zur Investition ist jedoch, dass I von einer Investition profitieren kann, wenn der Return on Investment ausreichend ist und T genug zurückzahlt. In einem typischen Spielaufbau erhält I den Betrag x, den er investieren oder behalten kann. Wenn I Betrag y investiert, wird der Betrag um eine Dividende r des Betrags auf y + yr vergrößert. Daraufhin muss T entscheiden, welchen Betrag davon er behalten und welchen Betrag er an I zurückzahlen möchte. Diese Spielsituation ist im Grunde ein Diktatorspiel. Angenommen, T behält Betrag z für sich und zahlt y(1 + r) – z an I zurück, dann ist z der Lohn für T und (xy) + y(1 + r) – z für I. Interessant an diesem Spiel ist, dass es dazu verwendet wird, das Vertrauen, das I aufbringt, sowie die Vertrauenswürdigkeit von T zu messen: Das Vertrauen wird als Höhe der Investition y angesehen, während Vertrauenswürdigkeit anhand des zurückgezahlten Betrags xz + ry gemessen wird. (Wilkinson 2008, 335). Das ökonomische Standardmodell sagt in Vertrauensspiel-Situationen null Vertrauen voraus. I-Spieler werden nicht investieren, weil T-Spieler nie etwas zurückzahlen werden. In Studien investieren I-Spieler durchschnittlich die Hälfte des ihnen zur Verfügung stehenden Betrags, wobei die Varianz sehr hoch ist mit 16% Spielern, die den gesamten Betrag investieren und 6%, die nichts investieren. T-Spieler zahlen im Schnitt 95% der investierten Summe zurück, was mehr ist als in einem üblichen Diktatorspiel, wobei der Unterschied mit circa 10% nicht sehr groß ist. (Wilkinson 2008, 335–336).

Bei Spielen zu öffentlichen Gütern geht es um den Beitrag der Spieler zu und die Nutzung von öffentlichen Gütern. Das sind solche Güter, die den Prinzipien der Nicht-Ausschließbarkeit und Nicht-Rivalität im Konsum unterliegen. Bei diesen Gütern ist es kaum möglich, einzelne Nutzer vom Gebrauch auszuschließen und mehrere Personen können diese Güter ohne Schaden für andere verwenden. Klassische Beispiele sind Straßen, Straßenbeleuchtung oder die Arbeit der Polizei. Für ökonomische Spiele interessant sind vor allem halb-öffentliche Güter, bei denen die (übermäßige) Nutzung durch Individuen negative Auswirkungen auf andere hat, wie beispielsweise Fischgründe, deren übermäßige Befischung durch einzelne Fischer sie für alle ruiniert. Auf der anderen Seite muss für die Bereitstellung und Funktionalität von öffentlichen Gütern ein Beitrag geleistet werden, zum Beispiel über Steuergelder. Die dominante Strategie laut ökonomischer Standardtheorie wäre, nichts zu Bereitstellung, Erhalt etc. der Güter beizutragen und so viel wie gewünscht zu konsumieren. Daraus entsteht ein Trittbrettfahrer-Problem: Nur wenige Spieler werden freiwillig für öffentliche Güter bezahlen, während viele Spieler zwar den Konsum genießen, aber nichts beitragen werden und davon profitieren, dass andere bezahlen. Ein typisches Spiel kann wie folgt aussehen: N Spieler erhalten je eine Summe xi, von der sie den Betrag yi in ein öffentliches Gut mit dem Wert m pro Einheit investieren können. Spieler i erhält einen Gewinn von xiyi + myj / N, wobei ∑ yj für die Summe aller Beiträge aller anderen Spieler steht. Die Vorhersage des Standardmodells wäre, wie gesagt, nichts beizutragen, obwohl alle Spieler von der Kooperation aller Spieler profitieren würden. Evidenz aus Studien zeigt, dass Spieler generell aber ungefähr 50% ihrer Summe xi beisteuern, jedoch gibt es starke Variationen, da die meisten Spieler entweder nichts oder den gesamten Betrag einbringen. Es ist offenbar schwer zu sagen, warum Spieler kooperieren, sei es aus Altruismus oder weil sie erwarten, dass auch die anderen Spieler kooperieren werden. Ebenso scheint nicht klar zu sein, weshalb Spieler kein Geld beisteuern, aus dem Ziel heraus, kurzfristig den eigenen Gewinn zu maximieren oder weil sie erwarten, dass die anderen Spieler Trittbrettfahrer sind und auch nichts beitragen werden. (Wilkinson 2008, 338–339).

Während einige Ökonomen wie Friedman solche Diskrepanzen sowie eine größere Realitätsnähe des Modells Homo oeconomicus für nicht relevant halten und das in ihren Augen bewährte, perfekt rationale Modell weiterhin verwenden möchten, sind andere Ökonomen mit dieser Situation unzufrieden. Sie sind durchaus von der Relevanz der Realitätsnähe des ökonomischen Menschenbildes überzeugt und erforschen daher, wie ein realistischeres Modell aussehen könnte. Dabei sehen manche von ihnen in der Neuroökonomie eine potenziell hilfreiche Erkenntnisquelle, die, auf biologischen Prozessen basierend, näher an real handelnden Personen angelehnt ist als das Modell der Standardökonomie. In Kapitel 3 werden wir genauer sehen, wie dieser Zweig der Ökonomie, die Verhaltensökonomie, entstanden ist und welche Kompetenzen und Erfahrungen Verhaltensökonomen in die neuroökonomische Zusammenarbeit einbringen.

2.2 Warum sich Neurowissenschaftler für Neuroökonomie interessieren

Neben den Ökonomen versprechen sich auch die Neurowissenschaftler von der Neuroökonomie Antworten auf Fragen aus ihrer eigenen Disziplin. Paul Glimcher, Colin Camerer, Ernst Fehr und Russel Poldrack geben einen kurzen Überblick darüber, welche Fragestellungen das sind und wie sie historisch in den Neurowissenschaften entstanden (Glimcher et al. 2009b, 1–12):

Seit dem 19. Jahrhundert gab es in der neurowissenschaftlichen Verhaltensforschung zwei unterschiedliche Richtungen, die Neurologie und die Physiologie. In der Neurologie wurden standardmäßig Menschen oder auch Tiere mit Hirnläsionen untersucht. Die meisten dieser Menschen hatten sich Verletzungen durch Unfälle oder bei Kriegskämpfen zugezogen, aber auch Patienten mit fortgeschrittenen Hirntumoren waren potenzielle Probanden. Den Versuchspersonen wurde eine Reihe verhaltensbezogener Aufgaben gestellt. Die Defizite der Probanden bei der Bewältigung der Aufgaben wurden mit ihren jeweiligen Läsionen in Verbindung gebracht, was für Rückschlüsse auf die Funktionen der betroffenen Hirnregionen herangezogen wurde. Andersherum wurden bestimmte Stellen in den Gehirnen der Probanden mit Elektroden an Batterien angeschlossen und mit Stromstößen versehen. Aus den beobachteten Reaktionen, wie beispielsweise Muskelzuckungen, wurden Hypothesen über die Funktion der manipulierten Hirnregion aufgestellt. Die meisten dieser Experimente untersuchten Schäden an sensorischen oder motorischen Systemen. Ein Grund dafür war, dass die Auswirkungen von Schäden in diesen Systemen in Experimenten relativ leicht zu beobachten und zu quantifizieren sind, ebenso wie die sensorischen und motorischen Stimuli einfach kontrollierbar sind. Beispielsweise sind die Muskelzuckungen an den Hinterläufen eines Hundes, dessen Hirn man mit Stromstößen versieht, einfach zu beobachten und in ihrer Stärke einzuordnen. Mentale Zustände sind dagegen komplizierter zu kontrollieren und zu beobachten.

Die zweite Richtung, die Physiologie, untersuchte vor allem den Zusammenhang zwischen biologischen Zuständen der Probanden und Geschehnissen in der Umwelt. Beispielsweise wird den Probanden ein Bild vorgehalten, das als Stimulus dient, während das Feuern von Aktionspotenzialen, Veränderungen im Blutfluss oder der Neurotransmitter gemessen werden. Die experimentellen Möglichkeiten waren damals allerdings noch limitiert, da lediglich invasive Messmethoden zur Verfügung standen, die die biologische Materie beschädigen. Daher wurden solche Experimente ausschließlich an Tieren wie Affen, Meerschweinchen, Ratten oder Hunden durchgeführt.

Um die Zusammenhänge zwischen Gehirnaktivitäten und Verhalten trotz der experimentaltechnischen Einschränkungen erforschen zu können, wurden von den 1960er bis in die 1980er Jahre Modelle aus der Psychologie in den Neurowissenschaften eingeführt. Mit ihrer Hilfe erfolgten erste Schritte bei der Untersuchung von mentalen Zuständen. Auf Dauer treten jedoch zwei Probleme auf: Auf der einen Seite stehen zu viele Modelle zur Verfügung. Für einzelne Experimentergebnisse kommen mehrere Modelle infrage, die darauf zutreffen könnten. Auf der anderen, physiologischen Seite, stehen nicht genügend Daten zur Verfügung, die die Auswahl der Modelle bestimmen könnten. Das Vorhaben, diese Probleme zu lösen, war Kern der kognitiv-neurowissenschaftlichen Revolution (Glimcher et al. 2009b, 5). So wird unter anderem von Green und Swets 1966 die Signal Detection Theory entwickelt. Sie ist die erste globale normative Theorie, die dafür entwickelt worden war, neuronale Aktivitäten von Probanden in direkte Verbindung mit beobachtetem Verhalten zu bringen. Ein Meilenstein wurde 1989 erreicht, als es William Newsome und seinem Team in einem Experiment an Affen zum ersten Mal gelang, wirklich klar eine Korrelation zwischen neuronaler Aktivität und stochastischer Wahl aufzuzeigen. Diese Art von Korrelation wurde als psychometric–neurometric Match bekannt. Das Experiment und seine Ergebnisse sind von hoher Relevanz in der neurowissenschaftlichen Forschung, weil es den ersten erfolgreichen Versuch darstellt, Entscheidungen aus der Aktivität einzelner Neuronen vorherzusagen (Glimcher et al. 2009b, 6).

Nach diesen Erfolgen wurde die Signal Detection Theory auch in Experimenten an Hirnregionen angewandt, die für die Bewegungsgenerierung zuständig sind. Allerdings waren die Ergebnisse hier weniger zufriedenstellend für die Neurowissenschaftler. Offenbar war es nicht einfach, die Experimente an für Motorik zuständigen Hirnregionen an eine auf der Signal Detection Theory basierenden Analyse anzupassen. Diese Rückschläge weckten in der neurowissenschaftlichen Gemeinschaft Zweifel an der Eignung der Signal Detection Theory für die umfassende Erforschung von Entscheidungsfindung. Es wird befürchtet, sie sei nicht ausreichend generalisierbar, um alle Aspekte eines Entscheidungsfindungsprozesses abzudecken (Glimcher et al. 2009b, 6).

Auf Seiten der Datengenerierung wurden unterdessen Fortschritte erzielt. In den 1990er Jahren kamen neue Technologien auf zur Messung neuronaler Aktivitäten am lebenden, wachen Menschen, wie beispielsweise die Positronenemissionstomographie (PET) und die heute vor allem aus Krankenhäusern bekannte funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT). Der Zugang zu diesen Technologien eröffnete neue Möglichkeiten der Datengenerierung und erweiterte den Pool untersuchbarer Fragestellungen. Wie diese von kognitiven Neurowissenschaftlern genutzt werden, werden wir genauer in Kapitel 4 sehen. Im Vergleich zu den Methoden des frühen 20. Jahrhunderts stehen den Forschern nun Unmengen an Daten zur Verfügung. Doch aus dem neuerlichen Segen wird bald das Problem evident, dass die Neurowissenschaftler kein theoretisches Werkzeug besitzen, um mit den Daten umzugehen (Glimcher et al. 2009b, 6). Dazu kommt noch das Problem, dass die menschliche Entscheidungsfindung eine kognitive Tätigkeit höherer Ebene ist als die Aktivität einzelner Neuronen. Sie ist ein relativ neues Betätigungsfeld für die Neurowissenschaftler, auf dem sie bisher weder viel Erfahrung noch viele Erkenntnisse besitzen. Immerhin bieten die technischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte nun effektive Technologien für die Datengewinnung. Das Problem der unzulänglichen Versorgung mit Daten durch physiologische Experimente konnte somit weitgehend gelöst werden. Was den Neurowissenschaftlern jetzt noch fehlt, ist ein umfassender theoretischer Rahmen, der vorgibt, wie die neuronalen Messungen in den höheren, kognitiven Kontext zu setzen sind. Dazu gehört ein passendes theoretisches Werkzeug, um mit den generierten Datenbergen aus den neuen Technologien umgehen zu können.

Newsome ist der Meinung, die Signal Detection Theory könnte diese Leistungen erbringen. Andere Neurowissenschaftler sind jedoch eher skeptisch, ob dieses mathematische Standardwerkzeug stark genug generalisiert werden kann, um umfassende kognitive Prozesse abbilden zu können. Diese Neurowissenschaftler suchen daher nach neuen Ansätzen, wovon eine die neuroökonomische Kooperation mit Ökonomen ist. Denn für ihr Ziel, die neurobiologische Materie, die das Wahlverhalten hervorbringt, in unterschiedlich komplizierten Entscheidungssituationen zu beschreiben, sahen die Neurowissenschaftler um Glimcher vor einigen Jahren die neoklassischen ökonomischen Theorien mit der Revealed-Preference-Idee als potenziell nützlich an und integrierten sie in die neurowissenschaftliche Literatur (Glimcher et al. 2009b, 7).

2.3 Der neuroökonomische Lösungsansatz

Aus den gerade besprochenen Ausgangssituationen heraus sehen manche Verhaltensökonomen und kognitive Neurowissenschaftler die Neuroökonomie als potenziell fruchtbare Zusammenarbeit, die neue Erkenntnisse und Forschungsmöglichkeiten für ihre Mutterwissenschaften liefern soll. Die Neurowissenschaftler auf der einen Seite erhoffen sich von der neuroökonomischen Zusammenarbeit neue Einblicke in die Arbeitsweisen des menschlichen Gehirns beim Ablauf komplexer Entscheidungsprozesse. Die ökonomischen Vorgehensweisen und Experimente zur Simulation ebensolcher komplexer Entscheidungssituationen sollen dabei weiterhelfen. Die Ökonomen auf der anderen Seite erhoffen sich Alternativen zur Revealed-Preference-Idee, die Grundlage für das ökonomische Menschenbild des Homo oeconomicus ist. Sie sind überzeugt, mit heutigen neurowissenschaftlichen Methoden die behavioristische Black Box öffnen zu können. Diese Ergebnisse sollen keine Hoffnungen bleiben. Die Befürworter der Neuroökonomie sind sich sicher, sie eines Tages auch vorlegen zu können. Tatsächlich sind die Ziele noch sehr allgemein formuliert, weshalb wir in diesem Unterkapitel genauer betrachten, wie die konkreten Vorhaben der Neuroökonomen aussehen und was man sich darunter vorstellen muss, wenn sie sagen, sie wollen die Black Box öffnen.

Bei der Lektüre neuroökonomischer Veröffentlichungen, sei es ältere Literatur oder jüngere, fällt auf, dass einige Autoren, was die Ziele der Wissenschaft angeht, bei allgemeinen Formulierungen bleiben. So schreiben beispielsweise Martin Reimann und Bernd Weber:

„Ziel der Neuroökonomie ist es, mittels neurowissenschaftlicher Methoden die so genannte behavioristische Black Box zu ‚öffnen‘ und affektive sowie kognitive Vorgänge im menschlichen Nervensystem besser zu verstehen.“ (Reimann et al. 2011, 7)

Auch Ökonom Douglas Bernheim wird wenig konkret, wenn er sagt, Neuroökonomie strebe danach, die Prozessstrukturen aufzudecken, die neuronale Aktivitäten determinieren, ebenso wie die neuronalen Prozesse, die Entscheidungen bestimmen (Bernheim 2009, 117). Natürlich ist nicht jede Publikation, die sich mit Neuroökonomie beschäftigt, an Fachleute aus den Mutterwissenschaften gerichtet, bei welchen ein gewisses Maß an Fachwissen vorausgesetzt werden kann, sondern auch an interessierte Laien, die lediglich einen Überblick bekommen möchten. Dennoch sind solche Allgemeinplätze enttäuschend nichtssagend und eine verpasste Chance, die Neuroökonomie nicht als neues Prestige-Projekt der Neurowissenschaften vorzustellen, sondern als unverzichtbare Wissenschaft mit Relevanz für die Zukunft. Vor allem dann, wenn die Lektüre in wissenschaftlichen Fachzeitschriften erscheint oder als Lehrbuch für Universitäten verkauft wird.

Manche Autoren werden konkreter in ihrer Beschreibung der neuroökonomischen Ziele. Die verschiedenen Aussagen stimmen zwar nicht genau überein, aus ihren Gemeinsamkeiten jedoch lässt sich ein Bild davon rekonstruieren, welche Ziele die Neuroökonomen konkret verfolgen. Dabei helfen Aussagen, die nicht nur die Ziele direkt betreffen, sondern vor allem den Nutzen, den die Neuroökonomie haben soll. Aussagen darüber, was sich die Forscher von der Neuroökonomie im Ganzen oder bestimmen Experimenten im Einzelnen versprechen, finden sich häufiger in der Literatur als Angaben darüber, was die Neuroökonomie als Wissenschaft erreichen möchte. So sind einige Ziele der Neuroökonomie über den Nutzen zu erkennen, den sich die Mutterwissenschaften erwarten.

Es lassen sich zwei große Kategorien öffnen: Den Nutzen, den sich die Neurowissenschaften versprechen und der Nutzen, der für die Ökonomie gesehen wird. Beide werde ich im Folgenden darlegen, beginnend mit dem Nutzen der Neuroökonomie für die Neurowissenschaften:

Auch hier gibt es wieder allgemein gehaltene Aussagen, die nicht viel Erkenntnis liefern. So sagt beispielsweise der Neurowissenschaftler Colin Camerer:

„The [neuroeconomic] approach should also inform neuroscience by expanding the range of cognitive activities that are studied.“ (Cammerer 2005a, 12, Ergänzung von mir)

Der Zugewinn an kognitiven Aktivitäten für die neurowissenschaftliche Forschung mag anfangs wenig spektakulär klingen. Er wird für die Forscher aber interessant, nimmt man Camerers Aussage an anderer Stelle hinzu:

„Despite the rapid growth of game theory as an analytical tool at many social levels, we know almost nothing about how the human brain operates when people are thinking strategically in a game.“ (Camerer 2005a, 12)

In diese Richtung geht die oben erwähnte erweiterte Spanne der neurowissenschaftlich untersuchbaren kognitiven Aktivitäten. Es gibt für die kognitiven Neurowissenschaften noch viel Forschungspotenzial, wenn es um die Frage geht, wie das menschliche Gehirn in strategischen Entscheidungssituationen arbeitet. Ein großer Aspekt dieser Forschung wird sicherlich sein, menschliche Gehirne, die gerade mit einer strategischen Entscheidung und dem dazugehörigen Entscheidungsprozess beschäftigt sind, bei der Arbeit zu untersuchen, das heißt vor allem, die Neuronenaktivität zu messen. Dazu benötigen die Forscher zunächst einmal Experimentaufbauten mit spieltheoretischen Aufgaben für die Probanden. Das mag zunächst trivial klingen, kann die Forscher aber vor Schwierigkeiten stellen, vor allem dann, wenn sie noch nicht lange mit Spieltheorie arbeiten. Zumal die Anforderungen an ein erfolgreiches Experiment nicht allein mit den Aufgaben erfüllt sind, die die Probanden während des Experiments lösen sollen. Hinzu kommen die Theorien und Modelle, die hinter der spieltheoretischen Entscheidungsfindung stecken und die für den Aufbau, die Durchführung und die Analyse auch neurowissenschaftlicher Experimente verwendet werden müssen. Wer den theoretischen Hintergrund nicht kennt, kann ihn nicht berücksichtigen und wird somit bereits Schwierigkeiten haben, ein Experimentdesign festzulegen, das zu den verfolgten Forschungsfragen passt. Bei der Analyse der Daten sind Kenntnisse über die Theorie der Spieltheorie ebenso unerlässlich, da sonst die Frage offenbleibt, wie der Datensatz zu interpretieren ist, der mit Hilfe der Probanden generiert wurde. Kennen die Forscher beispielsweise nicht die verschiedenen Schritte, die die Spieltheoretiker einem Agenten bei der Entscheidungsfindung in spieltheoretischen Entscheidungssituationen zuschreiben, so werden sie ihre Experimente auch nicht auf Fragen nach einzelnen Schritten ausrichten können – und sie später natürlich auch nicht danach analysieren. Wenn die Forscher keine, oder eine minderwertige, Theorie zu den Abläufen parat haben, die sie über die Daten legen können, dann haben sie wenig mehr als einen Stapel bunter Bilder aus dem fMRT, den sie nicht zu interpretieren wissen.

An wen sollten sich die Neurowissenschaftler also wenden, wenn nicht an diejenige Wissenschaft, die sich seit Jahrzehnten mit Spieltheorie in Theorie und Experiment befasst? Die Ökonomie liefert nicht nur den theoretischen Überbau, sondern auch erprobte Experimentdesigns, die sich auch in neurowissenschaftlichen Experimenten nutzen lassen. Camerer sieht große Hoffnungen aus dieser Kooperation erwachsen:

„And to many neuroscientists, the greatest promise of neuroeconomics is to supply theories and experimental designs for neuroscience. These neuroscientists feel that the kinds of models and tasks economists use routinely can contribute to ‘systems neurosciene’ understanding of higher-order cognition, which are challenging for neuroscientists who are used to focusing on very fine details of neurobiology and specific brain areas.“ (Cammerer 2007, C26)

Camerer bestätigt hier auch, dass Neurowissenschaftlern die Arbeit mit kognitiven Tätigkeiten höherer Stufe schwerfällt, da sie es nicht gewohnt sind, sich mit ihnen zu beschäftigen. Die tägliche Arbeit der Neurowissenschaftler spielt sich üblicherweise auf einer detailreichen, tieferen Ebene ab, auf der der Fokus der Forscher auf der Tätigkeit einzelner Hirnbereiche oder einzelner Neuronen liegt. Ökonomen haben durch ihre eigene Arbeit eine globalere Sichtweise auf die Entscheidungsprozesse, die sie den Neurowissenschaftlern nahebringen könnten. Diese wiederum könnten dadurch einen langen Lernprozess verkürzen, da sie diese Sichtweise nicht erst selbst erarbeiten müssen.

Der Nutzen, den sich die Neurowissenschaftler von der Neuroökonomie erhoffen, liegt nach diesen Betrachtungen in der Anwendung ökonomischer Erkenntnisse, Methoden und Erfahrungen aus dem Bereich der Spieltheorie in den Neurowissenschaften. Die Neurowissenschaftler möchten in ihrer täglichen Arbeit vom Wissen der Ökonomen profitieren, um damit neuen Forschungsfragen nachgehen zu können. Das Ziel der Neuroökonomie in den Neurowissenschaften ist es, mit Hilfe ökonomischer Modelle und Theorien die Erkenntnisse über die Abläufe im menschlichen Gehirn in strategischen Entscheidungssituationen signifikant zu erweitern.

Auch die Ökonomen versprechen sich etwas von der Zusammenarbeit mit den Neurowissenschaftlern. Wie im vorangegangenen Kapitel besprochen, ist die Neuroökonomie auf der Suche nach einem neuen Menschenbild in der Ökonomie. Das neue Menschenbild soll, im Gegensatz zur Idee vom Homo oeconomicus, nahe an realen Menschen und ihren Verhaltensmustern angelegt sein. Schließlich soll es auf reale Interaktionen zwischen realen Menschen anwendbar sein. Ökonomen könnten damit nicht nur theoretische Interaktionen zu Forschungszwecken untersuchen und die Ergebnisse präzise vorausberechnen. Auch wirtschaftliche Entscheidungen aus dem realen Leben könnten mit realistischem Menschenbild genauer beschrieben und sogar vorhergesagt werden, als mit dem abstrakten Homo oeconomicus. Beispiele für solche Entscheidungssituationen wären Fragen wie: Wie reagieren meine Kunden/meine Mitbewerber, wenn ich den Preis meiner Produkte um X Euro erhöhe? Wird es die Arbeitskraft meiner Mitarbeiter erhöhen, wenn ich einen Betriebskindergarten einrichte? Neue Modelle mit einem realistischen Menschenbild könnten nicht nur auf Kleingruppen oder Einzelpersonen, sondern auch auf ganze Märkte angewandt werden: Wie werden die Märkte reagieren, wenn die Europäische Zentralbank den Leitzins erneut senkt (oder anhebt)? Werden geplante Reformen der Politik überhaupt die angestrebten Auswirkungen auf die Märkte haben oder werden sie ineffektiv verpuffen oder eine Situation gar verschärfen? Solcherlei Fragen zutreffend beantworten zu können, hätte große Vorteile für Wirtschaft und Politik.

Was kann die Neuroökonomie tun, um präzisere Vorhersagen möglich zu machen? Dafür, sagt Glimcher, müssen die As-if-Modelle aus der Ökonomie abgelöst werden. Annahmen, Menschen handelten, als ob sie diese oder jene Berechnung in ihrem Kopf ausführten, sind nicht nahe genug am tatsächlichen Verhalten von Menschen. Statt eines künstlichen Gebildes, wie es der Homo oeconomicus ist, braucht es ein Modell, das so nah an realen Menschen ist, dass es ihr Verhalten akkurat beschreiben kann. Nur dann sind auch die akkuraten Vorhersagen möglich, nach denen in der Ökonomie gesucht werden. Glimcher ist sich sicher, dass die Neurowissenschaften diesen realistischen Einblick in das menschliche Verhalten liefern können, da sie das Know-How und die Technik besitzen, die behavioristische Black Box zu öffnen, die das menschliche Gehirn darstellt. Sie können dem Gehirn beinahe direkt bei der Arbeit zusehen und so Daten liefern, die seine Arbeitsweise direkt wiedergeben. Welches Menschenbild wäre näher am realen Menschen als eines, das direkt am realen Menschen abgenommen wurde? Zwar wurden auch die ökonomischen As-if-Modelle, die Glimcher hart kritisiert, aus der Beobachtung menschlichen Verhaltens gewonnen (revealed Preferences). Jedoch konnten dabei lediglich der Informationsinput und der Handlungsoutput für das Erstellen des Modells berücksichtigt werden. Für den Prozess dazwischen, der sich im Gehirn der Handelnden abspielt, mussten Annäherungen verwendet werden. Genau das soll das neuroökonomische Modell so wertvoll machen. Vom Input bis zum Output soll es hier keine unbeleuchteten Stellen mehr geben, keine Black Box soll mehr ungeöffnet bleiben, an derer statt Annäherungen angestellt werden müssen. Die Neuroökonomie möchte darauf hinarbeiten, dass es nicht mehr heißt „Proband X handelt so, als ob Prozess Y in seinem Kopf ablaufe“, sondern „Proband X handelt so, weil Prozess Z in seinem Kopf abläuft“. Oder, wie Glimcher es formuliert, er will die As-if-Modelle durch Because-Modelle ersetzen (Glimcher 2011, 130, 393). Die Because-Modelle beschreiben logische Operationen, die nicht nur Verhalten vorhersagen, sondern auch die darunterliegenden physischen und mentalen Prozesse genau nachempfinden, die dem Verhalten zugrunde liegen (Glimcher 2011, 393). Sie beschreiben also die Prozesse, die sich in der handelnden Person abspielen. Das deckt sich mit einer anderen Aussage Glimchers zum Ziel der Neuroökonomie:

„The goal of neuroeconomics is an algorithmic description of the human mechanism for choice.“ (Glimcher 2009c, 503)

Es lassen sich daraus grob zwei Ziele der Neuroökonomie herausarbeiten. Erstens die Because-Modelle, die logische Operationen beschreiben, die sich im Menschen abspielen, und zweitens eine algorithmische Beschreibung der Mechanismen, die sich im Menschen abspielen. Leider sagt bisher noch kein Neuroökonom etwas zu dem genauen Zusammenhang dieser beiden Ziele, evidenterweise lässt sich jedoch vermuten, dass die angestrebte algorithmische Beschreibung Grundlage für die Because-Modelle liefert, oder sie sogar darstellt. Denn im neurowissenschaftlichen Kontext wird es sich höchstwahrscheinlich sowohl bei den ‚logischen Operationen‘ als auch bei den ‚Mechanismen‘ um neuronale Aktivitäten im Gehirn handeln. Neuroökonomen möchten also die neuronalen Aktivitäten im menschlichen Gehirn beim Treffen von Entscheidungen algorithmisch beschreiben. Diese Beschreibung soll dann neue Modelle begründen, die in der Ökonomie zur Vorhersage menschlichen Verhaltens in Entscheidungssituationen verwendet werden.

Fasst man die Ziele beider Kategorien, die der Neurowissenschaften und die der Ökonomie, zusammen, so suchen die Neuroökonomen nach einer globalen Theorie über die Abläufe im menschlichen Gehirn beim Treffen strategischer Entscheidungen, die die neuroökonomischen Mutterwissenschaften und ihre Erklärungen für menschliches und tierisches Verhalten vereint (Glimcher 2011, 14–15). Laut Glimcher (Glimcher 2011, 393) ist das Ziel, ein einziges, einheitliches Modell menschlicher Entscheidungsfindung zu erstellen, das die ökonomische, psychologische und neurowissenschaftliche Analyse umfasst.

Es lässt sich also tatsächlich ein gemeinsames Ziel in der Neuroökonomie identifizieren, das die Erkenntnis sowohl in den Neurowissenschaften als auch in der Ökonomie mehren soll. Es wird nicht eindeutig gesagt, wie dieses Ziel erreicht werden soll. Doch es ist davon auszugehen, dass vor allem eine immense Datengenerierung aus neurowissenschaftlichen Experimenten erfolgen muss, denn diese Daten sind die Grundlage für die algorithmische Beschreibung menschlichen Verhaltens in Entscheidungssituationen. Wie genau neuroökonomische Experimente aufgebaut sind und durchgeführt werden, werden wir in Kapitel 5 besprechen. Zuvor lohnt sich in den folgenden beiden Kapiteln ein Blick auf die Arbeit und Ziele der Mutterwissenschaften Verhaltensökonomie und kognitive Neurowissenschaften einzeln. Wie arbeiten sie, aus welchem wissenschaftlichen Hintergrund kommen sie und was können sie davon zur Neuroökonomie beitragen? Aus dem Verständnis dieser Hintergründe lassen sich die Arbeit und das Potenzial der neuroökonomischen Forschung besser einordnen.